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Abad
L 72
Alfred Neumann Ee
1
i Pew
ats
Drama in 5 Akten
Viertes und fünftes Tauſend
Deutſche Verlags-Anſtalt Stuttgart
Berlin und Leipzig
1927 i
68981
CONCORDIA COLLEGE LIBRARY
BRONXVILLE, N. J. 10708
Den Bühnen gegenüber als Manufkript gedruckt
Alle Rechte, insbeſondere die der Überſetzung,
vorbehalten
Das Recht der Aufführung iſt zu erwerben von
Chronos Verlag G. m. b. H., Stuttgart
Bühnenvertrieb der Deutſchen Verlags-Anſtalt
Perfonen
Sar Paul
Zarewitſch Alexander
Graf Peter von der Pahlen, Kriegsgouverneur
von Petersburg
Anna Petrowna Oftermann
Graf Panin, Vizekanzler
Murawiew, Flügeladjutant
Der Kammerherr
Stepan
Doktor Grive, Leibarzt
Graf Valerian Subow
Fürſt Platon Subow Mitglieder der Pahlen⸗
General Talyſin ſchen Organiſation
Admiral Ribas |
Der Stabskapitän
Offiziere, Leibgardiſten, Lakaien
St. Petersburg um 1800.
Betonung und Ausſprache der Eigennamen
Zaréwitſch
Anna Petröwna Anjäta, Annuſchka
Nikita Petröwitſch Pänin
Lopuch in⸗Gagarin
Sergej Nikolajewitſch Murawiéw, ſprich Murawiöw
Jeletzkiſches Infanterieregiment, Mogilow
Preobraſhönſkijꝙ-Kaſerne
Petiuſchka
Tal y ſin
Valerian und Plat6n Sübow
Narſſchkin
Romãanow
Sſemionowſki
Stepan Warulénfo
Swan
Erſter Akt
Erſte Szene
Pahlens Arbeitszimmer.
Pahlen, allein, ſitzt am Schreibtiſch und lieſt einen Bericht.
Pahlen Was weiß England! — Er ſteht langſam
auf, den Bericht in der Hand, tritt an den Kamin und wirft die
Fetzen ins Feuer. Zur Tür hin, die ſich öffnet Was gibt's?
Iſt er ſchon da?
Lakai Nein, Exzellenz; aber Baronin Oſtermann
wünſchen durchaus, Euer Gnaden zu ſehen, und laſſen
ſich nicht abweiſen.
Pahlen verärgert Ich bin beſchäftigt; ſag es ihr,
Iwan; es tut mir ſehr leid ...
Anna Petrowna Oſtermann drängt den Lakai in der Tür beiſeite
und tritt ein.
Zweite Szene
Pahlen. Anna.
Anna Seit wann gilt für mich Anmeldung und Ab—
weiſung und die Inſtanz des Lakaien, Pahlen? Sie
pflegen doch um dieſe Stunde keine Frau bei ſich zu haben.
Alſo brauchte ich nicht zu fürchten, ungelegen zu kommen.
Pahlen küßt ihr kalt die Hand Sie kommen unge-
legen, Madame. Wir kennen uns lange genug, um uns der⸗
gleichen Wahrheiten ſagen zu können. Ich erwarte Beſuch.
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Anna Der Lakai ſagte es zum mindeſten höflicher.
Außerdem iſt es ungeſchickt von dir. Du weißt, daß ich
nicht eiferſüchtig bin, ſondern nur neugierig. Unklarheiten
reizen mich. — Was ſiehſt du mich ſo böſe an, Pahlen?
Pahlen leiſe Hör zu, Anna! Es tut nicht gut,
neugierig zu ſein, wenn ich verſchloſſen ſein will. Du
kennſt mich.
Anna kommt näher Ach, Pahlen, ich habe dich lieb,
wenn du deine wilden Augen machſt. — Jetzt weiß ich
auch, warum ich gerade heute abend gekommen bin. Ich
hatte ſo etwas wie Sehnſucht nach dir. Manchmal habe
ich meine weichen Stunden. Und du haſt dich ſchon lange
Zeit bei mir nicht ſehen laſſen.
Pahlen ungeduldig So fängſt du mich doch nicht,
Anna. Und wie würde ich dich enttäuſchen, wenn ich dir
ſagte, daß mich zur Stunde kein Bett intereſſiert, ſondern
daß ich einen Miniſter in einer dienſtlichen Angelegenheit
von ziemlicher Wichtigkeit erwarte. — Aber vielleicht
will ich dich nicht enttäuſchen, ſondern nur einen üblichen
Vorwand finden.
Anna ſieht ihn an Ich kenne deine Art, glaube ich,
auch deine Technik. Wir waren uns nahe genug, als du
dich und mich auf unſere Höhe haſardierteſt. Ich ſehe beſſer
als alle anderen, wenn du Fehler machſt. — Du haſt
eben einen Fehler gemacht, Pahlen.
Pahlen Weißt du das fo gewiß, ma chére?
Anna Du hätteſt das dienſtliche Geſpräch nicht ge—
heimnisvoll machen dürfen, wenn es voller Geheimnis
iſt. Ich tue dir nicht den Gefallen, an das Bett zu glauben,
mein Freund. — Man munkelt viel. Das Reich ſieht
dich doch anders als die Schranzen, wenn es auch vor
dir das Kreuz ſchlägt. Und der böſe Narr...
Pahlen ſcharf Sind Sie bei Sinnen, Madame?
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— Wiſſen Sie, was Sie ſprechen? Wiſſen Sie nicht, in
welchem Land Sie ſind? — In Rußland, Madame, wiegt
ein unbedachtes Wort ſchwerer als ein unbedachter Kopf.
— Bleiben Sie bei Ihren kleinen Intrigen und großen
Amouren, ich rate Ihnen gut.
Anna erſchrocken und leiſe Ich wollte dieſe Nacht hier
bleiben, Peter; ich hatte mich freigemacht. Und wenn ich
enttäuſcht bin, werde ich gerne boshaft und unbedacht.
Aber du wirſt mich bei dieſem Schneewetter und zu
ſolcher Stunde nicht fortgehen heißen. Meinen Schlitten
ſchickte ich nach Hauſe. — Habe ich nicht meine Zimmer
in deinem Haus? Ich werde hinaufgehen und dich nicht
ſtören.
Pahlen lacht Es tut mir leid, Anna, daß ich dir
heute keine Gaſtfreundſchaft gewähren kann. Vielleicht
ſind deine Unbedachtſamkeiten ſchuld daran. Ich werde
dich nach Haus fahren laſſen . . . Der Lakai kommt wieder
und macht ihm ein Zeichen. Das heißt, Madame, bleiben Sie
ruhig hier und haben Sie die Güte, ſich auf Ihre Zimmer
zurückzuziehen. An ihrem Ohr Ich habe nun einmal Luſt,
geheimnisvoll zu ſein und Begegnungen zu vermeiden,
Anna. Denke bitte über meine ſcheinbare Nervoſität
nicht nach; es möchte die Mühe nicht verlohnen. — Und
jetzt entſchuldigen Sie mich, Madame.
Anna unſicher Sehe ich Sie heute noch, Pahlen?
Pahlen Es kann wohl ſein. f
Anna geht durch eine andere Tür ab.
Lakai Ich darf jetzt Seine Exzellenz den Herrn Vize-
kanzler zu Euer Gnaden führen?
Pahlen Ja, Iwan, und du ſorgſt dafür, daß Madame
den Grafen Panin nicht zu ſehen bekommt — daß ſie
überhaupt nicht ihre Zimmer oben verläßt. Du darfſt
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fie ſogar einſchließen, wenn fie neugierig ſcheint. Du
läßt fein Wort über den Beſuch aus dir herausbringen.
Ich kann mich auf dich verlaſſen, Kerl?
Lakai Gewiß, Exzellenz.
Lakai ab. Pahlen aufrecht hinter dem Schreibtiſch, das kalte Geſicht
der Tür zugewandt. Panin kommt, ein kultivierter Ariſtokrat in
den Dreißigern, ſtockt auf der Schwelle, als blende ihn der Raum
oder Pahlens Blick, geht dann auf ihn zu, reicht die Hand.
Dritte Szene
Pahlen. Panin.
Panin Guten Abend, Exzellenz. Da bin ich. Bemüht,
ſeine Unruhe zu verbergen Gott ſei Dank, es iſt warm
bei Ihnen. Der Winter ſetzt früh und ſtreng ein.
Pahlen Guten Abend, Nikita Petrowitſch. Nehmen
Sie den wärmſten Platz, den Sie finden können — doch
nicht zu weit von mir, wir beide müſſen heute abend in
guter Nähe bleiben. Panin ſetzt ſich mit angeſpanntem Geſicht
Pahlen gegenüber, an die andere Seite des Schreibtiſches. Ich
danke Ihnen, daß Sie gekommen ſind, Graf Panin,
und daß Sie auch in Ihrer Kleidung meiner Bitte folg-
ten und ſchlichtes Zivil tragen. Ich wollte nicht, daß die
Spione, die gewiß auch am Haus des Gouverneurs
lauern, Sie erkennen und die abendliche Zuſammenkunft
ins Schloß melden. Sie begreifen mich, Graf.
Panin nervös Verzeihen Sie, Exzellenz, ich begreife
Sie wohl nicht ganz. Warum ſollen Sie, der Regie—
rungschef, nicht einen ſeiner Miniſter vor aller Augen
bei ſich empfangen dürfen. Ich möchte faſt meinen, daß die
Verdunklung, die Sie wünſchten, in dieſer mißtrauiſchen
Zeit gefährlicher iſt.
Pahlen lächelnd Das ſcheint mir doch davon ab—
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zuhängen, was ich mit Ihnen zu beſprechen habe, Panin.
Und daß es ſich nicht um Angelegenheiten Ihres Reſſorts
handelt, werden Sie ſich nach alledem denken können.
Ahnen Sie nicht, um was es geht, Panin?
Panin bedrückt Nein.
Pahlen ernſt Ahnen Sie es nicht, Nikita Petro—
witſch? Ahnt es auch nicht die Unruhe auf Ihrem Geſicht?
Es muß vielleicht ſein, mein Freund, daß wir zwiſchen
uns nichts anderes beſtehen laſſen als die Ehrlichkeit des
innerſten Gedankens. — Ich will Sie nicht drängen und
jetzt nicht noch einmal fragen — wenn wir auch dann
ſchon in dieſem frühen Augenblick das gleiche Wort
ſprächen.
Panin leiſe Sie meinen die ſchlimme Situation des
Reiches, Exzellenz.
Pahlen Wahrhaftig, es geht um das Reich! Denn
glauben Sie, Nikita Petrowitſch, daß das Verhängnis,
welches wir wie eine Lawine wachſen ſehen, vor dem
Beſtand des Reiches haltmachen wird? Wenn ein ver—
düſterter Menſch, ein raſender Menſch ...
Panin hebt bedrängt den Kopf Sprechen Sie von der
Majeſtät, Herr Graf?
Pahlen ſchnell und leiſe Was ſoll wohl dieſe Frage,
Panin? Glauben Sie, fie könnte mir die Sprache ver=
ſchlagen oder gar das Schickſal, das ich mit mir führe? —
Und dieſes Zimmer hat keine Ohren, und hätte es
welche, ſo möchte ich Manns genug ſein, ſie zu verſtopfen.
Er bückt ſich über die Tiſchplatte und ſieht dem Kanzler ins Ge⸗
ſicht Wahrhaftig, Panin, ich ſpreche vom Zaren. Ich
ſpreche von Katharinas kleinem wilden Sohn. Erregt
und allmählich immer lauter Er brachte zuerſt das revo-
lutionäre Frankreich gegen uns auf — und jetzt tapeziert
er närriſch ſeine Wände mit den Bildern des Bonaparte.
il
—
Er ſchloß mit allen europäiſchen Staaten Bündniſſe —
und hat fie jetzt alle zu Feinden: England, Oſterreich,
Preußen, Spanien. Er hat die ganze Welt auf Rußland
gehetzt, er hat ganz Rußland zuerſt zu einem lächerlichen
Potsdam degradiert und dann mit ſeiner jähzornigen
Tyrannei in nackte Angſt um das Leben gejagt — und
dann in die heimlichſte Wut, in die gefährlichſte Wut,
die wir in jedem Atemzug ſpüren — leugnen Sie es,
Panin? — die uns gemach den Atem nimmt! — Doch
das alles war noch vorgeſtern und geſtern: heute aber iſt
er ein Geiſteskranker, der mit den Menſchen hantiert wie
das Kind mit Bleiſoldaten — der ſie aufſtellt, umwirft,
wegwirft, verbiegt, zerbricht! — Panin, morgen iſt Ruß⸗
land ſein zertrümmerter Spielkaſten!
Panin ſteht in großer Erregung auf, tritt ein paar
Schritte rückwärts in das Zimmer, ſpricht unfrei zuerſt, dann klarer
Warum ſagen Sie alles dies, Exzellenz? Zu welchem
Zweck haben Sie mich kommen laſſen? — Warum er—
zählen Sie mir dieſe ſchlimmen Dinge, die ich ſo gut
weiß wie Sie und die wir ſchon oft und geſtern noch
beſprachen — ſachlich aber und als unſeres Herrn Diener?
Warum ſprechen Sie in ſolchen gefährlichen Gleichniſſen,
Herr Graf? Ich bin zwanzig Jahre jünger als Sie, ich
weiß, wer Sie find, ich verehre Sie, ich liebe Sie viel-
leicht: aber warum wagen Sie es, zu mir ſolche Worte
zu ſprechen, ſolche maßlos kühnen Worte? — Glauben
Sie denn, ich verſtünde nicht den ſchrecklichen Sinn und
Ihren ſchrecklichen Willen!
Pahlen ohne ſofort zu antworten, erhebt ſich mit gleichſam
verſonnenem Geſicht, geht langſam auf den Kanzler zu, hält ihn
mit den Augen feſt, ſpricht ruhig Gewiß glaube ich, daß
Sie mich verſtehen, Panin. Ich glaubte es wohl ſchon
früher, als Sie Ihren eigenen Ohren trauten. Ich hätte
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nicht einmal mehr lange Zeit eine Unklarheit zugelaſſen.
— Aber das eine dürfen Sie nicht annehmen, Nikita
Petrowitſch, das eine nicht, das perſönliche Motiv nicht:
daß ich die Ungnade fürchte und deshalb das Staats—
ſchickſal zu meinen Gunſten umbiege. Wenn in mir ein
Wille ſtark geworden iſt, ſo wurde er ſtark, weil ich Augen
habe zu ſehen und für die Verantwortung genügend
breite Schultern — nicht weil ich fürchte, abgeſetzt zu
werden. Ob ich ehrgeizig bin oder nicht, Panin, ob ich
böſe bin oder gut, ob unbedenklich oder überlegt, darf
jetzt weder ich entſcheiden, noch dürfen Sie es. Aber ges
ſchieht mir morgen das Schickſal, das ich täglich in Pauls
Namen Hunderten bereite, dann iſt das Reich verloren,
weil mir die Macht genommen iſt und weil id...
Schlägt ſich mit den Fäuſten an die Bruſt, ruft .. . weil ich
im großen Rußland der einzige Mann bin, der die von
Gott und allen Nöten des Augenblicks befohlene Um—
wälzung leiten könnte!
Pauſe. Die beiden bleiben einander gegenüber, ſehen ſich an.
Panin leiſe, wie für ſich Ich wußte es — und ſelt⸗
ſam, ich kam doch hierher — ich bleibe doch hier — ich
gehöre Ihnen doch! — Sie ſind der Uſurpator.
Pahlen lächelnd Nein, mein Freund, mir ſcheint, ich
bin der Patriot.
Panin gequält Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht. —
Ich ſehe nicht in Sie hinein. Die Geheimniſſe liegen bei
Ihnen ſehr tief.
Pahlen Panin, ich brauche Sie, weil Ihre Perſon
für Rußland der Inbegriff der Lauterkeit iſt. Dort, wo
Sie ſind, iſt für das Reich die Moral; und das iſt ſehr
wichtig, Sie begreifen es. — Im übrigen iſt das Ziel
der Umwälzung legitim. Es handelt fic) um die Ab⸗
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kürzung der unheilvollen Regierungszeit Pauls und um
die Inthroniſierung des Zarewitſch. Jetzt wiſſen Sie,
ſein beſter Freund, bereits Ihre Aufgabe. Sie müſſen
mir helfen, ihn auf unſere Seite zu ziehen. Sie lieben
den ſchönen und gütigen Menſchen, wie ich ihn liebe.
Sie wiſſen wie ich, daß er die neue Sonne über Rußland
ſein wird. Er aber liebt Sie mehr als mich. Es gilt, ihn
einzuweihen, auf die rückſichtsvollſte und vorſichtigſte
Art. Wir dürfen ohne ſein Wiſſen und gegen ſeinen
Willen nicht handeln.
Panin nach kurzer Überlegung Der Zar wird nicht ohne
äußerſten Widerſtand verzichten. Glauben Sie, für ſein
Leben garantieren zu können?
Pahlen langſam Ich will kein Blut. — Aber die
Garantie für das Leben eines Menſchen ſteht keinem
anderen Menſchen zu. Verſtehen Sie mich gut, Panin! —
Das Ausland übrigens ſieht ſchon Blut, und ich erſchrecke
ſelber. Ich zerriß eben einen chiffrierten Bericht unſeres
Londoner Geheimdienſtes, der mir das Tagesgeſpräch
der Klubs und der Börſe meldete. Panin, man ſpricht
dort von dem bevorſtehenden Umſturz in Rußland und
der — Ermordung Pauls. Pauſe. Dann ſehr langſam Und
doch wiſſen in ganz Rußland erſt zwei Menſchen das,
was kommen kann: Sie und ich.
Panin ſehr unruhig Mein Gott, Sie verwirren mich,
Graf! Sie haben eine Art, mich aus mir ſelber zu reißen,
die grauenhaft iſt! Wenn Sie ſo Ihre Antworten formu—
lieren und mein Gewiſſen, ſtatt es zu ſtützen oder zu ent⸗
laſten, unverſehens ſchon mit der letzten Schuld — mit
der Blutſchuld kopulieren, kann ich nicht glauben, daß
Sie in mir etwas anderes ſehen als das nächſtliegende
Werkzeug. — Sie ſind der Überzeugung, daß Sie mich
zur Teilnahme an dem Komplott zwingen können?
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Pahlen O nein, Panin, ich werde weder Ihr Ge—
wiſſen mit einem Menſchenleben belaſten noch Ihre Per⸗
ſönlichkeit degradieren. Ich bin auch nicht der Mann,
der Teilhaber für die Verantwortung ſucht. Ich wollte
Sie nicht verwirren noch gar die Tragfähigkeit Ihres
Gewiſſens prüfen. Aber ich begreife auch die Art Ihrer
Hemmung, und vielleicht, mein Freund, ift fie gar nicht
ſo ſehr verſchieden von meinen eigenen Gefühlen. Wenn
ich Ihnen alſo verſpreche, daß wir, die wir noch ganz am
Anfang ſtehen und ſehr geduldig Schritt für Schritt zu
gehen haben, die Abſetzung des Zaren als Ziel nehmen,
nicht ſeinen Tod: werden Sie dann Ihre Aufgabe ver—
ſuchen?
Panin leiſe Ich arbeite mit Ihnen, Graf Pahlen.
Pahlen Warum iſt Ihre Stimme ſo traurig, Panin?
Panin wendet ſich ab, tritt ans Fenſter, ſpricht leiſe, ohne
ſich umzudrehen Ich ſehe doch Blut. Aber es tut mir weh,
daß ich traurig bin. Sie dürfen auf mich zählen.
Pahlen ſieht einen Augenblick ernſt zu ihm hin und ſetzt ſich
dann wieder, nüchtern ſprechend Wir müſſen jetzt von den
Gefühlen loskommen, Nikita Petrowitſch. Panin wendet
ſich wieder ihm zu. Die Organiſation des Unternehmens,
die in gewiſſem Sinn ſchon vorbereitet iſt, übernehme
ich. Über die Entwicklung verſtändige ich Sie von
Fall zu Fall. Heute kann ich Ihnen ſchon ſagen — und
es wird Sie nicht überraſchen — daß mein Einfluß
auf die Armee ſehr groß iſt und daß ich zum mindeſten
die Petersburger Garniſon feſt in der Hand habe. Von
der Ergebenheit beſtimmter Offiziere, die vom Zaren
gequält oder beleidigt ſind, habe ich mich in einer
Weiſe überzeugt, daß ich mir jetzt ſchon zwei militäriſche
Gehilfen wählen kann. Durch die Reaktivierungsorder,
die ich in dieſen Tagen vom Kaiſer unterzeichnen laſſe,
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werde ich die volkstümlichen Namen aus der großen Zeit
gewinnen, Katharinas gekränkte und verbannte Paladine.
Der Ring um den Zaren kann in vier Wochen geſchloſſen
ſein.
Panin Es iſt furchtbar, Pahlen, es iſt furchtbar!
Pahlen kalt Es iſt notwendig, Panin! — Doch nun
zu Ihnen. Ihr Verhalten in der Offentlichkeit und der
Majeſtät gegenüber darf ſich in nichts von der gewohnten
Art unterſcheiden. Paul hat die überſcharfen Augen des
Verfolgungswahnſinnigen. — Ihre Aufgabe beſchränkt ſich
durchaus auf die Bearbeitung Alexanders. Und auch
dabei werde ich Ihnen helfen. Ich werde ihn wie von
ungefähr einen tieferen Einblick in die politiſche Lage
gewinnen laſſen. Ich werde dieſe zarte Seele ſo zart
ſondieren, daß ſie es gar nicht merkt. Ich werde nichts
anderes tun, als daß ich ihm jede außenpolitiſche Narr⸗
heit, jeden innerpolitiſchen Wahnſinn, jede private
Raſerei des Kaiſers ſachlich und ohne einen Laut des Un—
mutes melde. Alexander wird vor Scham und Zorn
weinen. Er wird ſelbſt zu Ihnen kommen. Ihr Spiel mit
ihm wird nicht ſchwer ſein.
Panin Graf, Sie jonglieren furchtbar mit der Zu—
kunft! Aber wenn das Spiel mit Alexander nicht ſo leicht
iſt, wie Sie annehmen, wenn er ſich weigert, den
Staatsſtreich zu ſanktionieren?
Pahlen Vielleicht, Panin, jongliert die Zukunft mit
mir! Denn ich geſtehe Ihnen, ich vermag mit keinem Ge—
danken Alexanders Widerſtand zu fürchten. — Glauben
Sie denn, daß dieſer junge Menſch — opponierte er
wirklich — mit den Argumenten des Schickſals fertig
wird?
Panin Damit meinen Sie ſich, Graf Pahlen?
Pahlen Mein Gott, Nikita Petrowitſch, ja, ich meine
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mich — und dann ſchon die rollende Lawine! Wer nicht
hinter mich tritt, mag gefährdet ſein.
Panin Jetzt haben Sie zum erſtenmal die klare Alter⸗
native geſtellt, Herr Graf. Ich fühlte ſie ſchon von An—
fang an. Ich habe klein beigegeben, nicht einmal aus per⸗
ſönlicher Angſt vor der Lawine, ſondern aus dem faft
zwangvollen Reſpekt, den Menſchen meiner Art vor den
Elementen des Willens haben. Aber Sie dürfen mit mir
rechnen, wie es auch komme.
Pahlen Ich danke Ihnen, Panin, ich hatte nicht
daran gezweifelt.
Panin flüchtig lächelnd Nein, Sie hatten nicht daran
gezweifelt, Exzellenz. Ich wünſchte, ich gewänne etwas
von Ihrer Sicherheit. Aber vielleicht iſt es bei mir
nur die erſte Erſchütterung. — Ich werde jetzt gehen,
Graf Pahlen. — Er ſteht auf. Ich fürchte, dieſe Nacht
und die folgenden Nächte möchten lang werden. Sie
haben keinen fröhlichen Komplizen gewonnen, das ſcheint
mir gewiß.
Pahlen iſt ebenfalls aufgeſtanden und reicht ihm die Hand
Sehe ich ſehr heiter aus, Nikita Petrowitſch?
Panin ſieht ihm in die Augen Bei Gott nicht, Graf.
Aber ich bedauere Sie nicht. Sie werden auch mit ſich
fertig. — Leben Sie wohl!
Pahlen ſehr ernſt Panin, vielleicht bedauere ich Sie;
aber ich darf es nicht merken laſſen. Die Perſon hat
nichts mehr mit unſerem Werk zu tun. Trainieren Sie ſich
die notwendige Härte an, damit wir beieinander bleiben
können. Wären Sie eigennütziger, ſo wüßten Sie, daß es
für Sie keine andere Möglichkeit gibt. — Gute Nacht,
mein Freund. Panin ab.
Neumann, Patriot 2 IE
Vierte Szene
Pahlen. Dann Lakai. Später Anna.
Pahlen allein. Die Ruhe fällt von ihm ab wie eine Maske.
Pahlen Es iſt ſchwer, ſehr ſchwer! — Mit Männern
wie Panin gelange ich nicht weit, das fühle ich; und doch!
Es ekelt mich vor den profeſſionellen Teufeln!
Er ſetzt ſich, (chon wieder beherrſcht, an den Schreibtiſch und läutet.
Der Lakai kommt.
Lakai Exzellenz?
Pahlen Sofort eine Ordonnanz zu Generalleutnant
Talyſin: ich erwarte ihn nicht um elf Uhr hier, ſondern
ich komme um dieſe Zeit zu ihm. Ich bitte ihn, den Ad—
miral Ribas davon zu benachrichtigen — oder nein, die
Ordonnanz ſoll dann ſelber zum Admiral gehen und ihn
für elf Uhr zu Talyſin bitten. — Für mich dann einen
Schlitten bereit halten.
Lakai Sehr wohl, Exzellenz.
Pahlen Was macht Madame? — War ſie neugierig?
Lakai Durchaus nicht, Euer Gnaden. Die gnädige
Frau ließ ſich einen kalten Imbiß kommen und beſchäftigte
ſich dann mit Leſen. Sie lieſt auch jetzt noch.
Pahlen Iſt ſie bereits im Negligé?
Lakai Nein, Euer Gnaden.
Pahlen Dann bitte ſie zu mir. Lakai ab. Dieſe Frau
iſt noch gefährlicher als meine Sentiments. Sie ſpielt mit
ihnen und mit mir und mit jedem Feuer, das ſie findet.
Sie kennt mich zu gut. Sie ſieht in mich hinein, weil ſie
meine eigenen Augen hat. Sie wird mir mit dem größten
Vergnügen einen Strich durch die Rechnung machen, aus
Spielerei, aus Laune, aus Sinnlichkeit, aus Wildheit,
aus allen dunklen Gründen, die ich an ihr liebe. — Man
müßte ihr zur guten Zeit zeigen, daß man ſo böſe ſein kann
18
wie fie und daß man dazu noch über die größere Kraft
verfügt — das heißt alſo ... Er lacht kurz auf ... daß
ich fie, wenn es notwendig würde, kalten Blutes..
Ach, Annuſchka, was weiß ich heute abend alles Böſe,
das ich noch werde tun müſſen! — Dieſer Panin ſitzt
mir im Schädel ...
Anna kommt.
Anna Sie ſind allein, Pahlen? Warum kommen Sie
dann nicht zu mir?
Pahlen Mein Tageswerk iſt leider noch nicht beendet,
Anna Petrowna, ich muß noch fort, und zwar ziemlich
bald. Ich meine, es iſt das beſte, wenn ich Sie dann mit
meinem Schlitten nach Hauſe bringe; — denn ich kann
ſchwer die Stunde vorausſagen, wann ich wieder hier
ſein werde. Und ich ſähe es aus beſtimmten Gründen
nicht ſehr gern, blieben Sie allein hier. Pauſe. Anna,
wollen wir jetzt noch, nach ſo langer Zeit anfangen, ein—
ander Schwierigkeiten zu machen? Der Teufel oder dein
intrigantes Genie hat dich heute abend zu mir gebracht.
Hoffentlich haben wir beide es nicht zu bedauern.
Anna Hoffentlich nicht, Pahlen; aber Sie irritieren
mich auf eine unleidliche Art. — Ihr Tageswerk! —
Glauben Sie wirklich, daß ich jetzt mit den zähneknirſchen⸗
den Witzen der eiferſüchtigen Frau aufwarte? — Ich
glaube ſehr wohl an die beſondere Ehrlichkeit dieſes Wor—
tes, mein Freund! f f
Pahlen entſchloſſen Anna, wie ſtehen wir zueinander?
Wo willſt du hinaus? — Wer zahlt dir einen ſolchen
Preis für die Denunziation meiner Perſon, daß du
unſere Verbindung aufs Spiel ſetzſt — vielleicht noch
mehr?
Anna Das iſt eine ſehr törichte Beleidigung, Pahlen.
Ich vermiſſe heute abend deine Überlegenheit, die ich zu
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bewundern gelernt habe. Vielleicht ärgere ich mich weniger
über deinen Mangel an Höflichkeit und Vertrauen als
über deinen Mangel an Mut — ja, Pahlen, an Mut!
Pahlen lacht Hoho, Madame, dieſer Vorwurf möchte
mich überraſchen!
Anna Verſteh mich nicht falſch, Pjotr: ich meine da—
mit nicht Feigheit. — Wie ſoll ich es ausdrücken — du
haſt jetzt Augen, als wenn ich oder du von meinem toten
Mann ſprechen würden. Du haſt jetzt dein Gewiſſen in den
Augen.
Pahlen ernſt und leiſe Sprich bitte weiter, Anna.
Anna Wie wir zueinander ſtehen? — Das fragtſt du
immer, wenn du Angſt vor mir haſt — oder richtiger ge-
ſagt: vor dem Gewiſſen. — Wir hängen nicht nur mit den
Körpern zuſammen, wie du dir und mir gerne einreden
willſt. Du betrügſt mich ſeit zehn Jahren und ich — nun,
du behaupteſt von mir das gleiche. Aber ich habe zuweilen
deinen Körper nötig und du — du kannſt nicht vergeſſen,
daß du vor zehn Jahren den Baron Oſtermann in den
Heldentod kommandierteſt, als er uns unbequem wurde.
Das iſt unſere Bindung, die ich natürlich weidlich aus—
nützte. Deshalb avancierteſt du mich mit dir ſelber die
unglaubliche Kurve deines Glückes hinauf. Deshalb war
weder von dir noch von mir im Laufe dieſer zehn Jahre
viel von Dankbarkeit und noch weniger von Liebe ge—
ſprochen worden. Und du dankſt mir dieſes Schweigen
mit deiner Art Anhänglichkeit, die mir vielleicht not-
wendig iſt. Und ich danke es dir mit meiner Art Perfidie,
die du gewiß nötig haſt. — Zum Beiſpiel wieder heute,
wo dein Gewiſſen auszubrechen droht und wo das neue
Werk deiner Tage es wenig brauchen zu können ſcheint.
Pahlen ſieht ſie unverwandt anz dann nach einer Pauſe,
langſam Sie find ſehr gefährlich, Madame; vielleicht weil
20
Sie in manchem recht haben — ſchon weil Sie ſolche dunkle
Beziehung durchzudenken wagen. — Aber was würden
Sie dazu fagen, wenn einmal meine Gewiſſenloſigkeit —
mein durch Ihren Genius bis zur letzten Brutalität ver—
härtetes Gewiſſen den Entſchluß faſſen müßte, ſich Ihrer
zu entledigen?
Anna weicht etwas zurück, lächelt dann Ich würde wenig
ſagen, Pahlen, ich würde mich zur Wehr ſetzen — ich
würde mich mit deinem ganzen Geiſt zur Wehr ſetzen
— und mit meinen Inſtinkten dazu. Ich würde dich den
Glücksberg hinunterſtürzen — und mich mit dir — und
gern wieder mit dir zu klettern anfangen, wenn wir noch
heile Glieder haben. Sie kommt ganz nahe. Pjotr, ich wehre
mich vielleicht ſchon ... Sie küßt ihn.
Pahlen macht ſich ſanft frei, lacht Du ſchlüpfſt von keiner
Seite in mein Geheimnis, Anna! Nehmen wir den wahr—
ſcheinlichſten Grund an: weil ich keines habe! — Laß
die hohe Politik, Annuſchka, und bleibe bei der horizon—
talen. Der Lakai kommt Alles erledigt, Iwan?
Lakai Ja, Euer Gnaden; der Schlitten ſteht bereit.
Pahlen Gut. Die Pelze! Zu Anna Gehen wir, Ma—
dame. :
Anna auf dem Weg zur Tür Sagen Sie mir doch, lieber
Freund, warum kam vorhin der ſanfte Panin in ſo un—
dienſtlichem Schwarz zu Ihnen? Hat er Trauer? Pahlen
bleibt mit zuſammengekniffenen Lippen ſtehen. Sie müſſen
nämlich wiſſen, daß ich ihn — aus Zufall oder nicht —
von der oberen Galerie aus habe ins Vorzimmer treten
ſehen.
Pahlen durch die Zähne Ich glaube, er hat Trauer,
Madame. Sie gehen.
Vorhang
217
Zweiter Akt
Erſte Szene
Vorſaal zum kaiſerlichen Arbeitskabinett im Michaels-Palais —
Vormittags.
Flügeladjutant Murawiew. Der Kammerherr. Abſeits der
Stabskapitän. Rechts und links von dem zum Treppenhaus
führenden Portal Stepan und ein zweiter Leibgardiſt.
Murawiew zum Kammerherrn Er raſt heute, verprügelt
die Lakaien, will ſchon wieder ſechzigtauſend Mann gegen
Berlin ſchicken.
Kammerherr mit nervöſem Grinſen Lieber Sergej Niko—
lajewitſch, amüſieren wir uns doch damit, uns zu be—
trachten, wie wir nach ſeiner Pfeife zu tanzen vermögen.
Schließen wir kleine Wetten ab, ob wir nicht doch noch
zu fallen Gelegenheit haben werden. — Nehmen wir
dieſes Leben ... mit einer bezeichnenden Kopfbewegung ... die⸗
ſes Leben nicht tragiſch; — denn es dauert doch kaum
mehr lange Zeit. — Sie verſtehen mich wohl, Murawiew.
Murawiew zwiſchen den Zähnen Ich wollte aus die—
ſem Tollhaus heraus, und wenn ich im öſtlichſten Linien—
regiment verſauern müßte! Aber jetzt gilt es wahrhaftig,
auszuhalten — es dauert nicht mehr lange...
Kammerherr flüſternd Nein, es dauert nicht mehr
lange .. . Dieſer Pahlen iſt der genialſte Teufel, der im
heiligen Rußland jemals das Schickſal korrigierte. Er ar—
beitet mit unfaßlicher Sicherheit — wie eine Spinne. Er
22
fängt jeden Augenblick neue Seelen ein, umwickelt den
Zaren immer feſter — und der Narr merkt es nicht, weil
er immer noch ſtrampeln darf. Aber man muß Nerven
haben, um zuſehen zu können — um aushalten zu können,
den Fußtritten immer wieder auszuweichen — um nicht
fortzulaufen!
Murawiew Und jetzt ſitzt dieſer Pahlen kalt und rieſig
und mit ſeinem Steingeſicht da drin neben dem Tob—
ſüchtigen, nimmt ſeelenruhig und ohne Erwiderung eine
närriſch ultimative Depeſche für den Berliner Geſandten
entgegen und macht mit kaum ſichtbaren chiffrierten An—
merkungen die Anordnungen des Kaiſers unwirkſam — in
ſeiner Gegenwart!
Kammerherr Und dabei wiſſen wir eigentlich nichts
— nicht das Wie und das Wann...
Murawiew Wir wiſſen ſehr wenig, aber es dauert
nicht mehr lange...
Man hört die kreiſchende Stimme des Zaren hinter der geſchloſſenen
Flügeltür.
Kammerherr Die ſchöne Lopuchin ſcheint heute nacht
nicht tüchtig...
Die Tür wird aufgeriſſen. Alle Perſonen des Raumes erſtarren zu
Bildſäulen.
Zweite Szene
Die vorigen. Der Zar. Später Pahlen.
Der Zar ſteht in der Tür. Die Augen mit den flackernden Lidern
ſehen an den Perſonen des Vorſaales vorbei. Das Geſicht blaß,
gedunſen, zu hohe Stirn, aufgeworfene Naſe, ſehr häßlicher ſinn⸗
licher, etwas ſchiefer Mund, ſehr ſanftes frauenhaftes Kinn. Nervöſe
Zuckungen zumal der Brauen und der rechten Schulter, die höher
ſcheint als die andere. Er geht jetzt, immer noch mit abweſendem
Geſicht, in den Saal, den Blick am Boden ſchleifend, kommt am
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Stabskapitän vorbei, dreht ſich plötzlich um und ſtößt jenem mit
ſeinem derben Reitſtiefel die Fußſpitzen auseinander.
Zar kreiſchend Vorgeſchriebener Winkel das? Was?!
— Weiß Er es noch nicht und will Gardeoffizier ſein?! —
Er ſoll es lernen.
Stabskapitän Sire ...
Zar ſchreit Er redet ungefragt?! — Murawiew!
Murawiew ſpringt drei Schritte hinter ihn Majeſtät?
Zar Hauptmann ſtrafverſetzt zum Jeletzkijſchen In—
fanterieregiment nach Mogilew!
Murawiew notiert den Befehl Sehr wohl, Majeſtät.
In der noch halbgeöffneten Tür erſcheint jetzt Pahlen, überfliegt
die Szene, kalt, teilnahmslos, hebt nur ein wenig die Brauen. Den
Zaren ſcheint ein beſtimmtes Intereſſe gefaßt zu haben. Er geht
zu einem der beiden Gardiſten am Treppenhausportal, bückt ſich
und zählt halblaut und mit ſachlichem Geſicht die Gamaſchenknöpfe
des unbeweglichen Mannes. Er richtet ſich wieder auf, prüft Uniform,
Zopf, Helm — geht zum anderen, Stepan, bückt ſich, zählt wieder,
fährt in die Höhe und ſchlägt ihn mit der Fauſt gegen das Kinn. —
Pahlen kommt langſam auf die Gruppe zu.
Zar ſchreit Murawiew! Den Kerl zum Stockmeiſter!
Murawiew ruft ins Treppenhaus Gefreiter!
Ein Wachgefreiter kommt und will auf ein geflüſtertes Wort Mu⸗
rawiews hin den Poſten abführen.
Pahlen ſteht jetzt neben Stepan, hat ſcharf auf deſſen Beine
geſehen, leiſe zum Zaren Sire, der Mann hat ja die
vorgeſchriebenen fünfundzwanzig Knöpfe.
Zar zu dem Wachgefreiten, der Stepan abzuführen im Begriff
iſt Halt! — Hierher! — Heb fein Bein hoch! Der Gefreite
hebt Stepans Bein hoch. Der Kaiſer zählt von neuem, langſam und
jeden einzelnen Knopf mit dem Zeigefinger berührend. Dann ſieht
er auf und ſchaut Pahlen mit ſchwerem Blick an, ein halbes,
gefährliches, grauſames Lächeln zeigend. Zum Gefreiten Hände
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weg! — Stepan, mit angſtnaſſem Geſicht, ſchwankt auf dem
einen Bein. — Bein hoch, Kerl! — Nicht wackeln! Er ſteht
breitbeinig vor Stepan, deſſen Geſicht allmählich den Ausdruck
einer ſtumpfen Wut zeigt, und ſchlägt mit der Reitpeitſche immer
wieder das abſinkende Bein in die Höhe. Bein hoch! Bein hoch!
Er ſieht Pahlen an, der den Poſten beobachtet Bein hoch, Kerl!
Das Vein fink immer tiefer. Die Gertenhiebe praſſeln. Jetzt ftellt
Stepan mit einem dunklen Laut den Fuß auf den Boden. Bein
hoch, Kerl! Stepan rührt ſich nicht; Zar zu Pahlen Ich
konſtatiere Ungehorſam, Gouverneur, Ungehorſam gegen
den Befehl des Zaren! — Biſt du anderer Anſicht, Gou—
verneur?
Pahlen kalt Nein, Majeſtät.
Zar Murawiew! Poſten in Eiſen ſchließen! Drei Tage
ſchweren Arreſt! Sechzig Knutenhiebe, einzuteilen nach
Ermeſſen des Stockmeiſters! Zu Pahlen Biſt du anderer
Meinung, Gouverneur?
Pahlen Nein, Majeſtät.
Zar Das freut mich — das freut mich! — Ich bin in
Stimmung. — Jetzt ſollen die Kerls unten ſchwitzen! —
Steht die Wachkompagnie im Schloßhof?
Murawiew Zu Befehl, Majeftat.
Zar zum Treppenhaus ſchreitend, ſehr laut Ich gebe per-
ſönlich die Kommandos! — Die Herren Offiziere haben
mitzuexerzieren! — Meinen Korporalſtock! Zar ab.
Dritte Szene
Die Vorigen, ohne Zar.
Pahlen leiſe zu Murawiew Schicken Sie den Gefreiten
fort. Murawiew ſpricht ein paar Worte zum Gefreiten, der mit
militäriſcher Wendung geht. Pahlen freundlich zu Stepan Geh
auf deinen Platz, mein Sohn.
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Stepan tritt ans Portal zurück. Man hört vom Schloßhof her die
Stimme des Zaren Kommandos kreiſchen, dann fein hetzendes
„Eins — zwei! Eins — zwei!“ und des Korporalſtocks ſcharfes
Taktſtoßen auf das Pflaſter. Pahlen ſchließt mit angewidertem
Geſicht das Fenſter. Murawiew ſpricht leiſe mit dem Kammerherrn.
Pahlen zum Stabskapitän Kapitän, auf ein Wort.
Stabskapitän eilt zu ihm in die Fenſterniſche Exzellenz
befehlen?
Pahlen ſieht ihn einen Augenblick ſtumm an, dann leiſe
Haben Sie die Maßregelung verdient, Kapitän?
Stabskapitän nach dem Moment der Verblüffung Nein,
Exzellenz, ſo wahr mir Gott helfe — und auch, wenn Sie
ein Ja erwarteten — mit Verlaub ...
Pahlen Ich habe das Nein erwartet, Kapitän. Ich
ſelber ſage nein. Pauſe. Er ergreift ſeine Hand. Verſtehen wir
uns, Kapitän? Kann ich mich auf Sie verlaſſen, wie Sie
ſich auf mich verlaſſen können?
Stabskapitän So wahr mir Gott helfe!
Pahlen Gut, mein Freund, ich ſuspendiere die Straf—
verſetzung. Gehen Sie in die Preobraſhenſkij-Kaſerne und
melden Sie ſich beim Gardekommandeur zur beſonderen
Verwendung. — Wir aber werden uns wohl bald wieder
ſehen, Kapitän. — Leben Sie wohl.
Stabskapitän Ich kann dankbar ſein, Exzellenz.
Mit tiefer Verbeugung ab.
Vierte Szene
Die Vorigen, ohne Stabskapitän.
Kammerherr leiſe zu Murawiew Wieder einen...
Murawiew ebenſo Wieder einen ... Er hat es nicht
mehr ſchwer — er geht hinter Paul her und lieſt die
Trümmer auf und macht fie lebendig ...
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Sie ſprechen leiſe miteinander weiter, Pahlen beobachtend.
Pahlen hat eine Weile Stepan betrachtet Grenadier,
komm einmal her. Stepan gehorcht. Wie heißt du?
Stepan Stepan Warulenko, Exzellenz.
Pahlen Höre, Stepan: Was dachteſt du dir, als ich
unſerem großmächtigen Zaren nach wies, daß er ſich wegen
deiner Gamaſchen geirrt hat?
Stepan Ich dachte, daß es von Eurer Exzellenz ſehr
gütig ſei, aber daß es mir — daß es mir wenig helfen
wird.
Pahlen So gut kennſt du unſeren großmächtigen
Zaren, Stepan?
Stepan ſchweigt.
Pahlen Und was dachteſt du dir, als ich deinen Un—
gehorſam zugab?
Stepan bedrängt Exzellenz konnten wohl kaum
anders ...
Pahlen Ich frage doch, was du gedacht hatteſt,
Stepan! Sprich nur frei heraus. Ich bin nicht der Zar.
Stepan hebt entſchloſſen den Kopf Ich dachte, daß es
Euer Exzellenz nicht — nicht würdig fet, nicht die Wahrheit
zu ſprechen ... ja, das dacht' ich.
Pahlen Aber der Zar hat auch nicht die Wahrheit
geſprochen, Stepan.
Stepan unbeherrſcht Der Zar ... der Zar iſt ...
Pahlen Was iſt der Zar, Stepan? — Du darfſt reden.
Deine Augen vorhin haben es ſchon geſagt — deine Augen
gefielen mir nicht ſchlecht, Stepan! — Jetzt wiederhole es
nur!
Stepan keuchend Der Zar iſt ... ausbrechend Herr,
was quälen Sie mich! Man quält uns genug! Soll es mir
den Kopf koſten! Verängſtigt Nichts für ungut, Euer
Gnaden .. . Ich weiß ja nicht, was Sie von mir wollen.
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—
Pahlen lächelnd Ich will Ehrlichkeit, Stepan. Wenn
du mir ehrlich ſagſt, was der Zar iſt, bewirke ich, daß du
weder eingeſperrt noch geknutet wirſt. An ſeinem Ohr Ich
ſuche ehrliche und mutige Männer, Stepan.
Stepan öffnet weit die Augen, flüſtert Der Zar iſt der
Teufel!
Pahlen immer nahe dem Geſicht des anderen Und du haſt
gelernt, den Teufel zu haffen, Stepan?
Stepan Ja ja
Pahlen Du ſollſt ihn haſſen — wie ich! Stepan, wie
ich ihn haſſe!
Stepan fromm und einfältig hingegeben Ich gehorche dir
— gern gehorch ich dir, o mein Väterchen ...
Pahlen Gut, Stepan, jetzt ſtell dich an deinen Platz
zurück. Stepan gehorcht. Pahlen geht zu Murawiew und Kam—
merherrn. Der Burſche hat eine verläßliche Wut in den
Augen, Murawiew; er ſcheint mir verwendbar. Ich
nehme ihn zu mir als Ordonnanz. Sie werden ihn un—
ſchwer am Arreſtlokal vorbei in mein Haus ſchmuggeln
können, Murawiew?
Murawiew Das wird nicht ſchwer ſein, Exzellenz.
Pahlen Schön; — und dann vergeſſen Sie nicht,
mein Freund, mich über alle perſönlichen Befehle der
Majeſtät — Beſtrafungen, Beförderungen und Regle—
ments ſtets und ohne Verzug zu orientieren. Sie wiſſen,
es iſt für unſere Sache wichtig.
Murawiew Ich weiß es ſehr gut, Exzellenz.
Pahlen zum Kammerherrn Baron, iſt die Anna Lopuchin
jede Nacht bei dem Kaiſer?
Kammerherr Ja, Exzellenz.
Pahlen Man berichtet mir, daß Ihre Majeſtät durch
die Frechheit und Deutlichkeit der Perſon auf das äußerſte
aufgebracht ſei.
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Kammerherr Um fo mehr, Exzellenz, als das Schlaf—
zimmer Ihrer Majeſtät in peinlicher Nähe des kaiſerlichen
liegt, wie Sie wiſſen.
Pahlen Hat der Zar in letzter Zeit noch einmal davon
geſprochen, die Verbindungstür zwiſchen ſeinen Gemii-
chern und denen der Kaiſerin zumauern zu laſſen?
Kammerherr Nicht daß ich wüßte, Exzellenz.
Pahlen Erinnern Sie ihn bei guter Gelegenheit
daran; es iſt vielleicht nicht unwichtig. Er ſieht die Bee
troffenheit des Kammerherrn. Nun ja, Baron, man muß an
alles denken. — Wenn Ihre Nerven vor tragiſchen
Möglichkeiten zurückſchrecken, Baron, dürfen Sie ohne
weiteres abtreten. Ich würde Ihnen nicht zürnen und
Sie auch nicht mit dem leichteſten Reſſentiment be—
laſten; denn ich könnte es verſtehen. Ich könnte es ſogar
verſtehen, wenn Sie mich in der äußerſten Spannung
Ihres Gewiſſens beim Zaren denunzierten. Ich würde es
Ihnen nur deshalb nicht raten, weil es Sie in unmittel-
bare Gefahr brächte — nicht durch mich, ſondern durch
Paul ſelber. Ich perſönlich ſähe eine gelegentliche De—
nunziation nicht einmal ungerne, weil ich dann beſſer und
ſchneller arbeiten könnte.
Kammerherr ſehr ernſt Ich hatte gehofft, meine Be—
reitſchaft für die Sache und meine Ergebenheit für Sie
möchten nicht angezweifelt werden können. Sie haben
mein Wort, daß ich mit Ihnen arbeite, und ich pflege
mein Wort zu halten.
Pahlen Gewiß, gewiß, Baron. Ich zweifelte auch
niemals Ihre perſönliche Ehrenhaftigkeit an, ſondern nur
Ihre Nervenkraft — und auch dies nur für eine Se—
kunde. Ich bitte Sie um Verzeihung: ich wollte Sie nicht
kränken. — Halten Sie übrigens die Lopuchin in unſerem
Sinn für gefährlich? Nach den Berichten meiner Agenten
abe)
ſcheint fie von der Aktion keine Ahnung zu haben und keine
anderen Intereſſen zu kennen als die der kaiſerlichen Ko⸗
kotte.
Kammerherr Das kann man von Frauen dieſer Art
niemals wiſſen. Ich hielte es für beſſer, wenn ſich der Zar
weniger ausſchließlich mit ihr beſchäftigte. Durch ſie
ſchlüpft er doch aus der Kontrolle, ſcheint mir. f
Pahlen überlegend Da mögen Sie nicht unrecht
haben... Nach einer Pauſe zu Murawiew Sagen Sie, Mu-
rawiew, finden Sie den Grafen Panin verändert?
Murawiew Ja, Exzellenz, er leidet — faſt zu ſichtlich.
Und der Kanzler iſt ein ſehr ſchlechter Lügner ...
Pahlen Weiß Gott — und dieſe Tugend iſt ein großer
Fehler — für unſereinen. Bitter Panin paßt ſchlecht zu
mir; denn ich kann lügen — oder möchten Sie es beſtrei—
ten, Messieurs? Die beiden ſchweigen betreten. Nun nichts für
ungut, meine Herren, mich widert manchmal der Beruf
an. Es wird Ihnen nicht anders gehen. Auf Stepan zeigend
Schaffen Sie mir den Burſchen fort, ehe der Zar zurückt
kommt, Murawiew. Mir liegt an dem Kerl etwas. Er ha—
in gewiſſen Augenblicken Schwefel im Blick. — Und wenn
der Großfürſt⸗Thronfolger nach mir verlangt: ich bin im
Generalſtab. — Ich danke Ihnen, Messieurs, auf Wieder—
ſehen!
Pahlen ab. Kammerherr und Murawiew ſehen ſich an.
Kammerherr ernſt und langſam Möchten Sie Pahlen
ſein, Murawiew?
Murawiew Nein, Baron, ich werde nicht einmal mit
dem Murawiew fertig. Geht zu Stepan Komm, Kerl, die
Knute hätteſt du nicht verdient; aber ich weiß noch nicht,
ob du die Knute verdienſt, die man dir in die Hand geben
ya Ab mit Stepan, Kammerherr folgt langſam.
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Fünfte Szene
In den unterirdiſchen Verbindungsgalerien unter dem Winter⸗
palais. Kreuzung zweier Haupteingänge mit einer verborgenen
kleinen Treppe, die nach oben führt. In dem kleinen Raum, den
die Treppe in ihrem Beginn unter ſich bildet, ein ſchmaler Tiſch
zwiſchen zwei Holzſchemeln. Nacht.
Panin, pelzverhüllt, tappt fic) mit einem kleinen Ollicht, das der
Zugwind zu verlöſchen droht, den einen Gang herauf, der Kreu⸗
zung zu.
Panin Teufel, mir liegen dieſe Dinge nicht... Alle
dieſe Nächte ſind ſo traurig und unerbittlich und meiner
Seele ſo feindlich wie das Ziel, zu dem man mich hin—
peitſcht. — O dieſes Ziel, dieſes blutrote Wegende, das
erreicht werden muß — Mein Gott, immer daran denken,
an das große Leben denken, und nicht an das kleine — an
dieſes eine kleine irre, böſe Leben! — Wäre ich ein Mann
wie Pahlen, ein Mann, ein Mann! Er beleuchtet den Raum
unter der Treppe. Der Prinz iſt noch nicht da. Das Warten
iſt das Schlimmſte. — Pahlen! Warum tut er das?
Wie weiß er, daß er dies Ungeheure tun darf? Warum
weiß ich, daß ich nicht einmal zur Aſſiſtenz tauge? Iſt er
der Patriot und bin ich es nicht? Er ſetzt ſich an das Tiſch—
chen. — Warum kommt Alexander nicht? — Er hat doch
nur dieſe widerlich heimliche Treppe herunterzuſteigen,
um hier zu fein... Er ſteht wieder auf. Mein Gott, ich habe
als Verſchwörer noch keine Übung... Warum kommt
der Prinz nicht? Was kann geſchehen ſein? Zwiſchen
dieſen naſſen Mauern muß ich immer an Kerker denken
und an das viele Böſe, das hier herumgeiſtert ... Dieſer
hölliſche Luftzug — vielleicht iſt die Kellertür auf
gegangen.
Er geht den Gang zurück.
Sechſte Szene
Alexander. Dann Panin.
Alexander kommt die Treppe herunter. Ein Windſtoß löſcht ſeine
Laterne aus. Er tappt ſich weiter und ſtößt an der Kreuzung mit
dem zurückkommenden Panin zuſammen, deſſen Laterne ebenfalls
verlöſcht iſt.
Alexander erſchrocken flüſternd Wer da!
Panin läßt ſeine Laterne fallen, aufſchreiend, den Prinzen
gegen die Wand ſchleudernd, den Degen ziehend Verrat! Tod
und Teufel!
Alexander vor Schmerz ſtöhnend Panin, Sie haben mir
weh getan! Machen Sie doch Licht!
Panin Um Gottes willen, Hoheit, verzeihen Sie mir!
Sind Sie verletzt?
Alexander Nein, ich prellte mir nur die Ellbogen.
Aber ſind Sie des Teufels, Panin, ſo nervös zu ſein und
ſo zu lärmen? Machen Sie doch Licht!
Panin Mein Feuerzeug liegt auf dem Tiſch; einen
Augenblick . . . Ich ließ meine Lampe fallen.
Alexander So warten Sie. Er zieht ein Feuerzeug aus
der Taſche und ſteckt ſeine Laterne an. — Hoho, Herr Graf,
mit bloßem Degen mir gegenüber? — Dieſer Anblick ge-
fällt mir nicht!
Panin wendet ſich ab und ſteckt den Degen in die Scheide
Sie müſſen mir verzeihen, Hoheit, die Umſtände verſchul—
deten meine Verwirrung. Sie wiſſen, wie ich Sie liebe.
Alexander leiſe Die Umſtände ... mir gefallen auch
die Umſtände nicht, Panin. Ich brauche unter dieſen
Umſtänden nicht einmal viel Phantaſie dazu, um den
nackten Säbel ominös zu finden. Was nützt mir und
Ihnen Ihre Liebe, Panin! Ach, mir iſt nicht wohl zu—
mute
32
Er geht langſam zum Treppenraum, Panin folgt ihm frierend
und müde. Alexander nimmt einen Kupferleuchter, der unter den
Treppenbalken verſteckt iſt, zündet ihn an und ſtellt ihn auf den
Tiſch. Er ſetzt ſich und ſtützt den Kopf in die Hand.
Panin ſich ebenfalls ſetzend Ich wartete ſchon lange,
Prinz. So kam meine Unruhe.
Alexander Ach ja, verzeihen Sie mir. Ich wagte
mich nicht hinunter. Es wurde nicht ruhig oben. Und ich
ſehe in jedem Lakai einen Spion meines Vaters. Den
Kopf hebend, ſich erregend Und dabei weiß ich nicht einmal,
ob er daran denkt, mich ausſpionieren zu laſſen. Er hat
mir noch nicht viel Böſes getan, auch nicht viel Gutes,
das iſt wahr. Er liebt mich nicht, das iſt wahr. Aber es
iſt der Fluch der Herrſchenden, die Erbſöhne zu haſſen
oder zu fürchten. — Und wäre es unberechtigt, Panin?
Er mißtraut mir nicht mehr als aller Welt — und hat er
nicht allen Grund, mir am meiſten zu mißtrauen? — Ach,
Panin, ich weiß noch nicht einmal, ob ich Ihnen klagen
darf, daß mir mein Gewiſſen Qualen bereitet!
Panin Mein Gott, Alexander, ſind wir ſo verſtört,
daß wir uns nicht mehr ſehen, wie wir ſind? Wie können
Sie das ſagen? Dürfen wir denn nicht ausſprechen, was
uns auf dem Geſicht geſchrieben ſteht?
Alexander leiſe Ich fürchte, nein.
Panin bedrängt Wenn wir es nicht dürfen, Prinz,
ſo müſſen wir die Zähne zuſammenbeißen und unſere
Pflicht tun. Die Ereigniſſe ſprechen eine zu laute und
dringliche Sprache, als daß Sie noch ſchwanken könnten.
Sie haben niemals gezögert, die Zukunft des Reiches zu
repräſentieren. Wenn das politiſche Schickſal die Zeiten
durcheinanderſtürzt, haben Sie die Pflicht, für uns
Gegenwart zu ſein.
Alexander Ich weiß es — ich weiß es! Ich zwinge
Neumann, Patriot 3 33
mich nicht einmal zu dieſer Pflicht! Es fteden viele
Ambitionen und Empörungen in mir! — Vielleicht iſt
es meine Jugend, daß ich von Gewaltloſigkeit träume
und doch regieren will. Oder vielleicht iſt es das böſe
Beiſpiel meines Vaters. Aber — das iſt immer noch die
Frage — wer ſteht vor der Geſchichte reiner da: der
Vater, der Böſes tut, jedoch mit Recht regiert, oder der
Sohn, der Gutes will, aber durch Unrecht auf den Thron
kommt?
Panin Sie formulieren falſch, Alexander. Der Arzt,
der einem Kranken gegenüber in ſeinem Intereſſe oder
gar im Intereſſe der Allgemeinheit zu Maßregeln greift,
tut kein Unrecht.
Alexander Gewalt iſt Gewalt. Mein kaiſerlicher
Vater iſt nicht ſo irre, um nicht gegen ſeine Abſetzung mit
allen Mitteln ſeiner Stellung und ſeines Jähzorns an—
zukämpfen. Mit erhobener Stimme Und wer haftet mir für
ſein Leben?
Panin nach einer Pauſe Ich — mit meinem Leben.
Schweigen.
Alexander Sie ſind ein Ehrenmann, Panin, aber
kein Kaiſer. Die Geſchichte möchte mich in dieſem ſchlim—
men Fall zum Vatermörder machen, ohne Ihren Paladin—
ruhm zu ſchmälern. Ihre Garantie genügt mir nicht.
Panin Und — Pahlens — Garantie?
Alexander Pahlen? — Pahlen? Diefer Mann garanz
tiert nicht, Panin. Dieſen Mann kümmert das Leben des
Menſchen nicht . .. Auch er iſt kein Kaiſer; aber er hat
ein Talent — ein gefährliches Talent, das Ihnen fehlt:
er iſt der geborene Uſurpator!
Panin langſam, wie prüfend Prinz, er iſt der Patriot!
Alexander unruhig Ich weiß es nicht, Panin, ich
weiß auch nicht, ob ich mir nicht mit alledem ſchade; denn
34
ich überſehe noch nicht euren Zuſammenhang — ich bin
für die Kunſt des Mißtrauens wohl noch zu unerfahren.
Die finſteren Zuſammenhänge ſehe ich noch nicht. —
Wahrhaftig, ich weiß nicht, Panin, ob Sie nicht jedes
Wort von mir ihm melden oder ihm melden müſſen. Aber
ich ſage es Ihnen doch: Pahlen wird weder mein Ver—
trauter ſein noch mein Freund. Er ſteht erregt auf. Ich
ſage Ihnen noch mehr, Panin. Ich habe nicht einmal
die Möglichkeit, ihn an ſeiner Art Patriotismus oder
ſeiner Art Revolution zu verhindern; denn möchte ich
ihn ſtürzen, durch ein Wort zu meinem Vater — und es
iſt noch fraglich, ob es mir gelänge — dann vernichtete
ich das Reich, mein eigenes Reich! Das iſt mir ſehr klar.
Wahrſcheinlich iſt es, daß ich dann auch meine eigene
Perſon in die gleiche Gefahr brächte. Bei dieſer Art
Patrioten fällt dann mit Notwendigkeit die letzte dyna—
ſtiſche Hemmung weg. — Und jetzt ſage ich Ihnen alles,
Graf: Ich habe Furcht vor ihm! Bei Gott, ich fühle die
erſte gewaltige Furcht meines Lebens. — Und ich kann
von meiner Furcht nicht loskommen, indem ich mich von
ihm befreie; denn er iſt mir notwendiger als ich ihm. Will
ich nicht in der Luft hängen, ſo muß ich mich an dieſen
muskulöſen Dämon klammern. Er kann mich, will er es
nur, in ſeine Revolution hineinzwingen, wie er wohl
auch Sie gezwungen hat, Panin; denn Sie haben ſeit
ſechs Wochen keine glücklichen Augen mehr und ſind fahl
und traurig wie Ihr eigenes Geſpenſt. — Das alſo wird
das Schickſal meiner Inthroniſierung ſein! Es iſt nicht
dazu angetan, aus mir einen heiteren Kaiſer zu machen ..
Abbrechend, ſich müde wieder ſetzend Jetzt tun Sie mit meinen
Worten, was Sie wollen, Panin.
Pauſe.
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Panin Es iſt gut, Alexander — es iſt gut, daß Sie
mir dies alles ſagten. Ich gehöre zu Ihnen, ich gehöre
nicht zu Pahlen. Sie ſprachen aus, was ich zu denken
kaum mehr wagte. Daß unſere Gefühle für den Mann
und für ſein Werk die gleichen ſind, iſt ſchon eine Waffe
gegen ihn. — Verſtehen Sie mich, Alexander?
Alexander Ich verſtehe Sie wohl, Panin; aber ich
weiß nicht, ob es gut für uns iſt. Ich glaube es nicht.
Hüten Sie ſich vor der kleinſten Revolte gegen ihn — in
meinem Intereſſe. Vielleicht iſt es ſchon zu ſpät, und Sie
werden um Ihrer Sondergefühle willen ausgeſchaltet.
Dieſe Art Patrioten ſind ſchickſalsträchtig. — Mir iſt
manchmal, als fet dieſer Menſch überall ... Sich feu um:
ſehend Wir haben das alles nicht geſprochen, hören Sie
mich, Panin! — Was haben Sie mir heute mitzuteilen?
Panin müde Prinz, des Zaren Raſerei treibt zur Eile.
Seine perſönlichen Gewalttätigkeiten kann Pahlen ent⸗
kräften oder für ſeine — für unſere Zwecke gebrauchen.
Aber ſein außenpolitiſcher Irrſinn muß in bedrohlich
kurzer Zeit das Reich in eine Kataſtrophe hineintreiben.
Pauls Größenwahn betrachtet ſich als Weltſchiedsrichter.
— Europa empfindet den Petersburger Tyrannen als
nicht mehr erträglich. — Sie wiſſen das alles, Prinz.
Alexander leiſe Europa empfindet ihn als nicht
mehr erträglich — ja, ich weiß es.
Panin Das Ausland erträgt ihn nicht mehr und
Rußland erträgt ihn nicht mehr. Pahlen hat die Armee
in der Hand. Die Garniſon, in die alle zu Unrecht ent—
laſſenen Offiziere der Kaiſerin wieder aufgenommen ſind,
iſt aktionsbereit. Pahlen hat für Sie einen Situations—
bericht verfaßt; ich wollte ihn ſchon heute mitbringen;
aber er hatte ihn bis abends noch nicht beendet. Sie
erhalten ihn morgen vormittag. Er erwartet dann Ihren
36
Entſchluß. Ausbrechend Mein Gott, Alexander, find das
alles meine Worte oder ſeine Worte?
Alexander heftig Es ſind Seine Worte und es iſt
Sein Heer und Sein Reich! — Aber dies frage ich mich:
warum erträgt Pahlen nicht den Zaren? Kann die un⸗
geheuerliche Erhöhung, die dieſer Mann durch ſeinen
Kaiſer erfahren hat, ſich in ſolche tragiſche Form über⸗
ſteigern, ohne daß er ein Schuft iſt?
Panin Prinz, dieſes Wort laſſe ich nicht zu! Es bez
leidigt einen Mann, den ich — wie es auch ſei — verehre.
— Und ſprach en Sie nicht eben felber von den Schickſals⸗
trächtigen? — So iſt das Wort auch gefährlich!
Alexander betroffen Panin, der Mann beſitzt Sie
mehr, als Sie ahnen! Ich darf ihn nicht beſchimpfen
— gewiß nicht: weil ich mich mit ihm vergleichen muß.
Denn welche der beiden Kreaturen iſt als Verräter ver—
ächtlicher, der Favorit oder der Sohn?
Panin ſehr ernſt Hoheit, wenn Sie den Grafen ſo
beurteilen und doch mit ihm verhandeln und ſich doch
von ihm auf den Thron heben laſſen, ſind Sie verächtlicher.
Alexander Panin!
Panin Hoheit, wenn Sie in Pahlens Miſſion nicht
das unabweisbare und von allem Perſönlichen gelöſte
politiſche Schickſal erkennen können, verlange ich als Ihr
Freund und als kaiſerlicher Miniſter von Ihnen die klare
Ablehnung jeder Gemeinſchaft mit ihm und die YWuf-
deckung des Komplottes gegen des Kaiſers Majeſtät!
Alexander erſchüttert Panin, das kann ich nicht! —
Panin, ich glaube an die innere Berechtigung ſeiner
Aktion!
Panin Dann müſſen Sie ihm Ihr Einverſtändnis
erklären; dann müſſen Sie ihm Ihr Ja ſagen, auf das
er wartet.
37
Alexander Ich kann noch nicht! Mein Gott, ich kann
noch nicht! Panin, mein einziger Freund, quälen Sie
mich nicht!
Panin Prinz, Sie müſſen Ja ſagen! Was bleibt
Ihnen denn übrig! Sie müſſen das Gewiſſen ſtumm
machen!
Alexander ſchreit Panin! Panin! Sind das Ihre
Worte? — Der Dämon ſteckt ja in Ihnen!
Panin ſchluchzt auf Mein Gott! Mein Gott! Ich
weiß es nicht! Ich kann nicht mehr! — Ich ſehe doch
Blut! Ich begreife ja Ihr Zögern, mein armer Freund!
Alexander ſieht ihn ſtarr an; dann ſehr leiſe Das
hätten Sie nicht ſagen ſollen, Panin. — Ich friere. Ich
bin müde. Ich gehe ins Bett. Gute Nacht, Panin.
Panin betäubt Gute Nacht, mein Prinz.
Sie zünden ihre Laternen an dem Tiſchleuchter an, löſchen ihn aus.
Alexander geht die Treppe hinauf. Panin den Gang zurück.
Fünfte Szene
Schlafzimmer der Baronin Oſtermann. — Früher Morgen.
Anna. Pahlen.
Anna richtet ſich im Bett auf, beugt ſich über den ſcheinbar ſchlafen⸗
den Pahlen, ſteht leiſe auf, ſchließt vorſichtig die Vorhänge des
Alkovens, nimmt die Nachtlampe und den Uniformrock Pahlens
und ſetzt ſich in einiger Entfernung vom Bett an einen kleinen
Schreibtiſch. Sie durchſucht den Rock, zieht den Situationsbericht
aus der Bruſttaſche und lieſt ihn ſehr aufmerkſam. Pahlen ſchlägt
ein wenig die Bettvorhänge auseinander und beobachtet ſie. Anna
hat den Bericht geleſen, wendet den Kopf, ſieht ihn, lächelt ſeltſam.
Pahlen ſcharf Dieſe Art iſt mir neu an Ihnen, Maz
dame. Ich habe Sie nicht ermächtigt, Staatsgeheimniſſe
aus meiner Rocktaſche zu ziehen.
38
Anna leichthin, doch immer noch mit ihrem Lächeln Ver⸗
zeihen Sie mir, Pahlen, ich bin ſchon lange wach. Ich
langweilte mich. — Du ſchläfſt wie ein Bär, Peter. Es
war ſicher nicht recht von mir. — Ich fahndete eigentlich
nach Liebesbriefen, um zu lachen ..
Pahlen Das iſt nicht wahr, Madame. Sie hatten
geſtern abend, noch bei mir im Arbeitszimmer, ſehr genau
aufgepaßt, als ich Panins Sekretär ſagte, daß ich das „Er—
forderliche“, wie ich es nannte, heute in aller Frühe dem
Kanzler ſelber bringen werde. Und Sie hatten vor dem
Schlafengehen durch einige geſchickte Griffe feſtgeſtellt,
ob ich Dokumente bei mir trüge und in welcher Taſche.
Anna etwas verblüfft, vorſichtig Aber glauben Sie
denn, daß ich das da ernſt nehme?
Pahlen Gewiß nehmen Sie es ernſt. Seit dem
Abend, an dem ich Panins Beſuch nicht vor Ihnen ver—
heimlichen konnte, ſitzen Sie mir mit einem tollen Haß
auf den Ferſen. — Sie haben jetzt in Ihren Augen die
kleinen brutalen gelben Lichter, die mich zu anderer Zeit
ſehr reizen möchten; aber ich habe jetzt leider keinen Sinn
dafür. — Madame, Sie können dieſen Bericht gar nicht
ernſt genug nehmen.
Er ſteht auf, wirft einen Pelzrock um die Schultern und geht lang:
ſam auf ſie zu. Sie beobachtet ihn unverwandt; ihr Lächeln wird
etwas glaſig. N
Anna Nun ja, Pahlen, Sie wiſſen ja ſelber, daß man
am Hof allerlei munkelt und daß dort allerlei Sonderbares
vor ſich geht und daß die ausländiſchen Zeitungen, die die
Kuriere einſchmuggeln, noch deutlicher ſind. Man traut
Ihnen allerlei zu — und ich traue Ihnen alles zu und ſage
es jetzt Ihnen nicht zum erſtenmal. — Aber Panin als
Mitſpieler? — Mein Gott, Pahlen, Sie werden 1
wiſſen, was Sie wollen.
39
Pahlen bleibt dicht vor ihr ftehen, langſam Ich weiß,
was ich will, Madame. Verwundert es Sie nicht, daß ich
Sie jetzt nicht wieder, wie neulich, frage, wie Sie zu mir
ſtehen? Hätte ich Angſt vor Ihnen oder vor meinem Ge-
wiſſen — behaupteten Sie nicht etwas Ahnliches? —, fo
wäre es doch zu erfahren intereſſant für Sie und für mich
ſogar notwendig. Aber Madame, ich frage nicht. Ich frage
nicht. Ich weiß genau, was ich will. Ich wußte es viel⸗
leicht auch ſchon, als ich geſtern dem Sekretär Panins in
Ihrer Gegenwart Beſcheid gab und den Bericht zu Ihnen
mitnahm. — Ich liege vielleicht auch ſchon länger wach
als Sie.
Sie ſieht ihn lauernd an; ihr Geſicht iſt anders geworden und bee
kommt einen Zug von Hilfloſigkeit.
Anna Sie wollen wohl damit ſagen, daß Sie mir den
Bericht mit irgendeiner beſtimmten Abſicht in die Hände
geſpielt haben?
Pahlen O nein, Anna, das will ich damit gewiß nicht
ſagen; denn es wäre für Sie viel beſſer, wenn Sie Ihre
Hände von dieſen Dingen ferngehalten hätten. Ich habe
nur, wie ein vorſichtiger Stratege, auch dieſen Fall bez
dacht und für ihn vorgeſorgt. Sie haben es getan, und ich
bin jetzt zu Ihnen ſehr ehrlich und laſſe Sie nicht lange im
unklaren. Der Augenblick Ihrer Überlegenheit iſt vor—
über, das fühlen Sie ſelber. Und Sie kennen mich auch zu
gut, um nicht berechnen zu können, daß ich jetzt irgend
etwas mit Ihrer Perſon oder gegen Sie planen könnte,
weil Sie mir vielleicht gefährlich geworden ſind. Nicht erſt
ſeit heute, Madame, nicht wahr? — Und Sie verwünſchen
vielleicht ſchon die Laune, die Ihnen ſo etwas wie eine
Waffe gegen mich in die Hände geſpielt hat. Sie ſind ja
doch nur in harmloſen Intrigen geübt; ein Duell mit mir
40
ſcheint mir nun einmal nicht ratſam. Ich deutete es Ihnen
auch ſchon an.
Anna ſehr unſicher Ja, was wollen Sie denn von mir,
Pahlen? Wer ſagt Ihnen denn, daß ich gegen Sie kämp⸗
fen will?
Pahlen Das ſagten Sie mir ſelber. Sie nannten es:
ſich wehren. Sie mögen Ihre Gründe haben. Sie dürfen
den Fall annehmen, daß ich mich Ihrer entledigen will.
Anna auffahrend Sachte, ſachte, Herr Graf! Unſere
Motive und unſere Mittel könnten ſich die Wage halten.
Dieſer Bericht enthüllt Ihre Verſchwörung gegen den
Zaren!
Pahlen Meine Verſchwörung? — Hören Sie, Anna,
Sie ſind klug, Sie wiſſen ſehr gut, daß ich dann wohl vor—
ſichtiger mit dem Dokument umgegangen ſein würde.
Glauben Sie mir, hätte dieſer Bericht auch nur einen —
ſagen wir — akuten Sinn, dann müßte ich jetzt Ihnen
gegenüber noch anders, noch ganz anders verfahren. Er
hat natürlich einen Sinn; aber was er beabſichtigt, brau—
chen Sie nicht zu wiſſen. Es muß Ihnen genügen, daß er
im Sinne meines Amtes als Diener des Thrones und als
verantwortlicher Regierungschef arbeitet.
Anna ſehr unſicher Es genügt mir wahrhaftig, Peter.
Sei mir nicht mehr böſe, Lieber, und ſprechen wir nicht
mehr davon. — Ich werde nicht mehr deine politiſchen
Kreiſe ſtören. Gewiß, es war unrecht und dumm. Sei
wieder gut zu mir, Pjotr! — Sprechen wir nicht mehr
davon.
Sie verſucht eine zärtliche Bewegung; aber ſie mißlingt. Das kalte
Geſicht Pahlens bemerkt ſie nicht.
Pahlen Doch, Anna, wir müſſen noch davon ſprechen.
Du haſt dich in einen Kreis gedrängt, der ſich {chon um dich
417
geſchloſſen hat. Was du weißt, weißt du — ich muß da—
mit rechnen, ſo leid es mir tut.
Pauſe.
Anna Peter, willſt du mich ins Unglück bringen?
Pahlen kalt Madame, ich fragte nicht nach Ihren
Gedanken, als Sie dieſen Bericht fanden und in Ihren
Händen auch mich zu haben glaubten. Sie haben in ſolchen
Dingen noch keine Erfahrung; ſonſt würden Sie wiſſen,
daß der Gouverneur Pahlen die Sentiments noch weniger
zulaſſen möchte als der Ihnen mit Recht zugetane Lieb=
haber.
Anna Alſo bitte, Gouverneur Pahlen, welche Buße
belieben Sie mir aufzuerlegen?
Pahlen Sie gehen immer noch fehl, Anna. Zwar iſt
die Szenerie ein Boudoir, aber die Handlung iſt ernft, ſehr
ernſt. Mit Nachdruck Sie ſind in eine Verſchwörung ver—
wickelt, Madame.
Anna ſpringt auf, ſchreit Du Teufel! Du Teufel! —
Das iſt nicht wahr!
Pahlen So muß ich Ihnen Ihre Illuſion nehmen
und endlich zum Ziel kommen. Ihr Wiſſen um den Bez
richt zwingt mich als den verantwortlichen Leiter des
Reiches, mich Ihrer zu verſichern. Anna macht eine Bewegung,
als wollte ſie ſchreien oder fortlaufen. — Bleiben Sie ruhig,
Anna, und ſeien Sie vernünftig, in Ihrem Intereſſe. —
Ich muß mich Ihrer verſichern. Ich tue es am ſanfteſten
für Sie, indem ich Sie in den Dienſt der Sache ſtelle.
Anna verblüfft Was wollen Sie, Pahlen? Mich in
den Dienſt der Sache ſtellen? Lacht nervös. Mein Gott,
Pahlen, warum dann die dramatiſche Geſte? Stand ich
vielleicht noch niemals in Ihren heimlichen Dienſten? —
Pahlen ſehr kalt Ich freue mich recht über Ihre Will⸗
42
fährigkeit; aber hoffentlich entſpricht die Rolle, die ich
Ihnen zugedacht habe, auch Ihren Erwartungen.
Er beginnt ſich anzukleiden.
Anna Und wann beginnt meine Szene, Herr Re—
giſſeur?
Pahlen Sie beginnt ſelbſtverſtändlich ſofort. — Es
iſt gut, Madame, daß Ihre eigene Stimme Ihre Spaßig⸗
keit Lügen ſtraft. Sie werden mich dann nicht mit Ihrer
Enttäuſchung plagen, wenn Sie kein Luſtſpiel finden.
Anna Sie verſtehen ſich prächtig auf das Terrori—
ſieren, Gouverneur. Nun, Sie ſind in Ihrem Beruf. Und
wenn Brutalität und Gewiſſenloſigkeit die Kardinaltugen⸗
den des Staatsmannes find, dann begreife ich die Bez
wunderung Pauls für Sie ſo gut wie noch nie. — Zur
Sache alſo. Was habe ich zu tun?
Pahlen Zunächſt nehmen Sie einen Briefbogen mit
Ihren Initialen und ſchreiben Sie ein möglichſt zärtlich es
Billett an mich. Es genügen ein paar Zeilen.
Anna Nun, das beginnt ja doch wie ein Luſtſpiel.
Pahlen Das iſt ſchon möglich. Aber haben Sie die
Güte, ſich zu beeilen.
Anna nimmt Papier und Feder, zögert Mein Gott, Pah—
len, ich bin zu nervös. Das iſt doch begreiflich. Ich habe
ſchon viele Liebesbriefe geſchrieben, aber unter anderen
Umſtänden, nicht auf Kommando. — Diktieren Sie mir
lieber.
Pahlen Alſo gut, ſchreiben Sie: „Mon chéri, wie
ich mich nach Dir ſehne, trotzdem Du erſt ein paar Stun⸗
den von mir fort biſt. Ich liege noch im Bett. Ich bin
noch ganz zerſchlagen — ach, in ſehr wörtlichem Sinn,
mein wilder Freund ...
Anna ſchreibend, unterbricht ſich Sind ſolche Intimi—
täten notwendig, Pahlen?
43
Pahlen Sonſt würde ich ſie nicht diktieren. Schreiben
Sie nur weiter: „Aber meine Gefühle für Dich ſind nicht
müde. — Heute abend indes werden wir uns nicht ſehen
können, ſo ſchmerzlich ich es bedauere. Ich habe Dienſt.
Und morgen abend muß ich mich unbedingt für meinen
kleinen Saſcha freihalten ...“
Anna Wer iſt Saſcha?
Pahlen Aber das iſt doch ganz gleichgültig. Ich weiß
es auch nicht. Ein Synonym für einen Ihrer Liebhaber —
oder fo etwas. Schreiben Sie: „. .. Saſcha freihalten, der
ſonſt noch ganz rabiat wird und doch ſo wunderſchöne
Zähne hat“ — oder wunderſchöne Augen oder wunder—
ſchöne Beine, was Sie wollen, Anna.
Anna Das iſt ein ſehr merkwürdiges Billet d'amour,
Pahlen. Oder iſt es ein Witz?
Pahlen O gewiß nicht. — Halt, ſchreiben Sie nicht
Zähne, ſchreiben Sie Lippen. Alſo: „. .. der fo wun—
derſchöne Lippen hat. — Wir ſind ja nicht eiferſüchtig,
cher Pierre, und gönnen uns die kleinen Freuden dieſer
Welt. Toujours la tienne — Anjuta.“ — So, das ge⸗
nügt.
Anna zu Ende ſchreibend Sage mir, Pjotr, ſoll das eine
Lektion für mich ſein? Biſt du vielleicht in der Tat eifer⸗
ſüchtig?
Pahlen lacht Madame, Sie ſind köſtlich! Ich glaube,
Sie werden bald ſolch einen Zweifel verjagen können. —
Geben Sie her, Madame. Er hat ſich inzwiſchen fertig ange:
kleidet, nimmt den Brief, lieſt ihn durch, ſteckt ihn in den Armel⸗
aufſchlag ſeines Uniformrockes, und zwar ſo, daß noch ein ziem⸗
lich breiter Streifen des Papiers zu ſehen iſt. So, Anna, ich
danke Ihnen, das wäre das Erſte.
Anna plötzlich ängſtlich Sie ſind mir unheimlich, Pahlen.
Iſt es für heute noch nicht genug?
44
Pahlen Leider nein, Madame. Das war nur der
mehr oder weniger belangloſe Auftakt. Jetzt kommt das
Wichtigere. — Nehmen Sie bitte ein Papier ohne Ihre
Initialen, irgendein Stück Papier — ſo, ja — und ſchrei⸗
ben Sie die Worte: „Sire, hüten Sie ſich vor Pahlen und
Panin!“ — Nichts weiter, keinen Namen, keine Unter⸗
ſchrift. — Was zögern Sie, Madame?
Anna ſitzt wie erſtarrt, ſtöhnt Um Gottes willen! —
Und wenn ich mich weigere!
Pahlen Dann täte es mir leid um Sie. Laſſen Sie
es nicht darauf ankommen, Anna.
Anna Und wenn ich mich weigere ..
Pahlen So laſſe ich Sie verhaften und ſtelle Sie als
politiſch verdächtig vor das Geheime Gericht.
Anna erſchüttert Das tuft du nicht, Pahlen ... Das
kannſt du nicht tun...
Pahlen Welch furchtbarer Irrtum, Madame! Glau—
ben Sie um des Himmels willen nicht, daß ich davor auch
nur eine Sekunde lang zurückſchrecke! Und Sie wiſſen,
was es mit dieſer Folterkammer Pauls für eine Bewandt—
nis hat. — Schreiben Sie, Madame?
Anna Pahlen ... Pahlen .. . Ich habe ſolche Angſt
— zu ſchreiben!
Pahlen Die Angſt iſt unſinnig. Haben Sie Angſt,
wenn Sie ſich zu ſchreiben weigern! Laſſen Sie nicht zu,
daß ich Ihnen die Feder aus der Hand nehme. Dann näm⸗
lich ſchreibe ich, und zwar nur: „Baroninwitwe Anna
Petrowna Oſtermann, Kaiſerliche Hofdame“ und dahinter
eine beſtimmte Ziffer, die allerlei bedeutet und darunter
„Pahlen“ — nichts weiter — und Sie werden nicht ein-
mal mehr Zeit haben, aus Petersburg zu fliehen, Ma
dame; — ſchreiben Sie?
Er beugt ſich über den Schreibtiſch und greift langſam zur Feder.
45
Anna weinend Ich ſchreibe .. . Großer Gott ... großer
Gott... :
Pahlen diktiert „Sire, hüten Sie ſich vor Pahlen und
Panin.“ Beugt ſich über ihre Schulter. Nein, Anna, das
ſind verſtellte Schriftzüge. Ich brauche natürlich Ihre
Handſchrift.
Er nimmt ihr das Blatt fort und zerreißt es. Sie ſieht zu ihm auf
mit ganz entſtelltem Geſicht.
Anna Du Teufel! Du Teufel! Du willſt, daß ich mein
eigenes Todesurteil unterſchreibe!
Pahlen lächelnd und ruhig O nein, Anna, du wirſt ganz
im Gegenteil die Geliebte des Kaiſers und vielleicht ſogar
Gräfin ...
Anna aufſpringend, wie betrunken Was. was...
was .. . Sind Sie wahnſinnig geworden, Pahlen? Be—
ginnt ein ſcharfes Lachen. Ach, das iſt ja alles Scherz! und
gar kein übler! — Sagen Sie ſelber!
Pahlen ungeduldig Schreiben Sie, Anna, ſchreiben Sie,
ich habe nicht mehr lange Zeit. — Es iſt kein Scherz und
ich bin nicht wahnſinnig — begreifen Sie endlich! Es iſt
auch für Sie keine ſonderliche Gefahr, wenn Sie geſchickt
ſind. Ich erlaube mir nur mit Ihnen eine kleine Speku—
lation; wenn ſie mir gelingt, beherrſche ich den Herrſcher
auch in ſeinem Bett. — Iſt das immer noch nicht deutlich
genug, Madame?
Pauſe.
Anna langſam Ich fange an, dich zu verſtehen, Peter. —
Du biſt ein ſo genialer Schuft und Gouverneur, ſcheint mir,
daß es mich faſt ſchon reizt mitzutun — ſelbſt wenn ich
die Wahl hätte.
Sie ſetzt ſich und ſchreibt.
46
Pahlen leiſe Ihre Anerkennung iſt etwas wert,
Anna. — Jetzt glaube ich es faſt ſelber. Nimmt das Billett.
Ich danke dir. — Jetzt noch der Briefumſchlag: „An des
Kaiſers Majeſtät“ — gut ſo. — Wir ſiegeln mit einem
Geldſtück. — Ihre Hände zittern? — Das wird ſich geben.
Sie haben einen ganzen Tag vor ſich, um mir zu fluchen
oder mich zu ſegnen — wie Sie wollen — und um des
Abends ſo ſchön zu fein, wie es nur Ihnen möglich iſt. —
Sie ſehen, ich bin galant; aber dahinter ſteckt meine For⸗
derung, in Bereitſchaft zu ſein. Augenblicklich iſt Ihre
Haut etwas grau. Das wird ſich richten laſſen. — Was
ſehen Sie mich ſo an, Madame? Sie ahnen nicht, welche
Freuden mir meine Genialität als Schuft und Gouver—
neur verſchafft! Ich bin in prächtiger Stimmung, wie Sie
ſehen, trotzdem ich auf Ihre köſtliche Schokolade verzichte
und mich ſchon jetzt beurlauben muß. Aber man weiß nie,
wann Paul aufſteht. Und Ihre gutgemeinte Warnung
muß dann ſchon auf ſeinem Schreibtiſch fein. — Guten
Morgen, Madame.
Er nimmt den Brief an ſich, küßt Annas Hand und geht. Anna
ſieht ihm ſprachlos nach. Dann fährt ſie entſetzt auf und läuft zur Tür.
Anna ängſtlich rufend Pahlen! Pahlen! Sie lauſcht.
Stille. Sie ſchließt die Tür und geht ins Zimmer zurück. Mein
Gott! Mein Gott!
Sie ſinnt vor ſich hin. Ihre Züge verhärten ſich.
Vorhang
47
Dritter Akt
Erſte Szene
Kaiſerliches Arbeitskabinett im Michaels-Palais. Heller Vormittag.
Murawiew, Kammerherr treten ein.
Murawiew Er war ſchon da, unter der Steinmaske
das Erdbeben.
Kammerherr Was? — Wer?
Murawiew Pahlen natürlich. Noch mitgenommen
von der Oſtermann. Gefährlich weiß. Gefährlich! — Merz
ken Sie ſich dieſen Tag, Baron. Er hat heute die Lunte
angezündet. Wir haben heute gute Gelegenheit, in die
Luft zu fliegen.
Kammerherr nervös Laſſen Sie, bitte, die Metaphern,
Sergej Nikolajewitſch. Sagen Sie möglichſt ſchlicht, was
los iſt.
Murawiew Als ob ich es wüßte! — Er kam ſchon
gegen acht Uhr, zu ganz ungewohnter Stunde, und gab
mir ein verſiegeltes Billett, das dort auf des Zaren
Schreibtiſch liegt. Trotzdem ich es hingelegt habe, darf ich
nicht wiſſen, auf welche Weiſe es in das Kabinett geflogen
iſt. Und ich habe Befehl, auch für Sie, Baron, alles To—
ben, das dieſer Brief hervorrufen könnte, mit Achſelzucken
und Hilfloſigkeit zu beantworten. Er ſagte mir auch in aller
Freundſchaft, daß er mir eine Kugel durch den Kopf jagen
würde, wenn der Zar durch irgendwelche Mittel der Liſt
oder Erpreſſung die Perſon des Überbringers durch mich
48
erführe. Das gleiche gelte auch für Sie, Baron. — Dann
fuhr er zu Panin — um zu frühſtücken, wie er behauptete.
Kammerherr Hm, das iſt allerdings ſachlich ge—
ſprochen, Sergej Nikolajewitſch. Er geht vorſichtig an den
Schreibtiſch. Eine Pahlenſche Myſtifikation ... Mir iſt
eine ehrliche Bombe lieber.
Murawiew Nun, die Wirkung iſt wahrſcheinlich auf
dieſe Weiſe genauer zu berechnen. Bomben ſind unzu—
verläſſig. 5
Kammerherr Natürlich, ja. Er beugt ſich über die Tiſch—
platte und lieſt „An des Kaiſers Majeſtät“. — Das iſt
übrigens die Handſchrift einer Frau. Pauſe. Wiſſen Sie
genau, daß Pahlen von der Oſtermann kam?
Murawiew üchelt Das iſt ſelbſtverſtändlich nur eine
naheliegende Vermutung. — Sie halten ſich gewiß für
einen ſcharfſinnigen Kriminaliſten, Baron; aber ich ſchlich—
ter Menſch kombiniere aufs Haar das gleiche.
Kammerherr grinſt So —
Murawiew Nun, verzeihen Sie mir, es liegt ziem—
lich auf der Hand. — Pahlen hat zwar einen beträchtlichen
Gebrauch an Frauen zaber die Oſtermann iſt ſeine Kreatur.
Er hat ſie gemacht, das weiß ganz Petersburg. Alſo mag
er eher ſie als irgendeine andere zu ſeinen Kabalen be—
nutzen. Dazu kommt, daß er mich nach Neben- und Unter—
liebhabern der Lopuchin fragte ... das heißt, er ver-
langte nur eine Beſtätigung deſſen, was ihm angeblich der
Polizeiminiſter gemeldet habe. Aber Sie begreifen, daß
der Polizeiminiſter nicht aus freien Stücken und heiterem
Himmel ſich mit der begnadeten Perſon und momentanen
Zariza beſchäftigt.
Kammerherr Aha, ich verſtehe vollkommen. Denken
Sie, bitte, an das Thema Lopuch in, das er vor paar Tagen
anſchnitt. Er iſt konſequent und weiß, was er will. Und er
Neumann, Patriot 4 49
will die Lopuchin erſetzen. Aber ich halte die exploſive
Wirkung für viel geringer als Sie, Murawiew. So
etwas erzeugt noch nicht das große Beben, auf das wir
warten. Der Brief iſt eine etwas ungewöhnliche Kom—
bination von einer Entlaſſung und einer Selbſtofferte,
nichts mehr.
Murawiew Ich bin nicht ganz Ihrer Meinung und
ich möchte Ihnen raten, ſich wieder aus der Region des
Schreibtiſches zurückzuziehen: der Zar kann jeden Augen⸗
blick kommen. Alexander, der ſich merkwürdigerweiſe zur
Audienz angeſagt hat, wartet ſchon in der kleinen Galerie.
Kammerherr geht zurück Ja, ich habe ihn geſehen.
— Er tut mir leid. Sein ſchönes Geſicht iſt wie angefreſſen
von der Sorge — oder vom Gewiſſen — was weiß ich ...
Murawiew Von Angſt! Von nichts als Angſt, unter
die Lawine zu kommen. — Glauben Sie mir, dieſer
Alexander iſt ein echter Zar und ein falſcher Romantiker.
Und ſein Gewiſſen gar nicht ſo bleich wie ſein Geſicht. —
Es ſei denn, Sie nennen Panin ſein Gewiſſen. Dann wird
er es bald los ſein, ſage ich Ihnen.
Kammerherr Und ich ſage Ihnen, Pahlen iſt ſein
Gewiſſen und unſer aller Gewiſſen. Ich ſage Ihnen, daß
Pahlen ſchon in ihm drin ſitzt, wie im Zaren, wie in uns
allen — und daß er keinen losläßt und daß wir doch nicht
das geringſte ahnen, wie es in ihm ſelber ausſieht. In
ſechs Monaten oder vier Wochen oder paar Tagen werden
wir vielleicht bemerken können, was für ein beſonderer
Moraliſt er iſt — fofern wir noch leben... Aber laſſen
wir das. — Apropos, die berühmte Ahnlichkeit zwiſchen
Alexander und Platon Subow iſt gerade jetzt, wo die
Depreſſion des Zarewitſch den Altersunterſchied aus—
gleicht, in der Tat verblüffend. Man kann ſie nämlich ver⸗
gleichen ..
50
Murawiew Ja, ich weiß, Fürſt Platon iſt in Peters:
burg, auch Valerian, und die beiden Haſſer wetterleuchten
in der Garniſon — nach Pahlens Regie.
Kammerherr Weiß es der Zar, daß ſie in der Stadt
ſind?
Murawiew Vielleicht. Die geheime Polizei pflegt
ihn gut zu bedienen — doch noch beſſer den Gouverneur.
Und die beiden fallen unter die Reaktivierungsorder. Bei
Hof laſſen ſie ſich natürlich nicht ſehen. Und Pauls wirrer
Kopf... Still!
Sie ſtehen regungslos rechts und links von der Tür. Der Zar kommt
geräuſchvoll.
Zweite Szene
Die Vorigen. Zar.
Der Zar geht an ihnen vorbei, ohne ſie zu beachten, mit ſich ſelber
beſchäftigt, ſcheinbar nicht ſchlechter Stimmung, halblaut mit ſich
redend, manchmal auch kurz lachend. Auf halbem Weg bleibt er
ſtehen, in Nachdenken verſunken. Plötzlich wendet er ſich zu den
N beiden um.
Zar Ja — wie? — Ihr ſeid da — hab' ich's ſchon ge—
ſagt, Murawiew? — Noch nicht? — Na alſo: Wach—
kompagnie hat von jetzt ab ins Gewehr zu treten, wenn die
Fürſtin Gagarin-Lopuchin kommt oder geht — ver—
ſtanden? 3
Murawiew beſtürzt Darf ich gehorſamſt zu erinnern
wagen — das iſt das Prärogativ der Mitglieder des ...
Zar Wie — was — was heißt das? — Widerrede?
. . Ich will nicht hoffen, Kerl ...
Der Kammerherr winkt Murawiew mit den Augen zu.
Murawiew Gewiß nicht, Majeſtät. Das Wach—
kommando wird inſtruiert.
Bye
Zar Gut, Murawiew. — Die Antwort war gut, Oberſt
Murawiew.
Murawiew Majeſtät halten zu Gnaden: mein Dienft-
grad iſt Major. ;
Zar Die Antwort war gut, Murawiew, na — und die
Sonne ſcheint — und . . . und die Fürſtin hat Namenstag,
— na, und du biſt Oberſt.
Murawiew erregt Wenn Eure Majeſtät mich nicht
zwingen wollen, meinen Abſchied zu nehmen, ſo darf ich
in aller Ehrfurcht hoffen, daß dieſe Ernennung, die dem
Geſetz der Anciennität widerſpricht und durch kein Ver—
dienſt motivierbar iſt, nicht effektuiert wird.
Zar nach der Pauſe der Überraſchung Na, denn nicht,
Eſel. Er wendet ſich um und geht auf den Schreibtiſch zu Wer
iſt angeſagt?
Murawiew Seine Kaiſerliche Hoheit der Großfürſt—
Thronfolger. — Seine Exzellenz der Kriegsgouverneur
und Chef des Auswärtigen Departements. — Seine
Exzellenz der Vizekanzler und Chef der Inneren Verwal-
tung. f
Zar verärgert Was will der Zarewitſch?
Murawiew Seine Kaiſerliche Hoheit baten vor einer
halben Stunde durch Ihren Adjutanten um eine dringende
Privataudienz und warten bereits in der kleinen Galerie.
Da der Herr Kriegsgouverneur erſt um elf Uhr zum Vor—
trag befohlen iſt, glaubte ich, die Audienz an erſte Stelle
ſetzen zu dürfen.
Pauſe.
Zar vor dem Schreibtiſch Was iſt das für ein Brief?
Murawiew Majeſtät? Er tritt näher. Ich kann es
nicht ſagen, Sire. Ich empfing ihn nicht und legte ihn
auch nicht auf den Schreibtiſch.
Zar Sie, Ungern?
52
Kammerherr Auch ich nicht, Majeſtät.
Zar Seltſam ... Er reißt den Umſchlag ab und lieſt
Hm. .. Sein Geſicht zuckt ſtärker; er ſieht gefährlich aus. Mura:
wiew weicht unwillkürlich zurück. Warum läufſt du weg,
Kerl? — Schlechtes Gewiſſen, was? — Wie kommt dieſer
Brief hierher?
Murawiew Ich wiederhole Eurer Majeſtät, daß ich
es nicht weiß. Es iſt vielleicht ein Immediatgeſuch, das
irgendein beſtochener Lakai am Zivilkabinett und den
Sekretären vorbeigeſchmuggelt hat.
Zar Immediatgeſuch? — Dummkopf! Er geht ſehr
unruhig, mit ſchwer arbeitendem Hirn hin und her, bleibt dicht
vor dem Kammerherrn ſtehen. Ungern, Sie ſind klug und
boshaft. Sie haben die Augen offen. Sie werden Hof—
marſchall, wenn Sie mir ſagen ...
Er flüſtert ihm etwas ins Ohr.
Kammerherr Sire, der Graf iſt ein ſo großer Mann,
daß er ſcheinbar keine Feinde und in Wirklichkeit nur
Feinde hat.
Zar Großer Mann... fo... Was bedeutet das: großer
Mann? Ich habe ihn zu dem gemacht, was er iſt — nein?
Kammerherr Gewiß, Majeſtät, ich formulierte nicht
anders. Für mich iſt ein großer Mann und ein von Eurer
Majeſtät geſchätzter Premierminiſter eine Gleichung, die
zumal in dieſem Fall aufgeht.
Zar ausbrechend Zum Teufel mit euch Schranzen!
Schert euch weg, ihr Mollusken! Ihr ſeid nicht wert, an
Pahlens Stiefelſohlen zu kleben! — Zum Teufel, man quält
mich! Die beiden wollen ſich zurückziehen. Halt! Murawiew!
Murawiew Majeſtät?
Zar Hierher! Murawiew kommt an den Schreibtiſch; der
Zar zeigt ihm den Umſchlag. Kennſt du dieſe Handſchrift?
Murawiew Nein, Majeſtät.
3
Zar Auf dein Ehren wort als Offizier?
Murawiew Auf mein Ehrenwort als Offizier.
Zar Ungern! Kammerherr eilt herbei. Auf Ihr Wort als
Edelmann: kennen Sie dieſe Handſchrift?
Kammerherr Auf mein Ehrenwort, Sire, ich kenne
ſie nicht.
Zar leiſe Man quält mich ... man quält mich...
Warum ſehe ich nicht in die verfluchten Gehirne ... Er
überlegt ſtumm, den Kopf zwiſchen den Händen. Alexander ...
laut War der Adjutant des Thronfolgers in dieſem Zimmer?
Murawiew Nein, Majeſtät, ich ſprach ihn im Vorſaal.
Zar Kann der Adjutant in dieſes Zimmer einge—
treten ſein, ohne daß Sie es bemerkt haben?
Murawiew zögernd Ich halte es für ausgeſchloſſen,
8 aver
Zar Haben Sie ſein Kommen und Gehen kontrollieren
können?
Murawiew nach einem Blick mit dem Kammerherrn Das
allerdings nicht, Majeſtät. Der Wachkommandant rief
mich kurz darauf in den Pavillon.
Zar So — Pauſe. Jetzt geht! Geht doch! — Mein
Sohn ſoll kommen! — Und Pahlen ſofort — ſofort zu
mir, ſowie er eintrifft!
Murawiew und Kammerherr ab.
Dritte Szene
Zar. Dann Alexander.
Der Zar, ſehr unruhig, ſpringt nach einigen Sekunden vom Seſſel
auf und durchquert das Zimmer, undeutlich mit ſich ſelber ſprechend
und erregt geſtikulierend. Wie der Lakai kommt, ſetzt er ſich an den
Seſſel zurück, mit den Händen nervös auf die Tiſchplatte trommelnd.
Lakai Seine Kaiſerliche Hoheit der Großfürſt-Thron⸗
folger.
54
Zar Ja... ja... Alexander tritt ein und verbeugt fic
tief. Was wollen Sie? — Sie ſehen ſchlecht aus. —
Krank? — Oder was?
Alexander Nein, Sire, ich bin nicht krank.
Zar So — Alſo was wollen Sie? — Apropos: ich
liebe keine unvorhergeſehenen Audienzen, die mein
Tagesprogramm ſtören. Das heute iſt alſo kein Präzedenz⸗
fall. Ein nächſtes Mal könnten Sie riskieren, abgewieſen
zu werden. Wenn ich Sie heute empfange, ſo iſt es nicht,
weil ich ſehr Wichtiges von Ihnen zu erfahren erwarte
— ſondern aus einem anderen Grund. Es iſt nicht einmal
ausgeſchloſſen, daß ich Sie hätte rufen laſſen.
Alexander unruhig Um Vergebung, Sire. Es
war ein plötzliches Bedürfnis, Sie zu ſprechen — ich
weiß ſelbſt nicht was — es kam über Nacht — wie ein
Alpdruck, den nur Sie von mir heben können .. . Ich
bin Ihr Sohn, Sire...
Zar ſehr miftrauif Was — was wollen Sie? Ich
verſtehe Ihr Geſtammel nicht. Ich habe auch keine Zeit,
es mir zu erklären. Ich halte zudem nichts von Familien—
beziehungen und von ſolchen Poſtulaten der Zärtlichkeit.
— Da ſteckt etwas ganz anderes dahinter — was?
Alexander leiſe Sire, können Sie nicht anders zu
mir ſprechen?
Zar Nein! — Ich ſpreche mit jedem, wie er es ver—
dient. Und mein Gefühl ſagt mir — nicht erſt ſeit heute —
daß Sie mir ſchwerlich eine beſſere Meinung von ſich
beibringen werden.
Alexander gequält Warum, Sire...
Zar Warum ... warum? — Wenn man die vater-
liche Neigung anruft und dabei voll von Gedanken ſteckt,
die mit der Kindesliebe verteufelt wenig zu tun haben,
ſo iſt das unlauter — verſtehen Sie mich? Ich liebe Sie
Ep)
fo wenig, wie Sie mich. Aber ich verlange von Ihnen
nicht den guten Sohn.
Alexander ſehr beſtürzt Welche Gedanken ſehen Sie
in mir, Sire?
Zar laut Böſe Gedanken! Böſe Gedanken! Fragen
Sie mich nicht nach Ihren Gedanken, Alexander! Ich
rate Ihnen gut!
Pauſe.
Alexander tonlos Und was verlangen Sie von mir?
Zar Gehorſam! Wie von jedem meiner Untertanen!
— Ich erlaube Ihnen dafür, Ihnen und jedermann,
mich nach Herzensluſt zu haſſen.
Alexander Ich haſſe Sie nicht, Sire! — Ach,
warum können Sie nicht gütig zu mir fein...
Zar ſcharf Ja, ich glaube Ihnen, Monſieur, Sie
brauchen eine Leitung für die Abwäſſer Ihres böſen
Gewiſſens! Wenn ich Sie jetzt in meine Arme ſchließe,
überſchwemmten Sie mich mit Konfidenzen, die mir mehr
als meinen Rock beſchädigen möchten. Aber ich ſchere
mich nicht um Ihren Nervenzuſtand und pfeife auf Ihr
épanchement — vielleicht um Ihres ſanften Köpfchens
willen, verſtehen Sie mich? — — Denn Sie zweifeln
doch nicht, daß meine Strafgeſetze auch für Sie gelten?
Alexander dumpf Ich bezweifle es nicht.
Zar Gut alſo. Richten Sie ſich danach. Sie ſind in
der fatalen Situation, Thronerbe zu ſein und im Geruch
der Liberalität zu ſtehen. Und Sie fühlen die Volksgunſt
in der Taſche klappern wie leicht erworbene und zu—
tunliche Dukaten. Dabei iſt es ſchwer, vernünftig zu
bleiben. Ich gebe es zu. Aber ich warne Sie. Das iſt
falſches Gold. — Und der Zar iſt ein harter Zar und ein
blutiger Zar. Und er iſt mißtrauiſch. Und er gibt keine
Unze von ſeiner Herrlichkeit fort. — Es gibt welche, die
56
ihn für wahnſinnig halten. Er lacht darüber. Er hört es
nicht ungern. Es ſchafft guten Abſtand. — Das ſind
auch Geſtändniſſe, Alexander. Wohl die erſten, die Sie
hören, und vielleicht die letzten. — Haben Sie noch
immer Luſt, ſich den Alpdruck von mir heben zu laſſen? —
Wenn nicht, ſo habe ich einige Fragen an Sie.
Alexander erregt Noch nicht, Sire! Warten Sie
noch! — Es iſt meine Pflicht als Thronfolger, Ihnen
meine Beſorgniſſe über die Entwicklung der politiſchen
Loge
Zar ſcharf So wenig belieben Sie aus meinen
Worten zu lernen? — Ihre einzige Pflicht als Thron—
folger iſt, mir möglichſt wenig unter die Augen zu
kommen und mich möglichſt wenig an Sie zu erinnern.
Wenn Sie einmal Ihre Erbſchaft angetreten haben,
darf es ſich Ihr Reſſentiment erlauben, Ihrem Sohn das
gleiche zu ſagen. Aber wenn Sie anfangen, mir zu auf—
fällig zu werden, ſchicke ich Sie nach dem Oſten, der in
meinem Reich ſtill und weit iſt.
Alexander Sire, ich verdiene dieſe Sprache nicht.
Zar Ich bewies Ihnen ſchon, daß Sie ſie verdienen.
Ich geſtehe Ihnen meine Gegenwart überhaupt nur noch
zu, weil unſer Geſpräch zwanglos dort zu münden
ſcheint, wo es mich zu intereſſieren beginnt. Deshalb er—
laube ich Ihnen noch einige Räſonnements.
Alexander Sire, ich räſonniere nicht! Aber ich ahne
Unheil!
Zar Es gefällt Ihnen, Unheil für das Reich zu ahnen
und dabei an meine Perſon zu denken. Iſt es nicht ſo?
Alexander Und wenn es ſo wäre! Können Sie es
mir, dem Sohn und dem Reichserben, zum Verbrechen
auslegen?
Zar Ja, wenn der Wunſch der Vater des Gedankens iff,
7
Alexander außer ſich Sire! Warum — warum
ſtoßen Sie alles zurück! Warum zerſchlagen Sie jede
Verbindung von Menſch zu Menſch! Warum gönnen
Sie ſich nicht einmal ſelbſt die Entſcheidung, ob nicht meine
Sorgen auch Ihre Sorgen ſein können! — Um Gottes
willen, Sire, fürchten Sie denn nichts für ſich?
Pauſe. Der Zar erhebt ſich, mit einem ſchiefen Lächeln, geht
zu Alexander und fixiert ihn aus großer Nähe.
Zar Sie ſind ungeſchickt und dumm. Sie ſchießen
auf Pahlen mit Kanonen und treffen ihn doch nicht.
Alexander taumelt zurück, ratlos Sire ... jetzt —
begreife ich Sie nicht mehr...
Zar Das klingt nicht ſehr überzeugend. Was iſt nicht
zu begreifen? Kritik an der Politik bedeutet Kritik an
meinem Chefminiſter, nicht wahr?
Alexander ſich faſſend Durchaus nicht, Sire. Pah—
len hat nach Ihren Weiſungen zu arbeiten.
Zar Sie ſcheinen ſehr kühn, Alexander. Sie wagen
es, dem Zaren ein Mißtrauensvotum zu geben. Ich ver—
mute aber, daß es im Grunde Angſt iſt, Angſt vor ihm.
— Doch nehmen Sie an, ich verlange von Ihnen ein
offenes Wort zu hören und verſpreche Ihnen, es für
mich zu behalten. Sie kamen doch, um ſich zu erleichtern.
Nun alſo: was denken Sie über Pahlen?
Alexander ſehr mißtrauiſch Ihre Frage überraſcht
mich, Sire. Ich habe keinen Grund, mir über den Gou—
verneur Gedanken zu machen, die ſich von meiner alten
Hochachtung für ihn unterſcheiden.
Zar leiſe Aber wenn ich Grund hatte... würden
Sie dann nicht auf andere Gedanken zu kommen wagen,
Memme?
Pauſe. Alexander, in ſchwerem Kampf, ſieht den Zaren an, will
in ihn hineinſehen.
58
Alexander ſehr leife Nein, Sire. Und ich hielte es
für ein Unglück.
Zar losbrechend Zum Teufel! Was quält man mich!
Warum quälen Sie mich? Warum ſoll ich mich vor
ihm hüten — und vor Panin dazu?
Alexander tief erſchrocken Mein Gott, was bedeutet
das? Was glauben Sie von mir? — Ich, wahrhaftig, ich...
Er bricht ab. Die Tür öffnet ſich. Pahlen kommt, ſieht von einem
zum anderen. Verlegenes Schweigen.
Vierte Szene
Die Vorigen. Pahlen.
Pahlen nach einem ſcharfen Blick auf Alexander Um
Vergebung. Man befahl mich unverzüglich zu Eurer
Majeſtät. Man ſagte mir wohl, daß Seine Hoheit hier
feien, aber man unterrichtete mich nicht über den Charak⸗
ter der Audienz. Wenn meine Gegenwart unangebracht
ee
Zar verlegen Bleiben Sie nur! — Wir haben keine
Geheimniſſe vor Ihnen. Der Zarewitſch interpelliert
mich nur wegen der politiſchen Lage.
Pahlen ſcharf zu Alexander In dieſem Fall, Hoheit,
darf ich Sie bitten, nach dem Reglement zu verfahren
und ſolche Wünſche bei mir, dem verantwortlichen Mini⸗
ſter, anzumelden.
Alexander Sie können mir nicht verbieten, Ex—
zellenz, mich über Dinge, die mich bewegen, mit meinem
kaiſerlichen Vater auszuſprechen.
Pahlen Sie wiſſen ſehr genau, Hoheit, warum ich
es Ihnen verbieten kann.
Alexander zurückfahrend Exzellenz, ich weiß nicht,
was ich von dieſen Worten halten ſoll!
59
Pahlen Ich habe Ihnen nicht verhehlt, Hoheit, daß
Seine Majeſtät bedauerlicherweiſe von dem Zweifel an
Ihrer Loyalität nicht loskommt. Ich habe Sie wiederholt
gewarnt, meine vermittelnde Perſon vor allem nicht
in politiſchen Fragen auszuſchalten. Sie dürfen nicht
gegen Ihre Intereſſen handeln, noch die allgemeine Citua-
tion erſchweren, noch die Majeſtät mit Ihrer Oppoſition
belaſten.
Zar befangen Hm — ja — ich bedeutete ihm un—
gefähr das gleiche. Zu Alexander Der Gouverneur hat
recht, durchaus recht!
Alexander ſehr erregt Sire, Ihre Gegenwart ver—
hindert mich zu ſagen, was ich meine...
Pahlen kalt Und ich würde Sie ebenfalls daran
verhindern. Nachdrücklich Ich laſſe es nicht zu, daß Sie
gegen Ihre Intereſſen handeln, Hoheit! Verſuchen Sie,
ruhig zu werden und darüber nachzudenken. Es ſteht
mehr auf dem Spiel als Ihre augenblickliche Stimmung.
Alexander ſenkt unter ſeinem Blick den Kopf.
Zar unruhig Was — was ſteht auf dem Spiel, Gou—
verneur?
Pahlen Die Einheitlichkeit der Reichspolitik und die
Autorität ihres Trägers.
Zar Meinen Sie mich oder ſich damit, Gouverneur?
Pahlen Ich meine Eure Majeſtät! — Und wenn
dieſe Frage, die ich weder erwartete noch verdiene, eine
Folge des Geſpräches mit Seiner Hoheit iſt, werde ich
für meine Perſon die Konſequenzen ziehen müſſen ...
Zar Pjotr! Was denkſt du! — Glaubſt du, ich er—
laubte ein Wort gegen dich? Jetzt tuſt du dem Zarewitſch
Unrecht. Er ſprach kein Wort über dich, das nicht reſpekt⸗
voll geweſen wäre. Er ging ſogar ſo weit, dich nur als
ausübendes Organ meines politiſchen Willens zu bezeich—
60
nen. Das heißt alſo, daß nur ich in ſeinen Augen Fehler
begehe. — Das ſprach er allerdings nicht aus.
Pahlen Dieſe Unterlaſſung ſcheint mir Seiner Hoheit
vernünftigſter Audienzgedanken geweſen zu ſein.
Alexander Sire, ich darf jetzt um Urlaub bitten.
Zar zerſtreut am Schreibtiſch mit dem anonymen Billett
ſpielend Ja — ja
Pahlen beobachtet den Zaren, dann Ich darf Sie um
die Güte bitten, Hoheit, im Schloß zu bleiben, da ich
nach meinem Vortrag noch einiges mit Ihnen ſprechen
möchte.
Alexander bedrängt Ich werde zu Ihrer Verfügung
ſtehen, Exzellenz.
Zar fährt auf Sie haben nicht die Gemächer der
Kaiſerin zu betreten, verſtanden? Ich ſchätze keine fron—
dierende Familie.
Alexander leiſe und müde Ich bleibe in der kleinen
Galerie. Alexander ab.
Fünfte Szene
Zar. Pahlen.
Schweigen. Der Zar ſitzt am Schreibtiſch, unruhig, wie auf dem
Sprung. Er beobachtet Pahlen, der mit gleichmütigem Geſicht an
ſeinen im Hintergrund befindlichen Arbeitstiſch tritt und in Akten
blättert.
Zar huſtet vor Erregung Gouverneur...
Pahlen Majeſtät?
Zar Hm. . . ja — Sie ſprachen ſcharf mit ihm —
Sie ſehen in ihm Ihren Gegenſpieler .. was? — fürchten
irgendeinen Strich durch irgendeine Rechnung, was?
Pahlen Sire, Sie belieben heute meine Perſon
auf ſonderbare Art in Betracht zu ziehen. Ich weiß nicht,
61
warum. Der Zarewitſch iſt gewiß nicht mein Antagoniſt.
— Es ſei denn, Sie erweiſen mir die Ehre und identi—
fizieren ſich mit mir.
Zar ſehr nervös Ich weiß, was Sie damit ſagen
wollen. Aber eben war er hier und ſuchte ſentimentaliſch
ſeinen Vater.
Pahlen Er ſcheint ihn nicht gefunden zu haben.
Zar Nein. — Aber ich fühle nicht ſo ſchroff, wie ich
ihm geantwortet habe.
Pahlen Das iſt auch nicht nötig. Ich liebe ihn ſogar
und laſſe ihn doch überwachen. Ich werde mich hüten,
ſeine Romantik als ſtaatsgefährlich zu betrachten, ehe ich
nicht Beweiſe habe, daß ſie aktiv iſt.
Zar Sie haben noch keine Beweiſe?
Pahlen Noch nicht. — Aber ich habe ihn in der Hand.
Zar Sind Sie ſicher, daß er nicht daran denkt, Ihren
Einfluß zu beſeitigen?
Pahlen mit einem raſchen Blick Das verſtehe ich nicht,
Sire. Sie ſagten doch, daß er in der Audienz nicht gegen
mich agitierte.
Zar Das nicht. Es gibt aber vielleicht noch andere
Möglichkeiten — dunklere Mittel...
Pahlen Nicht für Alexander. — Ich habe meine
Gründe, deſſen ſicher zu ſein. Er ſieht den Zaren an und
kommt näher. Sire, es iſt etwas anderes, was Sie zu Ihren
abſonderlichen Fragen veranlaßt.
Zar ſteht auf, in großer Unruhe Ja, was denn, Pjotr,
was denn . . . Schreit Was find Sie für ein Menſch?
Was ſteckt in Ihnen drin? Ich weiß es nicht! Ich kenne
Sie nicht!
Pahlen zurücktretend Sire... Sie find krank ..
Zar ſtürzt ſich auf ihn, umarmt ihn Pjotr — Väter⸗
chen... bin ich krank? Ich weiß es nicht . .. Man quält
62
mich, Pjotr, man quält mich! Warum ſehe ich nicht in die
verfluchten Gehirne! Er greift Pahlens Uniform ab, plötzlich
mit ganz veränderter Stimme, ſehr ſcharf Was — was ſind
das für Papiere?
Pahlen ohne ſich zu ſträuben, ruhig Wo, Sire?
Zar klopft auf Pahlens Bruſt Hier — hier in der
Bruſttaſche!
Pahlen Mein Gott, das ſind Papiere dienſtlicher
Art, Rapporte, Sitzungsprotokolle, Garniſonsbefehle,
Notizen — was weiß ich.
Zar Ich will ſie ſehen.
Pahlen Gewiß, Majeſtät.
Er öffnet den Uniformrock und legt den Inhalt der Bruſttaſchen
auf den Tiſch. Der Zar prüft die Papiere genau und läßt ſie dann
achtlos auf den Boden fallen.
Zar Iſt das alles?
Pahlen Ja, Majeſtät.
Zar Ich dürfte in die Taſchen faſſen?
Pahlen Gewiß, Sire — wenngleich ich jetzt doch
mit allem Reſpekt fragen muß.
Zar zeigt auf den Brief in Pahlens Armelaufſchlag Was iſt
das da?
Pahlen mit verlegener Stimme Sire, das — das iſt
ein privater Brief.
Zar Ich will ihn leſen.
Pahlen Sire, es iſt der Brief einer Dame.
Zar Ich will ihn leſen.
Pahlen Sire, es iſt der ſehr vertrauliche Brief
einer Dame, die unrettbar kompromittiert ...
Zar Zum Teufel, was geht mich das an! Ich will
den Brief!
Pahlen Sire, ich kann Ihnen nicht das Recht ein—
räumen.
63
Zar brüllt Ich befehle Ihnen: geben Sie mir den
Brief!
Pahlen gibt den Brief. Der Zar fliegt ihn durch und wirft ihn mit
einer Grimaſſe fort.
Zar grob Die Hoſentaſchen!
Pahlen weicht ein paar Schritte zurück, feſt Sire, es
wird zuviel. Warum beleidigen Sie mich? — Ich
pflege in meinen Hoſentaſchen keine Konſpirationen zu
verbergen. Sire, ich warne Sie.
Zar ſchreit Die Hoſentaſchen!
Pahlen ſieht ihn an, mit ſtarker Betonung Sire, ich
bitte um meine Demiſſion!
Der Zar blickt ihn irr und ſtumm an und dreht ihm den Rücken.
Seine Schultern zucken ſchneller. Er weint lautlos.
Zar Nein ... nein . nein
Pahlen Sire, um Gottes willen! Was erregt
Sie ſo? Was iſt geſchehen? Warum mißtrauen Sie
mir?
Zar Nein ... nein ... Laß doch — verzeih mir...
Pahlen geht mit kühnem Entſchluß an den Schreibtiſch,
beugt ſich wie ſuchend über die Platte, ruft Sire, und wenn
es meinen Kopf koſtet: ich muß wiſſen, welche ſchändliche
Myſtifikation Eure Majeſtät zu ſolcher Behandlung Ihres
treueſten Dieners bewogen hat!
Zar fährt auf, ſtürzt herbei Hier, Pahlen, hier, leſen
Sie! Leſen Sie — Pjotr, man quält mich! Er reicht
Pahlen das Billett, klammert ſich an ſeinen Arm und ſchreit
Petiuſchka! Petiuſchka! Brüderchen! Ich lebe nicht mehr
lange! Man ſchiebt den Tod auf mich zu! Du — du ſollſt
bei mir bleiben!
Pahlen überhört ſeinen Ausruf, lieſt: „Hüten Sie ſich
vor Pahlen und Panin“ — ſcheint das Billett genau zu prüfen,
lacht jetzt laut Sire, das iſt köſtlich! das iſt köſtlich!
64
*
Zar an ſeinem Geſicht hängend Was iſt denn? Was iſt
denn, Pahlen?
Pahlen, in ſich ſteigernder Luſtigkeit, macht ſanft ſeinen Arm frei,
bückt ſich nach Annas Brief, den der Zar hatte auf das Parkett
fallen laſſen, und legt ihn neben das anonyme Billett.
Pahlen Sire, verzeihen Sie meine ungebührliche
Luſtigkeit. Aber wer lachte da nicht!
Zar von feiner Heiterkeit angeſteckt und zugleich maßlos ver:
wirrt Ja, was denn, Brüderchen, was iſt denn?
Pahlen immer lachend Sire, die Verſchwörung iſt
aufgedeckt. Sie hat ſich wahrhaftig gegen mich gerichtet.
— Sire, ich muß Sie einer überraſchenden Tat anklagen:
Sie haben mir das hübſcheſte Weib geraubt!
Zar kichert ratlos und lüſtern Was — was... hüb⸗
ſches Weib . . . ich hätte dir das hübſcheſte ... Biſt du
bei Sinnen, Pjotr?
Pahlen Sehen Sie ſelber, Sire. — Belieben Sie
die Handſchrift des anonymen Billetts und dieſes Briefes
zu vergleichen...
Zar intereſſiert Die gleiche Handſchrift, in der Tat.
— Wer iſt Anjuta? — Wahrſcheinlich doch die Ofters
mann.
Pahlen lachend Getroffen, Majeſtät — keine andere
als meine vielliebe, wunderſchöne, höchſt ungetreue und
ſündhafte Freundin Anna Petrowna!
Zar Und was bedeutet das? — Ein Racheakt?
Pahlen Im Gegenteil! Im Gegenteil! Eine Liebes—
erklärung! — Die Dame iſt ehrgeizig und weiß, daß
ſie zehn Jahre jünger iſt und ſchönere Beine und mehr
Temperament hat als die Lopuchin! — Und ſie iſt takt⸗
voller als die Lopuchin und wird Sie nicht ſo öffentlich
und mit allen Hofpagen betrügen ...
Zar auffahrend Die Lopuchin betrügt ...
Neumann, Patriot 5 6 5
Pahlen Aber gewiß! Der Polizeiminiſter kann
Ihnen mit einer umfangreichen Liſte von Schwägern
aufwarten, Sire . .. Und ich darf Ihnen verraten, daß
der Hofmarſchall Nariſchkin, der neapolitaniſche Geſandte
und der Leibpage Sanglen in der Spitzengruppe
ſtehen ..
Zar Teufel, das iſt wahr?!
Pahlen Das iſt ebenſo wahr, wie allgemein bekannt.
Der polizeiliche Akt mit Protokollen und Nachweiſungen
iſt abgeſchloſſen. — Aber das iſt ja gleichgültig, man ſoll
Toten keine Steine nachwerfen. Und Sie haben eine
Lebendige, Sire! Ich gratuliere Ihnen, Sire, ich bin
nicht eiferſüchtig — Madame atteſtiert es — ich refi
gniere fröhlichen Herzens und ich gönne ihr den Auf—
ſchwung ...
Zar Teufel, die Oſtermann iſt hübſch . . . Ob fie
wirklich heute abend kommen würde?
Pahlen Sire, ſie wartet doch drauf! Sie hat mir
mittels eines imaginären Saſcha für die nächſte Zeit ab—
gewinkt — und Saſcha iſt der Märchenprinz, auf den ſie
wartet — ach viel mehr noch: er iſt der Zar — und Saſcha
hat wunderſchöne Lippen, der Teufel auch .. . Und
Anjuta iſt nicht nur ſchön und weiß nicht nur, daß ſie
einen tollen Körper hat, ſie iſt kenntnisreich wie ein
leibhaftiger Succubus... Er flüſtert ihm ins Ohr.
Zar lacht betäubt Teufel ... Teufel..
Pahlen lärmend Und ich werde Madame Ihren
Befehl überbringen. Es wird mir einen göttlichen Spaß
machen, den Freiwerber zu ſpielen! Ein Satansweib,
dieſe Oftermann! — Und morgen, Sire, werden Sie ſich
mit Allerhöchſtem Befehl von der Vormittagsarbeit
dispenſieren müſſen, weil die Phyſis aller Berechnung
nach den Schlaf gebrauchen wird...
66
a“
Sie lachen ſchallend. Plötzlich bricht Pahlen ab und wird ernſt. Der
Zar, ganz abhängig von Pahlens Mienenſpiel, klappt mit leerem
Lachen nach, wird ſchon ſtill, tajtet flackernden Blicks das Geſicht
des anderen ab.
Zar wieder irr und gequält Ja, was denn, Pjotr, was
iſt denn?
Pahlen nachdenklich Das gar nicht dumme Hirnchen
hat recht gut ſpekuliert. Es wußte ganz genau, daß ich
die Handſchrift erkennen und die Sache aufklären würde.
Es wußte ganz genau, daß dieſe ſenſationelle Art, auf
ſich hinzuweiſen, bei dem ritterlichen Charakter Eurer
Majeſtät Erfolg haben würde, auch wenn ich unloyal
genug wäre, eiferſüchtig zu ſein. Die Dame wußte auch,
daß Sie, Sire, wegen einer neuen Mätreſſe nicht Ihrem
erſten Miniſter das Vertrauen nehmen. Sie wußte, daß
fie mir nicht ſchaden kann .. Er ſtockt, dann mit Nachdruck
Warum aber nannte ſie dann auch Panin?
Zar ſtumpf Warum — warum auch Panin?
Pahlen Vielleicht wollte fie nur frappieren oder viel—
leicht kann fie den Vizekanzler nicht leiden, weil er ziem—
lich tugendhaft iſt und ſeiner Frau treu ſcheint. — Sie
hätte wohl auch ebenſogut ſchreiben können: Pahlen und
der Hofmarſchall Nariſchkin oder Pahlen und Murawiew.
— Aber das iſt doch ganz ſinnlos!
Zar wieder mißtrauiſch Ein Grund muß da ſein. Die
Frau ſcheint doch zu wiſſen, was ſie will. — Ob ich ſie
heute nacht fragen ſoll?
Pahlen lächelnd O nein, Sire — das wäre ſehr —
deplaziert. Ich glaube auch, daß Sie nicht zu politiſchen
Geſprächen kommen werden... Und dann, Sire, fie
würde doch nur lügen, aber in ihren eigenen Augen eine
Wichtigkeit gewinnen, die von Ihnen durchaus nicht beab—
ſichtigt iſt und unheilboll werden könnte. Die Dame hat —
67
wie Sie ſehen und wie ich ſchon lange weiß — eine deut⸗
liche Begabung für die Intrige. Darin dürfen Sie ſie auf
keinen Fall beſtärken.
Zar ſchärfer Sie reden um die Sache herum, weil fie
Ihnen ſelber nicht geheuerlich ſcheint. — Was iſt mit
Panin? Da muß etwas dahinter ſtecken. — Er kommt
übrigens gleich zum Vortrag, wie Sie wiſſen. Grob Ich
möchte bis dahin Klarheit haben, warum gerade Panin
erwähnt iſt. Sie können ſie mir geben, ſcheint mir.
Pahlen Sire, dieſe Klarheit kann Ihnen kein Menſch
geben, zumal höchſtwahrſcheinlich die Intrige einer Frau
den Namen ohne viel Überlegung hingeſchrieben hat. Die
Loyalität des Grafen iſt über jeden Zweifel erhaben.
Zar Iſt ſie das, Pahlen?
Pahlen Er iſt der einzige Mann am Hof, zu dem ich
Vertrauen habe und für deſſen Geſinnung ich einſtehen
kann.
Zar lauernd Das genügt mir noch nicht, Pahlen. Ich
kenne Ihren Tonfall ...
Pahlen leichthin Eine gewiſſe geiſtige Abſpannung
allerdings — vielleicht auch eine pſychiſche Depreſſion iſt
in den letzten Wochen bei dem Vizekanzler nicht zu ver—
kennen. — Ein kurzer Urlaub...
Er ſpricht nicht weiter und hebt die Papiere vom Boden auf.
Schweigen. Der Zar zeigt ſein ſchiefes Lächeln. Dann ſchlägt er
auf den Gong neben dem Schreibtiſch. Lakai kommt.
Zar Wenn der Vizekanzler kommt, kann ich ihn ſofort
empfangen.
Lakai Seine Exzellenz iſt ſchon im Palais.
Zar haſtig Er ſpricht mit dem Zarewitſch?
Lakai Sehr wohl, Majeſtät.
Zar Er ſoll ſofort kommen.
Lakai ab.
68
Pahlen Alexander liebt den Grafen.
Zar Was bedeutet das?
Pahlen Nichts Gefährliches. Doch Alexander liebt
nicht ſeinen Vater.
Zar Hm... Und er haßt Sie?
Pahlen Er hat Angſt vor mir — Die Oſtermann iſt
übrigens nicht anſpruchsvoll.
Zar verwirrt Was? — Ja... fofo...
Pahlen Gelegentlich ein Titel ...
Zar Gut, gut... Das hat ja noch Zeit.
Pahlen Es wird das beſte ſein, wenn der Polizei—
miniſter Madame Lopuchin einen kleinen Beſuch abſtattet
— mit einer Bankanweiſung und einem Auslandspaß ...
Zar Ich ſchickte ihr lieber den Stockmeiſter, Teufel,
ja! — aber meinetwegen.
Pahlen grinſend Sire, lernen Sie Großmut von mir!
Beide lachen. Lakai kommt.
Lakai Seine Exzellenz, der Herr Vizekanzler.
Der Zar tritt ans Fenſter, den Rücken gegen den Raum. Pahlen
ſetzt ſich an ſeinen Tiſch im Hintergrund und arbeitet Akten durch.
Sechſte Szene
Zar. Pahlen. Panin.
Panin tritt ein und fühlt ſofort die Spannung gegen ſich, ſieht
nervös auf Pahlen, der ihm leicht zunickt. :
Panin Ich wünſche Eurer Majeſtät gehorſamſt einen
guten Morgen. — Exzellenz, guten Morgen.
Der Zar dreht ſich nicht um und antwortet nicht.
Pahlen Guten Morgen, Graf Panin.
Panin nimmt ein Schriftſtück aus der Taſche, beginnt be⸗
fangen Sire, in Verfolg der vorgeſchlagenen Reformen
für die Innere Verwaltung erlaube ich mir heute, das
Intereſſe Eurer Majeſtät auf die offenſichtlichen Miß⸗
69
ſtände im Polizeiweſen hinzulenken. Bevor ich auf bee
ſtimmte Verwaltungsmängel eingehe, möchte ich zu—
nächſt die Einſchränkung einiger ſehr kraſſer, im euro—
päiſchen Sinn ſogar unmöglicher Polizeibefugniſſe an—
regen. Ich möchte zum Beiſpiel Eurer Majeſtät nahe⸗
legen, die überſcharfen Vorſchriften der Fremdenüber⸗
wachung und die wenig zweckmäßigen Verordnungen
gegen ausländiſche Literatur, Sprache, Barttrachten und
Kleidungsſtücke aufzuheben und durch Maßnahmen zu
erſetzen, die dem Anſehen des Reiches von größerem
Nutzen fein möchten ...
Zar dreht ſich um und ſchreit Das Anſehen des Reiches
repräſentiere ich, Herr Graf! Wagen Sie jetzt noch,
weiter zu reformieren?
Panin blaß und faſſungslos Sire, erlauben Sie ...
Er ſieht Pahlen an, der ihm zulächelt. Der Zar geht mit ſchiefem
Lächeln auf ihn zu.
Zar fixiert Panin, flüſtert Ja, Herr Graf, ich erlaube
Ihnen — ich erlaube Ihnen, ſich als Privatmann auf Ihre
Güter zurückzuziehen. Sie ſind erholungsbedürftig, ſcheint
mir. Meine Gnade iſt ſehr groß.
Panin ſehr leiſe Ich weiß es zu würdigen, Majeſtät.
Zar zu Pahlen Ich muß mir Bewegung machen, Pah—
len. Und den Kerls auch. Die Geſchäfte auf Nachmittag.
Pahlen Sehr wohl, Majeſtät.
Zar ab.
Siebente Szene
Pahlen. Panin.
Schweigen. Pahlen nähert ſich langſam dem Kanzler.
Pahlen Panin, ich — ich habe dem Zaren den Rat
gegeben..
70
a
Panin nach einer kleinen Stille, ſchlicht Ich danke Ihnen,
Graf Pahlen, ich konnte nicht mehr.
Pahlen Ja, ich ſah es. Sie haben getan, was Sie tun
konnten. Und Sie haben viel getan. Ich danke Ihnen,
Panin. Bis zum Ende können Sie nicht mitgehen. Ich
wußte es ſeit jenem Abend bei mir. Es galt, Sie auf mög—
lichſt ruhiges Waſſer auszuſchiffen. Ich fand heute den
Augenblick. Leiſer Jetzt werden wir Schurken unter uns
ſein. Es iſt immerhin noch ein gutes Zeichen, daß mir die
Trennung von Ihnen ein wenig weh tut.
Panin überraſcht und bewegt Mein Gott, Pahlen ...
Pahlen heftig Nein, nein, Panin, ſuchen Sie nicht
nach einem guten Wort für mich! Ich verdiene es nicht!
Hätten Sie vorhin gehört und geſehen, wie ich dieſen
armen kranken Menſchen quäle und betrüge und belüge,
mit welchen ſchlauen Fingern ich ihm die Schlinge um den
Hals richte, wie ich lüge, lüge und berechnet töte und bis
zu meinem glatten Maul im Dreck ſtecke . . . Großer Gott, 7
Panin, was hat er mir denn getan!
Panin erſchrocken Pahlen, Pahlen, ſchreien Sie
nicht ſo!
Pahlen Was hat er mir denn getan, daß ich ihn wie
ein Tier in den Tod hetze! — Er hat mich erhoben wie
noch keinen — und das iſt der Dank! Mit anderer Stimme
Aber Sie glauben wohl, daß ich bereue, Panin, daß ich
umkehre und in Ihre moraliſchen Arme ſinke? Sie irren
ſich, mein Freund, ich gehe weiter! Das Ziel bleibt — und
ich erreiche es. Und ich mache alles mit mir ſelber ab, ver⸗
ſtehen Sie mich! Das eben iſt nur eine Schwäche — wie
bei jedem Mörder. Und ſie geht vorüber. Brüsk ablenkend
Wußten Sie, daß ſich Alexander heute vormittag beim
Zaren zur Audienz angeſagt hatte und bei ihm
war?
GFL
Panin noch erſchüttert Alexander? — Nein, ich wußte
es nicht. Als ich ihm heute morgen Ihren Bericht
brachte, ſprach er kein Wort davon. Allerdings war er noch
fo unentſchloſſen wie heute nacht und nicht zu einer Sue
ſtimmung zu bringen. Es mag ſein, daß ihn erſt die Lek—
türe zu jenem Schritt getrieben hat. Ich war zum min⸗
deſten ſehr erſchrocken, als ich ihn vorhin hier traf. Ich
fürchtete das Schlimmſte. Aber er ſcheint nichts geſagt zu
haben.
Pahlen Er iſt wahrſcheinlich gar nicht zu Wort ge—
kommen. Mich überraſcht übrigens dieſe Reaktion ſeiner
Nerven nicht; ich habe ſie erwartet und hielt ſie auch nicht
für ſonderlich gefährlich, da der Zar gegen ihn zu vorein—
genommen iſt — und zwar durch mich. — Aus dieſem
Grunde nicht und aus dem noch tieferen, weil der Thron—⸗
folger ein viel zu großer Opportuniſt iſt, um im Ernſt ſeine
Chancen ſelber zu verderben.
Panin erregt Glauben Sie, daß er es weiß oder daß
er es nur inſtinktiv iſt?
Pahlen Ich möchte glauben, daß er es ſehr gut weiß.
Panin heftig Pahlen, Sie ſprechen etwas aus, was
mich heute nacht anfiel und nicht mehr losließ und ſich in
mir feſtgebiſſen hat. Pahlen, man kann das Gewiſſen töten
der
Pahlen ſehr ernſt Oder man wird vom Gewiſſen ge—
tötet, Panin.
Panin Ich weiß nicht genau, was Sie damit meinen.
Ich jedenfalls kann es nicht und trete ab. Sie, Graf...
Pahlen Sie meinen, daß ich es töten kann? Ich weiß
bisher nur, daß ich Menſchen ...
Panin bedrängt Laſſen wir das, Pahlen. Sie können
weitergehen. Ich ahne vielleicht, um welchen Preis.
Alexander aber will ſein Gewiſſen mitſchmuggeln. Das iſt
72
—
verächtlich. Ich ringe um Unparteilichkeit. Ich kämpfe um
den humanen Lebensbegriff, den ich Alexander lehrte und
der mich an ihm entzückte. Aber iſt es denn ein Kampf
um die Humanität, den Alexander führt? Dann iſt dieſe
Humanität abſonderlich, die eine blutige Krone als Ziel
hat, das Blut ſcheut und doch die Krone greifen möchte.
Aber die Krone iſt voll Blut! Aber die Krone wird voll
Blut ſein! Hat dieſer ſanfte und zarte Thronerbe nicht
auch das Erbe der harten Zarengewiſſen, des getöteten
Gewiſſens als Fundament ſeiner Staatsromantik? Iſt
dieſer Pahlen, der ſich Mörder ſchimpft und doch weich
wird, weil ich, der moraliſche Menſch, abtrete — iſt
dieſer Kaiſermacher aus Vaterlandsliebe oder aus Ehr—
geiz oder aus Temperament, was weiß ich! — nicht ge-
wiſſenhafter im humanen Sinn? Ich jubelte heute nacht
dem Prinzen zu, weil er Sie ſah, wie ich Sie ſehe.
Aber jetzt ſehe ich ihn, wie Sie ihn ſehen, und ſage
Ihnen, daß Sie ſein halbes Gewiſſen packen dürfen. Er
verdient es nicht anders!
Pahlen reicht ihm die Hand Sie ſind gut und Sie
ſind klug, Panin. Dieſer Pahlen hat einen ſo breiten
Buckel, daß er alle halben Gewiſſen und ſein ganzes noch
dazu ſich aufpacken kann. Die Zaren werden von ihm
nichts zu lernen brauchen; denn ſie ſind an dergleichen
Sklavendienſte gewöhnt. Er lacht Aber wie es auch ſei,
ich will jetzt Alexanders Halbheiten zu meinen kleinen Er⸗
preſſungen verwenden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn
Sie dieſes letzte Mal noch mitkämen, Graf. Wir wollen
jetzt zu ihm gehen.
Panin Ich bin bereit.
In der Tür ſtoßen ſie auf Alexander.
Achte Szene
Pahlen. Panin. Alexander.
Panin Wir wollten zu Ihnen, mein Prinz. Wir
haben Ihnen allerlei zu erzählen. Zu Pahlen Sollen wir hier
bleiben, Exzellenz?
Pahlen Das können wir ruhig. Die Majeſtät exer—
ziert die Wachkompagnie. Das dauert eine geraume Zeit
— wenn er überhaupt noch vormittags das Arbeits—
kabinett betritt.
Alexander und Panin treten ins Zimmer. Pahlen beugt ſich aus
der Tür, macht ein Zeichen hinaus, ſchließt ſie und kehrt gleichfalls
um, ſich etwas abſeits haltend.
Alexander äußerſt unruhig Ich weiß — weiß alles.
Die Majeſtät verfehlte nicht, es mir zu ſagen — und ſie
tat es auf nicht zarte Art. — Daß Sie mich verlaſſen
müſſen, Panin, iſt das Schlimmſte, was mir mein Vater
antun konnte!
Pahlen Es iſt meine Pflicht, auch Ihnen zu ſagen,
Hoheit, daß Seine Majeſtät den Grafen Panin auf meinen
Rat hin vom Amt ſuspendiert hat.
Alexander betroffen Auf Ihren Rat? Sehr ſcharf Iſt
das Ihr Dank, Herr Graf?
Pahlen Es geht jetzt nicht um Dank und Undank,
Hoheit. Jede große Sache erfordert zuweilen Maßnah—
men, die dem Fernſtehenden hart und unverſtändlich er—
ſcheinen können. Und vielleicht iſt ſogar meine Handlungs⸗
weiſe in gewiſſem perſönlichem Sinn ein Dank. Darüber
wird Panin Ihnen gegenüber nicht ſchweigen.
Alexander gepreßt Wenn mich aber das Ausſcheiden
des Grafen Panin beſtimmen würde, auch meinerſeits
das — das Intereſſe aufzukündigen, und wenn ich Ihnen
74
—
anraten — Ihnen befehlen würde, das Unternehmen auf—
zugeben ..
Pahlen unterbricht ſehr ernſt Das ſind ſo gefährliche
Worte, Hoheit — für Sie ſo gefährliche Worte, daß Sie
gut getan haben, ſie nur bedingt auszuſprechen.
Alexander ſchweigt, die Lippen zuſammenpreſſend.
Panin leiſe Das Ausſcheiden eines ſo wenig qualifi—
zierten Menſchen, wie ich es bin, unterbricht niemals den
Ablauf der Hiſtorie, mein Prinz.
Alexander ſieht ihn traurig und ſtumm an.
Pahlen Und weil das hiſtoriſche Schickſal mit dem
heutigen Tag aktiv wird, müſſen Sie ſich entſcheiden,
Hoheit — müſſen Sie ſich entſcheiden, in Ihrem Intereſſe.
Deshalb ſind wir jetzt hier.
Alexander ſtöhnt Ich kann nicht! Ich kann jetzt noch
nicht! 2
Pahlen Mein Prinz, das ſtöhnen Sie ſeit vier Wochen.
Die Zeit läuft Ihnen fort, Alexander. Die Zeit ſchritt
raſch, furchtbar raſch, während Sie ſtöhnten. Sie haben
meinen Bericht geleſen. Der Ring iſt geſchloſſen. Die Gar—
niſon iſt auf das nahe dunkle unausbleibliche Ereignis vor—
bereitet. Und Valerian Subow, der große Subow der
Kaiſerin, den Sie und die Armee und das Reich als die
Verkörperung der heroiſchen Tradition lieben müſſen —
Valerian Subow tritt innerhalb meiner Organiſation an
die Stelle des Grafen Panin.
Alexander Valerian Subow!
Pahlen Ja, Hoheit. Und ſind Sie jetzt bereit, das
Unternehmen zu ſanktionieren und in einem von mir zu
beſtimmenden Augenblick die erledigte Krone anzuneh—
men?
Alexander zurückweichend Die erledigte Krone? —
JS
Das ſagen Sie in dem Arbeitsraum meines Vaters? Das
ſagen Sie zu ſeinem Sohn?
Pahlen einen Schritt auf ihn zugehend Hören Sie, mein
Prinz, ich habe bisher noch nicht die Audienz erwähnt, die
Sie vorhin in dieſem Raum hatten. Wollen Sie mich
zwingen, Hoheit, Sie als meinen Gegner zu behandeln
und mich Ihrer Perſon in einer Weiſe zu verſichern, daß
Sie den Gang der Ereigniſſe nicht mehr zu ſtören ver—
möchten?
Alexander bebend Wiſſen Sie, mit wem Sie ſpre—
chen, Herr Graf?
Pahlen langſam Der Kriegsgouverneur ſpricht mit dem
Großfürſten-Thronfolger, der Seine Majeſtät nicht von
dem Beſtehen einer gegen die Krone gerichteten Kon—
ſpiration unterrichtet hat.
Alexander raſend Menſch! Menſch! Sind Sie toll!
Was machen Sie mit mir!
Pahlen kalt Hoheit, ich gebe Ihnen den Weg frei.
Wollen Sie jetzt noch den Zaren aufſuchen und ihm ſagen,
was Sie wiſſen? — Ich gebe Ihnen keine zweite Gelegen—
heit mehr.
Alexander zuſammenbrechend Mein Gott... mein
Gott nein ich will nicht
Pahlen Gut, Hoheit, Sie entſcheiden ſich alſo für die
Aktion.
Alexander tonlos Nein... nein... noch nicht!
. . . Panin, hilf mir doch!
Panin leiſe Pahlen — hat — recht...
Alexander Sie auch... Sie auch ... — Ich bin
ganz allein ... Er ſtürzt auf Pahlen und umklammert ſeine
Hand Pahlen, Pahlen, haben Sie doch Erbarmen mit
mir!
Pahlen plötzlich weich Mein Prinz, was nützt Ihnen
76
od
mein Erbarmen . .. Pauſe Hoheit, verzichten Sie auf den
Thron zugunſten ...
Alexander fährt auf, ſchreit Nein! Nein! Nein! Nie—
mals!
Panin Hoheit, es tut mir weh, daß Sie mich jemals
Ihren Freund nannten.
Alexander ſchluchzt auf Ich kann nicht anders ...
Pahlen ſich abwendend Ich will noch warten, Prinz.
Alexander ſchluchzend Was nützt es mir...
Die Tür wird aufgeriſſen.
Murawiews Stimme ſchreit herein Er!
Die drei ſtehen erſtarrt. Man hört die Stimme des Zaren.
Neunte Szene
Die Vorigen. Zar.
Der Zar tritt ein, ſieht von einem zum anderen.
Zar Was Ihr noch hier! Was für eine Gruppe! Was
für ein Geſicht, Herr Sohn!
Pahlen Die Hoheit weint um ihren Panin, Sire.
Zar Weint?!
Er lacht dröhnend, Pahlen fällt ein.
Vorhang
Wd
Vierter Akt
Erſte Szene
Kaiſerliches Wohnkabinett. — Der Vorhang, der den Salon vom
Vorraum trennt, iſt geöffnet. — Abend.
Im Vorraum (Hintergrund): Pahlen. Murawiew. Kammer—
herr. Abſeits Stepan in Pahlenſcher Livree.
Pahlen Morgen iſt der dreiundzwanzigſte?
Murawiew Jawohl, Exzellenz.
Pahlen Morgen ſtellt das Regiment Sſeminonowſfkij
die Wachen für das Michaels-Palais?
Murawiew Jawohl, Exzellenz.
Pauſe.
Pahlen In der Nacht vom dreiundzwanzigſten auf
den vierundzwanzigſten März.
Murawiew beklommen Mit Verlaub, Exzellenz, was
iſt dann?
Pahlen In der Nacht vom dreiundzwanzigſten auf den
vierundzwanzigſten März.
Pauſe.
Murawiew leiſe Schon ... 2
Pahlen Es iſt die höchſte Zeit.
Murawiew Weiß es der Zarewitſch?
Pahlen Alexander weiß nichts und tut nichts. Aber
bis morgen iſt noch viel Zeit — viel zu viel Zeit. Bis
morgen muß noch mehr geſchehen — und Wichtigeres.
Alexander iſt nicht ſo wichtig. Er verlangt nur nach dem
78 \
rd
Zwang als Mittel zur Überzeugung. Er foll ihn haben,
gut doſiert und im rechten Augenblick. Wichtiger iſt die
Oſtermann — und viel gefährlicher. Denn ſie weiß viel
und tut viel.
Kammerherr Ja, die Verbindungstür zu den Ge—
mächern der Kaiſerin iſt zugemauert. Sie hat es ſofort
erreicht. Sie erreicht alles.
Pahlen Das meldeten Sie mir ſchon, Ungern. Das
iſt gut. — Aber ſie erreicht zu viel, verſtehen Sie mich?
Paul liebt ſie ſo wild und verzweifelt, wie er jetzt lebt.
Paul iſt in Auflöſung, aufgeweicht von Wahnſinn und
Angſt.
Murawiew Oh, es iſt furchtbar ...
Pahlen heftig Ja, es iſt furchtbar! Ich weiß es!
Ich weiß es ſo gut wie Sie. — Aber warum ſagen Sie es?
Was ſtöhnen Sie mir vor? — Wenn Sie es nicht aus—
halten können, dann gehen Sie doch! Gehen Sie! Ich
gebe Ihnen zwei Tage Urlaub. Dann iſt alles vorbei ...
Murawiew leiſe Ich bleibe.
Pahlen Nun ja, nichts für ungut, Sergej Nifola-
jewitſch, wir ſind alle ein wenig überreizt, und zumal
ich habe verdammt wenig Gelegenheit, mich gehen zu
laſſen. Und das muß man hin und wieder. — Ja, ja, ja,
es iſt furchtbar! Paul iſt verſtört oder betrunken poet
entſetzlich hellſichtig.
Kammerherr Er trinkt zu viel und ißt zu wenig —
aus ſeiner tollen Angſt vor Gift. In den letzten Tagen iſt
es etwas beſſer geworden. Er hat eine engliſche Köchin
aus bürgerlichen Kreiſen gemietet, die nur für ihn kocht
und in abſonderlicher Klauſur hier am Schloßflügel lebt.
Und ſein neuer Leibarzt, der Engländer Grive, an deſſen
Unbeſtechlichkeit ſelbſt er glaubt, hat ihn Tag und Nacht
zu beobachten.
79
CONCORDIA COL! -EGE LIBRARY
lotavat ULerTet
Murawiew Es iſt fehr ſeltſam: er haßt kein Volk
ſo ſehr wie die Engländer und ſchwört ihnen täglich den
Untergang, trotzdem alle baltiſchen Häfen von britiſchen
Kriegsſchiffen blockiert ſind. Aber ihm ſein Leben zu
ſchützen, ſucht er die engliſche Köchin und den eng—
liſchen Arzt. Seine Familie verdächtigt er, wie er alle
Welt verdächtigt. Den Kammerherrn durchſucht er jeden
Tag eigenhändig nach Waffen. Und ich darf in ſeinen
Privaträumen keinen Degen tragen.
Pahlen leiſe und haſtig Und doch, und doch, er liebt
einen Menſchen, mit einer irren, hilfloſen, wütenden und
{chon wieder ganz zarten Liebe. Wahrhaftig, messieurs,
er liebt die Oſtermann. Er iſt gut zu ihr wie ein guter
Menſch, er überhäuft ſie mit Geſchenken, er berauſcht ſich
an ihrem Körper, er hält ſich an ihrem warmen Leben
feſt. Sie iſt ihm unentbehrlich. Das iſt die Gefahr, die
ich nicht ahnen konnte, als ich ſie ihm zuſchanzte. Ich
weiß nicht, wie weit es ihr Plan war und wie weit ihr
Pauls Zerfall entgegenkam. Aber ich weiß, daß ſie ſich
ihrer gefährlichen Macht nicht nur bewußt iſt, ſondern
daß fie fie auch gebraucht. Bis zur Stunde wenigitens
iſt er noch leicht abzulenken. Aber nicht die Oſtermann.
Und — kurz und gut — die Frau muß fort — noch heute!
Murawiew erſchrocken Mein Gott, Exzellenz, wie
ſoll das möglich ſein?
Kammerherr Wie ſoll es ohne Gewalt möglich
ſein — und wie ſollten wir Gewalt anwenden können?
Der Zar iſt faſt immer bei ihr, und ſie wohnt unmittelbar
neben dieſem Zimmer, vom Vorraum aus nur über den
kleinen Gang.
Pahlen Beunruhigen Sie ſich nicht, messieurs, ich
beauftrage keinen von Ihnen, die ſchöne Frau zu ent—
führen. Und ich — nun, ich beginne ſelbſtverſtändlich
80
—
mit der ſanften Überredung. — Haben Sie ihr geſagt,
Baron, daß ich etwas vor der üblichen Souperſtunde
komme, um mit ihr ein paar Worte unter vier Augen
zu ſprechen?
Kammerherr Gewiß, Exzellenz, ich habe es ihr
ausgerichtet. Und ſie ſagte zu.
Pahlen Gut, die Frau muß fort. Und läßt ſie ſich
nicht von mir überzeugen, dann übergebe ich ſie einer
anderen Inſtanz. Denn jo wenig wie Sie, messieurs,
vermag ich, ungalant zu fein.
Murawiew unruhig Welcher Inſtanz, Herr Graf?
Pahlen Sie ſteht im Zimmer, Murawiew. Sie be⸗
ſitzt alle guten exekutiven Eigenſchaften: fie ift wortkarg,
zuverläſſig und muskulös.
Alle ſehen auf Stepan.
Murawiew leiſe Iſt das nicht jener Grenadier...
Pahlen Er iſt mein beſter Freund und für dieſe und
die nächſten Stunden Rußlands wichtigſter Mann. So
ſieht das Schickſal des Reiches aus. Sehen Sie es ſich nur
an!
Schweigen.
Kammerherr leiſe Sie haben alles Grauen dieſer
Tage in der Stimme, Graf Pahlen ...
Pahlen Lieber Kammerherr, wie ſoll ich es ver—
hüten? — Aber mein Freund Stepan — das iſt mein
Freund Stepan — wird vielleicht von Ihnen, cher
baron, ich ſage es Ihnen noch, an einer paſſenden
Stelle im Zimmer der Oſtermann untergebracht werden
müſſen; verſtehen Sie mich? Und mein Freund Stepan
darf keinem außer Ihnen beiden begegnen, wenn er
etwa um elf Uhr, jedenfalls kurz bevor ich aufbreche,
ſchier unmenſchlich beladen meinen Wagen zu erreichen
Neumann, Patriot 6 817
—
ſtrebt — Sie begreifen mich gut. Ich weiß übrigens
dies alles noch nicht ganz gewiß. Und Sie, Murawiew,
werden nach einiger Zeit — noch bevor der Zar kommt —
meine Plauderei mit der Oſtermann unterbrechen und
mich dienſtlich irgendwo gebrauchen. Dann werden Sie
erfahren, was zu tun fein wird. — Und jetzt bedarf ich
Ihrer nicht mehr, messieurs. Es iſt gut, wenn wir nicht
zu oft zuſammen geſehen werden. Die Oſtermann hat
ſcharfe Augen — und ich auch ... Und mir gefällt Ihre
Kritik nicht. Aber ich kann Ihnen nicht helfen ...
Kammerherr Exzellenz, wir kritiſieren nicht, wir
ſind nur überraſcht und — deprimiert.
Kammerherr und Murawiew ab. Pahlen geht hin und her.
Pahlen Stepan, weißt du, was deprimiert iſt?
Stepan Nein, Exzellenz.
Pahlen Stepan, biſt du froh?
Stepan Nein, Exzellenz.
Pahlen Biſt du traurig, Stepan?
Stepan Nein, Exzellenz.
Pahlen Was fühlſt du denn?
Stepan Nichts, Exzellenz.
Pahlen Nichts? Keine Angſt? Kein Herzklopfen?
Stepan Nein, Exzellenz.
Pahlen Aber wenn ich traurig bin?
Stepan Dann bin ich's gewiß auch, Väterchen
Exzellenz.
Im Vordergrund betritt Anna den Salon, in einem Buch leſend.
Pahlen leiſe zu Stepan Da iſt ſie. Du kennſt ſie doch?
Stepan Jawohl.
Pahlen Damen ſind zerbrechlich. Nicht mit der
Fauſt, hörſt du? Ein Kiſſen aufs Geſicht ... Er flüſtert.
Stepan Jawohl, Exzellenz.
82
Pahlen Damen haben eine zarte Haut. Nicht vere
wunden, hörſt du? Und nicht vor elf Uhr, falls ich es
dir nicht anders ſage.
Stepan Jawohl, Exzellenz.
Pahlen geht in den Salon und ſchlägt hinter ſich den Vorhang
zuſammen.
Zweite Szene
Pahlen. Anna. Zum Schluß Murawiew.
Pahlen Guten Abend, Madame.
Anna Guten Abend, Pahlen. Der Kammerherr ...
Pahlen Gewiß, Madame — und ich danke Ihnen,
daß Sie mir die nachgeſuchte Audienz bewilligen.
Anna Wollen Sie es bei dieſem Ton belaſſen, Herr
Graf?
Pahlen Nein, hohe Frau, ich mache die Muſik nach
Ihrem Sopran. Ich will Sie ſozuſagen nur begleiten.
Das Konzert wird nicht übel — bei ſo virtuoſen
Spielern.
Anna Pahlen, was wollen Sie? — Der Zar kann
bald kommen.
Pahlen Der Zar? — Wo iſt er denn?
Anna Ich weiß es nicht.
Pahlen Wer ſoll es denn wiſſen, wenn nicht Ste...
Anna Wahrſcheinlich läßt er ſich von Doktor Grive
beklopfen und abhorchen.
Pahlen Ja, das Herz, das Herz! — Sie müſſen auf
das Herz mehr Rückſicht nehmen, Madame. Der Zar hat
nicht das Glück, Ihre Konſtitution zu beſitzen — nicht
einmal meine
Anna Ich verſtehe Sie nicht, Herr Graf. Aber ich
habe große Luſt, Sie allein zu laſſen.
83
Pahlen Ach, Anjuta, behandelt man fo ſeine alten
Freunde? Sollten Sie mich ſchon vergeſſen haben?
Anna Ich wußte wahrhaftig nicht, daß Sie ſo
widerwärtig ſein können. — Iſt das alles, was Sie mir
zu ſagen haben?
Pahlen Ich bin Ihnen immerhin für die Meinung
dankbar, die Sie bis zu dieſem Augenblick von mir hatten.
Aber man erkennt vertraute Menſchen zumeiſt erſt dann,
wenn man ein gutes Stück von ihnen abrückt. So muß
ich für mich noch allerlei fürchten. — Und ich wollte Sie
fragen, ob Sie es ſchon erreicht haben.
Anna Was ſoll ich erreicht haben? — Ich verſtehe
Sie nicht.
Pahlen Sie verſtehen mich nicht mehr? Das iſt
ſchade. Ich brachte Sie nämlich zu einem beſtimmten
Zweck mit Paul zuſammen, erinnern Sie ſich gar nicht?
Sie ſollten erreichen, daß die Verbindungstür zu den
Gemächern der Zarin zugemauert würde.
Anna Sie brachten mich zu einem beſtimmten
Zweck . . . Sie wechſeln die Tonart, Sie werden inter-
eſſant, Herr Graf. — Die Tür iſt übrigens ſchon zuge—
mauert. Ich vergaß es wohl, Ihnen zu ſagen.
Pahlen Ach, Sie vergaßen es. Aber die Tür iſt zu⸗
gemauert. Nun, ich bin doch mit Ihnen zufrieden. Es
war wohl ein rechter Kampf?
Anna Durchaus nicht. Der Zar pflegt meine Wünſche
gerne und ſchnell zu erfüllen. Er hat ſogar den leitenden
Architekten, der die peinliche Aufgabe hinauszögern
wollte, für kurze Zeit einſperren laſſen.
Pahlen Sehr gut! Sehr gut! So haben wir es alſo
erreicht. Und da ich eigentlich keine Aufgabe mehr für
Sie habe, kann ich Sie jetzt ſchon aus der zwangvollen
Gemeinſchaft entlaſſen.
84
Anna Mir ſcheint, Pahlen, Ihre Witze fangen an,
fad zu werden.
Pahlen Wieſo, Madame, ich ſcherze nicht. Ich denke
an Ihr Wohl, wie ſtets. Ich möchte Sie nicht länger
als unbedingt nötig neben einem kranken und gewiß
nicht angenehmen Menſchen laſſen. Und Sie ſind nicht
mehr notwendig ...
Anna ſcharf Jetzt iſt es wohl genug! Herr Gouver—
neur, ich habe nicht die Ehre, unter Ihrem ſpeziellen
Kommando zu ſtehen. Erlauben Sie mir, daß ich Ihnen
einige Illuſionen nehme. Ich bleibe bei der Majeſtät,
ſelbſt wenn es ungemütlich werden ſollte — ſogar wenn
es Ihnen nicht belieben ſollte. Der Zar iſt gut zu mir:
vielleicht liebt er mich, vielleicht braucht er mich, trotzdem
es außerhalb Ihrer Berechnung liegen mag. — Aber
ſelbſt Ihre Berechnungen könnten einmal einen Fehler
haben!
Pahlen lacht Um ſo beſſer, Marquiſe Pompadour,
um ſo beſſer, wenn es ſo ſteht! Um ſo beſſer, wenn Sie
mir ſogar die Verantwortung für Ihre Perſon erlaſſen!
Aber eine kleine Frage, Madame: haben Sie vor, mich
beim Kaiſer zu verdächtigen?
Paufe.
Anna gereizt Ich halte Sie für zu klug, .
um mir eine Veranlaſſung zu geben.
Pahlen lacht Eine prächtige Antwort, hohe Frau,
eine prächtige Antwort! Alſo wenn ich Dummheiten
machte, könnten Sie eine Veranlaſſung finden. —
Madame, wäre das nicht ein bißchen undankbar?
Anna ſchweigt
Pahlen lacht ſtärker Hören Sie, Madame, ich er—
laube Ihnen ſogar, ein wenig undankbar zu ſein. — Sie
verſtehen nicht? Aber Sie find doch nicht fo klug, wie ich
85
—
annahm, Anna. Begreifen Sie doch, welchen Spielraum
ich Ihnen laſſe. Wenn Sie dem Zaren keinen Argwohn
gegen mich ſchenken wollen, iſt es gut. Aber wollen Sie
mich verraten — ſoweit Ihr geringes Wiſſen um den
Lauf der Dinge und Ihre weiblichen Rankünchen dazu
imſtande ſind — mein Gott, Madame, dann iſt es noch
beſſer! Ich will Ihnen ſogar helfen. Sie brauchen nur
Ihr gar nicht ſo harmloſes, wenn auch nicht ganz ſelbſtän⸗
diges Billetdoux in die kaiſerliche Erinnerung zurück—
rufen — oder Sie haben es vielleicht ſchon getan. Und
wenn Sie fürchten, der andere Name, Panin, möchte
nicht mehr aktuell ſein, ſo fügen Sie nur hinzu — mehr
oder minder nachdrücklich, wie Sie wollen — Panin war
der beſte Freund und Ratgeber des Zarewitſch — ja
Eccellenza, des Zarewitſch — und iſt es vielleicht noch. —
Dann, Madame, ſind Sie in aller Wahrheit auf der Höhe
der Situation.
Anna ſchreit Ou... du . . teufliſcher Menſch! —
Weißt du — weißt du, was du für ein Menſch biſt?
Pahlen ernſt Wahrhaftig, Anna, das weiß ich nicht.
Es klopft Ja! Herein!
Murawiew kommt.
Murawiew Um Vergebung ...
Pahlen Sie ſind's, Sergej Nikolajewitſch ... Wiſſen
Sie, was ich für ein Menſch bin, mein Freund?
Murawiew betreten Das weiß ich nicht, Exzellenz...
Pahlen Ich auch nicht, Murawiew. Aber die Mar—
quiſe hier weiß es: ein teufliſcher Menſch! — Was
meinen Sie?
Murawiew betrachtet die erregte Frau, zögernd Nein
— das find Sie nicht, Exzellenz...
Pahlen lacht Hören Sie, Madame? — Aber was
gibt es, Murawiew, ſuchen Sie mich?
86
a
Murawiew Ja, Exzellenz. Eine Ordonnanz von der
Admiralität — dringend zu erledigen ...
Pahlen Ach Gott, ja. — Ich komme gleich mit
Ihnen mit. Zu Anna Madame, Sie entſchuldigen mich
bei der Majeſtät, ſollte ich etwas ſpäter als gewöhnlich
zum Souper erſcheinen. — Sie werden ihn ja unter⸗
halten können ...
Pahlen und Murawiew ab. Anna geht unruhig hin und her. Lakaien
kommen und bereiten einen Tiſch für drei Perſonen. Der engliſche
Doktor Grive geht durch das Zimmer. Anna hält ihn auf.
Dritte Szene
Anna. Grive.
Anna Sahen Sie den Kaiſer?
Grive Ja, Madam.
Anna Haben Sie ihn unterſucht?
Grive Ja, Madam.
Anna Nun und?
Grive Er ſollte weniger trinken, Madam.
Anna Warum, Doktor?
Grive Er ſollte keine Aufregungen haben, Madam.
Anna Ja doch, warum? Iſt er krank?
Grive verzieht den Mund Er iſt nicht geſund, Madam.
Anna Mein Gott, Doktor, reden Sie doch!
Grive Er hat Fieber, Madam. Aber das iſt es nicht allein.
Anna Was denn noch, Doktor, reden Sie doch!
Grive Da iſt nicht viel zu reden, Madam. Ich muß
in die Küche — die Speiſen prüfen.
Anna haſtig Was iſt mit ihm? Iſt er wahnſinnig?
Grive Nein, Madam. — Er iſt ein armer Menſch.
Grive ab. In der entgegengeſetzten Tür ſteht der Zar, bleich, ge:
dunſen, fiebrig.
87
Vierte Szene
Anna. Zar.
Zar Wer war das?
Anna Der Doktor.
Zar Was ſagt er?
Anna Er iſt zufrieden, Sire.
Zar Zufrieden ... zufrieden . .. Das Herz iſt gut?
Anna Sehr gut.
Zar Und die Lunge?
Anna Ganz geſund, Sire, vollkommen geſund.
Zar Aber der Kopf — der Kopf...
Anna Auch der Kopf iſt in Ordnung, ſagt Grive.
Zar Nein, der Kopf iſt nicht in Ordnung — nein, der
Kopf nicht ... Der Kopf weiß zu viel, das tut weh — und
die Augen ſehen nichts und die Ohren hören nichts —
das macht toll, Anjuta, das macht wütig! Mir platzt der
Kopf vor Wiſſen ...
Anna Sire, Sie dürfen ſich nicht aufregen; das ſagt
auch der Doktor Grive...
Zar Ich darf nicht? — Ach Gott, ich muß! Ich muß!
Es gibt keinen ſtärkeren Grund zur Aufregung, als das,
was ich weiß! Sich immer mehr ſteigernd Ich weiß! Aber ich
bin blind! Aber ich bin taub! — Ich weiß, daß ſie mich
töten werden, Anna! Bin ich ein ſo ſchlechter Menſch,
Anna, daß ſie mich totſchlagen werden wie einen tollen
Hund? — Aber ich bin ein guter Zar — noch iſt Rußland
groß, noch zittern ſie, wenn ich brülle! — Und, Anna, ich
will nichts Schlechtes ... oder ich bin ſchon fo hoch — fo
hoch, daß ich nicht mehr weiß, was ſchlecht iſt ... Nein,
nein, ſie verſtehen mich nicht, ſie haſſen mich, weil ich aus
einem verfluchten Geſchlecht bin .. . hörſt du, Anna, Anna
ich ſage dir das Geheimnis. Mein Vater wurde ermor—
88
a”
det... vielleicht wird mein Sohn ermordet werden wie
ich .. . mein Enkel ... es werden noch viele Romanows
totgeſchlagen werden, Anna, Anna ... dann erſt ſtirbt
mein Rußland . .. Er klammert ſich erſchöpft an Anna, die
vor Angſt weint. Nicht mich allein laſſen, Annuſchka, mein
Täubchen, meine gute Frau, meine ſüße Frau! Nicht mich
verlaſſen! Mit mir fein, Anna — fie werden mich tot—
ſchlagen ...
Anna ſinnlos ſtammelnd Sire, er iſt es ... er iſt es...
Pahlen! Pahlen! Dieſer Pahlen!
Zar gequält Pahlen? — Liebſt du ihn?
Anna Nein — nein — nein!
Zar mit irrem Lächeln, flüſternd Ich aber liebe ihn;
denn es ſteht geſchrieben: liebet eure Feinde ... Mit ganz
veränderter Stimme, wie erwachend Pahlen? Wo iſt er? Ware
um iſt er noch nicht hier?
Anna ſich ſammelnd Ich weiß nicht... Es iſt ſonder—
bar
Zar Was iſt ſonderbar?
Anna Pahlens Geſchäftigkeit ...
Zar Er hat viele Pflichten und große Verantwortung.
Anna Ja — ja ... aber warum gehen Sie nicht nach
Moskau, Sire — mit mir?
Zar Ich kann nicht. Ich deſertiere nicht!
Anna Sie glauben alſo nicht an das, was Sie wiſſen,
Sire?
Zar wieder unruhig Ich — ich glaube an Pahlen.
Anna Pahlen ...
Zar plötzlich heftig Du ſollſt ſchweigen, Anna, hörſt
du? Du follft nicht ... du ſollſt ihn mir nicht ... Mein
Gott!
Anna erſchüttert Ich ſagte ja nichts, Sire! Und ich
bin ja ſtill!
Zar Der Kopf, Anjuta, du follft ihn küſſen!
Anna beugt ſich über ihn. Pahlen tritt durch den Vorhang des
Vo rraums. Er huſtet.
Fünfte Szene
Zar. Anna. Pahlen.
Zar erſchrocken Wer... ach, Ste find es, Pahlen.
Pahlen Guten Abend, Majeſtät.
Zar beengt Sie haben zugehört, Pahlen?
Pahlen Ich habe gehört, wie Madame gelogen hat.
Zar Was... was — wieſo?
Anna auffahrend Man beleidigt nicht Frauen, noch
dazu in der Gegenwart der Majeſtät! Sie ſcheinen Ihr
bißchen Ritterlichkeit verloren zu haben, Herr Graf.
Pahlen kalt Das iſt möglich. Zum Zaren Madame
wußte ſehr gut, wo ich war. — Ich war hier, bis mich
Murawiew vor einer Viertelſtunde zu einer Ordonnanz
von der Admiralität holte.
Zar Madame, hatten Sie es vergeſſen?
Anna außer ſich Vielleicht, Sire. Und ſollte ich ge—
logen haben, ſo folgte ich der Methode und dem Beiſpiel
Seiner Exzellenz. Sie erlauben mir, Sire, mich zurück⸗
zuziehen. Anna ab.
Sechſte Szene
Zar. Pahlen.
Zar ruft Anna nach Madame! Hören Sie doch! Maz
dame! Zu Pahlen Laufen Sie ihr doch nach! Holen Sie ſie
doch zurück! Das iſt ja lächerlich!
Pahlen rührt ſich nicht Hörten Sie, was ſie geſagt
hat, Sire?
90
*
Zar Ja .. . nein — Unſinn! Was wollen Sie damit?
Pahlen Sie hat geſagt, daß ſie mit der Lüge meiner
Methode und meinem Beiſpiel folgt, Sire.
Zar Mein Gott — nun ja, was tut es — ſie war ge—
kränkt — wollte wieder kränken — Unſinn das!
Pahlen Sire, die Frau kennt mich ſeit zehn Jahren.
Ich habe oft gelogen in dieſen zehn Jahren.
Zar Was wollen Sie — was wollen Sie? Was gehen
mich Ihre Lügen an? — Ich glaube an Sie, das genügt.
Pahlen Wahrhaftig, Sire, das genügt — und dann
iſt alles gut. Er wendet ſich zur Tür.
Zar in äußerſter Unruhe, ſchreit plötzlich Pahlen, Pah⸗
len, ich kenne Sie nicht!
Pahlen bleibt ſtehen Majeſtät, das muß ich bedauern.
Das iſt doch Mißtrauen. Was iſt Ihnen an meiner Haltung
unklar, Sire? Lächelt Oder finden Sie doch meine Ge—
ſchäftigkeit ſo ſonderbar — wie es Madame...
Er ſtockt. Der Zar kommt auf ihn zu und ſieht ihn an, bebend und
jähzornig.
Zar heiſer Pahlen, ich bin nicht wahnſinnig. Ich
kann noch denken. Ich kann noch unterſcheiden und das
Sonderbare ſonderbar finden und hinter dem Wort die
Lüge! Vielleicht weiß ich zu viel, um noch hören und ſehen
zu müſſen! Aber vielleicht machen Sie mich doch neu—
gierig hinzuſehen, hinzuhören! Pahlen weicht zurück. Der Zar
ſpricht ſcharf Herr Graf, waren Sie in Petersburg, als
mein unglücklicher Vater ſeines Thrones und ſeines Le—
bens beraubt wurde? Waren Sie im Jahre 1762 in
Petersburg?
Pahlen wieder gleichmütig Gewiß, Majeſtät.
Zar Waren Sie direkt oder indirekt an den Ereigniſſen
beteiligt? — Ich verlange die Wahrheit. Sie wird an
meinem Verhältnis zu Ihnen nichts ändern.
91
Pahlen lächelt Sire, welche Verbindung ſollte ein
ſiebzehnjähriger Gardegefreiter, der gerade das Grüßen
gelernt hatte, mit hochpolitiſchen Staatsereigniſſen haben?
Er lacht, aber ſein Blick iſt gerade und kalt. Oder ſehe ich ſo
verbraucht aus, Sire, daß Sie ſolche Energie um vierzig
Jahre zurückdatieren?
Pauſe.
Zar mit zuckendem Körper Herr Graf, Sie ſind noch
immer der ſtattlichſte Mann meiner Umgebung, wahr—
haftig! — Sie ſind ungewöhnlich wenig verbraucht, ja!
Schreit Ja! Ja! Ich täte Ihnen das größte Unrecht —
ich täte mir das größte Unrecht — hielte ich Sie nicht mehr
fähig jeder Tat — fähig jeder Tat!
Pahlen ſtarrt ihn an, ſtumm, das Geſicht vor Entſchloſſenheit
brutal.
Zar ſchreit Fähig jeder Tat — hören Sie! — Menſch,
hören Sie!
Pahlen hart Jawohl, Sire, das iſt ein Kompliment.
Zar bebend Kerl, glaubſt du, ich bin wahnſinnig ...
Pahlen leiſe Nein, Sire, aber Sie haben Fieber ...
Zar Fieber — ja ... ich habe Fieber. — Wenn man
weiß, was ich weiß, fiebert man... o ja! — Vielleicht
weiß ich viel, Herr Graf; aber ich weiß nicht, ob Sie noch
dieſe Energie haben: mir, Ihrem Kaiſer, ins Geſicht hin—
ein zu geſtehen, daß die Tragödie von 1762 in dieſem
Jahr — in dieſem Monat vielleicht wiederholt werden
ſoll. — Nun, was werden Sie ſagen? — Ich bin ſehr neu—
gierig!
Pahlen mit vollkommener Ruhe Sire, Sie irren nicht.
Es beſteht eine Konſpiration, der ich ſelber angehöre,
um
Er ſtockt. Der Zar ſpringt zurück und reißt eine Piſtole aus der
Rocktaſche.
92
Ps
Zar kreiſcht Bravo, Herr Gouverneur! — Diefer
ritterliche Freimut ſoll kaiſerlich belohnt werden!
Er legt auf Pahlen an, der ſtumm die Augen ſchließt und in ſelt⸗
ſamer Hingabe die Arme öffnet. — Der Zar läßt die Waffe ſinken.
Zar geſchüttelt Pahlen ... Pahlen — ich unterbrach
Ihren letzten Satz. Wenn Ihnen etwas auf dieſer Welt
heilig iſt — Pahlen, hören Sie — dann ſprechen Sie dieſen
Satz in Wahrheit ſo zu Ende, wie Sie ihn haben ſprechen
wollen!
Pahlen breitbeinig, mit erhobenen Armen, mit ſtählerner
Stimme, wie eine Beſchimpfung .. . um Euer Majeſtät ge⸗
heiligtes Leben retten zu können!
Der Zar kichert irr. Das Geſicht wird ganz ſchlaff.
Zar Hihihi! — So — ſo hätte ich mich alſo eben —
gleichſam ſelber — hihihi! — um ein Haar — um ein
Haar... mit ſchiefem Mund flüſternd ... wenn es wahr
iſt — wenn das alles wahr iſt . .. — Aber warum ſoll
es nicht wahr ſein — warum denn nicht? — Tat ich Ihnen
je etwas Böſes an, Pahlen?
Pahlen tritt zurück, wie von dieſer Frage körperlich getroffen.
Pahlen tonlos Taten Sie mir je etwas Böſes an,
Sire?
Zar auf einen Stuhl gekauert, hilflos Brüderchen, tat ich
dir je etwas Böſes an?
Pahlen tonlos Nichts taten Sie mir an ... nichts —
nichts...
Pauſe. In Pahlen kämpfen verzweifelt die Gefühle des Mitleids.
Pahlen ſtöhnend Mein Gott...
Zar flüſternd Was ſtöhnſt du, Pjotr?
Pahlen Sire, es ſtöhnen viele in Rußland ...
Zar leiſe Es ſtöhnen viele...
93
Pahlen laut Und es nützt nichts! Es nützt nichts!
Das bißchen Güte nützt nichts! — Das Gewiſſen vergibt
nicht!
Zar bebend Das Gewiſſen — vergibt — nichts...
Pahlen plötzlich ruhig, als fälle er den Spruch gegen ſich
ſelbſt Und wer das Gewiſſen nicht töten kann — wer es
nicht kann, der ſoll vom Gewiſſen getötet werden! Leiſe
und langfam Wer — es nicht — kann ..
Pauſe. Der Zar hebt den Kopf, ſeine Schultern beben in geheimnis⸗
voller Qual.
Zar mit ganz ferner Stimme Soll ich ... Brüderchen —
ſoll ich . . . mich töten?
Pahlen ſinkt ganz langſam auf einen Stuhl zuſammen, ſchluchzt
auf. Der Zar ſpringt hoch, wie aus einer Betäubung erwachend.
Zar Pahlen weint! — Pahlen weint? — Wer im
großen Rußland hätte je geglaubt, daß Pahlen weinen
könne? Er ſtampft kichernd um ihn herum, kreiſcht Welche
Rührung, Herr Gouverneur! Was für ein ganz ungewohn—
ter Anblick! Entweder ſind Sie doch ſchon älter als Sie
meinen, oder — oder es iſt das böſe Gewiſſen — he!
Pahlen aufſpringend, mit wilden Augen, ſehr laut Sire,
ich weine, weil ich Dankbarkeit für Sie fühle! Ich weine,
weil ich Sie beklage! Denn was ich Ihnen jetzt ſagen
muß — ſchon heute, weil Sie mich zu meiner Recht—
fertigung zwingen — was ich Ihnen jetzt ſagen muß,
möchte jeden Menſchen erſchüttern, aber den Vater wahn—
ſinnig machen!
Zar ſchreit Was bedeutet das?
Pahlen Sire, laſſen Sie den Thronfolger verhaften!
Er konſpiriert gegen den kaiſerlichen Vater!
Zar aufbrüllend Alexander!! — Vor das Geheime
Gericht! Man erſchieße ihn kraft außerordentlichen Urteils
innerhalb vierundzwanzig Stunden!
94
-
Pahlen Majeſtät, das wäre das Signal zur Revo—
lution. Man liebt den Prinzen; ſein Anhang, zumal in
der Armee, iſt groß. Wenn Sie Ihr Leben ſchützen wollen,
folgen Sie meinem Rat: Geben Sie mir die Vollmacht,
die Kaiſerliche Hoheit zur Sicherung ſeiner Perſon in die
Petersburger Zitadelle einzuſchließen. Ich werde mich des
Dokuments zur richtigen Zeit bedienen.
Zar ſieht ihm in die Augen Ja — ja. Wann?
Morgen
Pahlen Sofort, Sire. Es iſt beſſer. Er zieht ein Schrift⸗
ſtück aus der Taſche. Ich habe den Verhaftungsbefehl ſchon
ausgefertigt.
Zar Sie haben ihn ſchon ...
Pahlen Sire, unterſchreiben Sie.
Der Zar zögert noch eine Sekunde. Sieht Pahlen an. Dann geht
er an einen kleinen Sekretär und unterſchreibt.
Zar mit müder Bewegung Hier...
Pahlen nimmt die Order Jetzt iſt alles gut.
Zar Glaubſt du, Pjotr? — Abweſend Wenn ich nicht
ſo müde wäre, dann führe ich noch heute nacht nach
Moskau — mit Anjuta
Pauſe.
Pahlen Fahren Sie — morgen, Sire, wenn Sie es
für gut halten. Pauſe. Aber ich müßte dann für die Er—
ledigung der auswärtigen Fragen, vor allem für die Be⸗
handlung der preußiſchen Kriſe, ganz ſelbſtändige Aktions—
möglichkeit zugeſichert bekommen.
Zar Ich habe Durſt — ich will trinken — trinken —
Pahlen bringt ihm Wein. . . ich will von nichts mehr
wiſſen ... Er trinkt — Anjuta ... wo iſt fie denn? Pahlen
nähert ſich unauffällig dem Vorhang. Hol ſie doch, Pjotr!
95
Pahlen reißt ſchnell den Vorhang auseinander, hinter dem
Anna nicht mehr zur Seite ſpringen kann. Kommen Sie jetzt,
Madame. Es gibt nichts Intereſſantes mehr zu hören!
Anna, kaum verlegen, tritt vom Vorraum in den Salon.
Siebente Szene
Zar. Pahlen. Anna.
Zar lacht kurz Sie ſind alſo neugierig, Madame? —
Es iſt vielleicht nicht gut, daß ich Ihnen nicht böſe ſein
kann.
Anna Sire, ich betrat vor einer Minute den Vorraum.
Pahlen Sicherlich hat Madame auch angeklopft; aber
leider gab der fatale Vorhang das Geräuſch nicht weiter.
Zu Anna Und wenn Sie wirklich lauſchten, Madame,
ſo folgten Sie doch nur wieder mir und meinem Beiſpiel
von vorhin — nicht wahr?
Anna Gewiß, Herr Graf.
Zar trinkend Ich habe Durſt — Durſt ... — Der Wein
iſt gut, aber zu ſanft. — Wo iſt der Pfefferſchnaps?
Pahlen Hier, Majeſtät. Gießt ihm ein. Ich darf jetzt
anrichten laſſen?
Zar Ja — ja
Pahlen öffnet eine Tür im Vordergrund und klatſcht in die Hände.
Diener bringen einige Schüſſeln und Platten, ſehr haſtig, und ver:
ſchwinden wieder.
Anna leiſe zum Zaren Sie dürfen nicht ſo viel trinken,
Sire!
Zar verſonnen, abweſend Ich muß — ich muß ...
Anna dringlich Sire, ich glaube, es iſt gut, Sie be⸗
hielten Ihren klaren Kopf!
Zar Ich — will — nicht, Anjuta. Ich will eine dicke
Wand von Rauſch um mich herum ... Rauſch! Rauſch! —
96
.
Ein Rauſchen, daß ich nichts mehr höre von dieſem Leben!
Schreit Iſt denn dieſes Leben ſchön, Pjotr?
Pahlen traurig Nein, Sire, es iſt nicht ſchön.
Zar Aber wir hängen doch dran ...
Pahlen Ich — nicht
Zar Aber ich — ich hänge an dieſer Frau, Pjotr —
das iſt doch Leben.
Pahlen Ich glaube. — Aber wollen Sie nicht ſpei—
ſen, Sire?
Zar Ich kann nicht eſſen. Ich kann auch nicht eſſen
ſehen. Ich habe nur Durſt.
Er trinkt unaufhörlich. — Seine Züge werden glaſig.
Anna Wollen Sie ſich nicht zur Ruhe begeben, Maje—
ſtät? Es wäre gut für Sie.
Zar Ich — will — nicht. — Ich habe keine Ruhe. —
Komm zu mir, Anjuta. Du ſollſt hin und wieder meinen
Kopf ſtreicheln — hin und wieder ... Anna ſetzt ſich zu ihm.
— Pjotr, wenn ich deine Gedanken wüßte ...
Pahlen Warum wollen Sie ſie wiſſen, Majeſtät? —
Ich wünſchte, ich kennte ſie nicht ...
Pauſe.
Zar Pahlen — du biſt ein Deſperado.
Pahlen überraſcht Wie kommen Sie auf dieſen Aus⸗
druck, Sire?
Zar Er gefällt mir — für dich. Du deſertierſt nicht
nach rückwärts — ſondern nach vorwärts ... das iſt der
Unterſchied von den anderen Verzweifelten. — Und wenn
du töten willſt, duellierſt du dich . . . das iſt der Unter—
ſchied von den anderen Totſchlägern.
Pahlen leiſe Und wenn ich getötet habe?
Zar Dann ſprichſt du dich frei.
Neumann, Patriot 7 97
—
Pahlen Und wenn ich mich einmal verurteilen muß?
Zar Dann hängſt du dich auf.
Pahlen murmelt Dann hänge ich mich auf...
Zar Was ſagſt du?
Pahlen laut Dann hänge ich mich auf!
Anna Sie verurteilen ſich nicht, Pahlen.
Pahlen Madame, ich beneide Sie um die Sicherheit
Ihrer Meinung. Ich habe ſie nicht.
Anna Es wird immer noch andere geben, die zu ver—
urteilen ſind. Sie werden für ſich keine Zeit haben,
Pahlen.
Pahlen Es gibt nicht mehr viele andere, Madame.
Zar abweſend Dieſe Worte find grauenhaft . .. dieſe
Stunden ſind grauenhaft und fließen hin — dumpf,
zäh, träge — wie kochender Leer...
Pahlen Ja, wir find nicht luſtig heute...
Zar Wir find traurig — wir find böſe — wir torfeln
voll von böſer Ahnung — wir ſchlagen tot, um nicht tot—
geſchlagen zu werden .. . Ich wünſchte faſt, ich hätte
dich erſchoſſen, Pjotr ...
Pahlen Warum taten Sie es nicht, Sire?
Zar Weil ich dich liebe, Brüderchen — und weil ich
an dich glaube — weil es mir wohl tut ... und not—
wendig iſt, an dich zu glauben — — und weil ich nicht
glauben will — nicht glauben will, daß du mich verur—
teilt haft...
Anna außer ſich Um Gottes willen, Sire, warum
Nicht
Pahlen leiſe Anna Petrowna, wiſſen Sie, was Sie
reden?
Zar kichernd Dir dreht der Kopf wie mir, Anjuta —
und du weißt nicht mehr, an was dich halten. Ich weiß
es auch nicht mehr, mein Täubchen. — Dieſer Pahlen
98
dreht fic) und mich und die Welt — unſere Welt wie ein
Karuſſell — ich erkenne nicht fein Geſicht — nicht einmal
mein Gefühl — ach, Annuſchka! Er umarmt ſie und ſtiert
vor ſich hin. — Nach Moskau ſollen wir?
Anna dringlich Fahren Sie nach Moskau, Sire! Zu
Pahlen, mit geradem Blick Sind Sie dagegen, Graf?
Pahlen Nein.
Zar kichernd Aber ich fahre nicht, mein Täubchen —
ich deſertiere nicht. — Biſt du zufrieden, Pahlen?
Pahlen Ja.
Anna erregt So haben Sie doch der Majeſtät ab—
geraten?
Pahlen Die außenpolitiſche Lage läßt die Abweſen—
heit Seiner Majeſtät nicht ratſam erſcheinen, Madame.
Maßgebend iſt natürlich nur der Allerhöchſte Wille.
Zar Ich bleibe — ich bleibe — ich bin hier notwendig!
Starrt vor ſich hin, mit plötzlich böſer Stimme Alexander? —
Wann geſchieht es?
Pahlen überraſcht Morgen — abend —
Anna drängend Fahren Sie morgen früh, Sire!
Zar ſcharf Madame, Sie machen mich krank! Ich
bleibe! Sie verſtehen es nicht...
Pahlen Um Vergebung, Sire, keine Politik mehr!
Wir wollen uns nicht gegen Madame verſündigen —
und gegen Ihre Nachtruhe, Majeſtät.
Zar finnt nach Warum gerade morgen abend?
Pahlen bedrängt Vielleicht auch im Laufe des
Tages — es iſt noch nicht ſicher ...
Zar hartnäckig Was iſt morgen abend?
Pahlen Mein Gott, Sire ...
Anna nicht mehr an ſich haltend, umklammert den Zaren
Fragen Sie ihn nicht mehr, Sire! Er muß ja lügen!
Schicken Sie ihn fort! Und fragen Sie dann mich!
99
Pahlen lacht Madame, Sie find betrunken!
Zar lachend Ich glaube wahrhaftig, mein Täubchen,
du biſt betrunken.
Anna ſpringt auf Sire, verhaften Sie ihn! Töten Sie
ihn!
Der Zar und Pahlen lachen.
Zar Bring ihn doch um, mein Täubchen!
Anna läuft zur Tür, ſtutzt, wie von einem Gedanken geblendet,
ſpringt von rückwärts auf Pahlen und verſucht, ſeinen Hals zu um⸗
klammern. Er ſchüttelt ſie leicht ab. Der Zar lacht betrunken. Sie
ſtürzt aus dem Zimmer. Pahlen ſetzt mit dröhnendem Gelächter
ein, als fürchte er jetzt die Stille.
Achte Szene
Zar. Pahlen. Zum Schluß Stepan.
Zar unterbricht das Gelächter, mit aufgeriſſenen Augen Was
war das?
Pahlen Ich höre nichts.
Zar Das war wie ein Schrei ... ganz erſtickt . ..
Pahlen Vielleicht war Poſtenablöſung.
Zar Eine Frau ſchrie — war mir.
Pahlen Vielleicht erſchrak jemand — unten im
Park — ein Küchenmädchen vor einer Kröte oder einem
Liebhaber.
Pauſe.
Zar Was hatte die Oſtermann?
Pahlen Sie war betrunken.
Zar Pjotr, ſie war nicht betrunken. Pauſe. Pahlen,
du biſt ein böſer Menſch.
Pahlen traurig Ich bin ein böſer Menſch.
Zar Pahlen, ich hätte dich totſchießen ſollen.
Pahlen Sie tragen das Piſtol bei ſich, Sire.
100
Zar Ich bin betrunken — dann habe ich Angſt vor
der Waffe — man weiß dann nicht, ob man nicht —
mit einem Mal — ſich den Lauf in den Mund ſteckt.
Pahlen Das verſtehe ich.
Zar Das verſtehſt du, Pjotr? — Aber warum ſagſt
du mir nicht, daß du mich nicht verurteilt haſt.
Pahlen Ich bin nicht Ihr Richter, Sire.
Zar Wer iſt mein Richter, Pjotr?
Pahlen Ihr Gewiſſen, Sire.
Zar Biſt du nicht mein Gewiſſen, Pahlen?
Pahlen Nein, Sire; denn Sie machen es ſich nicht
bequem.
Zar Aber mein Gewiſſen verurteilt mich nicht.
Pahlen Um ſo beſſer.
Pauſe. Der Zar trinkt.
Zar Warum kommt die Frau nicht zurück, Pahlen?
Pahlen Wie ſoll ich das wiſſen, Sire.
Zar Mir iſt ſo, Brüderchen, als müßteſt du es wiſſen
. . Ach, wäre ich nicht fo betrunken und nicht fo feige —
ich ſteckte mir den Lauf in den Mund und drückte ab...
Pahlen Sire, was reden Sie?
Zar Ja, Brüderchen, es iſt beſſer von meiner Hand
als von deiner Hand.
Pahlen Ich tu es nicht ..
Zar Vielleicht lügſt du de — aber ich PRE. es
gerne — ich habe ja Angſt vor dir — Pauſe. Warum
kommt ſie nicht, Pahlen?
Pahlen Sie wird zur Ruhe gegangen ſein, Majeſtät.
Zar Ich will nachſehen ...
Er ſchwankt hinaus. Pahlen ſinkt in ſeinem Stuhl zuſammen.
Pahlen Mein Gott, mein Gott . . . es iſt fo ſchwer ...
Der Zar kommt zurück.
10T
Zar Sie ift fort, Pjotr, fie iſt fort... Sie iſt fort,
Brüderchen. — Was biſt du für ein böſer Menſch!
Pahlen Sire, beurlauben Sie mich jetzt. Es iſt ſchon
ſpät — und meine Gegenwart macht Ihnen keine Freude.
Zar Nein, Brüderchen — aber ich habe noch mehr
Angſt vor dir, wenn du fort biſt ... — Wo gehſt du hin,
Pahlen?
Pahlen geht zum Vorraum Ich will meinen Leibjäger
fragen. Ruft Stepan!
Stepan kommt mit Hut und Mantel.
Stepan Exzellenz?
Pahlen Haſt du die Baronin Oſtermann geſehen?
Stepan Die Frau Baronin ſind mit dem Wagen
Eurer Exzellenz fortgefahren und haben den Wagen
bereits wieder zurückgeſchickt.
Pahlen geht zum Zaren zurück, lächelt Sie werden dieſe
Nacht allein bleiben müſſen, Majeſtät.
Zar greift wankend nach ſeiner Hand Allein? — Allein?
— Ich kann es nicht... bleib, Brüderchen, bleib hier ...
Er zieht ihn auf einen Stuhl und fällt ihm in einer plötzlichen
Schwäche auf den Schoß, ſich an ihn klammernd, lallend Ach —
Väterchen ... du haſt mir die Frau — gegeben und du
haſt ſie mir genommen. — Aber das Leben hat mir
meine — böſe Mutter gegeben — und du nimmſt es
mir doch auch...
Er ſchläft ein, wie ein Alp auf Pahlen hockend.
Pahlen ſtöhnt leiſe Das iſt fo traurig, Stepan, fo
traurig!
Stepan kommt näher Jetzt ſchon, Exzellenz ... ſoll
ich jetzt ſchon ...
Pahlen Nein — nein! Um Gottes willen, nein! —
Iſt die Frau verletzt?
102
Stepan Nur ohnmächtig, glaube ich. Sie iff im
Wagen unten. Iwan paßt auf, daß ſie nicht ſchreit,
wenn ſie aufwacht.
Pahlen Könnte ich nur fort — er wird ſo ſchwer —
immer ſchwerer, Stepan, als wäre er ſchon . . . Es iſt
ſolche Qual, Stepan...
Zar delirierend Sieh, Annuſchka, mein Täubchen —
er hätte mich jetzt doch — töten können — wollte eres...
Er — will es nicht...
Pahlen unterdrückt ein Schluchzen Das iſt fo traurig ...
Pauſe Stepan, ruf den Kammerhuſaren. Er ſoll ihn ins
Bett bringen.
Stepan beugt ſich vor Euer Gnaden weinen ...
Pahlen Das ſind Schweißtropfen, Stepan.
Vorhang.
103
Fünfter Akt
Erſte Szene
Pahlens Arbeitszimmer. — Der Abend des dreiundzwanzigſten
März.
Alexander und Valerian Subow treten ein.
Alexander ſehr erregt Jetzt bin ich hier. Jetzt werden
Sie endlich reden, General! Was iſt geſchehen oder
was wird geſchehen? Warum holen Sie mich ſo dringlich
und ſo feierlich ſtumm zu Pahlen?
Valerian Er muß in jedem Augenblick hier ſein,
Hoheit, und er wird Ihnen alle Fragen beantworten.
Alexander Warum antworten Sie mir nicht, Graf
Subow? Ich geſtehe Ihnen, wären Sie es nicht geweſen,
der mich heute abend aufſuchte: ich würde nicht gekommen
ſein. Aber Sie verehre ich ſeit meiner Kindheit, General.
Sie liefern Katharinas Enkel keinem Kondottiere aus!
Valerian Das geht auf Pahlen, Hoheit. Und dieſes
Mißtrauen tut mir weh, weil es unberechtigt iſt. Wenn
ich alter Soldat der Kaiſerin aus freien Stücken mit
Pahlen arbeite und immer wieder um Ihre Einwilligung
zu dem Umſturzplan bettele, ſo geſchieht es nicht wegen
Pahlen, ſondern um Ihretwillen. Und Sie werden in
wenigen Minuten einſehen, mein Prinz, was Sie ihm
zu danken haben.
Alexander heftig Ich werde ihm die Krone zu
danken haben und es mein Leben lang nicht verwinden!
104
Valerian Wenn Sie das ſchon heute wiſſen, Hoheit,
dann muß ich mich doch verwundern, warum Sie nicht
zugunſten Konſtantins verzichteten, der keine Sekunde
zögern würde, die Aktion zu ſanktionieren.
Alexander bedrängt Ich fühle meine Berufung —
mit tiefem Zwang, Graf Subow ...
Valerian Das verſtehe ich beſſer als Ihre Hemmung,
mein Prinz. Doch laſſen wir das. Im Augenblick ſteht
anderes auf dem Spiel. — Im Augenblick, Alexander,
verdanken Sie dem Kondottiere mehr als die Krone ...
Alexander Mein Gott, General, was wollen Sie
damit ſagen?
Valerian Sie verdanken ihm das Leben, Hoheit.
Der Zar hätte Sie ohne ſein Veto heute noch erſchießen
laſſen.
Alexander taumelt zurück Großer Gott...
Valerian Und ich habe Sie auf Pahlens Befehl
hierher in Sicherheit gebracht — in Sicherheit, Hoheit!
— weil Ihre Perſon noch gefährdet iſt. Das Übrige wird
Ihnen der Gouverneur ſelber ſagen.
Pauſe. Man hört von draußen marſchierende Truppen.
Alexander leiſe Jetzt iſt es ſo weit. — Der Dämon
hat mich. — Es nützt jetzt nicht mehr, viel zu fragen,
wer mich meinem kaiſerlichen Vater mit ſolcher Wirkung
verdächtigt hat. — Es nützt mir nicht einmal mehr die
Antwort, die ich mir ſelber zu geben wüßte ... Was
marſchieren da für Truppen, General?
Valerian Die Wachen für das Michael-Palais vom
Regiment Sſemionowſkij.
Alexander Mein Regiment ſtellt heute ... —
Mir kommt die Wache ungewöhnlich ſtark vor, General?
Valerian ſchweigt. Pahlen tritt ein. Sein Geſicht iſt kalt und hart.
105
—
Zweite Szene
Alexander. Valerian. Pahlen.
Pahlen Guten Abend, Hoheit. Sie werden meinem
Freund Valerian die ungewöhnliche Einladung verziehen
haben. Aber die Lage verträgt kein Zeremoniell mehr.
Sie ſind wohl im großen ganzen orientiert?
Alexander Graf Subow hat mir mitgeteilt, daß
meine Perſon von letzten Entſcheidungen des Zaren be—⸗
troffen und in Gefahr ſei — zum mindeſten außerhalb
dieſes Hauſes.
Pahlen Jawohl, Hoheit, und ich freue mich über
den Gleichmut, mit dem Sie dieſe Nachricht tragen.
Alexander Mir perſönlich fehlt bisher ein Beweis
für die veränderte Haltung meines kaiſerlichen Vaters
und eine Unterlage für ſeine Exekutiobeſchlüſſe gegen
meine Perſon.
Pahlen Seien Sie darüber froh, mein Prinz. Es
ſtände ſehr ſchlimm, würde der Zar dieſen direkten Weg
eingeſchlagen haben.
Alexander Es iſt Ihr Verdienſt, Exzellenz, daß der
Zar davon abgekommen iſt?
Pahlen Ja, mein Prinz — aber ich entbinde Sie
gerne vom Dank.
Alexander Ihre — Machtfülle hat ihn kaum nötig,
Exzellenz. — Aber es ſollte mich doch wundern, wenn
Ihre Intervention die Wirkung hätte, meine Füſilierung
mit keiner anderen Strafe zu erſetzen als dem Beſuch
Ihres Hauſes.
Pahlen Das wäre auch verwundernswert und das
iſt auch nicht der Fall. — Hoheit belieben dieſe Order
zu leſen und daran die Stärke Ihrer Ironie gültig zu
erweiſen.
106
Er gibt Alexander den Verhaftungsbefehl. Alexander lieſt ihn und
läßt vor Schreck das Schriftſtück fallen.
Alexander tonlos Iſt — es möglich ... Sie wollen
mich — verhaften, Herr Gouverneur?
Pahlen Wir wollen dieſe Frage nicht ſtellen, mein
Prinz. Wir wollen ſprechen, als eriftiere dieſe Order
nicht. Es genügt gewiß, daß Sie wiſſen, wie meine letzte
Antwort fein kann. — Nicht wahr, Hoheit?
Alexander durch die Zähne Ja.
Pahlen Mein Prinz, ſo frage ich Sie — und meine
Fragen und Ihre Antworten hört Valerian Subow als
Zeuge: Sind Sie bereit, die von mir geleitete Aktion,
deren Ziel Ihnen bekannt ijt, mit klarem Wort gut⸗
zuheißen und ſich durch feierliches Gelöbnis zu binden,
den Thron zu beſteigen — und zwar zu dem Zeitpunkt,
den ich Ihnen zu nennen die Ehre haben werde?
Alexander in großer Bedrängnis Ich — o Gott —
ich .. . Bei unſerem Herrn und Heiland, laſſen Sie mich
dies vorher noch ſagen, Pahlen! Ich vermiſſe die Bürg—
ſchaft für das Leben des Zaren!
Pahlen langſam Die Bürgſchaft für das Abe
Valerian Unſer Ziel iſt die zwangsweiſe i
der Majeſtät — nichts anderes.
Alexander Graf Pahlen, wenn Sie mein Gewiſſen
entlaften, können Sie handeln und auf meine Freund—
ſchaft rechnen.
Pauſe.
Pahlen ſehr ernſt Ja, ich entlaſte Ihr Gewiſſen,
mein Prinz. Ich trage ſchon vieles. — Sie begreifen
mich oder Sie werden mich begreifen. — Ich hafte für
das Leben des Zaren — mit meinem Leben.
Pauſe.
107
Alexander mühſam So — fo gelobe ich Ihnen, Graf
Pahlen, und Ihnen, Graf Subow, bei dem Heil meiner
Seele, das Unternehmen mit meiner ganzen Perſon
zu fördern und mich in der Stunde, die Sie mir nennen
werden, an den Platz zu ſtellen, der mir durch meine
Geburt vorgeſchrieben iſt. — Hier meine Hand.
Er reicht den beiden die Hand.
Pahlen ein wenig lächelnd Es iſt gut jetzt, mein
Prinz. Sie ſind doch noch zu jung für die tiefe Ironie.
Wir meinen es jetzt alle ehrlich und ſind zufrieden mit—
einander.
Alexander Sie ſollten mich nicht mehr quälen,
Pahlen. — Ich bin doch nur ein Menſch ...
Pahlen Sie ſind ein guter Zar, Hoheit, ſchon jetzt.
Alexander lenkt ab Und wann — wann findet die
Aktion ſtatt?
Pahlen Wenn das Regiment Sſemionowſkij die
Wache für das Michagel-Palais ſtellt.
Alexander fährt hoch Mein Regiment ſtellt heute ...
— Allmächtiger!
Pahlen Jawohl, mein Prinz, heute — in dieſer
Nacht.
Alexander laut Die Truppen marſchieren — immer
noch marſchieren ſie — ſeit einer halben Stunde höre ich
ſie: und Sie wiſſen erſt ſeit einer Minute meine Bereit—
ſchaft!
Pahlen Die Garniſon iſt alarmiert und im Begriff,
den Sommergarten und das Palais zu zernieren.
Alexander ſchreit Und hätte ich mich geweigert!?
Pahlen achſelzuckend Mein Gott, Hoheit, muß ich—
Sie an jene Antwort erinnern, die mir dann immer noch
geblieben wäre? — Und die Truppen würden mar—
ſchieren — auch dann!
108
Alexander gebrochen Ja, ja — gewiß... Es iſt fo weit...
Pahlen Sie müſſen ſich jetzt beruhigen, Hoheit, und
die Güte haben, ſich fürs erſte in die Räume des oberen
Stockwerks zurückzuziehen. Für den wenig wahrſchein—
lichen Fall des Mißlingens und für die Flucht zur weſt—
lichen Reichsgrenze, die dann notwendig würde und für
die eine Eilpoſt bereit ſteht, darf ich Sie bitten, ange—
kleidet zu bleiben. — Der General wird Sie hinauf—
begleiten. — Auf Wiederſehen — Sire.
Alexander zuckt bei dem Wort zuſammen, will etwas erwidern,
verläßt dann aber ſchnell das Zimmer, gefolgt von Valerian.
Pahlen ſitzt ein paar Sekunden regungslos, dann läutet er. Stepan
kommt.
Dritte Szene
Pahlen. Stepan.
Pahlen Alſo der Kaiſer hat daraufhin nichts ſagen
laſſen?
Stepan Nein, Exzellenz, ich meldete dem Herrn
Adjutanten, daß Euer Gnaden nicht wohl ſeien und des—
halb nicht zur Abendtafel kommen könnten. Der Herr
Adjutant kamen nach einer Weile zurück und ſagten: es
iſt gut.
Pahlen Ja... Pauſe. Sind alle Herren ſchon im
Speiſeſaal verſammelt? :
Stepan Es fehlen noch die Herren Offiziere vom
Regiment Sſemionowſkij, der General Talyſin und Fürſt
Platon.
Pahlen Ja, ja. — Die Herren ſind ſehr ſtill. Man hört
ſie gar nicht.
Stepan Die Herren Offiziere ſprechen nur ſehr leiſe
oder gar nicht. Sie trinken nur und eſſen wenig. Sie
haben alle Orden an.
109
Pahlen Ou biſt ein hervorragender Beobachter,
Stepan. — Haſt du Herzklopfen?
Stepan Nein, Exzellenz.
Pahlen Das iſt brav. Das glaube ich dir auch. —
Du ziehſt dir jetzt die Huſarenoffiziersuniform an, die ich
dir gegeben habe. Und du benimmſt dich entſprechend.
Das heißt, du ſprichſt gar nichts, ſtehſt nicht immer ſtramm
und hältſt dich in meiner Nähe. — Geh jetzt. — Doch halt!
Wie geht es der Frau Oſtermann?
Stepan Die Frau Baronin verlangten ſchon mittags
zu eſſen und find jetzt aufgeſtanden. — Und ein geſchloſ—
ſener Wagen iſt ſchon ſeit ſieben Uhr bereit; der Leib—
jäger auch.
Pahlen Gut. Geh jetzt hinauf zu ihr, bitte ſie zu
mir und ſage dann dem Kutſcher, daß er in einer halben
Stunde loszufahren habe. Iwan ſoll fie begleiten.
Stepan Jawohl, Exzellenz.
Pahlen Hol ſie jetzt. Raſch! Sag ihr, daß ich wenig
Zeit habe. Iwan begleitet ſie dann zum Wagen — über
die Dienertreppe.
Stepan ab. Pahlen ſteht auf und öffnet eine Tür. Man hört ge⸗
dämpft Stimmengewirr. Pahlen lauſcht eine Sekunde, ſchließt dann
wieder die Tür, geht ans Fenſter, öffnet es; Marſchlärm von
Truppen wird ſtärker.
Pahlen verſonnen Was iſt es doch. — Iſt es Mut oder
Schwermut oder doch Beglückung! — Jede Tür, die ich
öffne zur lebendigen Welt, gibt mir den Widerhall von
meinem Aufruhr. — Und hier drinnen in der Bruſt iſt
es doch ſchon ganz ſtill. — Was iſt es doch mit dieſer
Ruhe?
Er ſinnt, lächelnd. Anna tritt leiſe durch eine Tapetentür ein und
betrachtet ihn.
110
Vierte Szene
Pahlen. Anna.
Anna Du kannſt lächeln, Pahlen?
Pahlen Du biſt es, Anna. — Ja, ich kann lächeln.
Anna Du kannſt eine Frau auf den Hinterkopf ſchla⸗
gen laſſen, Pahlen?
Pahlen Ja, Anna, das kann ich auch, wenn es ſein muß.
Anna Du kannſt auch töten laſſen, Pahlen?
Pahlen Ja, Anna, das kann ich auch, wenn es ſein muß.
Anna Was haſt du mit mir vor, Pahlen? Ich bin eine
Frau.
Pahlen Gewiß, Anna, du biſt eine Frau und der
einzige Gegner, der mir gefährlich wurde. Ich habe Rez
ſpekt vor dir, Anna. Doch du haſt das Spiel verloren —
ein mutiges Spiel, wahrhaftig, und ich bin für eine große
Sache verantwortlich. Ich muß immer noch die Galan—
terie hintanſtellen.
Anna Was bedeutet das?
Pahlen Du biſt meine Gefangene — in allem Ernſt,
Anna. Wenn du zu fliehen wagſt, riskierſt du dein Leben.
Du wirſt jetzt von Iwan, der gegen Frauen ſehr kalt und
mir ungemein ergeben iſt, in mein Peterhofer Landhaus
gebracht werden. Außerdem ſteht auf dem Trittbrett
hinten ein Leibjäger mit gezogenem Piſtol und ganz
klarer Order. Es hat alſo gar keinen Zweck, den braven
Iwan in Verſuchung zu bringen. — In Peterhof hält
man dich bis morgen abend feſt.
Anna Und dann?
Pahlen Dann biſt du frei.
Anna leiſe Dann iſt der Zar — tot?
Pahlen Ja.
Pauſe.
111
Anna zögernd Bin ich auch dann noch deine Gegnerin?
Pahlen leiſe lachend O kleine Renegatin, nein, dann
— dann biſt du es nicht mehr.
Anna Ich liebe dich, Pjotr. Ich habe auch Paul lieb
— er iſt ein armer Menſch. Ich wollte ihn retten, ich wollte
dich verraten; aber es gelang nicht: ich wollte alles nur
halb. Und du ſitzſt in mir — und du ſitzſt in ihm. Wir alle
wollen Böſes und Gutes. — Verzeih mir.
Pahlen Ich habe dir nichts zu verzeihen. Anjuta. Ich
habe keinem Menſchen etwas zu verzeihen — nur mir
ſelber. Und mir gebe ich nicht Pardon. — Wenn du es
tuſt, will ich dir dankbar ſein. Lakai kommt. Da iſt Iwan.
Du mußt jetzt gehen, Anna.
Anna Ich will dich noch einmal küſſen, Pjotr...
Pahlen Küß mich nur, Anjuta ... Sie küſſen ſich.
Sieh dir dieſen Pahlen noch einmal an, Anjuta.
Anna erſchrocken Fürchteſt du für dich, Pahlen?
Pahlen lacht O nein, ich fürchte nichts für mich! —
Leb wohl, Anjuta.
Anna Leb. . . Gott fet dir gnädig, Pahlen ...
Gott...
Sie geht raſch ab. Pahlen ſieht ihr nach. Stepan kommt in Offiziers⸗
uniform mit gelber Schärpe.
Fünfte Szene
Pahlen. Stepan.
Dann Valerian, Platon, Talyſin, Stabskapitän und
andere Verſchworene
Pahlen muſtert Stepan Gut ſo. — Sind jetzt alle da?
Stepan Jawohl, Exzellenz.
Pahlen Und du — du weißt Beſcheid — für nachher?
— Gut. — Dann ruf ſie.
Stepan geht und kehrt mit den Verſchworenen zurück.
112
Pahlen Meine Herren Brüder! Die Stunde ift ge—
kommen. In dieſer Nacht wird Rußland von ſeinem Ty⸗
rannen befreit. In dieſer Nacht wird Alexander, der für
das Gelingen unſeres Werkes betet, rechtmäßiger Zar.
Es lebe Alexander der Erſte!
Die Offiziere Es lebe Alexander der Erſte!
Pahlen Graf Valerian, ich ernenne Sie zum Führer
des Detachements, das die eigentliche Aktion ausführt.
Wir werden jetzt den Offizieren auf den Schloßhof folgen.
Von dort dringen Sie mit den hier anweſenden Herren
und mit dreißig Offizieren ins kaiſerliche Schlafzimmer und
bewegen den Zaren zur Abdankung. Dieſer junge Ka—
merad hier er zeigt auf Stepan, der mit den Räumlich⸗
keiten vertraut iſt, wird Sie führen. Sie haben die Voll⸗
macht, Exzellenz, bis zum Zwang, bis zum äußerſten zu
gehen. Hier iſt die Abdankungsurkunde, die von Paul zu
unterzeichnen iſt.
Valerian Und Sie, Pahlen, werden Sie nicht mit—
kommen?
Pahlen durch die Zähne Nein. Ich warte auf dem
Schloßhof. Ich bin die notwendige Reſerve — für alle
Fälle.
Platon fährt auf Das riecht nach Feigheit oder Verrat!
Pahlen ſehr laut Herr, lernen Sie Mut von mir!
— Begreifen Sie denn nicht, daß meine Gegenwart die
Szene unnötig komplizieren würde? Ich laſſe auch Mura—
wiew und Baron Ungern nicht hinauf. Ich weiß, was ich
will! Die Zeit drängt! Wollen Sie mir gehorchen?
Talyſin ſcharf Fürſt Platon, wären Sie Soldat, ſo
möchten Sie nicht wagen, in der Stunde des Angriffs
den Gehorſam zu verweigern!
Platon Ich gehorche, General. Aber die Sache ge—
fällt mir nicht.
Neumann, Patriot 8 113
Pahlen Mir auch nicht, Fürſt Platon. Su Stepan Und
dir, Leutnant?
Stepan wild Mir gefällt ſie, Exzellenz!
Alle ſehen Stepan an. Pahlen macht eine verworrene Bewegung
mit der Hand und geht zur Tür. Die anderen folgen ihm.
Sechſte Szene
Kaiſerliches Schlafgemach. — Das Zimmer hat nur eine Tür. An
der gegenüberliegenden Wandſeite verdeckt ein Teppich die zuge⸗
mauerte Tür. — Nacht. Ein mattes Nachtlicht brennt nahe dem
Bett. — Der Zar ſchläft unruhig und ſtöhnend. Geſchrei von vielen
Krähen weckt ihn. Er richtet ſich auf, lauſcht.
Zar Was iſt das? — Die Krähen — im Sommer—
garten — auf den Linden — kahlen Linden — wer ſtört
ſie auf? — Gott nicht — Gott iſt ganz ruhig — Gott ſieht
zu — ſieht immer zu — ſieht allem zu ... Die Menſchen
aber — viele Menſchen müſſen ſtampfen — daß die
Krähen — tauſend Krähen kreiſchen. — Alle Menſchen
kommen hierher — alle Menſchen ſind gegen mich — die
Krähen nicht — die Krähen tun, was fie können ... Ruft
Grive! Doktor! — Nein, er iſt nicht bei mir — kein
Menſch iſt bei mir — aber alle kommen ſie auf mich
zu . . . Dieſe Nacht — wo die Angſt aus den Wänden
bricht — die Angſt zuerſt — und dann die Menſchen —
und alles kriecht auf mich zu ... Oh, ich kann nicht ſchreien
— nicht rühren kann ich mich . . . Nichts überraſcht mich —
ſo muß es kommen — ſo muß die Nacht ſein — oh, wie
lange weiß ich es ſchon! — Und wo find die Augen? ...
Da ſind auch die Augen — Alexej Orlows furchtbare
Augen, als ich ihn prügelte — den alten Mann — ſeine
Augen hier und andere Augen dort — Augen von den
Gefolterten und Mißhandelten ... Oh, nichts überraſcht
mich — und was kommt jetzt? — Die Reue — ich bereue!
114
Ich bereue! — Und ich will beten — Vater unſer, der du
biſt in dem Himmel ... Er betet flüſternd, man hört Lärm.
— Und jetzt kommen jie... Oh, wie lange weiß ich es
ſchon! — Ach, Pjotr, Brüderchen ... Jetzt — jetzt..
Im Vorzimmer Stimmen vieler Menſchen, haſtige Schritte, der
ſchon erſtickte Schrei des überwältigten Kammerhuſaren.
Zar erſtickt Jetzt — jetzt ſchrei ich — jetzt ... Hilfe!
Er ſpringt aus dem Bett und ſchlägt gegen die zugemauerte Tür
mit den Fäuſten.
Siebente Szene
Zar. Valerian. Platon. Stepan, — Zum Schluß Pahlen.
Valerian und Platon dringen ein, den Hut auf dem Kopf, mit
bloßen Degen. Stepan gleitet hinter ihnen ins Zimmer und ſtellt
ſich an die Wand, in die Nähe der Nachtlampe, den Zaren beob⸗
achtend. In der Tür Talyſin und Verſchworene in dichter Menge.
Zar ſpringt hinter einen Ofenſchirm, ſchreit Was wollen
Sie?
Valerian Sire, Sie ſind verhaftet. Sie haben zu
regieren aufgehört.
Zar Was — was wagtihr, Hunde! Mit welchem Recht...
Valerian Im Namen und Auftrag des Zaren Alex—
ander
Zar brüllt Alexander!! — Man erſchieße ihn — ſofort!!
Valerian Sire, verhalten Sie ſich ruhig! Es geht um
Ihr Leben! Er klemmt den Degen unter den Arm und zieht die
Urkunde hervor. Im Namen des Kaiſers Alexander fordern
wir Sie auf, dieſe Abdankungsurkunde zu unterſchreiben.
Sie erklären ſich für unfähig, die Regierung weiterzu—
führen, und übertragen ſie dem Zarewitſch.
Zar Nein! Nein! Ich bin der Zar! Ich bleibe Zar!
Valerian Sire, jeder Widerſtand iſt unnütz. Die ge⸗
ſamte Armee ſteht hinter uns!
Neumann, Patriot 8“ Tele
Zar Nein! Nein! Ich unterſchreibe nicht! Ich ...
Platon nähert ſich dem Wandſchirm Sire, Sie zwingen
uns zur Gewalt!
Zar ſchreit in äußerſtem Schrecken Wer — wer ſind Sie?
Platon Ich bin Platon Subow.
Zar Bei dem allmächtigen Gott! — Sie ſehen aus
wie mein Sohn Alexander ... Bei dem allmächtigen
Gott, ſind Sie mein Sohn Alexander?
Platon erſchüttert, bleibt ſtehen Sire, Sie ſind ver—
wirrt. Ich bin wahrhaftig Platon Subow. — Sire, ich
bitte Sie, das Dekret zu unterſchreiben, wenn Sie Ihr
Leben retten wollen.
Zar plötzlich Wo iſt Graf Pahlen? Die Männer wiſſen
nicht, was antworten, und ſehen ſich an. Zar ſchreit Pahlen,
Pahlen! Zu Hilfe!
Er ſpringt mit unvermuteter Wucht hinter dem Wandſchirm hervor,
überraſcht Platon, reißt dem überraſchten Valerian den Degen aus
dem Arm und drängt zum Ausgang hin. In dieſem Augenblick
reißt Stepan, der ihn nicht aus den Augen ließ, ſeine Schärpe ab
und wirft die Nachtlampe zu Boden. Dunkelheit und furchtbare
Verwirrung. Man hört „Licht! Licht!“ ſchreien, Fluchen und
Stöhnen. Endlich eilt ein Offizier mit einer Fackel aus dem an⸗
ſtoßenden Raum. — Der Zar liegt in der Mitte des Zimmers, mit
einer gelben Offiziersſchärpe erwürgt. Stepan iſt verſchwunden.
Die Männer ſehen einander ſtumm an und rühren ſich nicht. — Auf
der Schwelle ſteht jetzt Pahlen. Er geht ins Zimmer, entblößt das
Haupt, betrachtet den Leichnam. Keine Muskel ſeines Geſichts be⸗
wegt ſich.
Pahlen leiſe und ruhig Wir ſind am Ende der Tra—
gödie. Wir haben mit dieſem Ausgang rechnen müſſen.
Er kniet nieder, verhüllt Pauls Geſicht, hebt ſacht den Körper hoch,
wehrt mit einem Kopfſchütteln Valerian ab, der ihm helfen will,
trägt den Zaren langſam zum Bett, legt ihn ſanft hin, hebt die
herabhängenden Hände, küßt ſie und kreuzt ſie über der Bruſt.
Totenſtille. Pahlen winkt Valerian und geht zur Tür.
116
Achte Szene
Pahlens Arbeitszimmer.
Alexander. Dann Pahlen. Valerian.
Alexander liegt angekleidet auf einem Feldbett. Es geht dem
Morgen zu. Als ſich die Tür öffnet und Pahlen und Valerian ein⸗
treten, ſpringt er auf, wortlos vor Erregung, mit einer krampf⸗
haften fragenden Geſte.
Pahlen nach einer Stille, ruhig und ernſt Majeſtät, der
Zar Paul Petrowitſch regiert nicht mehr.
Alexander zurückweichend, ſtammelnd Und — was iſt —
mit ihm? f
Pahlen ſieht ihm in die Augen Er iſt tot.
Alexander duckt ſich mit verzerrtem Geſicht, als ſeien ihm die drei
Worte wie Gewichte auf den Kopf gefallen.
Alexander heiſer Und der Mörder wagt vor mir zu
erſcheinen? — Wollen Sie Ihren Judaslohn, Herr Gou—
verneur? — Glauben Sie, daß ich Sie zum Fürſten mache?
Pahlen geht auf ihn zu, mit einer Wut in den Augen, daß Alexander
bis zur Wand zurückweicht und Valerian ſich dazwiſchen drängt.
Valerian Majeſtät, verſuchen Sie ſich zu beruhigen.
Graf Pahlen war nicht im Zimmer, als der Mord gegen
unſeren Willen geſchah. Wir verhandelten mit dem Zaren,
der uns mit dem Degen angriff. In dem Getümmel wurde
das Licht umgeſtoßen und der Zar von unbekannter Hand
erwürgt. Das iſt die Wahrheit.
Pahlen ſchreit Das iſt nicht die Wahrheit! — Ich
bin der Mörder! Er ſchiebt Valerian beiſeite, ſpricht plötzlich
ruhig Sire, denken Sie nach — und Sie werden mich
nicht mehr beleidigen. — Erinnern Sie ſich, was an dieſem
Abend in dieſem Zimmer geſchah! — Erinnern Sie ſich,
daß ich Ihnen Ihr Gewiſſen abnahm und Sie es ſich ab-
nehmen ließen. — Sire, ich trage zwei Gewiſſen — und
ich weiß und Sie ahnen, wie ich damit fertig werde! —
117
Sire, im Namen Ihres Gewiſſens befehle ich Ihnen zu
ſchweigen!
Alexander öffnet ein wenig den Mund; er ſinkt ganz alle
mählich nach vorne und ſtürzt dann ſchluchzend zu Boden.
Pahlen betrachtet kalt den Liegenden Meine Arbeit iſt
bald getan — ſehr bald. Sie werden weder nötig haben,
mich zum Fürſten zu machen noch vor das Kriegsgericht
zu ſtellen. Mein Werk iſt beendet, das Ihre beginnt. Ob
wir zum Heil des Reiches waren und ſein werden, hat mit
dem Menſchen in uns nichts zu tun. Das Menſchliche
machen wir mit uns ſelber ab — und Sie, Sire, brauchen
von mir nichts zu lernen — nichts von mir und dieſer
Nacht, die noch nicht ganz zu Ende iſt. Stehen Sie auf,
Sire. Er geht an den Schreibtiſch und nimmt aus der Lade ein
Schriftſtück. Alexander erhebt ſich von Subow geſtützt. Ihre
Pflicht beginnt mit dieſer Proklamation, Sire. Sie tut
dem Volk kund, daß Zar Paul im Laufe dieſer Nacht an
einem Schlaganfall verſchieden iſt und daß Zar Alexander
den Thron ſeiner Väter beſtiegen habe. Wenn Sie die
Proklamation unterſchrieben haben, iſt meine Pflicht ge—
tan. Alexander unterſchreibt mit müder Bewegung. Ich danke
Ihnen, Sire. Sie werden jetzt die Güte haben, ins Winter—
palais zurückzukehren. Es ſind bereits Adjutanten in die
Kaſernen geſandt, um die Garniſon den Treueid ſchwören
zu laſſen. — Mehr habe ich nicht zu tun.
Valerian Sie werden müde ſein, Pahlen. — Sire,
ich begleite Sie ins Palais. — Leben Sie wohl, Graf.
Pahlen Ja, ich bin müde. Leben Sie wohl, Valerian.
Valerian geht zur Tür. — Sire, Gott fei jetzt mit Ihnen.
Alexander hält ſeine Hand feſt und ſieht ihn an, will etwas
ſprechen, beugt ſich plötzlich nieder, küßt Pahlens Hände und eilt
fort. Pahlen betrachtet ſeine Hände, lächelt.
Pahlen ruft Stepan! Stepan kommt ſchlaftrunken.
118
Neunte Szene
Pahlen. Stepan.
Von der Straße her dringt leiſer Lärm, der allmählich ſtärker wird.
Im Laufe der Szene hört man die Freudenſchreie der Menge deut⸗
licher. Der Tag dämmert.
Pahlen Schnaps und Gläſer — Waſſergläſer, auch
für dich.
Stepan bringt Flaſche und Gläſer und ſtellt fie auf den Schreib—
tiſch, hockt ſich in der Nähe der Tür auf den Boden, ſchläft gleich ein.
Pahlen ſetzt ſich mit übernächtigtem alten Geſicht an den Schreib⸗
tiſch, ordnet und zerreißt Papiere, trinkt, lauſcht zum Fenſter hin,
ſchüttelt den Kopf, trinkt, ſchließt die Schublade.
Pahlen Stepan, es iſt jetzt Zeit, wach zu werden.
Stepan fährt auf, reibt ſich die Augen. Pahlen winkt ihn an den
Tiſch, füllt ein Waſſerglas mit Branntwein. Hier, braver Kerl,
trink auch. Wir müſſen beide noch einmal Mut haben. —
Aber trink nicht ſo viel wie ich, hörſt du? Stepan trinkt in
einem Zug. Pahlen füllt das Glas von neuem, ſtopft ſich eine
Pfeife. Freundchen, ſag mir mal, warum, glaubſt du, habe
ich das alles getan?
Stepan hebt die Schultern und unterdrückt ein Gähnen.
Pahlen lächelnd Gut, gut, Lieber, ich weiß es auch
nicht recht; denn wenn ich jetzt da unten das Volk, das
ich gar nicht kenne, vor Glück brüllen höre, weiß ich nur,
daß es mir ſehr gleichgültig iſt. — Alſo bin ich ein Patriot?
Stepan ſtumpf Ja, Väterchen, und ein großer Mann.
Pahlen lacht Du biſt blöde vor Schlaf und Schnaps!
Ich bin kein Patriot, ſcheint mir. Denn höre, Stepan,
wäre es dem Kaiſer gelungen, dir zu entfliehen, dann
hätte ich ihn gerettet und euch alle zuſammengeſchoſſen.
Deshalb wartete ich auf dem Schloßhof. — Was ſagſt du
jetzt, Stepan?
Stepan Du biſt ein großer Schuft, Väterchen.
119
Pahlen Bravo, bravo, Stepan! Aber wenn ich ein
ſo großer Schuft bin: warum ſaufe ich mich jetzt voll, daß
ich nicht ſehe, wenn du das Piſtol hebſt und mich aus der
Welt ſchaffſt — warum habe ich dir dann befohlen, mich
und dich zu töten?
Stepan Weil du doch ein großer Mann biſt, Väter⸗
chen Exzellenz.
Pahlen trinkt lachend Du haſt wieder recht, Stepan,
du haſt immer recht! Pauſe. — Wenn es ſieben ſchlägt,
verſtehſt du? — Es muß bald ſieben ſchlagen. Hier ſind
die — er gibt ihm aus der Tiſchlade zwei Piſtolen — Jetzt
darfſt du nicht mehr trinken, Stepan. Er ſteht ſchwankend
auf und legt ſich auf das Feldbett. Komm ganz nahe,
Bruder Stepan. — Liebſt du mich?
Stepan Ja, mein Väterchen.
Pahlen Ich darf mich auf dich verlaſſen, Bruder
Stepan, noch einmal?
Stepan Ja, mein Väterchen.
Pahlen ſchweigt und hebt ſeine Hände hoch.
Pahlen Sieh, Stepan, fieh dir dieſe Hände an...
die hat ein Kaiſer geküßt .. . und dieſen Mund — der hat
eines anderen Kaiſers Hände geküßt. — Ich bin... was
bin ich wohl ... Ich will jetzt nicht mehr ſprechen, Stepan.
Sing ein Liedchen...
Stepan beginnt ein ſchwermütiges kleinruſſiſches Lied. Der Vor:
hang fällt langſam. Die Schreie auf der Straße werden deutlicher:
„Es lebe der Zar!“ Von einer nahen Kirche ſchlägt es langſam und
feierlich fieben Uhr. Der Geſang hört auf. Es fallen zwei Schüſſe.
Vorhang.
Von Alfred Neumann
erſchien ferner
Der Teufel
Roman
40. Tauſend
Mit dem Kleiſtpreis 1926 ausgezeichnet
Preſſeurteile umſtehend
Alfred Neumann wurde von Diebold mit dem Kleiſtpreis bedacht.
Sein hiſtoriſcher Roman „Der Teufel“ iſt ein Meiſterwerk, würdig,
mit Döblins „Wallenſtein“ verglichen zu werden. Die Einigung
Frankreichs durch Ludwig XI. iſt das Thema, das mit Hilfe einer
ſouveränen Verdeutlichung der politiſchen Kräfte, die hinter dem
zeitlichen Koſtüm zeitlos ſind, durchgeführt wird. Der dämoniſche
Berater des zwiſchen Verbrecher und Genie ſchillernden Königs ſteht
im Vordergrunde, von ihm aus wird das Gewirr der Fäden deut⸗
lich, es gibt keine Staatsaktion, es gibt aber auch keine marionetten⸗
hafte Abhängigkeit von einem Geſchick, wie es der materialiſtiſchen
Geſchichtsauffaſſung entſpräche, vielmehr iſt, und dies iſt der große
Vorzug der Kompoſition, die Beziehung zwiſchen Perſönlichkeit und
Geſchichte funktional, nicht kauſal bedingt. Ebenſo gelungen iſt die
Einbeziehung des erotiſchen Momentes in die „Staatsaktion“: der
„Teufel“ iſt nämlich mit dem König in einer myſtiſchen Perſonal⸗
union verbunden, in der ſeine eigene Frau beiden gehört; der Mann
und der Freund und der Politiker kämpfen in der einen Bruſt einen
verzweifelten Kampf, der mit einer ſchweigſamen Härte wundervoll
keuſch durchgeführt iſt. Voſſiſche Zeitung, Berlin.
Unſere Bewunderung gehört ganz dem Autor. Man wird die Kühn⸗
heit der Fabel anerkennen müſſen, weil ſie mit außerordentlichen
Mitteln erzählt iſt. Dieſer Roman, der ſeine Abſichten ſouverän zu
verſchleiern weiß, fällt durch eine ſeltene epiſche Geſcheitheit gerade⸗
zu aus der Ordnung der jetzigen deutſchen Romanliteratur. Geſchichte
dient in dieſem Werke nur als Vergroßerungsglas. Sie verweiſt
immer auf Menſchliches. Verdientermaßen iſt Alfred Neumann der
heurige Kleiſtpreis zugefallen. Möge das Anſehen dieſes Literatur⸗
preiſes den Erfolg dieſer reifen und in einem lauteren Sinne
ſpannenden erzähleriſchen Leiſtung beflügeln helfen. Ein innerlich
jo welthaltiger ſtarker Roman verdient die weiteſte Verbreitung.
E. Korrodi in der Neuen Zürcher Zeitung.
Seit vielen Jahren der beſte hiſtoriſche Roman. Seit langem iſt kein
Buch erſchienen in einem ſo gedanken- und klangvollen, reinen
Deutſch. Ein prachtvoll gelungener Wurf, mit dem Alfred Neumann
in die Reihe der beſten deutſchen Erzähler vorrückt.
Friedrich Eiſenlohr in der Neuen Bad. Landeszeitung, Mannheim.
„Der Teufel“ iff Neumanns am weiteſten ausgeſponnenes Werk,
volltönend und groß. Es zeigt den Erzähler auf einer Plattform
ſeines Könnens ſowohl in pſychologiſcher als auch in ſtiliſtiſcher
und formaler Hinſicht. Ein nach innen und außen hin farbiges, in
ſcharfem, aber gebändigtem Glanz leuchtendes Buch.
Artur Friedrich Binz in der Saarbrücker Zeitung.
Dieſer Roman iſt eine hinreißende, vorwärtsſtürmende, atem⸗
beklemmende und blutdurchpulſte Dichtung. Es gibt nur wenige
„hiſtoriſche Romane“, die ſo abſolut zeitlos und lebendig, ſo bis ins
Letzte ſeelenſchlürfend und auch organiſch aufgebaut nicht Geſchichte,
ſondern Menſchen ſpiegeln. Durch das ganze Buch ſchlägt eines
Menſchen Herz. Dieſem Roman prophezeie ich eine große Zukunft.
Er wird verſchlungen werden. Heinz Stroh in der Berliner Vörſenztg.
Mit außerordentlicher Farbigkeit und Eindruckhaftigkeit, konzentriert
in der Geſtaltung wie in der dialektiſchen Zuſpitzung des Dialogs,
ijt das Werk geſchrieben. Die Figuren find, auch die kleinſten, über⸗
aus durchgearbeitet, bis zur letzten Sichtbarkeit. Wirklich ein Werk,
über deſſen Krönung man ſich freut!
Peter Hamecher in der Oeutſchen Allg. Zeitung, Berlin.
Der Dichter ſtellt ſich mit dem „Teufel“ in die allererſte Reihe
unſerer derzeitigen Romandichter. Da iſt der große und ſichere
epiſche Zug, der bei uns Deutſchen fo felten ijt, verbunden mit fon:
zentrierteſter Geſtaltungskraft; eine faſt viſionär großartige Erkennt⸗
nis und Schilderung der menſchlichen Seele in ihren verwickeltſten
Ausprägungen, eine Weite der Idee und der Menſchlichkeit, eine
Zuspitzung der Rede und Beherrſchung der Sprache überhaupt, daß
man das Buch ohne Zaudern als bleibenden Wert bucht.
Schwäbiſcher Merkur, Stuttgart.
Deutſche Verlags-Anſtalt / Stuttgart Berlin Leipzig
ee be
10
ee
1 DATE DUE
SO PT 2627 Ee PS 1927
=o) Neumann; Alfred, 1895-1952. —_ =
= | Der Patriot 3
BORROWER'S NAME
DATE DUE
Concordia College Library
Bronxville, NY 10708