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VERSCHOLLENE MEISTER DER LITERATUR
IL OSCAR WILDE. DREI ESSAYS
BERLIN 1904 KARL SCHNABEL
AXEL JUNCKERS BUCHHANDLUNG
OSCAR WILDE:
DER SOZIALISMUS UND DIE SEELE DES MENSCHEN
AUS DEM ZÜCHTHAUS ZU READING
AESTHETISCHES MANIFEST
DEBERSETZT VON
HEDWIG LACHHANN DND GUSTAV LANDAUER
BERLIN 1904 KARL SCHNABEL
AXEL JUNCKERS BUCHHANDLUNG
Alle Rechte vorbehalten.
VORBEMERKUNG.
Der erste der drei Essays dieses Buches
erschien unter dem Titel „The soul of man
xmder sodalism" im Februar 1891 im
„Fortnighthly Review". — Man wird mm,
wo dieser verschollene Essay wieder ans
Licht kommt, verstehen, warum die eng-
lische Gesellschaft diesen genialen Mann,
der einst ihr verhätschelter Liebling war,
solange seine schönheitshungrige Seele mit
ihnen zu spielen schien, später so tötlich
hasste und so infam ins Elend stiess. Die
Rache der Sklaven ist schrecklich; die
Raneune der Herren aber ist unsäglich.
Eine Einsicht, die einem oft verwandten
Geiste, Friedrich Nietzsche, vielleicht nicht
gefehlt hätte, wenn er nicht bloss Deut-
scher, sondern sogar Engländer gewesen
wäre.
[7.63919
Zweitens folgt ein offener Brief, den
Wilde im Jahre 1897, bald nach seiner
Entlassung aus dem Zuchthause zu Rea-
ding, an den Herausgeber des „Daily
Chronicle** richtete. Sein Inhalt berührt
sich mit bestimmten Stellen des vorher-
gehenden Essays, so dass er| hier an seinem
Platze schien. Die Uebersetzung erschien
zuerst 1897.
Der dritte Essay entstammt einem
1882 in Philadelphia erschienenen Ge-
dichtebuch: Rose-leaf and Apple-leaf von
Rennell Rodd. O. W. schrieb unter dem
Titel L'Envoi (Zueignung) dazu eine Ein-
führung. Da sie hier selbständig erscheint
und die Kunstauffassung Wildes zum
erstenmal und in entscheidender Form
ausspricht, schien der von uns gewählte
Titel — der also nicht von Wilde stammt
— angemessen.
G. L.
DER SOZIALISMUS
UND DIE SEELE DES MENSCHEN
er grösste Nutzen, den die
^Einführung des Sozialis-
mus brächte, liegt ohne
Zweifel darin, dass der
Sozialismus uns von
der schmutzigen Not-
wendigkeit, für andere
zu leben, befreite, die beim jetzigen
Stand der Dinge so schwer auf fast allen
Menschen lastet. Es entgeht ihr in, der
Tat fast niemand.
Hie im.d da ist im Lauf des Jahr-
himderts ein grosser Forscher wie Darwin,
ein grosser Dichter wie Keats, ein schar-
fer kritischer Kopf wie Renan, ein un-
gemeiner Künstler wie Flaubert imstande
gewesen, sich abzusondern, sich vor den
lärmenden Ansprüchen der andern zu
retten, „im Schutz der Mauer zu stehen",
wie Plato sich ausdrückt, und so zu seinem
eigenen unvergleichlichen Gewinn und
zum imvergleichlichen und bleibenden Ge-
9
winn der ganzei^ Welt die Vollendung
'^6^en weixiricäien, was in ihm; war. Das
.slAd.^bter.Au^^hiaen. Die meisten Men-
•idieii • .Ve'ÄferWit ihr Leben mit einem
heillosen, übertriebenen Altruismus — sie
sind geradezu gezwungen, es zu tun. Sie
sehen sich von scheussIicheiT Armut,
scheusslicher Hässlichkeit, scheusslichem
Hungerleben umgeben. Es ist unvermeid-
lich, dass ihr Gefühl durch all das stark
erregt wird. Die Gefühle des Menschen
bäumen sich schneller auf als sein Ver-
stand; tmd — wie ich vor einiger Zeit
in einem Aufsatz über das Wesen der
Kritik gesagt habe — Mitgefühl und Liebe
zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum
Denken. Daher machen sie sich mit be-
wundernswertem, obschon falschgerichte-
tem Eifer sehr ernsthaft tmd sehr gefühl-
voll an die Ar'beit, die Uebel, die sie
sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen
diese Krankheit nicht: sie verlängern sie
niu-. Ihre Heilmittel sind geradezu ein
Stück der Krankheit.
Sie suchen etwa das Problem der Ar-
mut dadurch zu lösen, dass sie den Armen
10
am Leben halten; oder — das Bestreben
einer sehr vorgeschrittenen Richtung —
dadurch, dass sie für seine Unterhaltung
sorgen.
Aber das ist keine Lösimg : das Uebel
wird schlimmer dadurch. Das eigentliche
Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesell-
schaft auf einer Grundlage^ die die Armut
unmöglich macht. Und die altruistischen
Tugenden haben tatsächlich die Errei-
chimg dieses Ziels verhindert. Gerade wie
die schlimmsten Sklavenhalter die waren,
die ihre Sklaven gut behandelten und so
verhinderten, dass die Grässlichkeit der
Einrichtung sich denen aufdrängte, die
imter ihr litten, und von denen gewahrt
wurde, die Zuschauer waren, so sind in
den Zuständen unserer Gegenwart die
Menschen die verderblichsten, die am
meisten Gutes tim wollen; und wir haben
es schliesslich erlebt, dass Männer, die das
Problem wirklich studiert haben und das
Leben kennen — gebildete Männer, die
im Londoner Eastend leben — auftreten
imd die Gemeinschaft anflehen, ihre al-
truistischen Gefühle imd ihr Mitleid, ihre
11
Wohltätigkeit und dergleichen einschrän-
ken zu wollen. Das tun sie mit der Be-
gründung, dass solches Wohltun herab-
würdigt und entsittlicht. Sie haben völlig
recht. Mitleid schafft eine grosse Zahl
Sünden.
Auch das muss noch gesagt werden.
Es ist luisittlich, das Privateigentum dazu
zu benutzen, die schrecklichen Uebel zu
lindern, die die Institution des Privateigen-
timis erzeugt hat. Es ist unsittlich und
nicht loyal.
Im Sozialismus wird natürlich all das
geändert sein. Es wird keine Menschen
geben, die in stinkenden Höhlen und stin-
kenden Lumpen leben und kranke Kinder
in immöglicher und widerwärtiger Um-
gebung aufziehen. Die Sicherheit der Ge-
sellschaft wird nicht wie heute von der
Wittenmg abhängen. Wenn Kälte ein-
setzt, wir'd es nicht hunderttausend Ar-
beitslose geben, die in ekelhaftem Elend
die Strassen ablaufen oder ihren Mitmen-
schen etwas vorweinen, bis sie ein Al-
mosen kriegen, oder sich vor dem Tor
eines abscheulichen Asyls für Obdachlose
12
drängen, um ein Stück Brot und ein un-
sauberes Nachtquartier zu ergattern. Jedes
Mitglied der Gesellschaft wird an der all-
gemeinen Wohlfahrt und dem Gedeihen
der Gesellschaft teilhaben, und wenn die
Kälte kommt, wird darum in der Tat nie-
mand im geringsten schlechter gestellt
sein.
Andrerseits ist der Sozialismus ledig-
lich darum von Werty weil er zum Individualist
mos fuhrt.
Der Sozialismus, Kommunismus, oder
wie immet man den Zustand nennen will,
gibt dadurch, dass er das Privateigentum
in eine öffentlich-rechtliche Institution ver-
wandelt tuid die Genossenschaft an die
Stelle der Konkurrenz setzt, der Gesell-
schaft ihren eigentlichen Charakter, den
eines durchweg gesunden Organismus,
zurück und sichert jedem Glied der Ge-
meinschaft das materielle Wohlergehen.
Er gibt in der Tat dem Leben seine rechte
Grundlage und seine rechte Umgebimg.
Aber für die volle Entfaltung des Lebens
zum höchsten Grad seiner Vollendung tut
noch etwas mehr not. Was not tut, ist
13
der Individualismus. Wenn der Sozialis-
mus autoritär ist: wenn es in ihm Regie-
rungen gibt, die mit ökonomischer Gewalt
bewaffnet sind, wie jetzt mit politischer:
wenn wir mit einem Wort den Zustand
der industriellen Tyrannis haben werden:
dann wird die letzte Stufe des Menschen
schlimmer sein als die erste. Jetzt sind
infolge des Vorhandenseins von Privat-
eigentum sehr viele Menschen imstande,
einen gewissen, recht beschränkten Grad
des Invidualismus zu erreichen. Entweder
stehen sie nicht imter dem Zwange, für
ihren Lebensxmterhalt zu arbeiten, oder
sie sind imstande, ein Tätigkeitsfeld zu
wählen, das ihnen wahrhaft entspricht und
ihnen Freude macht. Das sind die Dichr
ter, die Philosophen, die Forscher, die
Geistmenschen — mit einem Wort, die
wirklichen Menschen, die Menschen, die
sich selbst verwirklicht haben imd in denen
die ganze Menschheit eine teilweise Ver-
wirklichung findet. Andrerseits gibt es
sehr viele Menschen, die nicht im Besitz
von Privateigentum und immer in Gefahr
sind, in Not und Hunger zu sinken; so
14
sind sie gezwungen die Arbeit von Last-
tieren zu tun, Arbeit zu tun, die ihnen ganz
und gar nicht entspricht, zu der sie aber
durch die unerbittliche, unvernünftige, ent-
würdigende Tyrannei der Not gezwungen
werden. Das sind die Armen, und bei
ihnen gibt es keine Grazie, keine Anmut
der Rede, keine Bildung oder Kultur oder
Verfeinerung der Genüsse, keine Lebens-
freude. Aus ihrer Gesamtkraft zieht die
Menschheit viel materiellen Wohlstand.
Aber nur dieses materielle Ergebnis ist
der Gewinn, und der Arme an sich ist
völlig wertlos. Er ist nur das winzigste
Atom einer Kraft, die, soweit er in Be-
tracht kommt, ihn vernichtet, der es sogar
lieber ist, wenn er vernichtet ist, da er in
diesem Fall williger ist.
Natürlich könnte man sagen, der In-
dividualismus, wie er unter den Bedin-
gungen des Privateigentums entsteht, sei
nicht immer, nicht einmal in der Regel
von edler und erfreulicher Art, und die
Armen hätten, wenn ihnen auch Kultur
und Grazie abgingen, doch viele Tugen-
den. Beide Behauptimgen wären ganz
15
richtig. Der Besitz von Privateigentum
ist sehr oft äusserst entsittlichend^ und
das ist natürlich eine der Ursachen, warum
der Sozialismus die Einrichtung abschaf-
fen will. Das Eigentimi ist wirklich in der
Tat eine Last. Vor einigen Jahren, reisten
etliche im Lande herum und verkündeten,
das Eigentum habe Pflichten. Sie sagten
es so oft und so zum Ueberdruss, dass
schliesslich die Kirche angefangen hat,
dasselbe zu sagen. Man hört es jetzt von
jeder Kanzel herab. Es ist völlig richtig.
Das Eigentimi hat nicht nur Pflichten, son-
dern so viele Pflichten, dass es eine Last
ist, viel davon zu besitzen. Fortwährend
muss man aufs Geschäft achten, fort-
während werden Ansprüche geltend ge-
macht, fortwährend wird man behelligt.
Wenn das Eigentum nur Annehmlich-
keiten brächte, könnten wir es aushalten;
aber seine Pflichten machen es unerträg-
lich. Im Interesse der Reichen müssen
wir es abschaffen. Die Tugenden der
Armen können bereitwillig zugegeben
werden imd sind sehr zu bedauern. Man
sagt ims oft, die Armen seien für Wohl-
16
taten dankbar. Einige von ihnen sind es
ohne Frage; aber die besten unter den
Armen sind niemals dankbar. Sie sind un-
dankbar, imznfrieden, unbotmässig und
aufsässig. Sie haben ganz recht, so zu
sein. Sie fühlen, dass die Wohltätigkeit
eine lächerlich ungenügende Art der Rück-
erstattung ist, oder eine gefühlvolle
Spende, die gewöhnlich von einem luiver-
schämten Versuch seitens des Gefühl-
vollen begleitet ist, in ihr Privatleben ein-
zugreifen. Warum sollten sie für die Bro-
samen dankbar sein, die vom Tische des
reichen Mannes fallen ? Sie sollten mit an
der Tafel sitzen und fangen an, es zu
wissen. Was die Unzufriedenheit angeht,
so wäre ein Mensch, der mit solcher Um-
gebimg imd so einer niedrigen Lebenshal-
timg nicht unzufrieden sein wollte, ein
vollkommenes Vieh. Unbotmässigkeit ist
für jeden, der die Geschichte kennt, die
recht eigentliche Tugend des Menschen.
Durch die Unbotmässigkeit ist der Fort-
schritt gekommen, durch Unbotmässigkeit
imd Aufsässigkeit. Manchmal lobt man
die Armen wegen ihrer Sparsamkeit. Aber
17
den Armen Sparsamkeit zu empfehlen, ist
ebenso grotesk wie beleidigend. Es ist
dasselbe, als wollte man einem Halbver-
htmgerten empfehlen, weniger zu essen.
Von einem Stadt- oder Landarbeiter wäre
es ujimoralisch, sparen zu wollen. Nie-
mand sollte gewillt sein, zu zeigen, dass er
wie ein schlecht gefüttertes Stück Vieh
leben kann. Viele lehnen es denn auch ab,
lind ziehen es vor, zu stehlen oder aber
ins Armenhaus zu gehen, was manche für
eine Form des Stehlens halten. Was das
Betteln angeht, so ist es sicherer, zu betteln
als zu nehmen, aber es ist vornehmer, zu
nehmen als zu betteln. Wirklich: ein
armer Maim, der undankbar, unsparsam,
unzufrieden und aufsässig ist, ist vielleicht
eine wirkliche Persönlichkeit und hat viel
in sich. In jedem Fall ist er ein heilsamer
Protest. Was die tugendhaften Armen an-
geht, so kann man sie natürlich bemit-
leiden, aber es fällt schwer, sie zu respek-
tieren. Sie haben sich mit dem Feind in
Unterhandlungen eingelassen und ihre
Erstgeburt für eine Bettelsuppe verkauft.
Sie müssen auch aussetgewöhnlich dumm
18
sein. Ich kann völlig v^erstehen, dass ein
Mann Gesetze akzeptiert, die das Privat-
eigentum schützen und erlauben, es auf-
zuhäufen, solange er selbst unter diesen
Bedingungen imstande ist, sich irgend eine
Form schönen und geistigen Lebens zu
schaffen. Aber es ist für mich fast un-
glaublich, wie jemand, dessen Leben durch
solche Gesetze verstümmelt imd besudelt
worden ist, ihre Fortdauer zu ertragen ver-
mag.
Indessen ist die Erklärung in Wirk-
lichkeit nicht schwer zu finden. Sie lautet
einfach so. Elend und Armut sind so
völlig entwürdigend, und üben eine so
lähmende Wirkung auf die menschliche
Natur aus, dass eine Klasse sich ihres
eigenen Leidens niemals wii'klich selbst be-
wusst wird. Es muss ihnen von andern
'Menschen gesagt werden, und sie glauben,
ihnen häufig durchaus nicht. Was manche
grosse Unternehmer gegen die Agitatoren
sagen, ist ohne Frage wahr. Agitatoren
sind eine Art zudringlicher Störenfriede,
die sich in eine völlig zufriedene Schicht
der Bevölkerung begeben und die Saat der
19
2*
Unzufriedenheit unter sie säen. Das ist
der Grund, warum Agitatoren so absolut
notwendig sind. Ohne sie gäbe es in unse-
rem tmvoUkommenen Gemeinwesen kei-
nerlei Annäherung an die Kultur. Als die
Sklaverei in Amerika unterdrückt wurde^
geschah es nicht infolge irgend eines Vor-
gehens von Seiten der Sklaven, nicht ein-
mal infolge einer ausgesprochenen Sehn-
sucht ihrerseits, frei zu sein. Sie wurde
lediglich durch das gröblich ungesetzliche
Vorgehen gewisser Agitatoren in Boston
und ajndetn Orten unterdrückt, die nicht
selbst Sklaven oder Sklavenhalter waren
und in Wirklichkeit mit der Frage gar
nichts zu tun hatten. Ohne Zweifel waren
es die Abolitionisten, die die Fackel ent-
zündeten, die die ganze Sache anfingen.
Und es ist seltsam zu sehen, dass sie bei
den Sklaven selbst nicht nur wenig Bei-
stand, sondern sogar kaum Sympathien
fanden; und als die Sklaven am Ende des
Krieges vor der Freiheit standen, und zwar
vor einer so vollständigen Freiheit, dass
sie die Freiheit hatten, zu verhungern, da
tat vielen unter ihnen der neue Stand der
20
Dinge bitter leid. Für denkende Menschen
ist das tragischste Ereignis in der ganzen
französischen Revolution nicht die Hin-
richtung Marie Antoinettes, die getötet
wurde, weil sie eine Königin war, son-
dern der Aufstand der ausgesogenen Bau-
ern der Vend6e, die sich freiwillig erhoben,
um für die schmachvolle Sache des Feu-
dalismus zu sterben.
Es ist also klar, dass es mit dem auto-
ritären Sozialismus nicht geht. Unter dem
jetzigen System kaoxn wenigstens eine recht
grosse Zahl Menschen ein Leben führen,
das eine gewisse Summe Freiheit und
Mächtigkeit und Glück aufweist, aber
unter einem Industriekasernensystem
oder einem System wirtschaftlicher Tyran-
nei wäre niemand imstande, überhaupt ir-
gend solche Freiheit zu haben. Es ist sehr
schlimm, dass ein Teil unserer Gemein-
schaft sich tatsächlich in Sklaverei befin-
det, aber der Vorschlag, das Problem so
zu lösen, dass man die ganze Gemeinschaft
versklavt, ist kindisch. Jedem muss völlig
die Freiheit gelassen sein, sich selbst seine
Arbeit auszusuchen. Keine Form des
21
Zwangs darf ausgeübt werden. Wenn
Zwang herrscht, dann wird seine Arbeit
nicht gut für den Arbeitenden sein und
nicht gut für die andern. Unter Arbeit ver-
stehe ich lediglich irgend eine Betätigung,
Ich glaube kaum, dass irgend ein So-
zialist heutzutage im Ernst vorschlagen
könnte, ein Inspektor solle jeden Morgen
jedes Haus visitieren, um nachzusehen, ob
jeder Bürger aufgestanden ist und sich an
seine achtstündige körperliche Arbeit ge-
macht hat. Die Menschheit ist über diese
Stufe hinausgekommen und überlässt diese
Art Leben den Menschen, die sie sehr un-
vernünftiger Weise Verbrecher zu nennen
beliebt. Aber ich gestehe, viele sozialistische
Anschauungen, denen ich begegnet bin,
scheinen mir mit unsaubem Vorstellungen
von autoritärer Gewalt, wenn nicht tat-
sächlichem Zwang behaftet zu sein. Auto-
ritäre Gewalt und Zwang können natürlich
nicht in Frage kommen. Alle Vereinigung
muss ganz freiwillig sein. Nur in freiwillig
gen Vereinigungen ist der Mensch schön.
Aber es kann gefragt werden, wie der
Individualismus, der jetzt zu seiner Entfal-
22
tung mehr oder weniger die Existenz des
Privateigentums braucht, aus der Abschaf-
fimg dieses Privateigentums Nutzen ziehen
soll. Die Antwort ist sehr einfach. Aller-
dings haben unter den bestehenden Ver-
hältnissen ein paar Männer, die im Be-
sitz von Privatmitteln waren, wie Byron^
Shelley, Browning, Victor Hugo, Baude-
laire imd andere, ihre Persönlichkeit mehr
oder weniger vollständig verwirklichen
können. Keiner von diesen Männern tat je
ein einziges Tagewerk um des Lohnes
willen. Sie waren der Armut ledig. Sie
hatten einen ungeheuren Vorteil. Die
Frage ist, ob es dem Individualismus zu-
gute käme, wenn ein so grosser Vorteil ab-
geschafft würde. Nehmen wir an, er sei
abgeschafft. Was wird dann aus dem In-
dividualismus ? Welchen Nutzen hat er da-
von?
Der Nutzen wird so beschaffen sein.
Unter den neuen Umständen wird der In-
dividualismus viel freier, viel schöner und
viel intensiver sein als heutigen Tags. Ich
spreche nicht von der grossen Phantasie-
wirklichkeit der Individualität bei solchen
23
Dichtern, wie ich sie eben genannt habe,
sondern von der grossen tatsächlich wirk-
lichen Individualität, die in der Mensch-
heit im allgemeinen latent und bereit ist.
Denn die Anerkenniuig des Privateigen-
tums hat in der Tat den Individualismus
geschädigt imd verdimkelt, indem es den
Menschen verwechselte mit dem, was er
besitzt. Es hat den Individualismus völlig
in die Irre geführt. Es hat ihm Gewinn,
nicht Wachstum zum Ziel gemacht. So
dass der Mensch dachte, die Hauptsache
sei zu haben, imd nicht wusste, dass es
die Hauptsache ist, zu sein. Die wahre Voll-
kommenheit des Menschen liegt nicht in dem^
was er hat^ sondern in dem^ was er ist. Das
Privateigentum hat den waJiren Individua-
lismus vernichtet und einen falschen hin-
gestellt. Diurch Aushungern hat es
einem Teil der Gemeinschaft die Möglich-
keit benommen, individuell zu sein. Es
hat dem andern Teil der Gemeinschaft die
Möglichkeit, individuell zu sein, benom-
men, indem es ihn auf den falschen Weg
brachte imd ihn überbürdete. In der Tat
ist die Persönlichkeit des Menschen so
24
völlig von seinem Besitz aufgesogen
worden, dass das englische Gesetz stets
einen Angriff gegen das Eigentum eines
Menschen weit strenger behandelt hat als
gegen seine Person; und ein guter Bürger
wird immer noch daran erkannt, dass er
Eigentum hat. Die Betriebsamkeit, die
zum Geldverdienen erforderlich ist, ist
gleichfalls sehr demoralisierend. In einer
Gemeinschaft wie der unsern, wo das
Eigentum Rang, gesellschaftliche Stellung,
Ehte, Würde, Titel imd andere angenehme
Dinge der Art verleiht, macht es der
Mensch, ehrgeizig wie er von Natur wegen
ist, zu seinem Ziel, solches Eigentum anzu-
häufen, und fährt damit bis zur Ermü-
dung und zum Ueberdruss fort, auch wenn
er weit mehr aufgehäuft hat, aJs er braucht
oder benutzen kann, ja sogar mehr, als ihn
erfreut tmd mehr, als er weiss. Der Mensch
arbeitet sich zu Tode, um Eigentum zu
erlangen, und weim man freilich die un-
geheuren Vorteile sieht, die das Eigentum
mit sich führt, ist es nicht zum Verwun-
dern. Bedauern muss man, dass die Ge-
sellschaft so aufgebaut ist, dass der
25
Mensch in. eine Grube gezwängt ist, wo er
nichts von dem frei zur Entfaltung
kommen lassen kann, was Schönes und
Baimendes und Köstliches in ihm ist —
wo er tatsächlich die wahre Lust und die
wahre Freude am Leben entbehrt. Auch
lebt er imter den gegenwärtigen Umstän-
den sehr unsicher. Ein ungeheuer reicher
Kaufmann kann in jedem Augenblick
seines Lebens auf Gnade und Ungnade
Dingen überliefert sein — ist es oft — ,
auf die er keinen Einfluss hat. Der Sturm
wütet ein bisschen mehr als sonst oder so
ähnlich, oder das Wetter ändert sich plötz-
lich, oder irgend eine triviale Sache tritt
ein, und sein Schiff geht unter, seine Spe-
kulationen gehen schief, er ist ein armer
Maim und seine gesellschaftliche Stellung
ist verloren. Nun, nichts sollte einen Men-
schen schädigen können, es sei denn er
selbst. Nichts überhaupt sollte einen Men-
schen ärmer machen können. Was in ihm
ist, das hat der Mensch wirklich. Was
draussen ist, sollte ohne Bedeutung sein.
Nach der Abschaffung des Privat-
eigentums werden wir also den wahren.
26
schönen, gesunden Individualismus haben.
Niemand wird sein Leben damit vergeu-
den, dass er Sachen imd Sachwerte an-
häuft. Man wird leben. Leben — es gibt
nichts Selteneres in der Welt. Die meisten
Leute existieren, weiter nichts.
Es ist die Frage, ob wir jemals eine
Persönlichkeit sich völlig haben ausleben
sehen, es sei denn in der Phantasiesphäre
der Kunst. In der Wirklichkeit haben wir
es nie gesehen. Cäsar, so sagt uns Momm-
sen, war der vollkommene und vollendete
Mensch. Aber wie tragisch unsicher war
Cäsars Existenz! Immer, wenn es einen
Mann gibt, der Macht ausübt, gibt es auch
einen Mann, der der Macht widersteht.
Cäsar war sehr vollkommen, aber seine
Vollkommenheit ging einen zu gefähr-
lichen Weg. Marc Aurel war der vollkom-
mene Mensch, sagt Renan. Ja; der grosse
Kaiser war ein vollkommener Mensch.
Aber wie unerträglich waren die ewigen
Forderungen, die an ihn gestellt wurden!
Er taumelte unter der Last des Römischen
Reiches. Er war sich bewusst, wie wider-
sinnig es war, dass ein einzelner Mensch
27
die Last dieses titanischen, ungeheuren
Reiches tragen sollte. Unter einem voll-
kommenen Menschen verstehe ich einen,
der sich imter vollkommenen Zuständen
ausleben kann; einen, der nicht verwun-
det oder zerbissen oder verkrüppelt oder
in ewiger Gefahr ist. Die meisten Persön-
lichkeiten waren genötigt^ Empörer zu sein.
Ihre halbe Kraft hat die Reibung mit der
Aussenwelt verbraucht. Byrons Persönlich-
keit zum Beispiel wurde in ihrem Kampf
mit der Dummheit und Heuchelei und Phi-
listerhaftigkeit der Engländer schrecklich
mitgenommen. Solche Kämpfe machen die
Kraft nicht immer intensiver : oft lassen sie
die Schwäche ins Ungemessene wachsen.
Byron hat uns niemals geben können, was
er uns hätte geben können. Shelley kam
besser davon. Gleich Byron verliess er
England sobald aJs möglich. Aber er war
nicht so bekannt. Wenn die Engländer
eine Ahnung gehabt hätten, was für ein
grosser Dichter er in Wirklichkeit gewesen
ist, sie wären über ihn hergefallen und
hätten ihm sein Leben so unerträglich ge-
macht, wie sie irgend konnten. Aber er
28
spielte in der Gesellschaft keine grosse
Rolle und entrann daher bis zu gewissem
Grad. Aber auch in Shelley ist die Nuance
der Empörung manchmal noch zu stark.
Die Nuance der vollkommenen Persönlich-
keit ist nicht Empörung, sondern Friede.
Sie wird etwas Wimderbares sein —
die eigentliche Persönlichkeit des Men-
schen — wenn sie sich ims zeigen wird.
Sie wird in natürlicher und einfacher Art
wachsen, wie eine Blume, oder wie ein
Baum wächst. Sie wird nicht im Streit
liegen. Sie wird nie argumentieren oder
disputieren. Sie wird nichts in der Welt be-
weisen. Sie wird alles wissen. Und doch
keinen Wissenschaftsbetrieb kennen. Sie
wird weise sein. Ihr Wert wird nicht mit
materiellen Dingen messbar sein. Sie wird
nichts haben. Und wird doch alles haben,
und soviel man ihr auch nimmt, sie hat
noch immer, so reich ist sie. Sie wird sich
nicht immer um andere kümmern oder
von ihnen verlangen, sie sollten ebenso sein
wie sie selbst. Sie wird sie lieben, weil
sie anders sind. Und doch, während sie
sich um andre nicht kümmert, wird sie
29
allen helfen, wie etwas Schönes uns hilft,
indem es ist, wie es ist. Die Persönlich-
keit des Menschen wird sehr wundervoll
sein. Sie wird so wundervoll sein, wie die
Persönlichkeit eines Kindes.
In ihrer Entfaltung wird sie vom
Christentum gefördert werden, wenn die
Menschen das lieben; wenn sie es aber
nicht lieben, ward sie sich auch so mit
Sicherheit entfalten. Denn sie wird sich
nicht um Vergangenes zerreissen und
wii'd sich's nicht kümmern lassen, ob sich
etwas ereignet hat oder nicht ereignet hat.
Auch wird sie keine Gesetze anerkennen
als ihre eigenen; und keine Autorität als
ihre eigene. Doch lieben wird sie die, die
ihre Mächtigkeit vorbereitet haben, und
wird oft von ihnen sprechen. Und derer
einer war Christus.
„Erkenne dich selbst,** stand über dem
Portal der antiken Welt zu lesen. Ueber
dem Portal der neuen Welt wird stehen:
„Sei du selbst.** Und die Botschaft Christi
an den Menschen lautete einfach : „Sei du
selbst.'* Das ist das Geheimnis Christi.
30
Wenn Jesus von den Armen spricht^ meint
er einfach Persönlichkeiteny gerade wie er^
wenn er von den Reichen spricht, einfach Leute
meint, die ihre Persönlichkeit nicht ausge-
bildet haben. Jesus lebte in einer Gemein-
schaft, die gerade wie unsere die Anhäu-
fung von Privateigentum erlaubte, und das
Evangelium, das er predigte, hiess nicht,
es sei in einer solchen Gemeinschaft von
Vorteil, von karger, verdorbener Nah-
rung zu leben, zerlumpte, beschmutzte Klei-
der zu tragen, in entsetzlichen, ungesunden
Wohnungen zu hausen, imd es sei von
Nachteil, in gesunden, erfreulichen und ge-
ziemenden Verhältnissen zu leben. Solch
ein Standpimkt wäre damals und in Pa-
lästina falsch gewesen, und wäre natürlich
heute und in unserm Himmelsstrich noch
falscher; denn je weiter der Mensch nach
Norden rückt, um so lebenentscheidender
wird die materielle Notdurft, und unsere
Gesellschaft ist unendlich komplizierter
und weist weit stärkere Gegensätze von
Luxus imd Armut auf als irgend eine Ge-
sellschaft der antiken Welt. Was Jesus
gemeint hat, ist folgendes. Er sagte dem
31
Menschen : „Du hast eine wundervolle Per-
sönlichkeit. Bilde sie aus. Sei du selbst»
Wähne nicht, deine Vollkommenheit liege
darin, äussere Dinge aufzuhäufen oder zu
besitzen. Deine Vollkommenheit ist in dir»
Wenn du die nur verwirklichen könntest^
dann brauchtest du nicht reich zu sein.
Der gemeine Reichtum kann einem Men-
schen gestohlen werden. Der wirkliche
Reichtum nicht. In der Schatzkammer
deiner Seele gibt es imendlich wertvolle
Dinge, die dir nicht genommen werden
können. Und also, suche dein Leben so
zu gestalten, dass äussere Dinge dich nicht
kranken können. Und suche auch das per-
sönliche Eigentum loszuwerden. Es führt
niedriges Gebaren, endlose Angst, ewiges
Unrecht mit sich. Persönliches Eigentimi
hemmt die Individualität bei jedem
Schritt." Es ist zu beachten, dass Jesus
nie sagt, arme Leute seien notwendig gut^
oder reiche Leute notwendig schlecht. Das
wäre nicht wahr gewesen. Reiche Men-
schen sind als Klasse besser als arme, mo-
ralischer, geistiger, gesitteter. Es gibt nur
eine Klasse in der Gemeinschaft^ die mehr
32
ans Geld denkty als die Reichen^ und das
sind die Armen. Die Armen können an
nichts anderes denken. Das ist der Jammer
der Armut. Jesus also sagt, dass der
Mensch seine Vollendung erreicht: nicht
durch das, was er hat, nicht einmal durch
das, was er tut, sondern ganz und gar durch
das, was er ist. Daher also ist der reiche
Jüngling, der zu Jesus kommt, als durch-
aus guter Bürger hingestellt, der kein
Staatsgesetz, kein Gebot seiner Religion
verletzt hat. Er ist ganz respektabel, im
gewöhnlichen Sinn dieses ungewöhnlichen
Wortes. Jesus sagt zu ihm: „Du solltest
das Privateigentum aufgeben. Es hindert
dich an der Verwirklichung deiner Voll-
kommenheit. Es ist eine Fessel für dich.
Es ist eine Last. Deine Persönlichkeit
braucht es nicht. In dir selbst, nicht
draussen findest du, was du wirklich bist
und was du wirklich brauchst." Seinen
Jüngern sagt er dasselbe. Er fordert sie
auf, sie selbst zu sein und sich nicht immer
um andere Dinge zu ängstigen. Was be-
deuten andere Dinge? Der Mensch ist in
sich vollendet. Wenn sie in die Welt
33
gehen, wird die Welt sich ihnen wider-
setzen. Das ist unvermeidlich. Die Welt
hasst die Individualität. Aber das soll sie
nicht kümmern. Sie sollen still und in sich
gekehrt sein. Wenn jemand ihnen den
Mantel nimmt, sollen sie ihm den Rock
noch dazu geben, eben um zu zeigen, dass
materielle Dinge keine Bedeutung haben.
Wenn die Leute sie beschimpfen, sollen
sie nicht antworten. Was liegt daran?
Was die Leute von einem Menschen sagen,
ändert den Menschen nicht. Er ist, was
er ist. Die öffentliche Meinung hat keiner-
lei Wert. Selbst wenn die Leute Gewalt
anwenden, sollen sie sich nicht zur Wehr
setzen. Damit sänken sie auf dieselbe nie-
drige Stufe. Und schliesslich kann ein
Mensch selbst im Gefängnis völlig frei
sein. Seine Seele kann frei sein. Seine
Persönlichkeit kann unbekümmert sein,
Friede kann in ihm sein. Und vor allem
sollen sie sich nicht in andrer Leute Sachen
einmischen oder sie irgendwie richten. Um
die Persönlichkeit ist es etwas sehr Ge-
heimnisvolles. Ein Mensch kann nicht
inrnier nach dem, was er tut, beurteilt wer-
S4
den. Er kann das Gesetz halten und doch
nichtswürdig sein. Er kann das Gesetz
brechen und doch edel sein. Er kann
schlecht sein, ohne je etwas Schlechtes zu
tun. Er kann eine Sünde gegen die Gesell-
schaft begehen, und doch durch diese
Sünde seine wahre Vollkommenheit er-
reichen.
Es war da eine Frau, die beim Ehe-
bruch ergriffen worden war. Man be-
richtet uns nichts über die Geschichte ihrer
Liebe, aber diese Liebe muss sehr gross
gewesen sein; denn Jesus sagte, ihre
Sünden seien ihr vergeben, nicht weil sie
bereute, sondern weil ihre Liebe so stark
und wunderbar war. Später, kurze Zeit
vor seinem Tode, als er beim Mahle sass,
kam das Weib herein und goss kostbare
Wohlgerüche auf sein Haar. Seine Jünger
wollten sie davon abhalten und sagten, es
sei eine Verschwendung, und das Geld,
das dieses köstliche Wasser wert sei, hätte
mögen für wohltätige Zwecke, für arme
Leute oder dergleichen verwendet werden.
Jesus trat dem nicht bei. Er betonte, die
leiblichen Bedürfnisse des Menschen seien
35
3*
gross und immei*währen<l, aber die geisti-
gen Bedürfnisse seien noch grösser, und
in einem einzigen göttlichen Moment, in
einer Ausdrucksform, die sie selbst be-
stimmt, könne eine Persönlichkeit ihre
Vollkommenheit erlangen. Die Welt ver-
ehrt das Weib noch heute als Heilige.
Wahrlich, es ist viel Wundervolles im
Individualismus. Der Sozialismus zum Bei-
spiel vernichtet das Familienleben. Mit
der Abschaffung des Privateigentums
muss die Ehe in ihrer bisherigen Form
verschwinden. Das ist ein Teil des Pro-
gramms. Der Individualismus nimmt das
auf und verwandelt es in Schönheit. Er
macht aus der Abschaffung gesetzlichen
Zwanges eine Form der Freiheit, die die
volle Entfaltung der Persönlichkeit för-
dern wird, und die Liebe des Mannes und
der Frau wimderbarer, schöner und edler
macht. Jesus wusste das. Er wies die An-
sprüche des Familienlebens zurück, ob-
wohl sie in seiner Zeit und seiner Gemein-
schaft in sehr ausgeprägter Form bestan-
den. „Wer ist meine Mutter? Wer sind
meine Brüder?" fragte er, als man ihm
86
sagte, dass sie ihn zu sprechen, wünschten.
Als einer seiner Jünger um Urlaub bat,
um seinen Vater zu beerdigen, war seine
schreckliche Antwort: „Lass die Toten
ihre Toten begraben.** Er wollte nicht
dulden, dass irgend ein Anspruch an die
Persönlichkeit herantrat.
So also ist der, der ein christusgleiches
Leben führen will, vollkommen und voll-
ständig er selbst. Er mag ein grosser
Dichter sein oder ein grosser Forscher;
ein junger Student oder ein Schafhirt auf
der Heide; ein Dramatiker wie Shake-
speare oder ein gottdenkender Mensch wie
Spinoza; ein spielendes Kind im Garten
oder ein Fischer, der seine Netze aus-
wirft. Es kommt nicht darauf an, was er
ist, solange er die Vollkommenheit der
Seele verwirklicht, die in ihm ist. Alle
Nachahmung in moralischen Dingen und
im Leben ist von Uebel. Durch die
Strassen Jerusalems schleppt sich heutigen
Tages ein Wahnsinniger, der ein hölzernes
Kreuz auf den Schultern trägt. Er ist ein
Symbol der Leben, die die Nachahmung
verkrüppelt hat. Vater Damien war
37
christusgleich, als er hinausging und mit
den Aussätzigen lebte, weil er in diesem
Dienst völlig verwirklichte, was Bestes in
ihm war. Aber er war nicht mehr christus-
gleich als Wagner, der seine Seele in der
Musik verwirklichte, oder aJs Shelley, der
die Verwirklichimg seiner Seele im Liede
fand. Es gibt nicht nur einen Typus des
Menschen, Es gibt so viele Vollendungen,
als es imvoUkommene Menschen gibt. Den
Anfordenmgen des Mitleids kann ein
Mann nachgeben und doch frei sein; den
Ansprüchen aber, die alle gleich machen
wollen, kann niemand nachgeben imd da-
bei frei bleiben.
Zum Individualismus also werden wir
durch den Sozialismus kommen. Es liegt
in der Natur der Sache, dass der Staat
das Regieren ganz imd gar sein lassen
muss. Er muss es sein lassen; denn, wie
ein weiser Mann einst viele Jahrhunderte
vor Christus gesagt hat, so etwas, wie die
Menschheit in Ruhe lassen, gibt es; aber
so etwas, wie die Menschheit regieren,
gibt es nicht. Alle Arten^ regieren zu wollen^
sind verkehrt. Der Despotismus ist unge-
38
recht gegen jedermann, den Despoten in-
begriffen, der wahrscheinlich für Besseres
bestimmt war. Oligarchien sind unge-
recht gegen die vielen, und Ochlokratien
sind ungerecht gegen die wenigen. Grosse
Hoffnungen setzte man einst auf die De-
mokratie; aber Demokratie bedeutet ledig-
lich, dass das Volk durch das Volk für
das Volk niedergeknüppelt wird. Man ist
dahinter gekommen. Ich muss sagen, dass
es hohe Zeit war, denn jede autoritäre Ge-
walt ist ganz entwürdigend. Sie entwür-
digt die, die sie ausüben, und ebenso die,
über die sie ausgeübt wird. Wenn sie ge-
walttätig, roh und grausam verfährt, bringt
sie eine gute Wirkung hervor, indem sie
den Geist der Rebellion und des Individua-
lismus erzeugt oder wenigstens hervor-
ruft, der ihr ein Ende machen wird. Wenn
sie in einer gewissen freundlichen Weise
verfährt und Belohnungen und Preise ver-
leiht, ist sie schrecklich entsi.t ichend. Die
Menschen merken dann den schrecklichen
Druck, der auf ihnen lastet, weniger und
gehen in einer Art gemeinen Behagens
durchs Leben und wie gehätschelte Haus-
39
tiere, und sie merken nie, dass sie anderer
Leute Gedanken denken, dass sie nach
anderer Leute Normen leben, dass sie
wahrhaftig anderer Leute abgelegte Klei-
der tragen und nie einen einzigen Augen-
blick lang sie selbst sind. „Wer frei sein
will,** sagt ein grosser Denker, „muss Dissi-
dent sein/* Die Autorität aber, die die
Menschen dazu bringt, sich zu nivellieren
und ajnzupassen, erzeugt tmter ims eine
sehr rohe Art satter Barbarei.
Mit der autoritären Gewalt wird die
Justiz verschwinden. Das wird ein grosser
Gewinn sein — ein Gewinn von wahrhaft
unberechenbarem Wert. Wenn man die
Geschichte erforscht, nicht in den ge-
reinigten Ausgaben, die für Volksschüler
imd Gymnasiasten veranstaltet sind, son-
dern in den echten Quellen aus der jeweili-
gen Zeit, dann wird man völlig von Ekel
erfüllt, nicht wegen der Taten der Ver-
brecher, sondern wegen der Strafen, die
die Guten auferlegt haben; und eine Ge-
meinschaft wird unendlich mehr durch das
gewohnheitsmässige Verhängen von Strafen
verroht als durch das gelegentliche Vorkam"
40
men von Verbrechen, Daraus ergfibt sich von
selbst, dass je mehr Strafen verhängt wer-
den, um so mehr Verbrechen hervorgerufen
werden, und die meisten Gesetzgebungen
imserer Zeit haben dies durchaus aner-
kannt und es sich zur Aufgabe gemacht,
die Strafen, soweit sie es für angängig
hielten, einzuschränken. Ueberall, wo sie
wirklich eingeschränkt wurden, waren die
Ergebnisse äusserst gut. Je weniger Strafe,
xmi so weniger Verbrechen. Wenn es über-
haupt keine Strafe mehr gibt, hört das
Verbrechen entweder auf, oder, falls es
noch vorkommt, wird es als eine sehr be-
dauerliche Form des Wahnsinns, die durch
Pflege und Güte zu heilen ist, von Aerzten
behandelt werden. Denn was man heut-
zutage Verbrecher nennt, sind überhaupt
keine Verbrecher. Entbehrxmg, nicht
Sünde ist die Mutter des Verbrechens
imserer Zeit. Das ist in, der Tat der Gnmd,
warum unsere Verbrecher als Klasse von
einem irgend psychologischen Standpunkt
aus so völlig uninteressant sind. Sie sind
keine erstaunlichen Macbeths und schreck-
lichen Vautrins. Sie sind lediglich das,
41
was gewöhnliche respektable Dutzend-
menschen wären, wenn sie nicht genug zu
essen hätten. Wenn das Privateigentum
abgeschafft ist, wird es keine Notwendig-
keit imd keinen Bedarf für Verbrechen
geben; sie werden verschwinden. Natür-
lich sind nicht alle Verbrechen Verbrechen
gegen das Eigentum, obwohl das die Ver-
brechen sind, die das englische Gesetz,
das dem, was ein Mensch hat, mehr Wert
beimisst als dem, was er ist, mit der grau-
samsten und fürchterlichsten Strenge be-
straft, wofern wir vom Mord absehen und
den Tod für ebenso schlimm halten
wie das Zuchthaus, worüber unsere Ver-
brecher, glaube ich, anderer Meinung sind.
Aber wenn auch ein Verbrechen nicht
gegen das Eigentum gerichtet ist, kann
es doch aus dem Elend und der Wut und
der Erniedrigung entstehen, die unsere
verkehrte Privateigentumswirtschaft her-
vorbringen, und wird so nach der Ab-
schaffung dieses Systems verschwinden.
Wenn jedes Glied der Gemeinschaft so-
viel hat, als es braucht und von seinen
Mitmenschen nicht behelligt wird, hat es
42
kein Interesse daran, andern lästig zu
werden. Der Neid, dem im Leben unserer
Zeit ausserordentlich viele Verbrechen ent-
springen, ist ein Gefühl, das mit unseren
Eigentumsbegriffen eng verbunden ist; im
Reiche des Sozialismus und Individualis-
mus wird er verschwinden. Es ist bemer-
kenswert, dass der Neid bei kommunisti-
schen Stämmen völlig unbekannt ist.
Wenn nun der Staat nicht zu regieren
hat, kann gefragt werden, was er zu tun
hat. Der Staat wird eine freiwillige Ver-
einigung sein, die die Arbeit organisiert
imd der Fabrikant und Verteiler der not-
wendigen Güter ist. Der Staat hat das Nütz-
liche zu tun. Das Individuum hat das Schöne
zu tun. Und da ich das Wort Arbeit ge-
braucht habe, will ich nicht unterlassen zu
bemerken, dass heutzutage sehr viel Un-
sinn über die Würde der körperlichen Ar-
beit geschrieben und gesprochen wird. An
der körperlichen Arbeit ist ganz und
gar nichts notwendig Würdevolles, und
meistens ist sie ganz und gar entwürdi-
gend. Es ist geistig und moralisch ge-
nommen schimpflich für den Menschen,
43
irgend etwas zu tun, was ihm keine Freude
macht, und viele Formen der Arbeit sind
ganz freudlose Beschäftigungen und soll-
ten dafür gehalten werden. Einen kotigen
Strassenübergang bei scharfem Ostwind
acht Stunden im Tag zu fegen ist eine
widerwärtige Beschäftigung. Ihn mit
geistiger, moralischer oder körperlicher
Würde zu fegen, scheint mir unmöglich.
Ihn freudig zu fegen, wäre schauderhaft.
Der Mensch ist zu etwas Besserem da,
als Schmutz zu entfernen. Alle Arbeit
dieser Art müsste von einer Maschine be-
sorgt werden.
Und ich zweifle nicht, dass es so
kommen wird. Bis jetzt war der Mensch
bis zu gewissem Grade der Sklave der
Maschine, und es lieg^ etwas Tragisches
in der Tatsache, dass der Mensch, sowie
er eine Maschine erfxmden hatte, die ihm
seine Arbeit abnahm, Not zu leiden be-
gann. Das kommt indessen natürlich von
xmserer Eigentums- und Konkurrenzwirt-
schaft. Ein Einzelner ist der Eigentümer
einer Maschine, die die Arbeit von fünf-
hundert Menschen tut. Fünfhundert Men-
44
sehen sind infolgedessen beschäftigungs-
los ; und da man ihre Arbeit nicht braucht,
sind sie dem Hunger preisgegeben und
legen sich auf den Diebstahl. Der Ein-
zelne eignet sich das Produkt der Maschine
an und behält es und hat fünfhundertmal
soviel, als er haben sollte, und wahrschein-
lich, was viel wichtiger ist, bedeutend
mehr, als er tatsächlich braucht. Wäre
diese Maschine das Eigentum aller, so
hätte jedermann Nutzen davon. Sie wäre
der Gemeinschaft von grösstem Vorteil.
Jede rein mechanische, jede eintönige und
dimipfe Arbeit, jede Arbeit, die mit wider-
lichen Dingen zu tim hat imd den Men-
schen in abstossende Situationen zwingt,
muss von der Maschine getan werden. Die
Maschine muss für uns in den Kohlen-
gruben arbeiten und gewisse hygienische
Dienste tun und Schiffsheizer sein und die
Strassen reinigen und an Regentagen
Botendienste tun und muss alles tun, was
unangenehm ist. Jetzt verdrängt die Ma-
schine den Menschen. Unter richtigen Zu-
ständen wird sie ihm dienen. Es ist durchaus
kein Zweifel, dass das die Zukunft der
45
Maschine ist, und ebenso wie die Bäume
wachsen, während der Landwirt schläft, so
wird die Maschine, während die Mensch-
heit sich der Freude oder edler Müsse
hingibt — Müsse, nicht Arbeit, ist das Ziel
des Menschen — oder schöne Dinge
schafft oder schöne Dinge liest, oder ein-
fach die Welt mit bewundernden und ge-
niessenden Blicken umfängt, alle notwen-
dige und unangenehme Arbeit verrichten.
Es steht so, dass die Kultur Sklaven
braucht. Darin hatten die Griechen ganz
recht. Wenn es keine Sklaven gibt, die
die widerwärtige, abstossende und lang-
weilige Arbeit verrichten, wird Kultur und
Beschaulichkeit fast unmöglich. Die Skla-
verei von Menschen ist ungerecht, unsicher
imd entsittlichend. Von mechanischen
Sklaven, von der Sklaverei der Maschine
hängt die Zukunft der Welt ab. Und wenn
gebildete und gelehrte Männer es nicht
länger nötig haben, in ein fürchterliches
Armenviertel hinabzusteigen und schlech-
ten Kakao und noch schlechtere Decken
an halbverhungerte Menschen zu verteilen,
so werden sie eben köstliche Müsse haben.
46
wundervolle und herrliche Dinge zu ihrer
eigenen und aller andern Freude zu er-
sinnen. Es wird grosse Kraftstationen für
jede Stadt und, wenn nötig, für jedes Haus
geben, und diese Kraft wird der Mensch
je nach Bedarf in Wärme, Licht oder Be-
wegung verwandeln. Ist dies utopisch?
Eine Weltkarte, in der das Land Utopia
nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick,
denn sie lässt die eine Küste aus, wo die
Menschheit ewig landen wird. Und wenn
die Menschheit da angelangt ist, hält sie
Umschau nach einem bessern Land imd
richtet seine Segel dahin. Der Fortschritt
ist die Verwirklichung von Utopien.
Ich habe also gesagt: die Gemeinschaft
sorgt mit Hilfe der Organisation der Ma-
schinenarbeit für die nützlichen Dinge, und
die schönen Dinge werden vom Indivi-
duum hergestellt. Das ist nicht bloss not-
wendig, sondern der einzig mögliche Weg,
um das eine wie das andere zu erreichen.
Ein Individuum, das Dinge für den Ge-
brauch anderer zu machen und auf ihre
Bedürfnisse und Wünsche Rücksicht zu
nehmen hat, arbeitet nicht mit Interesse
47
Und kann also in sein Werk nicht das
Beste hineinlegen, das er in sich hat.
Ueberall andrerseits, wo eine Gemein-
schaft oder eine mächtige Gesellschafts-
schicht oder irgend eine Regierung den
Versuch macht, dem Künstler vorzu-
schreiben, was er tun soll, geht die Kunst
entweder völlig zugrunde oder wird ste-
reotyp oder verfällt zu einer niedrigen und
gemeinen. Form des Handwerks. Ein
Kunstwerk ist ein einziges Ergebnis eines
einzigen Temperamentes. Seine Schönheit ent-
springt der Tatsache^ dass der Künstler ist,
was er ist. Es hat nichts mit der Tatsache
zu tun^ dass andere brauchen^ was sie
brauchen. In der Tat hört ein Künstler in
dem Augenblick, wo er den Bedürfnissen
anderer Beachtung schenkt und den Be-
darf zu befriedigen sucht, auf ein Künstler
zu sein und wird ein trauriger oder amü-
santer Handwerker, ein ehrbarer oder un-
ehrlicher Handelsmann. Er hat keinen An-
spruch mehr darauf, als Künstler zu gelten.
Die Kunst ist die intensivste Art Indi-
vidualismusy die die Welt kennt. Ich bin ge-
neigt zu sagen, sie sei die einzige wirkliche
48
Art Individualismus, die die Welt kennt.
Das Verbrechen, das unter bestimmten
Umständen den Individualismus zu erzeu-
gen scheinen kaim, muss von andern Men-
schen Kenntnis nehmen und sich um sie
kümmern. Es gehört zum Bereich des
Handehis. Aber der Künstler kann allein,
ohne sich um seine Mitmenschen zu küm-
mern imd ohne jede Einmischung etwas
Schönes gestalten; xmd wenn er es nicht
lediglich zu seiner eigenen Lust tut, ist er
überhaupt kein Künstler.
Und es ist zu beachten, dass gerade
die Tatsache, dass die Kunst eine so in-
tensive Form des Individualismus ist, das
Publikum zu dem Versuch bringt, über
sie eine Autorität auszuüben, die ebenso
unmoralisch wie lächerlich und ebenso kor-
rumpierend wie verächtlich ist. Es ist nicht
ganz seine Schuld. Das Publikum ist
immer, zu allen Zeiten, schlecht erzogen
worden. Sie verlangen fortwährend, die
Kxmst solle populär sein, solle ihrer Ge-
schmacklosigkeit gefallen, ihrer törichten
Eitelkeit schmeicheln, ihnen sagen, was
ihnen früher gesagt wurde, ihnen zeigen.
49
was sie müde sein sollten zu sehen, sie
amüsieren, wenn sie nach zu reichlichem
Essen schwermütig geworden sind, und
ihre Gedanken zerstreuen, wenn sie ihrer
eigenen Dummheit überdrüssig sind. Die
Kunst aber durfte nie populär sein wollen.
Das Publikum müsste versuchen^ künstlerisch
zu werden. Das ist ein sehr grosser Unter-
schied. Wenn man einem Forscher sagte,
die Ergebnisse seiner Experimente, und
die Schlüsse, zu denen er gelangte, müssten
dergestalt sein, dass sie die hergebrachten
populären Vorstellungen über den Gegen-
stand nicht umstürzten, oder das populäre
Vorurteil nicht verwirrten, oder die Emp-
findlichkeiten von Leuten nicht störten, die
nichts von der Wissenschaft verstehen:
wenn man einem Philosophen sagte, er
habe ein vollkommenes Recht, in den höch-
sten Sphären des Denkens zu spekulieren,
vorausgesetzt, dass er zu denselben
Schlüssen käme, wie sie bei denen in Gel-
tung sind, die überhaupt niemals in irgend
einer Sphäre gedacht haben — nun, heut-
zutage würde der Forscher und der Philo-
soph beträchtlich darüber lachen. Aber es
50
ist in der Tat nur sehr wenige Jahre her,
dass Philosophie wie Wissenschaft der
rohen Volksherrschaft und in Wirklichkeit
der Autorität unterworfen waren — ent-
weder der Autorität der in der Gemein-
schaft herrschenden allgemeinen Un-
wissenheit oder der Schreckensherrschaft
und der Machtgier einer kirchUchen oder
Regierungsgewalt. Nun sind wir zwar bis
zu sehr hohem Grade alle Versuche von
Seiten der Gemeinschaft oder der Kirche
oder der Regierung, sich in den Individua-
hsmus des spekulativen Denkens einzu-
mischen, losgeworden, aber das Unter-
fangen, sich in den Individualismus der
Phantasie und der Kunst einzumischen, ist
immer noch am Leben. Oder vielmehr:
es lebt noch sehr lebhaft : es ist aggressiv,
gewalttätig und brutal.
In England sind die Künste am besten
daran^ an denen das Publikum kein Interesse
nimmt. Die Lyrik' ist ein Beispiel für das,
was ich meine. Wir haben in England eine
Lyrik voller Schönheit haben können, weil
das Publikum sie nicht hest und daher
auch nicht beeinflusst. Das Publikum liebt
51
es, die Poeten zu beschimpfen, weil sie in-
dividuell sind; aber nachdem das erledigt
ist, lässt es sie in Ruhe. Im Fall des Ro-
mans xmd des Dramas, an welchen Künsten
das Publikum Interesse nimmt, war das
Ergebnis der Ausübung der Volksautorität
absolut lächerlich. Kein Land liefert so
jämmerlich geschriebene Belletristik, so
widerwärtige gemeine Arbeit in Roman-
form, so alberne, pöbelhafte Stücke wie
England. Es ist Notwendigkeit, dass es so
ist. Der Massstab des Volkes ist so be-
schaffen, dass kein Künstler ihm ent-
sprechen kann. Es ist beides: zu leicht
und zu schwer, ein populärer Roman-
schreiber zu sein. Es ist zu leicht, weil die
Anforderungen des Publikums, soweit
Fabel, Stil, Psychologie, Behandlung des
Lebens und der Literatur in Frage kom-
men, von der kleinsten Begabung und dem
ungebildetsten Geist erfüllt werden
köimen. Es ist zu schwer, weil der Künst-
ler, um solchen Anforderungen zu ent-
sprechen, seinem Temperament Gewalt
antun müsste, nicht um der künstlerischen
Freude am Schreiben willen arbeiten
62
dürfte, sondern zu dem 2!weck, sclileciit-
erzogene Leute zu amüsieren, imd so seine
Individualität imterdrücken, seine Kultur
vergessen, seinen Stil austilgen imd alles
Wertvolle in sich vernichten müsste. Mit
dem Drama steht es ein bisschen besser:
das Theaterpublikum liebt aflerdings das
Alltägliche, aber es liebt nicht das Lang-
weilige; und die burleske Komödie und
die Posse, die beiden populärsten Formen,
sind ausgesprochene Formen der Kunst.
Entzückende Sachen können in Form der
Burleske und der Posse geschrieben wer-
den, und bei Arbeiten dieser Art sind dem
Künstler in England grosse Freiheiten er-
laubt.» Erst wenn man zu den höheren
Formen des Dramas kommt, ist das Re-
sultat der Volksherrschaft zu sehen. Was
dem PubUkum am meisten missfällt, ist
Neuheit. Jeder Versuch, das Stoffgebiet
der Kunst zu erweitem, ist dem Publikum
äusserst zuwider; und doch häng^ Leben
und Fortschritt der Kunst in hohem Masse
von der fortwährenden Erweiterung des
Stoffgebietes ab. Dem Publikum missfällt
die Neuheit, weil es Angst davor hat. Sie
53
stellt ihm eine Art Individualismus vor,
eine Behauptung von seiten des Künstlers,
dass er seinen eigenen Stoff wählt und ihn
behandelt, wie es ihn gut dünkt. Das
Publikum hat mit seiner Haltung ganz
recht. Die Kunst ist Individualismus, und
der IndividuaUsmus ist eine zerstörende
und zersetzende Kraft. Darin liegt seine
ungeheure Bedeutung. Denn was er zu
zerstören sucht, ist die Eintönigkeit des
Typus, die Sklaverei der Gewohnheit, die
Tyrannei der Sitte und die Erniedrigung
des Menschen auf die Stufe einer Ma-
schine. In der Kunst lässt sich das Publi-
kum gefallen, was gewesen ist, weil sie
es nicht ändern können, nicht weil sie Ge-
schmack daran finden. Sie verschlucken
ihre Klassiker mit Haut und Haar und sie
schmecken ihnen nie. Sie ertragen sie als
das Unvermeidliche, und da sie sie nicht
vernichten können, schwatzen sie über sie
und ziehen wichtige Gesichter dazu. Son-
derbar genug, oder auch nicht sonderbar
— je nachdem man einen Standpunkt ein-
nimmt — diese Anerkennung der Klassi-
ker tut grossen Schaden. Die unkritische
54
Bewunderung der Bibel und Shakespeares
in England ist ein Beispiel für das, was
ich meine. Bei der Bibel übt die kirchliche
Autorität einen Einfluss aus, so dass ich
dabei nicht zu verweilen brauche.
Aber im Fall Shakespeares ist es ganz
offenbar, dass das Publikum in Wirklich-
keit weder die Schönheiten noch die
Schwächen seiner Stücke sieht. Wenn sie
die Schönheiten sähen, würden sie sich
der Weiterentwicklung des Dramas nicht
entgegenstellen; und wenn sie die
Schwächen sähen, würden sie sich eben-
falls der Weiterentwicklung des Dramas
nicht entgegenstellen. Tatsächlich benatzt
das Publikum die Klassiker eines Landes als
Mittel, den Fortschritt der Kunst zu hindern,
Sie degradieren die Klassiker zu Autori-
täten. Sie benutzten sie als Knüppel, um
den freien Ausdruck der Schönheit in
neuen Formen zu hindern. Sie fragen
jeden Schriftsteller, warum er nicht wie
der oder jener schreibt, jeden Maler,
warum er nicht wie der oder jener malt,
imd vergessen ganz die Tatsache, dass
jeder, der etwas der Art täte, aufhörte, ein
55
Künstler zu sein. Eine frische Gestalt der
Schönheit ist ihnen durchaus zuwider, und
jedesmal, wenn sie erscheint, v/erden sie
so aufgebracht und bestürzt, dass sie
immer dieselben zwei Arten sich auszu-
drücken haben — die eine ist, das Kunst-
werk sei heillos imverständlich, und die
andere, das Kunstwerk sei heillos unmora-
lisch. Was sie mit diesen Worten meinen,
scheint mir folgendes zu sein. Wenn sie
sagen, ein Werk sei heillos unverständlich,
meinen sie, der Künstler habe etwas
Schönes gesagt oder vollbracht, das neu
ist; wenn sie ein Werk als heillos unmo-
ralisch bezeichnen, meinen sie, der Künst-
ler habe etwas Schönes gesagt oder voll-
bracht, das wahr ist. Der erste Aus-
druck bezieht sich auf den Stil, der zweite
auf den Gegenstand. Aber gewöhnlich ge-
brauchen sie die Worte ganz unbestimmt,
wie ein gewöhnlicher Pöbel fertige
Pflastersteine benutzt. Es gibt zum Bei-
spiel nicht einen einzigen wirklichen Dich-
ter oder Prosaisten in diesem Jahrhundert,
dem das britische Publikum nicht feierlich
das Diplom für Unmoral überreicht hat.
56
und diese Diplome haben in der Tat in
England die Bedeutung, die in Frankreich
die formelle Aufnahme in die Akademie
hat, so dass gottlob die Einführung
einer solchen Institution in England
ganz überflüssig ist. Natürlich ist
das Publikum sehr wahllos in seiner
Anwendung des Wortes. Dass sie
Wordsworth einen unmoralischen Dichter
nannten, war nur zu erwarten. Wordsworth
war ein Dichter. Aber dass sie Charles
Kingsley einen unmoralischen Roman-
schreiber genannt haben, ist erstaunlich.
Kingsleys Prosa war nicht sonderlich gut.
Nun, das Wort ist da, und sie benutzen es,
so gut sie können. Ein Künstler lässt sich
natürlich dadurch nicht beirren. Der
wahre Künstler ist ein Mensch, der durch-
aus an sich glaubt, weil er durchaus er
selbst ist. Aber ich kann mir vorstellen,
dass ein Künstler, wenn er in England ein
Kunstwerk veröffentlicht hätte, das gleich
bei seinem Erscheinen vom Publikum ver-
mittelst der Presse als ganz verständliches
und hochmoralisches Werk anerkannt
worden wäre, anfinge sich ernsthaft zu
57
fragen, ob er bei seiner Schöpfung wirklich
überhaupt er selbst gewesen sei und ob
also das Werk nicht ganz seiner unwürdig
und entweder durchaus zweiten Rangs
oder ganz und gar ohne künstlerischen
Wert sei.
Zwei andere Adjektive sind übrigens in
den paar letzten Jahren dem sehr knappen
Schimpflexikon zugefügt worden, das dem
Publikum gegen die Kunst zur Verfügung
steht. Das eine ist das Wort „ungesund**,
das andere das Wort „exotisch**. Dies
letztere drückt nur die Wut des vergäng-
lichen Pilzes gegen die unsterbliche, be-
rauschend schöne und unbeschreiblich
liebliche Orchidee aus. Es ist eine Huldi-
gung, aber eine Huldigung ohne be-
sondere Bedeutung. Das Wort „unge-
sund" jedoch lässt eine Untersuchung zu.
Es ist ein recht interessantes Wort. Es ist
in der Tat so interessant, dass die Leute,
die es anwenden, nicht wissen, was es be-
deutet.
Was bedeutet es? Was ist ein ge-
sundes, und was ein ungesundes Kunst-
werk? Alle Ausdrücke, die man auf ein
58
Kunstwerk anwendet, vorausgesetzt, dass
man sie vernünftig anwendet, beziehen sich
entweder auf seinen Stil, oder auf seinen
Gegenstand oder auf beide zugleich. Hin-
sichtlich des Stils ist ein Kunstwerk ge-
sund, wenn sein Stil die Schönheit des
Materials, das es verwendet, erkennen
lässt, bestehe es nun aus Worten oder aus
Bronze, aus Farben oder aus Elfenbein,
und wenn es diese Schönheit als Mittel
zur Erzeugung der ästhetischen Wirkung
benutzt. Hinsichtlich des Gegenstandes ist
ein Kunstwerk gesund, wenn die Wahl
dieses Gegenstandes vom Temperament
des Künstlers bedingt ist und unmittelbar
aus ihm entspringt. Kurz, ein Kunstwerk
ist gesund, wenn es sowohl Vollendung wie
Persönlichkeit hat. Natürlich können
Form und Inhalt bei einem Kunstwerke
nicht getrennt werden ; sie sind immer eins.
Aber für die Zwecke der Untersuchung
können wir für einen Augenblick die Unge-
teiltheit des ästhetischen Eindrucks über-
sehen und sie also im Verstände getrennt
betrachten. Ungesund ist andrerseits ein
Kunstwerk, wenn sein Stil gewöhnlich, her-
59
gebraclit xind vulgär ist, und wenn sein
Gegenstand sorgsam ausgewählt ist, nicht
weil der Künstler seine Freude daran hat,
sondern weil er denkt, das Publikum werde
ihn dafür bezahlen. In der Tat ist der po-
puläre Roman^ den das Publikum gesund
nennt^ immer ein durchaus ungesundes Pro-
dukt; und was das Publikum einen unge-
sunden Roman nennt^ ist immer ein schönes
und gesundes Kunstwerk.
Vielleicht jedoch habe ich dem Publi-
kum imrecht getan, als ich seinen Wort-
schatz auf Ausdrücke wie „unmoralisch**,
„xmverständlich**, „exotisch** und „unge-
sund** beschränkte. Es gibt noch ein ande-
res Wort, das sie anwenden. Es lautet:
„dekadent.** Sie wenden es nicht oft an.
Der Sinn des Wortes ist so deutlich, dass
sie sich scheuen, es oft zu gebrauchen.
Aber inmierhin gebrauchen sie es manch-
mal, und hie und da trifft man es in
den Tageszeitimgen. Es ist natürlich in
Anwendimg auf ein Kunstwerk ein lächer-
liches Wort. Denn was ist Dekadenz an-
ders als eine Seelenstimmung oder ein Ge-
dankengang, den man nicht ausdrücken
60
kann? Die Publikumsmenschen sind alle
dekadent, denn das Publikum kann für
nichts einen Ausdruck finden. Der Künstler
ist nie dekadent. Er drückt alles aus. Er
steht jenseits seines Gegenstandes und
bringt durch ihn unvergleichliche und
künstlerische Wirkungen hervor. Einen
Künstler dekadent zu nennen, weil er die
Dekadenz als Gegenstand behandelt, ist
ebenso albern, als wenn einer Shakespeare
verrückt nennen wollte, weil er den „König
Lear** geschrieben hat.
Im ganzen gewinnt der Künstler in
England etwas, wenn er angegriffen wird.
Seine Individualität wird intensiver. Er
wird vollständiger er selbst. Natürlich
sind die Angriffe sehr grob, sehr unver-
schämt und sehr verächtHch. Aber
schliesslich erwartet kein Künstler vom
vulgären Geist Grazie und ebensowenig
Stil vom Vorstadtintellekt. Gemeinheit
und Dunmiheit sind im Leben unserer
Zeit zwei sehr lebendige Erscheinungen.
Man bedauert sie natürlich. Aber sie sind
einmal da. Sie sind ein Gegenstand der
Beobachtung, wie andere Dinge auch.
61
Und es ist nur loyal, wenn hinsichtlich der
Journalisten unserer Zeit konstatiert wird,
dass sie einen Künstler immer unter vier
Augen um Entschuldigimg für das bitten,
was sie öffentlich gegen ihn geschrieben
haben.
Ich brauche kaum zu sagen, dass ich
mich nicht einen Augenblick lang darüber
beklage, dass das Publikum und die öffent-
liche Presse diese Worte missbrauchen.
Ich sehe nicht ein, wie sie bei ihrem
Mangel an Verständnis für das, was die
Kunst ist, sich irgendwie richtig aus-
drücken könnten. Ich stelle bloss den Miss-
brauch fest, und die Erklärung für seinen
Ursprung und für die Bedeutung der
ganzen Erscheinung ist sehr einfach. Sie
geht auf den barbarischen Begriff der
Autorität zurück. Sie geht zurück auf die
natürUche Unfähigkeit einer Gemein-
schaft, die durch die autoritäre Herrschaft
verderbt ist, den Individualismus zu ver-
stehen oder zu schätzen. Mit einem Wort,
der Missbrauch kommt von dem unge-
heuerlichen und unwissenden Gebilde, das
man öffentliche Meinung nennt, die
62
schlimm und wohlwollend ist, wenn sie
den Versuch macht, das Handeln der Men-
schen zu beherrschen, die aber infam und
übelwollend wird, wenn sie versucht, in
die Sphäre des Geistes oder der Kunst
überzugreifen.
Es ist in der Tat viel mehr zugunsten
der physischen Gewalt des Volkes zu sagen
als zugunsten seiner Meinung. Die erstere
kann gut und schön sein. Die letztere
muss töricht sein. Man hat oft gesagt,
mit Gewalt lasse sich nichts beweisen. Das
hängt jedoch ganz davon ab, was man be-
weisen will. Viele der wichtigsten Pro-
bleme der paar letzten Jahrhunderte, wie
die Frage der Fortdauer des persönlichen
Regiments in England oder des Feudalis-
mus in Frankreich, sind ganz und gar ver-
mittelst der physischen Gewalt gelöst
worden. Gerade die Gewalttätigkeit einer
Revolution ist es, die das Volk einen Mo-
ment lang grossartig und glänzend er-
scheinen lässt. Es war ein verhängnis-
voller Tag, als das Volk entdeckte, dass
die Feder mächtiger als der Pflasterstein
ist. Nun suchten imd fanden sie gleich
68
den Jourhalisten, bildeten ihn aus und
machten ihn zu ihrem eifrigen und gut be-
zahlten Diener. Es ist für beide Teile sehr
zu bedauern. Hinter der Barrikade kann
viel Edles und Heroisches stehen. Aber
was steht hinter dem Leitartikel als Vor-
urteil, Dummheit, Heuchelei und Ge-
schwätz ? Und wenn diese vier zusammen-
treffen, machen sie eine fürchterliche
Macht aus und bilden die neue autoritäre
Gewalt.
In früheren Zeiten hatten die Men-
schen die Folter. Jetzt haben sie die Presse.
Gewiss, das ist ein Fortschritt. Aber es
ist doch noch sehr schlimm xmd demorali-
sierend. Jemand — war es Burke ? — hat
den Journalismus den vierten Stand ge-
nannt. Das war seinerzeit ohne Frage
wahr. Aber in unserer Zeit ist er tatsäch-
lich der einzige Stand. Er hat die andern
drei aufgefressen. Der weltliche Adel sagt
nichts, die Bischöfe haben nichts zu sagen,
und das Haus der Gemeinen hat nichts zu
sagen und sagt es. Der Journalismus be-
herrscht uns. In Amerika ist der Präsi-
dent vier Jahre am Regiment, und der
64
Journalismus herrscht für immer und ewig.
Zum Glück hat in Amerika der Journalis-
mus seine Herrschaft bis zur äussersten
Roheit imd Brutalität getrieben. Als natür-
liche Folge hat er angefangen, einen Geist
der Auflehnung hervorzurufen. Man lacht
über ihn oder wendet sich mit Ekel ab,
je nach dem Temperament. Aber er ist
nicht mehr die tatsächliche Macht, die er
war. Man ninmit ihn nicht ernst. Bei uns
spielt der Journalismus, da er, von einigen
bekannten Fällen abgesehen, nicht solche
Exzesse der Gemeinheit begangen hat,
noch eine grosse Rolle imd ist eine tat-
sächlich bedeutende Macht. Die Tyrannei,
die er über das Privatleben der Menschen
ausüben möchte, scheint mir ganz ausser-
ordentlich zu sein. Sie kommt daher^ dass
das Publikum eine unersättliche Neugier hat,
alles zu wissen, es sei denn das Wissenswerte.
Der Journalismus, dem diese Tatsache be-
kannt ist, befriedigt die Nachfrage, wie
es der Kaufmann eben zu tun pflegt. In
früheren Jahrhunderten nagelte das Publi-
kum den Journalisten die Ohren an die
Pumpe. Das war recht hässlich. In
65
unserm Jahrhundert nagehi die Journa-
listen ihr eigenes Ohr ans Schlüsselloch.
Das ist weit übler. Und was den Unfug
verschlimmert, ist die Tatsache, dass die
Journalisten, die am meisten Tadel ver-
dienen, nicht die Spassmacher sind, die für
die Klatschblätter schreiben. Am schäd-
lichsten sind die ernsthaften und gedanken-
schweren Journalisten, die feierlich, wie es
jetzt ihre Gepflogenheit ist, einen Vorfall
aus dem Privatleben eines grossen Staats-
mannes, eines Mannes, der der Träger eines
politischen Gedankens und der Schöpfer
einer politischen Macht ist, vor die Augen
des Publikums zerren und es einladen, den
Vorfall zu erörtern, in der Sache seine Auto-
rität geltend zu machen, seine Ansicht zu
äussern, und nicht bloss zu äussern, son-
dern sie auch in Handlung umzusetzen,
dem Mann gegenüber in allen anderen
Sachen, und nicht nur ihm, auch seiner
Partei, seinem Lande gegenüber den Dik-
tator zu spielen, kurz, sich lächerlich,
lästig und schädlich zu machen. Aus dem
Privatleben von Männern und Frauen
sollte dem Publikum nichts mitgeteilt
66
werden. Es geht das Publikum durchaus
nichts an. In Frankreich sieht es um diese
Dinge besser aus. Da ist es nicht statthaft,
dass die Einzelheiten der Verhandlimgen
in Ehescheidungsprozessen zum Vergnü-
gen oder zur Lästersucht des Publikums
veröffentlicht werden. Das Publikum darf
nichts weiter erfahren, als dass die Schei-
dxmg auf Grund des Antrages des einen
oder des anderen der beiden Gatten oder
beider ausgesprochen wurde. In Frank-
reich wird tatsächlich der Journalist be-
schränkt und dem Künstler fast voll-
kommene Freiheit gewährt. In England
hat der Journalist absolute Freiheit^ und der
Künstler wird völlig beschränkt. Die eng-
lische öffentliche Meinung, das muss ge-
sagt werden, sucht den Mann, der tatsäch-
lich Schönes erzeugt, zu fesseln und zu
hindern und zu verkrüppeln, und zwingt
den Journalisten Dinge breitzutreten, die
hässlich und widerwärtig und empörend
sind, so dass wir die ernsthaftesten Jour-
nalisten der Welt und die unanständigsten
Zeitungen haben. Es ist keine Uebertrei-
bung, von Zwang zu sprechen. Es gibt
67
möglicherweise einige Journalisten, denen
die Veröffentlichung hässlicher Dinge
Vergnügen macht, oder die so arm sind,
dass sie auf der Lauer nach Skandalen
liegen, die eine Art dauernde Einkom-
mensgrundlage bilden. Aber es gibt nach
meiner Ueberzeugung andere Journalisten,
gebildete imd wohlerzogene Männer,
denen die Veröffentlichimg dieser Dinge
wirklich zuwider ist, die wissen, dass es
imrecht ist, es zu tun, und die es nur tim,
weil die imgesunden Verhältnisse, unter
denen sie ihrer Beschäftigung nachgehen,
sie zwingen, dem Publikum das zu liefern,
was das Publikum haben will, und mit
anderen Journalisten zu wetteifern, um
dem rohen Appetit der Leute möglichst
viel imd möglichst Starkes zu liefern. Es
ist eine sehr entwürdigende Stellung für
jeden gebildeten Menschen, und ich zweifle
nicht, dass die meisten es lebhaft emp-
finden.
Wir wollen indessen diese wirklich
schmutzige Seite der Sache verlassen und
zu der Frage der Volksherrschaft in
Sachen der Kxmst zurückkehren, worunter
68
ich die öffentliche Meinung verstehe, die
dem Künstler die Form vorschreibt, die
er anwenden soll, und die Art und Weise,
wie er es tun soll, und das Material, mit
dem er arbeiten soll. Ich habe gesagt, dass
die Künste in England am besten daran
sind, an denen das Publikum kein Inter-
esse nimmt. Am Drama jedoch nimmt es
Interesse, und da in den letzten zehn oder
fünfzehn Jahren im Drama gewisse Fort-
schritte erreicht worden sind, ist es wich-
tig, festzustellen, dass dieser Fortschritt
ganz und gar einigen individuellen Künst-
lern zu verdanken ist, die es ablehnten, die
Geschmacklosigkeit der Menge zu ihrer
Norm zu machen und die Kunst als blosse
Sache von Angebot und Nachfrage zu be-
trachten. Mit seiner glänzenden und leben-
digen Persönlichkeit, mit einem Stil, der
tatsächlich farbenprächtig ist, mit seiner
ungewöhnlichen Macht nicht zu blosser
Nachahmimg, sondern zu phantasievoller
imd geistesstarker Schöpfung hätte Herr
Irving, wenn sein einziger Zweck gewesen
wäre, dem Publikum zu Willen zu sein,
die gemeinsten Stücke in der gemeinsten
69
Manier spielen können und hätte dabei
soviel Erfolg und Geld eingeheimst, als
jemand irgend verlangen kann. Aber das
war nicht sein Zweck. Sein Zweck war,
seine eigene Vollkommenheit als Künst-
ler imter bestimmten Bedingungen und in
einer bestimmten Kimstform zu verwirk-
lichen. Zuerst wandte er sich an die weni-
gen: jetzt hat er die vielen erzogen. Er
hat im Publikum Geschmack und Tempe-
rament gebildet. Das Publikum würdigt
seinen künstlerischen Erfolg ungemein.
Ich frage mich indessen oft, ob das Publi-
kum es weiss, dass dieser Erfolg lediglich
der Tatsache zu verdanken ist, dass er
nicht ihren Massstab anlegte, sondern
seinen eigenen durchsetzte. Mit ihrem
Massstab wäre das Lyceum-Theater eine
Bude zweiten Ranges geworden, wie es
einige populäre Theater in London zur
Zeit sind. Ob sie es wissen oder nicht,
es bleibt jedenfalls Tatsache, dass bis zu
einem gewissen Grad im Publikum Ge-
schmack und Temperament ausgebildet
worden sind und dass das Publikum die
Anlage hat, diese Eigenschaften aus sich
70
zu entwickeln. Das Problem Ist also:
warum bekommt das Publikum nicht mehr
Kultiu*? Es hat die Anlage. Was steht
im Wege?
Was im Wege steht, noch einmal sei
es gesagt, ist ihr Verlangen, über Künst-
ler und Kunstwerke eine autoritäre Gewalt
auszuüben. In manche Theater, wie das
Lyceum- und das Haymarket-Theater,
scheint das Publikum in geeigneter Ver-
fassimg zu kommen. In diesen beiden
Theatern hat es individuelle Künstler ge-
geben, denen es gelungen ist, in ihrem
Zuhörerkreis — jedes Londoner Theater
hat seinen eigenen Zuhörerkreis — das
Temperament zu erzeugen, an das die
Kunst sich wendet. Was für ein Tempera-
ment ist das nun ? Es ist das Temperament
der Empfänglichkeit. Das ist alles.
Wenn jemand an ein Kunstwerk mit
dem Verlangen herantritt, irgend eine
autoritäre Gewalt darüber oder über den
Künstler auszuüben, so ist er von einem
Geist besessen, der ihn unfähig macht,
überhaupt irgend welchen künstlerischen
Eindruck zu empfangen. Das Kunstwerk
71
muss den Betrachter überwältigen: der ße-
trachter darf nicht das Kunstwerk überwäl-
tigen. Der Betrachter muss empfänglich
sein. Er muss das Instrument sein, auf
dem der Meister spielen soll. Und je voll-
ständiger er seine eigenen albernen An-
sichten, seine eigenen törichten Vorurteile,
seine eigenen dunmien Ideen über das,
was die Kunst sein soll und nicht sein
soll, unterdrücken kann, um so geeigneter
ist er, das Kimstwerk zu verstehen und zu
würdigen. Das ist natürlich im Fall der
Männer und Frauen, die das gewöhnliche
Theaterpublikum bilden, ganz selbstver-
ständlich. Aber es gilt ebensosehr für die
sogenannten Gebildeten. Denn die Ideen
eines Gebildeten über die Kunst sind natür-
lich aus dem genommen, was die Kunst
gewesen ist, wohingegen das neue Kunst-
werk dadurch schön ist, dass es ist, was
die Kunst nie gewesen ist, und wer es mit
dem Massstab des Vergangenen misst,
legt einen Massstab an, auf dessen Ueber-
windung gerade seine Vollkommenheit be-
ruht. Ein Temperament, das die Gabe hat,
vermittelst der Phantasie und im Reiche
72
der Phantasie neue und schone EindrücKe
aufzunehmen, ist das einzige Tempera-
ment, das ein Kunstwerk würdigen kann.
Und wenn dies für den Fall der Würdi-
gung der Skulptur tmd Malerei gilt, so
gilt es noch mehr für die Würdigung
solcher Künste wie das Drama. Denn ein
Gemälde oder eine Statue liegen nicht in
Krieg mit der Zeit. Das Nacheinander der
Zeit spielt bei ihnen keine Rolle. In einem
Moment kann ihre Einheit erfasst werden.
Mit der Literatur steht es anders. Es ist Zeit
erforderlich, bevor die Einheit der Wir-
kmig erreicht ist. Und so kann im Drama
im ersten Akt des Stückes etwas vorfallen,
dessen wahre künstlerische Bedeutung
dem Zuschauer erst im dritten oder vierten
Akt aufgeht. Soll da der alberne Kerl
ärgerlich werden und schimpfen und das
Stück stören und die Künstler belästigen ?
Nein. Der ehrenwerte Mann soll ruhig
sitzen und die köstlichen Gefühle des
Staunens, der Erwartung und der Span-
nung in sich erfahren. Er soll nicht ins
Theater gehen, um seine triviale Laune zu
verderben. Er soll ins Theater gehen, um
73
eine küastlerische Stimmung zu verwirk-
lichen. Er soll ins Theater gehen, um
eine künstlerische Stimmung, ein künst-
lerisches Temperament zu gewinnen.
Er ist nicht der Richter des Kunstwerks.
Er ist einer, der zur Betrachtung des
Kunstwerks zugelassen ist und dem es,
wenn das Werk schön ist, vergönnt
ist, in seiner Betrachtung all den Ich-
wahn, der ihn quält, zu vergessen —
den Ichwahn seiner Unwissenheit und
den Ichwahn seiner Bildung. Diese Be-
sonderheit des Dramas ist, glaube ich,
noch kaum genug beachtet worden. Ich
kann mir wohl vorstellen, dass, wenn
„Macbeth** zum erstenmal vor einem mo-
dernen Londoner Publikum, gespielt würde,
viele Anwesende die Einführung der
Hexen im ersten Akt mit ihrer grotesken
Redeweise und ihren lächerlichen Worten
streng und entschieden tadeln würden.
Aber wenn das Stück vorbei ist, dann
merkt man, dass das Gelächter der Hexen
in „Macbeth" so schrecklich ist wie das
Gelächter des Wahnsinns in „Lear" xmd
schrecklicher als das Gelächter Jagos in der
74
Tragödie des Mohren. Kein Kunstbetrach-
ter braucht die Stimmung der Empfäng-
lichkeit vollendeter als der Zuschauer im
Schauspiel. In dem Augenblick, wo er
Autorität auszuüben sucht, wird er der er-
klärte Feind der Kunst und seiner selbst.
Die Kunst macht sich nichts daraus. Er
aber leidet darunter.
Mit dem Roman steht es ebenso.
Die Autorität der Menge und die Aner-
kennung dieser Autorität sind verhängnis-
voll. Thackerays „Esmond** ist ein schönes
Kunstwerk, weil er es zu seiner eigenen
Lust schrieb. In seinen anderen Romanen,
in „Pendennis**, in „Philip" und sogar
manchmal in „Vanity fair** denkt er zu
sehr ans Publikum und verdirbt sein Werk,
indem er direkt an die Sympathien des
Publikums appelliert, oder sich direkt über
es lustig macht. Ein wahrer Künstler
nimmt keinerlei Notiz vom Publikum, Das
Publikum existiert nicht für ihn. Er hat
keinen Mohnkuchen oder Honigkuchen,
um damit dem Ungeheuer Schlaf oder an-
genehme Stimmimg zu geben. Er über-
lässt das dem Verfasser populärer Ro-
75
maiie. Einen Dichter unvergleichliche^
Romane haben wir jetzt in England:
George Meredith. Frankreich hat grössere
Künstler, aber Frankreich hat keinen,
dessen Lebensanschauung so umfassend,
so mannigfaltig, so überwältigend wahr
ist. Es gibt Erzähler in Russland, deren
Sinn für die Bedeutung von Qual und
Leiden für die erzählende Dichtung leb-
hafter ausgebildet ist. Aber er ist der
Philosoph der Romandichtung. Seine Ge-
stalten leben nicht nur, sie leben im Geiste.
Man kann sie von imendlich vielen Stand-
punkten aus sehen. Sie sind suggestiv.
Es ist Seele in ihnen und um sie. Sie sind
aufschliessend imd symbolisch. Und der
sie geschaffen hat, diese wimdervollen, be-
weglichen Gestalten, schuf sie zu seiner
eigenen Lust und hat das Publikum nie
gefragt, was sie haben wollten, hat dem
PubUkum nie erlaubt, ihm Vorschriften zu
machen oder ihn irgendwie zu beein-
flussen, sondern er hat seine eigene Per-
sönlichkeit immer iatensiver herausgebil-
det und hat sein eigenes individuelles
Werk geschaffen. Zuerst kam niemand zu
76
ihm. Das machte nichts aus. Dann Kamen
die wenigen. Das änderte ihn nicht. Jetzt
sind die vielen gekonmien. Er ist derselbe
geblieben. Er ist ein unvergleichlicher
Dichter.
Mit den dekorativen Künsten steht es
nicht anders. Das Publikum klammerte
sich mit wirklich pathetischer Zähigkeit
an das, was ich für die unmittelbaren
Ueberlieferungen der grossen Weltaus-
stellung internationaler Gewöhnlichkeit
halte, an Ueberlieferungen, die so schau-
derhaft waren, dass die Häuser, in denen
die Leute lebten, nur für Blinde zum Woh-
nen geeignet waren. Man fing an, schöne
Dinge zu machen, schöne Farben kamen
aus den Händen des Färbers, schöne
Muster aus dem Hirn des Künstlers, und
der Nutzen schöner Dinge und ihr Wert
und ihre Bedeutung wurden dargetan. Das
Publikum war wirklich sehr aufgebracht.
Es wurde wütend. Es sagte Albernheiten.
Niemand kehrte sich daran. Niemand war
weniger wert. Niemand fügte sich der
Autorität der öffentlichen Meinung. Und
jetzt ist es fast unmöglich, in ein moder-
77
nes Haus zu kommen, ohne an irgend
einer Stelle den guten Geschmack und den
Wert schönen Wohnens anerkannt zu
sehen; überall finden sich Anzeichen, dass
man weiss, was Schönheit ist. In der Tat
sind heutzutage in der Regel die Wohnun-
gen der Leute ganz reizend. Die Leute
sind bis zu sehr hohem Grade zivilisiert
worden. Loyalerweise muss indessen fest-
gestellt werden, dass der ausserordent-
liche Erfolg der Revolution in der Woh-
nungsdekoration, der Möblierung und der-
gleichen nicht in Wirklichkeit dem Um-
stand zu verdanken ist, dass die Mehrheit
des Publikums einen sehr feinen Ge-
schmack in diesen Dingen bekommen hat.
Er war hauptsächlich dem Umstand zu
verdanken, dass die Handwerker von
solcher Freude erfüllt wurden, schöne
Dinge machen zu können, und dass ein
so lebhaftes Gefühl von der Hässlich-
keit und Gemeinheit dessen in ihnen wach
wurde, was das Publikum früher verlangt
hatte, dass sie das Publikum mit seinem
Geschmack einfach aushungerten. Es
wäre zurzeit ganz unmöglich, ein Zimmer
78
so einzurichten, wie es vor einigen Jahren
noch eingerichtet wurde, ohne dass man
jedes Stück auf einer Versteigerung von
alten Möbeln erstände, die aus einem
Logierhaus dritten Ranges stammen. Die
Sachen werden nicht mehr gemacht. So
sehr sie sich dagegen stemmen, die Leute
müssen heute schöne Dinge uni sich haben.
Zu ihrem Glück ging ihr Anspruch auf
Autorität in diesen Kunstdingen völlig in
die Brüche.
Es ist also offenbar, dass alle Auto-
rität in diesen Dingen von Uebel ist. Die
Leute fragen manchmal, unter welcher
Regierungsform der Künstler am besten
lebe. Auf diese Frage gibt es nur eine Ant-
wort. Die Regierungsform^ die für den Künst-
ler am geeignetsten ist, ist: überhaupt keine
Regierung. Autoritäre Gewalt über ihn und
seine Kunst ist lächerlich. Es ist behaup-
tet worden, in Despotien hätten Künstler
schöne Werke geschaffen. Das stimmt so
nicht ganz. Künstler haben Despoten be-
sucht, nicht als Untertanen, die tyranni-
siert wurden, sondern als wandernde Wun-
dermänner, als Vagabunden mit bezau-
79
bemder Persönlichkeit, die man bewirtete
und beschenkte und in Frieden leben und
schaffen liess. Es ist das zugunsten des
Despoten zu sagen, dass er, der ein Indi-
viduum ist, Kultur haben kann, während
der Pöbel, der ein Ungeheuer ist, keine
hat. Wer Kaiser oder König ist, kann sich
bücken, um einem Maler den Pinsel auf-
zuheben, aber wenn die Demokratie sich
bückt, geschieht es nur, um mit Schmutz
zu werfen. Und dabei braucht sich doch
die Demokratie nicht so tief hinunterzu-
bücken wie der Kaiser. Wenn sie mit
Schmutz werfen wollen, brauchen sie sich
sogar gar nicht zu bücken. Aber es ist
nicht nötig, den Monarchen vom Pöbel
zu trennen, alle autoritäre Gewalt ist gleich
schlecht.
Es gibt drei Arten von Despoten.
Erstens den Despoten, der die Gewalt über
den Körper ausübt. Zweitens den Des-
poten, der die Gewalt über die Seele aus-
übt. Drittens den Despoten, der zugleich
über Seele und Leib die Gewalt ausübt.
Der erste heisst der Fürst. Der zweite
beisst der Papst. Der dritte heisst das
80
Volk. Der Fürst kann gebildet sein. Viele
Fürsten waren es. Doch der Fürst ist ge-
fährlich. Man muss an Dante auf dem
bittem Fest von Verona denken, an Tasso
in der Tobsuchtszelle Ferraras. Es ist für
den Künstler besser, nicht mit Fürsten zu
leben. Der Papst kann gebildet sein. Viele
Päpste sind es gewesen; die schlechten
Päpste sind es gewesen. Die schlechten
Päpste liebten die Schönheit fast so leiden-
schaftlich, ja sogar mit derselben Leiden-
schaft wie die guten Päpste das Denken
hassten. Den schlechten Päpsten dankt die
Menschheit vieles. Die guten Päpste haben
eine furchtbare Schuld gegen die Mensch-
heit auf dem Gewissen. Obwohl der Va-
tikan die Rhetorik seiner Donner behalten
und die Rute seiner Blitze verloren hat,
ist es doch besser für Künstler, nicht mit
Päpsten zu leben. Es war ein Papst, der
von Cellini zu einem Kardinalskonklave
sagte, das gemeine Recht und die gemeine
Autorität seien für Männer, wie er, nicht
gemacht; aber es war auch ein Papst, der
Cellini ins Gefängnis warf und ihn darin
liess, bis sein Geist in Raserei verfiel und
81
er unwirkliche Visionen hatte und die gol-
dene Sonne in sein Gemach treten sah
und sich so in sie verliebte, dass er zu
entfliehen suchte und von Turm zu Turm
kletterte imd bei Sonnenaufgang schwind-
lig hinabfiel und schwer zu Schaden kam.
Ein Winzer fand ihn, bedeckte ihn mit
Weinblättem und fuhr ihn in einem Karren
zu einem, der schöne Dinge liebte und ihn
pflegte. Päpste sind gefährlich. Und das
Volk — was ist von ihm xmd seiner Herr-
schaft zu sagen? Vielleicht hat man von
ihm und seiner Herrschaft genug ge-
sprochen. Seine Herrschaft ist ein Windes,
taubes, scheussliches, groteskes, tragi-
sches, spasshaf tes, ernsthaftes und schmutz-
iges Ding. Es ist für den Künstler un-
möglich, mit dem Volke zu leben. Alle
Despoten bestechen. Das Volk besticht und
ist brutal. Wer hat sie zur Herrschaft be-
rufen? Sie waren bestimmt: zu leben, zu
lauschen, zu lieben. Ihnen ist grosses Un-
recht geschehen. Sie haben sich Schaden
getan durch Nachahmung Geringerer. Sie
haben das Szepter des Fürsten ergriffen.
Wie sollten sie es handhaben können ? Sie
82
haben sich die dreifache Krone des Pap-
stes aufgesetzt. V/ie sollten sie die Last
tragen können? Sie sind wie ein Clown
mit gebrochenem Herzen. Sie sind ein
Priester mit noch ungeborener Seele. Alle,
die die Schönheit lieben, mögen Mitleid
mit ihnen haben. Wenn sie schon die
Schönheit nicht lieben, mögen sie doch
selbst Mitleid mit sich haben. Wer lehrte
sie das Handwerk der Tyrannen?
Es gibt noch viele Dinge, die zu sagen
wären. Man könnte zeigen, wie die Re-
naissance gross war, weil sie kein soziales
Problem zu lösen suchte und sich nicht
mit solchen Dingen abgab, aber dem In-
dividuum erlaubte, sich frei, schön und
natürlich zu entfalten, und so grosse und
individuelle Menschen hatte. Man könnte
zeigen, wie Ludwig XIV. dadiurch, dass er
den modernen Staat schuf, den Individua-
lismus des Künstlers zerstörte und be-
wirkte, dass die Dinge in der Eintönig-
keit ihrer Wiederholung schauderhaft
wurden und verächtlich in ihrer Fügsam-
keit unter die Regel, und im ganzen Frank-
reich die entzückenden Freiheiten des Aus-
83
6*
drucks zerstörte, die das Ueberlieferte in
Schönheit neu gemacht und neue Formen
in Einklang mit der Antike geschaffen
hatten. Aber das Vergangene ist ohne
Bedeutung. Das Gegenwärtige ist ohne
Bedeutung. Wir haben es mit der Zukunft
zu tim. Denn die Vergangenheit ist, was
der Mensch nicht hätte sein sollen. Die
Gegenwart ist, was der Mensch nicht sein
sollte. Die Zukunft ist, was Künstler sind.
Es wird natürlich gesagt werden, ein
solcher Plan, wie er hier vorgebracht ist,
sei ganz impraktisch und gehe gegen die
Natur des Menschen. Das ist völlig wahr.
Er ist unpraktisch und er geht gegen die
Natur des Menschen. Darum verdient er
es, durchgeführt zu werden, und darum
schlägt man ihn vor. Denn was ist ein
praktischer Plan? Ein praktischer Plan ist
entweder ein Plan, der bereits besteht, oder
ein Plan, der anter den bestehenden Verhält-
nissen durchgeführt werden könnte. Aber ge-
rade gegen die bestehenden Verhältnisse
wendet man sich; und jeder Plan, der sich
84
in diese Verhältnisse fügen könnte, ist
schlecht und töricht. Mit den Verhält-
nissen wird aufgeräumt werden, und die
Natur des Menschen wird sich ändern.
Das einzige, was man von der Natur des
Menschen wirklich weiss, ist, dass sie sich
ändert. Veränderimg ist die Eigenschaft,
die wir von ihr aussagen können. Die
Systeme, die fehlschlagen, sind die, die
auf die Konstanz der menschlichen Natur
bauen, anstatt auf ihr Wachstum und ihre
Entwicklung. Der Irrtum Ludwigs XIV.
war, dass er glaubte, die Natur des Men-
schen werde immer dieselbe bleiben. Das
Ergebnis seines Irrtums war die franzö-
sische Revolution. Ein wundervolles Er-
gebnis. Alle Ergebnisse der Irrtümer der
Regierungen sind ganz wundervoll.
Es ist auch zu beachten, dass, wenn
der Individualismus zum Menschen kom-
men soll, dazu kein schwächliches Pfaffen-
geschwätz über die Pflicht verhilft, wo-
runter lediglich das Tun zu verstehen ist,
das andere Leute haben wollen, weil sie es
haben wollen; imd ebensowenig das widei»
liehe Pfaffengeschwätz von Selbstaufopfe-
85
rung, die bloss ein Ueberrest des Brauchs
der Wilden ist, sich zu verstümmeln. In
der Tat kommt er mit gar keinen Forderungen
und Ansprächen zum Menschen. Er kommt
natürlich und unvermeidlich aus dem Men-
schen heraus. Er ist der Punkt, zu dem alle
Entwicklung hindrängt. Er ist die Diffe-
renzierung, der alle Organismen entgegen-
wachsen. Er ist die Vollkommenheit, die
in jeder Form des Lebens darin steckt und
zu der jede Form des Lebens unterwegs
ist. Und so übt der Individualismus keinen
Zwang auf den Menschen aus. Er sagt im
Gegenteil zimi Menschen, er solle keinen
Zwang über sich dulden. Er versucht
nicht, die Menschen zum Guten zu zwin-
gen. Er weiss, dass die Menschen gut sind,
wenn man sie in Ruhe lässt. Der Mensch
wird den Individualismus aus sich heraus
entwickeln. Der Mensch ist jetzt dabei,
den Individualismus so zu entwickeln.
Fragen, ob der Individualismus praktisch
ist, heisst fragen, ob die Entwicklung prak-
tisch ist. Entwicklung ist das Gesetz des
Lebens^ und es gibt keine Entwicklung^ die
nicht zum Individualismus drängte. Wo diese
86
Tendenz keinen Ausdruck gefunden hat,
da handelt es sich um einen Fall von künst-
lich unterdrücktem Wachstum oder von
Krankheit oder von Tod.
Der Individualismus wird ferner un-
eigennützig und ungeziert sein. Es ist
schon gesagt worden, dass es eine Folge
der aussergewöhnlichen Tyrannei der
Autorität ist, dass der eigentliche und ein-
fache Sinn der Worte völlig verdreht wird
imd dass sie dazu benutzt werden, das
Gegenteil ihrer wahren Bedeutung auszu-
drücken. Was von der Kirnst gilt, trifft
ebenso auf das Leben zu. Ein Mann wird
heutzutage geziert genannt, wenn er sich
kleidet, wie es ihm gefällt, sich zu kleiden.
Aber wenn er das tut, handelt er völlig
natürlich. Geziertheit in diesen Dingen ist
es, wenn einer sich in seiner Kleidung nach
den Ansichten seiner Mitmenschen richtet,
die, da sie die Ansichten der Mehrheit
sind, wahrscheinlich äusserst einfältig sind.
Oder jemand wird selbstsüchtig genannt,
wenn er auf eine Art lebt, die ihn für die
volle Verwirklichung seiner eigenen Per-
sönlichkeit die geeignetste dünkt; wenn
87
tatsächlich das ei'ste Ziel seines Lebens
die Entwicklung seines Selbst ist. Aber
das ist die Art, wie jedermann leben sollte.
Selbstsucht heisst nicht: so leben^ wie man
zu leben wünscht; sie heisst: von andern ver-
langen^ so zu leben^ wie man zu leben wünscht.
Und Uneigennützigkeit heisst: andrer
Menschen Leben in Ruhe lassen, sich nicht
hineinmischen. Die Selbstsucht strebt
immer danach, um sich herum eine ab-
solute Gleichförmigkeit des Typus zu er-
zeugen. Die Uneigennützigkeit erblickt in
der imendlichen Mannigfaltigkeit des Ty-
pus ein köstliches Ding, akzeptiert sie, be-
ruhigt sich dabei und freut sich darüber.
Es ist nicht selbstsüchtig, auf seine Art zu
denken. Wer nicht auf seine Art denkt,
denkt überhaupt nicht. Es ist grobe
Selbstsucht, von seinem Mitmenschen zu
verlangen, er solle auf dieselbe Art denken
und dieselben^ Ansichten haben. Warum
sollte er? Weim, er denken kann, wird er
wahrscheinlich anders denken. Wenn er
nicht denken kann, ist es ungeheuerlich,
irgendwelche Gedanken von ihm zu ver-
langen. Eine rote Rose ist nicht selbst-
88
süchtig, weil sie eine rote Rose sein will.
Sie wäre furchtbar selbstsüchtig, wenn sie
verlangte, alle andern Blumen im Garten
sollten rot und Rosen sein. Im Reiche des
Individualismus werden die Menschen
ganz natürlich und völlig uneigennützig
sein, und werden den Sinn der Worte ver-
stehen und ihn in ihrem freien, schönen
Leben verwirklichen. Die Menschen wer-
den nicht egoistisch sein, wie sie es heute
sind. Denn Egoist ist, wer an andere An-
sprüche stellt, und der Individualist wird
das nicht tiui wollen. Es wird ihm kein
Vergnügen machen. Wenn der Mensch
den Individualismus verwirklicht hat, wird
er auch das Mitgefühl verwirklichen und
es frei und ungehemmt walten lassen. Bis
jetzt hat der Mensch das Mitgefühl über-
haupt kaum geübt. Er hat bloss Mitgefühl
mit Leiden, imd das ist nicht die höchste
Form des Mitgefühls. Jedes Mitgefühl ist
schön, aber Mitleid ist die niedrigste Form,
Es ist mit Egoismus dur'chsetzt. Es kann
leicht krankhaft werden. Es liegt in ihm
ein gewisses Element der Angst um unsere
eigene Sicherheit. Wir fürchten, wir selbst
89
könnten so werden, wie der Aussätzige
oder der Blinde, und es kümmerte sich
dann niemand um uns. Es ist auch selt-
sam beschränkt. Man sollte mit der Ganz-
heit des Lebens mitfühlen, nicht bloss mit
den Wunden und Krankheiten des Lebens,
sondern mit der Freude und Schönheit und
Kraft und Gesundheit und Freiheit des
Lebens. Je umfassender das Mitgefühl ist,
um so schwerer ist es natürlich. Es er*
fordert mehr Uneigennützigkeit. Jeder
kann die Leiden eines Freundes mitfühlen,
aber es erfordert eine sehr vornehme Na-
tur — es erfordert eben die Natur eines
wahren Individualisten — den Erfolg
eines Freimdes mitzufühlen. In dem Ge-
dränge der Konkurrenz und dem Ellbogen-
kampf imserer Zeit ist solches Mitgefühl
natürlich selten imd wird auch sehr er-
stickt durch das unmoralische Ideal der
Gleichförmigkeit des Typus und der Füg-
samkeit imter die Regel, das überall so
sehr vorherrscht und vielleicht am schäd-
lichsten in England ist.
Mitleid wird es natürlich immer geben.
Es ist einer der ersten Instinkte des Men-
90
sehen. Die Tiere, die individuell sind, das
heisst die höheren Tiere, haben es wie wir.
Aber man muss sich vergegenwärtigen,
dass — während die Mitfreude die Summe
der Freude, die es in der Welt gibt, er-
höht — das Mitleid die Menge des Leidens
nicht wirklich vermindert. Es kann den
Menschen in stand setzen, das Uebel
besser zu ertragen, aber das Uebel bleibt.
Mitleid mit Schwindsüchtigen heilt die
Schwindsucht nicht; das tut die Wissen-
schaft. Und wenn der Sozialismus das
Problem der Armut und die Wissenschaft
das Problem der Krankheit gelöst hat,
wird das Gebiet der Sentimentalen kleiner
geworden sein, imd das Mitgefühl der
Menschen wird umfassend, gesxmd und
verschwenderisch sein. Der Mensch wird
froh sein, wenn er das freudige Leben
der andern betrachtet.
Denn die Freude ist es, die den Indi-
vidualismus der Zukimft zur Entwicklimg
bringen wird. Christus machte keinen Ver-
such, die Gesellschaft neu aufzubauen, und
daher konnte der Individualismus, den er dem
Menschen predigte, nur durch Leiden oder in
91
Einsamkeit erreicht werden. Die Ideale, die
wir Christus verdanken, sind die Ideale
des Menschen, der die Gesellschaft gänz-
lich verlässt oder des Menschen, der sich
der Gesellschaft völlig widersetzt. Aber
der Mensch ist gesellig von Natur. Selbst
die Thebais ist schliesslich besiedelt wor-
den. Und wenn schon der Klostermönch
seine Persönlichkeit verwirklicht, oft ist
es doch eine verarmte Persönlichkeit, die
er so verwirklicht. Andrerseits übte die
schreckliche Wahrheit, dass das Leiden
eine Form ist, durch die der Mensch sich
verwirklichen kann, eine zauberische, wun-
dervolle Gewalt über die Welt aus. Seichte
Redner und seichte Denker schwatzen auf
Kanzeln und Tribünen oft von dem Kultus
des Genusses in der Welt und jammern
darüber. Aber es ist in der Geschichte
der Welt selten, dass ihr Ideal eines der
Freude und Schönheit gewesen ist. Der
Kultus des Leidens hat weit öfter die Welt
beherrscht. Das Mittelalter, mit seinen
Heiligen und Märtyrern, seiner Liebe zur
selbsteigenen Marter, seiner wilden
Leidenschaft, sich selbst zu verwunden, mit
92
seinen Messerstichen und seinen Geissei-
hieben — das Mittelalter ist das wahre
Christentum und der mittelalterliche Chri-
stus ist der wahre Christus. Als die
Renaissance über der Welt tag^e und die
neuen Ideale der Schönheit und der
Freude des Lebens mit sich brachte,
konnten die Menschen Christus nicht
verstehen. Selbst die Kunst zeigt es
ims. Die Maler der Renaissance
stellten Christus als kleinen Knaben
dar, wie er in einem Palast oder einem
Garten mit einem andern Knaben spielte,
oder wie er in den Armen seiner Mutter
lag imd ihr oder einer Blume oder einem
glänzenden Vogel zulächelte; oder als edle,
majestätische Gestalt, die adlig durch die
Welt ging; oder als wundervolle Gestalt,
die in einer Art Ekstase aus dem Tod
sich zum Leben erhob. Selbst wenn sie
ihn am Kreuze darstellten, zeigten sie ihn
als schönen Gott, dem böse Menschen das
Leiden auferlegt hatten. Aber er ging
ihnen nicht sehr nahe. Sie entzückte es,
wenn sie die Männer und Frauen malen
konnten, die sie bewunderten, wenn sie
93
den Reiz dieser reizenden Erde zeigen
konnten. Sie malten viele religiöse Bilder
— tatsächlich malten sie viel zu viele, und
die Eintönigkeit des Typus und des Motivs
ist ermüdend und war von Uebel für die
Kunst. Sie kam von der Autorität des
Publikiuns in Sachen der Kunst und ist zu
beklagen. Aber ihre Seele war nicht dabei.
Raffael war ein grosser Künstler, als er
sein Papstbildnis malte. Als er seine Ma-
donnen und Christusknaben malte, war er
durchaus kein grosser Künstler. Christus
hatte der Renaissance nichts zu sagen,
die wundervoll war, weil sie ein Ideal
brachte, das ein anderes war als seines,
xmd wenn wir die Darstellung des wirk-
lichen Christus finden wollen, müssen wir
ims an die Kunst des Mittelalters wenden.
Da ist er ein Gemarterter und Verwunde-
ter; einer, der nicht lieblich anzusehen ist,
weil Schönheit eine Freude ist; einer, der
kein schönes Gewand anhat, weil das auch
eine Freude sein kann: er ist ein Bettler
mit einer strahlenden Seele; er ist ein Aus-
sätziger mit göttlicher Seele; er braucht
nicht Eigentiun noch Gesundheit; er ist
94
ein Gott, der seine Vollendung durch
Schmerzen verwirklicht.
Die Entwicklung des Menschen ist
langsam. Die Ungerechtigkeit der Men-
schen ist gross. Es war notwendig, dass
das Leiden als Form der Selbstverwirk-
lichung hingestellt wurde. Selbst jetzt ist
an manchen Punkten der Welt die Bot-
schaft Christi notwendig. Niemand, der
im modernen Russland lebt, kann seine
Vollkommenheit erreichen, es sei denn
durch Leiden. Ein paar russische Künst-
ler haben sich in der Kunst verwirklicht, in
Romanen, die im Charakter mittelalterlich
sind, denn ihr vorherrschender Zug ist die
Verwirklichimg der Menschen durch das
Leiden. Aber für die andern, die keine
Künstler sind, imd für die es keine andere
Form des Lebens gibt als das tatsächliche
Leben der Wirklichkeit, ist das Leiden das
einzige Tor zur Vollendung. Ein Russe,
der sich imter dem gegenwärtigen Regie-
rungssystem in Russland glücklich fühlt,
muss entweder glauben, dass der Mensch
keine Seele hat, oder dass sie, wenn er
eine hat, nicht wert ist, sich zu entfalten.
95
Ein Nihilist, der alle Autorität verwirft, weil
er weiss, dass * die Autorität von Uebel
ist, und der alles Leiden begrüsst, weil er
dadurch seine Persönlichkeit verwirklicht,
ist ein wirklicher Christ. Ihm ist das christ-
Uche Ideal zur Wahrheit geworden.
Und doch lehnte sich Christus nicht
gegen die Obrigkeit auf. Er fügte sich
der autoritären Gewalt des römischen
Kaiserreichs und zahlte Tribut. Er dul-
dete die geistliche Gewalt der jüdischen
Kirche imd wollte ihrer Gewalt nicht mit
eigener Gewalt begegnen. Er hatte, wie
ich vorhin sagte, keinen Plan für einen
Neubau der Gesellschaft. Aber die mo-
derne Welt hat solche Pläne. Sie schlägt
vor, die Armut imd das Elend, das sie
mit sich bringt, abzuschaffen. Sie will das
Leiden loswerden imd das Elend, das es
mit sich bringt. Sie hat sich den Sozialis-
mus und die Wissenschaft als Methoden
gewählt. Was sie erstrebt, ist ein Indivi-
dualismus, der sich durch die Freude zum
Ausdruck bringt. Dieser Individualismus
wird umfassender, völliger, reizender sein
als je einer gewesejn ist. Das Leiden ist
96
nicht die letzte Form der Vollendung. Es
ist nur vorläufig und ein Protest. Es ent-
steht in schlechten, ungesunden, ungerech-
ten Zuständen. Wenn das Uebel und die
Krankheit und die Ungerechtigkeit ent-
fernt sind, hat es keine Stätte mehr. E5
hat dann sein Werk getan. Es war ein
gewaltiges Werk, aber es ist beinahe vor-
über. Sein Gebiet wird von Tag zu Tag
kleiner.
Und der Mensch wird es nicht ent-
behren. Denn wonach der Mensch gesucht
hat^ das ist wahrhaftig nicht Leiden and
nicht Last^ sondern einfach Leben. Der
Mensch hat danach gesucht, intensiv,
völlig, vollkommen zu leben. Wenn er das
tun kann, ohne gegen andere Zwang zu
üben oder ihn je zu dulden, und wenn all
seine Betätigungen ihm lustvoll sind, dann
wird er gesünder und kraftvoller sein,
mehr Kultur haben, mehr er selbst sein.
Lust ist das Siegel der Natur, ihr Zeichen
der Zustimmung. Wenn der Mensch glück-
Hch ist, dann ist er in Harmonie mit sich
selbst und seiner Umgebung. Der neue
Individualismus, in dessen Diensten der
97
Sozialismus, ob er es will oder nicht, am
Werke ist, wird vollendete Harmonie sein.
Er wird sein, wonach die Griechen such-
ten, was sie aber, ausser im Geiste, nicht
vollständig verwirklichen konnten, weil sie
Sklaven hatten und sie ernährten ; er wird
sein, wonach die Renaissance suchte, was
sie aber, ausser in der Ktmst, nicht voll-
ständig verwirklichen konnte, weil sie
Sklaven hatte und sie hungern liess. Er
wird vollständig sein, und durch ihn
wird jeder Mensch zu seiner Vollendung
kommen. Der neue Individualismus ist
der neue Hellenismus.
98
J
AUS DEM ZÜCHTHAUS ZU READING
Die Londoner Zeitung »The Daily Chronide" hatte
berichtet, ein Gefängnisaufseher sei entlassen worden,
weil er einem hungrigen Bande, das im Gefängnis
eingesperrt war, ein paar Kakes zu essen gegeben
habe. Darauf richtete 0. W. folgenden Brief an den
Herausgeber des Blattes.
?it grossem Be-
J dauern entnehme
ich den Spalten
Ihrer Zeitung,
dass der Auf-
Iseher Martin aus
I dem Reading-Ge-
fängnis von der Gefängnisinspektion entlassen
wurde, weil er einem armen hungrigen
Kinde ein, paar Kakes gegeben hat. Ich
habe die drei Kinder selbst an dem Mon-
tag, der meiner Entlassimg vorherging,
gesehen. Sie waren verurteilt worden imd
standen der Reihe nach in der Zentral-
halle; sie hatten die Gefängniskleidung an,
trugen ihre Bettbezüge imter dem Arm
xmd warteten, bis man sie in die für sie
bestinunten Zellen abführte. Ich kam
gerade auf einer der letzten Galerien vor-
bei, auf dem Wege zum Besuchszimmer,
wo ich eine Besprechimg mit einem
Freunde haben sollte. Es waren ganz
101
'Ifleihe Kinder, "das jüngste — eben das,
dem der Aufseher die Kakes gab — ein
winziges Kerlchen, für das sie offenbar
keine passenden Kleider finden konnten,
die vorhandenen waren alle zu gross. Ich
habe natürlich im Gefängnis in den zwei
Jahren, in denen ich eingesperrt war, viele
Kinder gesehen. Besonders das Wand-
worth-Gefängnis beherbergte immer eine
Anzahl Kinder. Aber das kleine Kind, das
ich am Montag nachmittag in Reading
sah, war winziger als irgend ein anderes.
Ich kann kairni beschreiben, wie äusserst
betrübt ich war, diese Kinder in Reading
zu sehen, denn ich kannte die Behandlung,
die ihrer wartete. Die Grausamkeit, die
man bei Tag und bei Nacht an Kindern
in englischen Gefängnissen verübt, ist un-
glaublich für alle, die sie nicht selbst mit
angesehen haben und die Brutalität des
Systems nicht kennen.
Die Menschen imserer Zeit wissen
nicht, was Grausamkeit ist. Sie halten, sie
für eine Art schreckliche mittelalterliche
Leidenschaft und bringen sie in Verbin-
dimg mit Männern vom Schlage Ezzelins
102
da Romano und anderer, denen es in der
Tat einen wahnsinnigen Genuss bereitete,
absichtlich Schmerzen zuzufügen. Aber
Männer vom Gepräge Ezzelins sind nur
aussergewöhnliche Typen eines perversen
Individualismus. Die Grausamkeit des
Alltags ist nichts weiter als Dummheit.
Sie ist der gänzliche Mangel der Fähig-
keit, sich ein Bild von den Dingen zu
machen — des Verstandes. Sie ist in
imseren Tagen die Folge der sterotypierten
Systeme, det harten imd festen Ge-
setze, der Dummheit. Wo Zentralisation
herrscht, herrscht Duminheit. Wo im mo-
dernen Leben der Beamte anfängt, hört
der Mensch auf. Die Autorität ist ebenso
gefährlich für die, die sie ausüben, wie
für die, gegen die sie ausgeübt wird. Die
Gefängnisbehörde und das System, das
sie durchführt, ist die ursprüngliche Quelle
dei" Grausamkeit, die an einem Kinde im
Gefängnis verübt wird. Die Leute, die das
System aufrecht erhalten, haben vielleicht
vortreffliche Absichten. Die es ausführen,
sind in ihren Absichten ebenfalls human.
Die Verantwortlichkeit ruht auf den. Vor-
103
Schriften der Disziplin. Es wird ange-
nommen, eine Sache sei recht, wenn sie
Gesetz ist.
Die gegenwärtige Behandlimg der
Kinder ist schrecklich^ besonders wo es
sich imi Leute handelt, die die besondere
Psychologie der Kindesnatur nicht ver-
stehen. Ein Kind kann eine Bestrafung,
die von einem einzelnen Individuum, so
vom Vater oder vom Vormimd, ausgeht,
verstehen imd sie mit einem gewissen
Grad von Fügsamkeit ertragen. Was es
aber nicht verstehen kann, das ist eine
Bestrafung von selten der Gesellschaft.
Es kann sich nicht vorstellen, was das
ist : die Gesellschaft. Mit erwachsenen Per-
sonen verhält es sich natürlich imigekehrt.
Diejenigen unter ims, die im Gefängnis
sind oder gewesen sind, können und
werden verstehen, was die Kollektivkraft,
die man Gesellschaft nennt, bedeutet; und
was wir auch von ihrer Methode und ihren
Ansprüchen halten mögen, wir können tms
dazu zwingen, ims zu fügen. Andrerseits
aber ist eine Bestrafimg, die uns von
einem Individuum zugefügt wird, eine
104
Sache, die Ireüi Erwachsener duldet, we-
nigstens erwartet es niemand von ihm.
Das Kind also, das von Leuten, die
es nie gesehen hat und von denen es
nichts weiss, seinen Eltern entrissen wird,
das sich in einer öden imd abstossenden
Zelle befindet, das von fremden Gestal-
ten beobachtet wird, das von den Ver-
tretern eines Systems, das es nicht ver-
stehen kann, kommandiert imd abgestraft
wird, wird dem ersten imd schlimmsten
xmter den Gefühlen, die das Gefängnis-
leben hervorbringt, zum Raub: dem Ge-
fühl des Schreckens. Der Schrecken eines
Kindes im Gefängnis ist grenzenlos. Ich
erinnere mich, einmal in Reading, als ich
zur Freistunde ging, in der düsteren Zelle,
die der meinen gegenüberlag, einen Kna-
ben gesehen zu haben. Zwei Aufseher —
keine unfreundlichen Männer — sprachen
zu ihm, offenbar etwas strenge, oder gaben
ihm einen nützlichen Rat in bezug auf sein
Verhalten. Einer war bei ihm in der Zelle,
der andere stand aussen. Das AntUtz des
Endes war voller Schrecken imd toten-
blass. In seinen Augen lag der Schrecken
105
eines gehetzten Wildes. Am nächsten Mor-
gen, zur Frühstückszeit, hörte ich ihn
schreien und rufen, man solle ihn heraus-
lassen. Er schrie nach seinen Eltern. Von
Zeit zu Zeit konnte ich die tiefe Stimme
des Aufsehers hören, der ihm sagte, er
solle sich ruhig verhalten. Und dabei war
er nicht einmal wegen irgend eines Ver-
gehens verurteilt. Er war in Unter-
suchungshaft. Das sah ich daran, dass er
seine eigenen Kleider trug, die ziemlich
sauber schienen. Indessen trug er An-
staltsstrümpfe und -Schuhe, und das zeigte,
dass er ein wirklich armer Knabe war,
dessen eigene Schuhe, wenn et welche
hatte, in einer bösen Verfassung waren.
Richter und Beamte, in der Regel ein
ganz dummer Menschenschlag, stecken
oft Kinder für acht Tage ein imd erlassen
dann irgend eine Strafe, die zu verhän-
gen sie berechtigt sind. Sie nennen dies
„ein Kind nicht ins Gefängnis schicken".
Das ist natürlich eine blöde Auffassung
von ihnen. Ein Kind kann die Spitzfindig-
keit, ob es in Untersuchungs- oder Straf-
hait ist, nicht unterscheiden. Das Schreck-
106
liehe für das Kind ist, überhaupt da zu
sein. In den Augen der Menschheit sollte
es etwas Schreckliches sein, dass es über-
haupt da ist.
Dieser Schrecken, der das Kind be-
herrscht, ebenso wie er auch den Erwach-
senen beherrscht, wird natürlich über alle
Massen verstärkt durch die Einsamkeit
des Zellensystcms. Jedes Kind ist dreiund-
zwanzig Stunden von vierundzwanzig in
seiner Zelle eingesperrt. Dies ist das
Schreckliche an der Sache. Dass ein Kind
dreiimdzwanzig Stunden im Tag in eine
dunkle Zelle gesperrt wird, ist ein Beispiel
für die Grausamkeit der Dummheit. Wenn
ein Individuum, ein Vater oder Vormund,
etwas der Art einem Kinde antäte, würde
er streng bestraft werden. Der Schutzver-
ein gegen die Kinderquälerei würde sich
der Sache annehmen. Auf allen Seiten
würde sich die lebhafteste Entrüstung
über solche Grausamkeit erheben. Aber
unsere eigene gegenwärtige Gesellschaft
tut selbst noch Schlimmeres, und für ein
Kind, das von einer unverständlichen ab-
strakten Gewalt so behandelt wird, für
107
deren Ansprüche es keinen Verstand hat,
ist solches viel schlimmer, als wenn es
von seinem Vater oder seiner Mutter oder
sonst einem Bekannten geschähe. Die un-
menschUche Behandlimg eines Kindes ist
immer immenschlich, von wem sie auch
zugefügt wird. Aber die unmenschliche Be-
handlimg, die von der Gesellschaft aus-
geht, ist für das Kind schrecklicher, weil
es gegen sie keine Berufung gibt. Ein
Vater oder ein Vormund kann gerührt
werden, so dass er das Kind aus dem
dunkeln, öden Ramn, in dem es eingesperrt
ist, herauslässt. Aber ein Aufseher kann
das nicht. Die meisten Aufseher sind auf-
richtige Kinderfreunde. Aber das System
verwehrt es ihnen, dem Kind irgend wel-
chen Beistand zu leisten. Falls sie das
tim, wie in dem Fall des Aufsehers Martin,
werden sie entlassen.
Das zweite, worunter ein Kind im Ge-
fängnis zu leiden hat, ist der Himger. Die
Nahnmg, die es erhält, besteht aus einem
Stück Gefängnisbrot, das gewöhnlich
schlecht gebacken ist, und einem Krug
Wasser zum Frühstück um halb sieben
108
Uhr. Um zwölf Uhr gibt es Mittagessen,
das aus einem Topf Haferbrei besteht, und
um halb sechs Uhr bekommt es ein
Stück trockenes Brot imd einen Krug
Wasser zum Abendessen. Diese Ernäh-
rung bringt bei einem starken erwachsenen
Manne immer irgend welches Unwohlsein
hervor, besonders natürlich Durchfall und
in seinem Gefolge Schwäche. In der Tat
werden in jedem grösseren Gefängnis
stopfende Medizinen regelmässig, als ob
es sich von selbst verstünde, von den Auf-
sehern verabreicht. Was aber das Kind
angeht, so ist es in der Regel überhaupt
nicht imstande, die Kost zu essen.
Jeder, der etwas von Kindern ver-
steht, weiss, wie leicht die Verdauung eines
Kindes durch das viele Weinen oder durch
Kununer und Seelenschmerz gestört wird.
Ein Kind, das den ganzen Tag und viel-
leicht die halbe Nacht in einer öden dunk-
len Zelle geweint hat und vom Schrecken
gepeinigt wird, kann solche schlechte
grobe Kost einfach nicht essen. In dem
Fall des kleinen Kindes, dem der Auf-
seher Martin die Kakes gab, weinte das
109
Kind am Dienstag morgen vor Hunger
imd war völlig imfähig, das Brot und das
Wasser, das ihm zum Frühstück gegeben
wurde, zu sich zu nehmen. Martin ging,
nachdem er das Frühstück ausgegeben
hatte, aus imd kaufte dem Kinde lieber die
paar Kakes, als dass er es Hunger leiden
sah. Das war schön von ihm gehandelt,
imd es wurde von dem Kinde so dankbar
empfimden, dass es, ohne eine Ahnung
von den Gefängnisvorschriften zu haben,
einem der Ober-Aufseher erzählte, wie
freimdlich dieser Aufseher zu ihm gewesen
sei. Die Folge davon war natürlich eine
Anzeige xm,d die Entlassung.
Ich k;armte Martin sehr gut; er war
in den letzten sieben Wochen meiner Ge-
fangenschaft mein Aufseher. Er hatte in
Reading auf dem C-Flügel Dienst, in dem
ich eingesperrt war, imd so sah ich ihn
fortwährend.
Ich war überrascht über die seltene
Freundlichkeit \md Menschlichkeit, mit
der er za mir und den übrigen Gefangenen
sprach. Freundliche Worte sind im Ge-
fängnis viel wert, xmd ein einfaches
110
„Guten Morgen," oder „Guten Abend"
machen einen so glücklich, als es im Ge-
fängnis möglich ist. Er war immer mild
imd massvoll. Ich erinnere mich an, einen
andern Fall, in dem er sich einem der Ge-
fangenen gegenüber sehr freundlich er-
wies, und ich nehme keinen Anstand, ihn
zu erwähnen. Einer der schrecklichsten
Zustände im Gefängnis sind die schlech-
ten hygienischen Einrichtungen. Es ist
dem Gefangenen unter keinen Umständen
erlaubt, nach halb sechs Uhr die Zelle
zu verlassen. Wenn er also an Durchfall
leidet, muss er seine Zelle als Kloset be-
nutzen imd die Nacht in einer sehr stinken-
den und imgesunden Luft verbringen.
Einige Tage vor meiner Entlassung machte
Martin um halb acht Uhr mit einem der
Ober-Aufseher die Runde, um die Werk-
zeuge und das Werg aus den Zellen zu
schaffen. Ein jüngst Verurteilter, der in-
folge der imgewohnten Nahrung an hef-
tigem Durchfall litt, bat den Ober-Auf-
seher, ihm zu erlauben, das Gef äss in seiner
Zelle leeren zu dürfen, wegen des schlech-
ten Geruchs, und da er noch einmal in
111
der Nacht unwohl werden könnte. Der
Ober- Aufseher lehnte das strikt ab; es war
gegen die Vorschrift. Der Mann hätte die
Nacht in seiner schrecklichen Lage ver-
bringen müssen. Martin aber, der den
armen Mann nicht in einer so abscheu-
lichen Situation lassen wollte, sagte, er
wolle ihm das Gefäss selbst ausleeren, und
tat das auch. Ein Aufseher, der das Ge-
fäss eines Gefangenen ausleert, ist natür-
lich gegen die Vorschrift, aber Martin er-
wies dem Mann diese Gefälligkeit aus der
einfachen Menschlichkeit seiner Natur
heraus, und der Mann war natürlich sehr
dankbar.
Was die Kinder angeht, so ist in letzter
Zeit viel über den verderbenden Einfluss
des Gefängnisses auf junge Kinder ge-
redet und geschrieben worden. Was da
gesagt wird, ist sehr wahr. Ein Kind wird
durch das Gefängnisleben sehr verdorben.
Aber der verderbliche Einfluss geht nicht
von den Gefangenen aus. Er geht aus von
dem ganzen Gefängnissystem — vom
Direktor, dem Geistlichen, den Aufsehern,
der öden Zelle, der Isolienmg, der em-
112
pörenden Ernährung, den Gefängnisvor-
schriften, der Art, wie die Disziplin aus-
geübt wird, dem ganzen Leben. Es ist alle
erdenkliche Sorgfalt getroffen, dass das
Kind die Gefangenen über sechzehn Jahren
nicht einmal zu sehen bekommt. Die
Kinder sitzen in der Kirche hinter einem
Vorhang und haben ihre Freistunde in
kleinen Höfen, wo keine Sonne hinkommt,
nur damit sie die älteren Gefangenen nicht
zu sehen bekommen. Aber in Wahrheit
geht der einzige wirklich menschliche Ein-
fluss, der im Gefängnis ausgeübt wird,
von Gefangenen aus. Ihre Heiterkeit
unter schrecklichen Umständen, ihre Sym-
pathie füreinander, ihre Bescheidenheit,
ihre Liebenswürdigkeit, ihr freundliches
Lächeln, mit dem sie sich beim Begegnen
begrüssen, die völlige Ruhe, mit der sie
sich in ihre Strafe fügen, alles das ist ganz
wundervoll, und ich selbst habe manches
Gute von ihnen gelernt. Ich will nicht vor-
schlagen, die Kinder sollten in der Kirche
nicht hinter einem Vorhang sitzen, oder
sie sollten mit den andern zusammen ihre
Freistunde haben. Ich will nur feststellen,
113
dass der schlechte Einfluss nicht von den
Gefangenen, sondern vom Gefängnis-
system selbst ausgeht. Es ist nicht ein
einziger Mann im Reading-Gefängnis, der
nicht gern die Strafe der drei Kinder auf
sich genommen hätte. Ich sah sie zuletzt
an dem Dienstag, der ihrer Verurteilung
folgte. Ich ging um halb zwölf Uhr mit
imgefähr zwölf andern Männern zur Frei-
stunde, imd die drei Kinder gingen an uns
vorbei, in Begleitung eines Aufsehers; sie
kamen von dem dumpfigen, traurigen Hof,
wo sie zur Freistunde gewesen waren. Ich
sah in den Augen meiner Gefährten das
grösste und herzlichste Mitgefühl, als sie
die Kinder erblickten. Gefangene sind, als
eine zusanunengehörige Menschenklasse,
ausserordentlich freundlich und liebevoll
zueinander. Leiden und die Gemeinsam-
keit der Leiden machen die Menschen
gütig, imd Tag für Tag, wenn ich auf dem
Hof einherging, fühlte ich mit Befriedi-
gimg imd Freude, was Carlyle irgendwo
„den stillen rhythmischen Reiz der mensch-
lichen Kameradschaft** nennt. In diesem
und in allen anderen Dingen sind die
Philanthropen, und Leute ihres Schlages
auf dem Holzwege. Nicht die Gefangenen
bedürfen der Wandlung, sondern die Ge-
fängnisse.
Ich möchte jetzt die Aufmerksamkeit
auf eine andere schreckliche Sache lenken,
die in englischen Gefängnissen, in der
Tat in den Gefängnissen der ganzen Welt
imigeht, wo das System des Schweigens
imd der Zelleneinspernmg ausgeübt wird.
Ich spreche von der grossen Zahl derer, die
im Gefängnis wahnsinnig oder geistesge-
stört werden. In Zuchthäusern ist dies
natürlich ganz allgemein; aber ebenso in
anderen Gefängnissen, so z. B. in dem,
wo ich eingesperrt war.
Vor etwa drei Monaten bemerkte ich
imter den Gefangenen, die mit mir Frei-
stunde hatten, einen jungen Mann, der mir
blödsinnig oder schwachsinnig zu sein
schien. Jedes Gefängnis hat seine schwach-
sinnigen Kunden, die immer wieder-
kommen, von denen man fast sagen kann,
dass sie ihr Leben im Gefängnis zubringen.
Aber dieser jimge Mensch schien mir mehr
als gewöhnlich schwachsinnig zu sein,
115
wegen seines blöden Grinsens und der idio-
tischen Art, in der er in sich hineinlachte,
und wegen der Ruhelosigkeit seiner
Hände, die ewig zu zupfen hatten. Er fiel
allen anderen Gefangenen wegen seines
sonderbaren Wesens auf. Von Zeit zu Zeit
blieb er in der Freistunde aus, ein Zeichen,
dass er zur Strafe in seiner Zelle einge-
sperrt war. Endlich bemerkte ich, dass er
unter Beobachtung stand und Tag und
Nacht von Aufsehern bewacht wurde.
Wenn er in der Freistimde erschien, schien
er immer hysterisch zu sein und ging
schreiend und lachend herum. In der
Kirche sass er imter der strengen Beob-
achtung zweier Aufseher, die ihn sorgsam
die ganze Zeit über bewachten. Manch-
mal wollte er sein Haupt in den Händen
bergen, was ein Verstoss gegen die Kir-
chenordnung war, und sein Kopf wurde
sofort von einem der Aufseher zurückge-
bogen, so dass er seine Augen fortwährend
nach dem Altar richten musste. Manch-
mal wollte er aufschreien, aber er durfte
keine Störung machen, die Tränen liefen
in Strömen über sein Gesicht, und ein
116
hysterisches Schluchzen drang aus seiner
Kehle. Manchmal grinste er idiotisch in
sich hinein und schnitt Gesichter. Bei
mehr als einer Gelegenheit wurde er aus
der Kirche in seine Zelle zurückgeführt,
und natürlich wurde er fortwährend be-
straft. Da die Bank, auf der ich gewöhn-
lich in der Kirche sass, direkt hinter der
Bank war, an deren Ende der Unglück-
liche seinen Platz hatte, hatte ich oft Ge-
legenheit, ihn zu beobachten. Ich sah ihn
auch oft in der Freistunde, und ich sah,
dass er im Begriff war, wahnsinnig zu
werden, während er als Simulant behan-
delt wurde.
Am Samstag der letzten Woche war
ich ungefähr um ein Uhr damit beschäf-
tigt, die Gefässe, die ich zum' Mittagessen
benutzte, zu reinigen und blank zu putzen.
Plötzlich wurde ich heftig erschreckt: die
Stille des Gefängnisses wurde gebrochen
durch furchtbares Geschrei oder eigent-
lich Geheul; ich dachte zuerst, ein Tier,
ein Stier oder eine Kuh werde ausserhalb
der Gefängnismauem ungeschickt ge-
schlachtet. Ich hörte indessen bald, dass
117
das Geheul aus dem Erdgeschoss des Ge-
fängnisses kam, und ich merkte, dass
irgend ein Unsehger gepeitscht wurde.
Ich kann, nicht beschreiben, wie entsetz-
lich imd schrecklich es für mich war, und
ich fragte mich erstaimt, wer in dieser
empörenden Weise gezüchtigt wurde.
Plötzlich kam mir der Gedanke, dass es
wohl dieser imglückliche Wahnsinnige
war, der gepeitscht wurde. Was ich da-
bei empfand, brauche ich nicht mitzuteilen,
es hat nichts mit dieser Frage zu tun.
Am nächsten Tag, am Sonntag, den
16., sah ich den armen Mann in der
Freistunde, sein hässliches Gesicht war
von Tränen und hysterischen Krämpfen
so entstellt, dass er kaimi zu erkennen
war. Er ging in dem inneren Ring mit
den aJten Männern, den Bettlern und Lah-
men, so dass ich ihn die ganze Zeit über
beobachten konnte. Es war mein letzter
Sonntag im Gefängnis, es war ein sehr lieb-
licher Tag, der schönste Tag, den wir im
ganzen Jahr gehabt hatten, und da in
diesem herrlichen Sonnenlicht ging dieses
arme Geschöpf — das einst nach dem
118
Ebenbilde Gottes geschaffen war — grin-
send wie ein Affe und mit seinen Händen
die seltsamsten Gestikulationen machend,
als ob er in der Luft auf einem imsicht-
baren Saiteninstrxmient spielte, oder wie
wenn er auf einem sonderbaren Spielbrett
die Steine ordnete und verteilte. Mittler-
weile hatten diese hysterischen Tränen,
ohne die keiner von uns ihn jemals sah,
tiefe Rinnen in sein verschwollenes Ge-
sicht gegraben. Seine scheusslichen und
bedächtigen Gesten machten ihn einem
Possenreisser vergleichbar. Er war ein
Urbild des Grotesken. Die andern Gefan-
genen beobachteten ihn alle und nicht
einer von ihnen lächelte. Jeder wusste, was
ihm zugestossen war und dass er in den
Wahnsinn getrieben worden war, dass
er bereits wahnsinnig war. Nach einer
halben Stunde befahl ihm einer der
Aufseher hineinzugehen, ich vermute, dass
er wieder bestraft wurde. Wenigstens war
er am Montag nicht in der Freistunde,
obwohl ich glaube, ihn an einer Ecke des
Hofes in Begleitung eines Aufsehers ge-
sehen zu haben.
119
Am Dienstag — meinem letzten Tag
im Gefängnis — sah ich ihn in der Frei-
stunde. Er befand sich schHmmer als vor-
her imd wurde wieder hineingeschickt.
Seitdem weiss ich nichts von ihm, aber
ich erfuhr von einem der Gefangenen, der
mit mir in der Freistimde ging, dass er am
Samstag Nachmittag auf Befehl der
Inspektionsbehörde auf Grund eines Be-
richtes des Arztes im Küchenraum 24
Hiebe erhalten habe. Das Geheul, das uns
allen Entsetzen eingeflösst hatte, war von
ihm gekommen.
Dieser Mann wird ohne Zweifel unheil-
bar wahnsinnig. Gefängnisärzte haben
keine Kenntnis von Geisteskrankheiten.
Sie sind durch die Bank unwissende Men-
schen. Die Lehre von den Krankheiten des
Geistes ist ihnen unbekannt. Wenn ein
Mann wahnsinnig wird, behandeln sie ihn
als Simulanten. Sie haben ihn wieder und
wieder bestraft. Natürlich wird der Zu-
stand des Mannes schlimmer. Wenn die
gewöhnlichen Strafen erschöpft sind, be-
richtet der Arzt über den Fall an die Be-
hörde. Die Folge davon ist: er wird aus-
120
gepeitscht. Gewiss wird das Peitschen
nicht mit der neiinschwänzigen Katze aus-
geführt, man benutzt eine Birkenrute ; aber
die Folgen, die diese Prozedur bei dem
unseligen, halbverrückten Opfer hervor-
bringt, k;ann man sich vorstellen. Dieser
Fall ist ein treffendes Beispiel für die Grau-
samkeit, die von einem unsinnigen System
nicht zu trennen ist, denn der gegenwärtige
Direktor von Reading ist ein Mann von
edlem und menschenfreundlichem Cha-
rakter, der bei allen Gefangenen sehr be-
liebt und angesehen ist. Es ist ihm aber
doch ganz unmöglich, das System zu än-
dern. Ohne Zweifel sieht er täglich vieles,
was er selbst für imgerecht, töricht und
grausam hält. Aber die Hände siriä ihm
gebunden.
121
AESTHETISCHES MANIFEST
pter den vielen jungen
(Leuten in England, die
imit mir zusammen die
) englische Renaissance zu
^vollenden und voUkom-
^men zu machen suchen
} — Jeunes guerriers du
drapeau romantique, wie Gautier uns ge-
nannt hätte — gibt es keinen, der eine
makellosere und glühendere Liebe zur
Kunst hat, keinen, dessen künstlerischer
Schönheitssinn zarter und feiner ist —
keinen fürwahr, der mir lieber ist — als
der junge Dichter, dessen Verse ich mit
nach Amerika gebracht habe; Verse voll
süssem Leid und doch voller Freude;
denn nicht der ist der freudigste Dichter,
der auf den öden Landstrassen dieser Welt
den unfruchtbaren Samen des Lachens
sät, sondern wer seinem Schmerz am mei-
sten Musik verleiht — dies nämlich ist
der wahre Sinn der künstlerischen Freude
— dies unaussprechliche Element künst-
125
lerischen Genusses, das in der Lyrik zum
Beispiel davon kommt, was Keats das
„sinnliche Leben der Verse" nennt, das
Element des Gesangs in dem Liede, das
Element, das uns durch das Wunder der
rhythmischen Bewegung so ganz hin-
nimmt, das oft aus einer rein musikalischen
Stimmung entspringt und das in der Male-
rei nie im behandelten Gegenstand, immer
nur im malerischen Reiz zu finden ist —
im Ton und der Symphonie der Farbe,
der beruhigenden Schönheit der Konturen :
so dass der höchste Ausdruck unserer
Kunstbewegung in der Malerei nicht die
vergeisteten Visionen der Präraphaeliten
gewesen sind, trotz all ihrem Wunder grie-
chischer Legende und ihrem Mysterium
italienischen Lieds, sondern die Arbeit
solcher Männer wie Whistler und Albert
Moore, die die Zeichnung und Farbe auf
die ideale Stufe der Poesie und Musik
gehoben haben. Denn die Eigenheit ihrer
erlesenen Malerei kommt lediglich von
der originellen und schöpferischen Be-
handlung der Linie und der Farbe, von
einer bestimmten Form und Auswahl
126
schöner Technik, die jede literarische
Reminiszenz und jede nxetaphysische Idee
verwirft und so dem ästhetischen Sinn für
sich allein völlig genügt — sie ist, wie
die Griechen gesagt hätten, Selbstzweck;
die Wirkung ihrer Werke ist dieselbe wie
die Wirkung, die die Musik hervorbringt;
denn die Musik ist die Kunst, wo Form
und Stoff inrnier eins sind — die Kunst,
deren Gegenstand von der Form, wie er
zum Ausdruck kommt, nicht getrennt wer-
den kann; die Kunst, die uns das künst-
lerische Ideal am vollständigsten verwirk-
licht, die da steht, wohin alle andern
Künste immer "unterwegs sind.
Dieser gesteigerte Sinn nun für den
in sich ruhenden und völlig gesättigten
Wert schöner Technik, diese Anerkennung
der ausschlaggebenden Bedeutung des
sinnlichen Elements in der Kunst, diese
Liebe zur Kunst um der Kunst willen ist
der Punkt, wo wir, eine jüngere Richtung,
uns von den Lehren Ruskins getrennt
haben — endgültig und entschieden ge-
trennt.
Meister in jeder Wissenschaft edler
137
Lebensführung und in der Weisheit aller
Dinge des Geistes wird er uns immer sein ;
er war es ja doch, der durch die zwingende
Kraft seiner Persönlichkeit und die Musik
seiner Rede uns in Oxford die begeisterte
Liebe zur Schönheit lehrte, die das Ge-
heimnis des Hellenismus ist, und den
schöpferischen Drang, der das Geheimnis
des Lebens ist; der einigen von uns wenig-
stens die erhabene und leidenschaftliche
Sucht schuf, in weite, schöne Lande hin-
auszugehen und den Völkern eine Bot-
schaft und der Welt eine Sendung zu
künden; und doch, in seiner Kunstkritik,
seiner Einschätzung des künstlerischen
Genusses, seiner ganzen Art, an die Kunst
heranzugehen, gehen wir nicht mehr mit
ihm; denn das Kriterium seines ästhe-
tischen Systems ist immer ein ethisches.
Er beurteilt ein Gemälde nach der Summe
vornehmer Moralprinzipien, die es zum
Ausdruck bringt; für ims aber sind die
Wege, auf denen allein die vornehme male-
rische Arbeit uns berühren kann und wirk-
lich berührt, nicht Wege von Lebenswahr-
heiten oder von metaphysischen Wahr-
128
heiten. Ihm bedeutet vollendete Technik
nur ein Zeichen äusserlichen Glanzes, und
Mangelhaftigkeit des technischen Kön-
nens schreibt er einer Phantasie zu, die
zu schrankenlos ist, als dass sie in den
Schranken der Form ihren völligen Aus-
druck finden könnte, oder einer Hin-
gebung, die zu schlicht ist, um in ihrer
Gestaltung nicht zu stammeln. Für ims
aber ist daä Gebot der Kunst etwas anderes
als die Gebote der Moral. In einem ethi-
schen System natürlich, das nur einiger-
massen mienschenfreundlich ist, wird frei-
lich der gute Wille anerkannt werden;
aber wer in das helle Haus der Schön-
heit eingehen will, den fragen wir nicht,
was er allenfalls tim möchte, sondern was
er vollbracht hat. Nicht seine pathetischen
Vorsätze haben Wert für uns, sondern nur
seine verwirklichten Schöpfungen. Pour
moi je pr^ffere les pofetes qui fönt des vers,
les m^decins qui sachent gu^rir, les pein-
tres qui sachent peintre.
Auch sollten wir \ms bei Betrachtung
eines Kimstwerkes nicht in Träimie ver-
lieren, was es bedeutet, sondern es um
129
deswillen lieten, was es ist. tn der Tat
ist der Geist der Transzendenz dem Geist
der Kunst fremd. Der metaphysische Geist
Asiens mag sich das ungeheuerliche und
vielbrüstige Götzenbild schaffen, aber für
den Griechen, der lediglich Künstler ist,
ist das Werk am reichsten seelisch be-
lebt, das den voUkomnxenen Erscheinim-
gen auch des leiblichen Lebens am näch-
sten kommt. Und ein Gemälde zum Bei-
spiel hat in dem, was es von Haus aus
in sich birgt, durchaus nicht mehr geistige
Beziehung oder Bedeutung für uns als ein
blauer Ziegel aus der Mauer von Damas-
kus oder eine Hizenvase. Es ist eine
schöngefärbte Fläche, nichts anderes, und
wirkt auf uns mit keiner aus der Philo-
sophie gestohlenen Idee, mit keinem aus
der Literatur mitgenommenen Pathos, mit
keinem dem Dichter entwendeten Gefühl,
sondern mit seiner eigenen unsagbaren
künstlerischen Wesenheit — mit der be-
sonderen Form der Wahrheit, die wir Stil
nennen, und mit dem Verhältnis von
Werten, das die Kennmarke der Malerei
ist, mit der ganzen Qualität der Aus-
130
führung, mit der ganzen Arabeske det
Zeichnung, dem Glanz der Farbe, denn
diese Dinge genügen, um die göttlichsten
und verborgensten Saiten zu erschüttern,
die in unserer Seele musizieren, und die
Farbe ist wahrhaftig schon an sich ein
mystisches Lebendigsein in den Dingen,
und der Ton eine Art Empfindimg.
Dies also — die neue Auffassung
unserer jüngeren Richtung — ist das
Hauptmerkmal der Lyrik Rennell Rodds
— denn obschon sich in seinem Buch vieles
findet, was den Verstand interessieren
kann, vieles, wa3 zum Gefühl spricht, und
viele rhythmische Akkorde süsser und
schlichter Empfindung — denn denen,
die die Kunst um ihrer selbst willen lieben,
ist alles andre dazugegeben — ist doch
die Wirkxmg, die sie vorwiegend üben
will, eine rein artistische. Ein Gedicht,
wie „Das Grab des Seekönigs" mit all
seiner majestätischen Melodie, die so
tönend und gewaltig ist wie das Meer,
an dessen kieferumwallten Ufern es so
schön empfangen und gestaltet wurde;
oder das kleine Gedicht, daß dahinter steht,
181
dessen geschickte Arbeit, die mit einem
so ungemein künstlerischen Sinn für Be-
schränkung gefertigt ist, man mit der
Kunst des erlesenen Ziseleurs vergleichen
möchte, die sein Motiv ist; oder „In einer
Kirche", die blasse Blüte eines köstlichen
Augenblicks, wie man sie wohl kennt, wo
alle Dinge ausser dem Augenblick selbst
so seltsam wirklich scheinen, und wo die
alten Gedächtnisse vergessener Tage an-
gerührt und besänftigt werden und der
vertraute Ort plötzlich in einer Vision der
unsterblichen Schönheit der gestorbenen
Götter glühend und feierlich wird; oder
die Szene in der „Kathedrale von Char-
tres", düsteres Schweigen brütet auf Ge-
wölben und Bogen, stunrni knien da und
dort Leute im Staub der leeren Fliessen
und der jimge Priester erhebt den Leib
des Herrn in kristallenem Stern ; imd dajon
brechen gewalttätig Strahlen scharlache-
nen Lichts durch die Glasmalerei des
Fensters und schlagen an das geschnitzte
Gitterwerk des Lettners, und rasche Orgel-
stösse rollen und dröhnen in mächtiger
Musik vom Chor zum Baldachin des Altars
132
und von Säule zu Säulenbündel, und über
allem die helle, frohe Stimme eines sin-
genden Knaben, die so überwältigend süss
ins Ohr geht und eben den rechten künst-
lerischen Grundton für unsere Gefühle
trifft; oder das Gedicht „In Lavunium",
wo man durch die Musik seiner Linien
hindurch das Sausen der Bienen von
Mantua wieder zu vernehmen glaubt, die
aus den grünen Tälern ihrer Heimat und
von den Flüssen ini Lande drinnen in
dicken Haufen durch die Lüfte kommen,
um den Bernsteinhonig einzusammeln,
den die Blumen am Meere bergen; oder
das Gedicht, das „Im Kolosseum" ge-
schrieben ist, das einem denselben künst-
lerischen Genuss gibt, wie wenn man
einem Handwerker bei seiner Arbeit zu-
sieht — einem Goldschmied, der sein Gold
in so dünne Blättchen hämmert, dass sie
zart sind wie gelbe Rosenblätter oder der
es zu langen Fäden zieht wie ineinander-
geworrene Sonnenstrahlen — so vollkom-
men imd köstlich im blossen Machwerk;
oder die kleinen lyrischen Zwischenspiele,
die hie und da wie der Gesang einer
133
Drossel einfallen und die so flink und so
sicher sind wie der Flügelschlag eines
Vogels, so schwank und blajik wie die
Apfelblüten, die in langsamem Hin \md
Her nach einem Frühlingsgewitter auf
den Rasen flattern imd noch lieblicher
sind, da die Regentropfen auf ihrem zarten
rosenroten Perlengeäder liegen; oder die
Sonette — denn Rodd ist einer von denen
qui sonnent le sonnet, wie die Ronsar-
disten ru sagen pflegten — das eine, das
sich „An den Hügeln des Ufers" nennt,
mit dem feurigen Wimder seiner Phan-
tastik und der seltsamen Schönheit seiner
achten Zeile; öder das andere, das von
dem Schmerz des grossen Königs um das
tote kleine Kind spricht — nun, all diese
Gedichte streben, wie gesagt, eine rein
artistische Wirkung an imd haben die köst-
liche und erlesene Eigenheit, die solcher-
lei Arbeit auszeichnet; \md ich finde, dass
die völlige Unterordnung aller bloss ge-
fühls- und verstandesmässigen Motive
unter das entscheidende formende Prinzip
der Poesie das sicherste Zeichen für die
Gesundheit unserer ästhetischen Bewegung ist.
134
Alier es ist nicht genug, dass ein
Kunstwerk den ästhetischen Forderungen
der Zeit entspricht: es muss auch, wenn
es uns irgend dauernden Genuss gewähren
soll, den Stempel einer besonderen Indi-
vidualität tragen. Jedes Werk, das in
unserm Jahrhundert gelten soll, muss auf
den zwei Polen der Persönlichkeit und der
Vollendimg ruhen. Und so könnte man
in diesem dünnen Band die frühere und
schlichtere Stufe von der späteren und
kräftigeren trennen, wo der Dichter mehr
technische Macht und mehr künstlerische
Anschauimg besitzt, und dann reizt es
einen, diese auseinanderfallenden Ge-
dichte, diese wirren und vereinzelten Fä-
den zu einem feuerfarbenen Band des
Lebens zu weben: zuerst stösst man auf
die blosse Fröhlichkeit eines Knaben dar-
über, dass er jung ist, mit all seiner ein-
fachen Freude im Feld und den Blumen,
im Sonnenschein \md Gesang, und dann
die Bitterkeit plötzlichen Schmerzes, wenn
der Tod einer kurzen und schönen Jugend-
freundschaft ein Ende macht, mit all dem
vergeblichen Sehnen und hoffnimgslosen
135
Fragen, mit dem wir so nutzlos das starre
Marmorantlitz des Todes bewegen wollen ;
wobei der künstlerische Gegensatz!
zwischen der UnvoUkommenheit des
Geistes und der vollkommenen Vollendung
des Stils!, der ihn zum Ausdruck bringt,
das Hauptelement des ästhetischen Reizes
dieser besonderen Gedichte ausmacht;
und dann die Geburt der Liebe und all
das Wunder und all die Angst und gefahr-
volle Wonne, wenn zum erstenmal die
Schwingen der Liebe die Stime des Kna-
ben streifen; und die Liebeslieder, zart
und fein, mit einer inneren Musik, als
flögen leichte Schwalben, und so voller
Freiheit und Duft, dass man sie alle im
Freien und auf fliessendem Wasser singen
möchte; und dann der Herbst, mit seinen
verstummten Wäldern \md seiner duften-
den Verwesung imd der untergehenden
Lieblichkeit, wo die Liebe im Tode da-
liegt; und die Klage darüber.
Hier möchte man innehalten, denn
von einem jungen Dichter dürfte man
keine tieferen Klänge des Lebens verlan-
gen als diese, die Liebe und Freundschaft
136
uns zu ewigen Klängen machen; und die
besten Gedichte in diesem Bande gehören
offenbar einer späteren Zeit an, wo diese
Erfahrungen des Wirklichen in eine Form
aufgelöst und zusammengezogen werden,
die solchen Erfahrungen des Wirklichen
sehr entfremdet und entfernt scheint; wo
der einfache Ausdruck von Freude oder
Schmerz nicht länger genügt und mehr
in der Hoheit des Rhythmus, in der Musik
und Farbe der verketteten Worte liegt als
in unmittelbarem Aussprechen der Dinge ;
mehr, möchte man sagen, in der Vollen-
dung der Form lebt als im Pathos des
Gefühls. Und doch können wir, nach der
zerbrochenen Musik der Liebe und der
Grablegung der Liebe in den Wäldern des
Herbstes, wohl das Wandern unter selt-
samen Menschen und in Ländern, die wir
nicht kennen, darin spüren, wodurch wir
so tragisch versuchen, die Stösse des
Lebens, das wir kennen, zu heilen, imd
die reine, inständige Hingebung an die
Kunst, die den Menschen überkommt,
wenn die rauhe Wirklichkeit des Lebens
ihn zu plötzlich verwundet hat und ihm
137
die Jugend mit; Verzweiflung oder Kummer
zerstört, und die, meine ich, nicht seltener
daher kommt aJs von irgend einer natür-
lichen Freude am Leben; \md die sonder-
bare GewaJt des Blicks, die in Momenten
überwältigender Trauer imd unbezwing-
licher Verzweiflung künstlerische Dinge
im Gedächtnis zu lebendiger Wirklichkeit
beseelt, zu einer Wirklichkeit, die dem
Leben angehört, das diese Dinge uns ver-
gessen helfen — ein altes gr3.ues Grab in
Flandern mit einer seltsamen Inschrift, das
uns den Gedanken gibt, dass leidenschaft-
liche Liebe vielleicht den Tod überlebt,
eine Schnur aus blauen und bernstein-
gelben Perlen und ein zerbrochener Spie-
gel, die im Grab eines Mädchens in Rom
gefunden wurden, ein Marmorbild eines
Knaben, der wie Eros gekleidet ist, und
mit der pathetischen Gebärde der Tragik
eines grossen Königs, die wie ein pur-
purner Schatten darin umgeht, hat sich
über dem allem der müde und verklärte
Geist mit der ruhigen und sicheren Freu-
digkeit gelagert, die über einen komtnt,
wenn man etwas gefunden hat, was die
138
Welt nicht zerstören und die Zeit nicht
verwittern kann; und mit ihr kommt die
Sehnsucht nach den Dingen Griechen-
lands, die oft das Mittel des Künstlers ist,
die Sehnsucht nach der Vollendung aus-
zudrücken, und das Verlangen nach den
alten gestorbenen Tagen, das so modern
ist und so unvollkommen imd so rührend
imd gewissermassen die umgekehrte
Fackel der Hoffnimg vorstellt, die die
Hand verbrennt, die sie führen sollte; \md
über viele Dinge eine leichte Trauer, und
zu allen Dingen eine grosse Liebe; und
zuletzt, im Kiefernwald an der See, noch
einmal der rasche, lebendige Puls froher
Jugend, der in jeder Zeile lacht und hüpft,
die frische, unverzagte Freiheit von Welle
und Wind, die die ausgebrannte Asche
des Lebens zu Flammen erwecken und zu
Gesang die stummen Lippen der Qual —
wie klar scheint man es alles zu sehen,
die lange Zeile der Kiefern, durch die
Wolken imd Meer hie imd da wie ein Silber-
blick aufblitzen; den freien Platz im Grü-
nen, das Herz des Waldes mit dem moos-
amsponnenen Altar des alten italischen
X39
Gottes darauf, und die Blumen rings her-
um, Alpenveilchen an schattigen Plätzen,
und die Sterne der weissen Narzissen, die
wie Schneeflocken über dem Gras liegen,
wo die behende glanzäugige Eidechse über
den Stein schiesst, und die Schlange zu-
sammengerollt auf dem heissen Sand in
der Sonne liegt, und zu Raupten von den
Zweigen fliessen die Marienfäden, dünne,
zitternde, goldene Fäden — die Szene ist
in ihrem Motiv ganz vollendet, denn hier
fürwahr, wenn irgendwo, könnte die wahre
Freudigkeit des Lebens einer Jugend
offenbart werden — die Freudigkeit, die
nicht kommt, wenn man die Leidenschaft
verstösst, sondern wenn man sie in sich
einzieht und die so ist wie die ruhige
Heiterkeit, die im Gesicht der griechischen
Statuen liegt, und die Verzweiflung und
Schmerz nicht vernichten, sondern nur
verdichten und verstärken können.
So etwa könnten wir diese losen imd
zerstreuten Blumenblätter der Dichtimg
zu einer vollkommenen Rose des Lebens
sammeln und doch möchten wir vielleicht,
wenn wir es tun, das wahre Wesen der
140
Gedichte nicht treffen ;^ des Menschen wirk-
liches Leben ist so oft das Leben, das er
nicht führt; und schöne Gedichte können
wie schöne Seidenfäden zu vielerlei
Mustern verwoben werden, die alle wun-
derbar und verschieden sind: und dazu
ist die romantische Dichtung wesentlich
die Dichtung der Impressionen, und wie
die letzte Richtung in der Malerei, die
Richtung Whistlers und Albert Moores,
wählt sie zu ihrer Situation nicht eine
Fabel oder, ein Thema; sie behandelt lieber
die Ausnahmen als die Typen des Lebens ;
sie liebt die intensive Kürze in dem, was
man ihre feuerfarbene Augenblicklichkeit
nennen könnte, denn in der Tat sind es
jetzt die Augenblickssituationen des
Lebens, das momentane Aussehen der
Natur, was Dichtung und Malerei uns ver-
mitteln wollen. Ehrlichkeit und Treue wird
der Künstler natürlich immer haben; aber
künstlerische Ehrlichkeit ist bloss die
plastische Vollendung der Ausführung,
ohne die ein Gedicht oder ein Gemälde,
mag die Empfindimg noch so edel, seine
Herkunft noch so menschlich sein, nur
141
vergeudete und unwirkliche Arteit ist, und
treu sein kann der Künstler nicht einem
festgelegten Lebensgesetz oder System,
sondern nur dem Prinzip der Schönheit,
durch das die schwankenden Schatten des
Lebens in ihrem flüchtigsten Augenblick
festgehalten imd verewigt werden. Er wird
sich zum Beispiel in Dingen der Erkennt-
nis nicht bei der bequemen Orthodoxie
unserer Zeit beruhigen und ebensowenig
verlangt es ihn nach dem feurigen Glau-
ben der antiken Zeit, der die Phantasie zwar
intensiver machte, aber beschränkte; noch
weniger wird er zugeben, dass der Friede
seiner Kultur von der misstönenden Ver-
zweiflung des Zweifels oder der Düster-
keit unfruchtbarer Skepsis zerrissen wird,
denn das TaJ der Gefahr, wo die Heere
der Unwissenden zur Nacht rasselnd zu-
sanmienstossen, ist kein schicklicher Ruhe-
platz fiüjT; die,|der die Götter das helle Hoch-
land, den heiteren Gipfel imd die sonnige
Luft bestimmt haben — lieber wird er
es imm,er in Neugier mit neuen Formen
des Glaubens versuchen, wird seine Natur
in den Gefühlen untertauchen lassen, die
142
noch um alten schönen'' Olauben zitterü,
und wenn er, der die Erfahrung selbst,
nicht ihre Früchte sucht, ihr Geheimnis
gehörigen hat, wird er ohne Bedauern vieles
lassen, was ihm einmal sehr teuer war.
„Ich bin immer unaufrichtig," sagt Emer-
son irgendwo, „da ich weiss, es gibt auch
andere Stimmungen." „Les ^motions,"
schrieb Th6ophile Gautier einmal in einer
Kritik über Arsfene Houssaye, „les 6mo-
tions ne se ressemblent pas, mais £tre 6mu
— voilä rimportant."
Dies also ist das Geheimnis der Kunst
der romantischen Schule unserer Zeit und
gibt ims den rechten Grundton, sie zu er-
fassen; aber das eigentliche Wesen aller
Werke, die wie die Gedichte Rodds, wie
ich sagte, nach einer rein künstlerischen
Wirkung streben, kann nicht mit den Wor-
ten, die der Sprache begrifflicher Kritik
zur Verfügung stehen, beschrieben wer-
den; sie sind dafür imzugänglich. Man
kann vielleicht am besten in Ausdrücken
zu ihnen führen, die den andern Künsten
entnommen sind und auf sie hinweisen;
und wirküch, einige dieser Gedichte iri-
143
sieren wie ein entzückendes Stück vene-
tianisches Glas und sind ebenso köstlich;
andere sind so duftig in der Vollkommen-
heit ihrer Ausführung und so einfach im
Naturmotiv wie eine Radierung Whistlers
oder wie eine der schönen kleinen grie-
chischen Figuren, die man in den Oliven-
hainen um Tanagr^ heute noch finden
kann, mit der matten Vergoldung und dem
Hauch von Karmesin, die noch nicht ganz
von Haar und Lippen und Gewand ge-
schwunden sind; und viele von ihnen
gleichen den Dämmenmgen Corots, die
eben zu Musik werden, denn nicht bloss
in der sichtbaren Farbe, sondern auch in
der Empfindimg — die die Farbe der
Poesie ist -— kann wohl eine Art Ton
liegen.
Aber ich glaube, das beste Gleichnis
für das Wesen der Gedichte dieses jungen
Poeten, das ich je sah, fand ich in der
Loirelandschaft. Er und ich hielten uns
einmal in dem kleinen Städtchen Amboise
auf, mit seinen grauen Schieferdächern
und seinen steilen Strassen \md dem
schmalen, finsteren Torweg, wo die fried-
144
liehen Hütten wie weisse Tauben in den
düstern Spalten der grossen Felsenfestung
nisten, und die stattlichen Renaissance-
gebäude schweigsam und vornehm dastehn
— jetzt sehr öde, aber die feingedrehten
Säulen und die geschnitzten Tore mit
ihren grotesken Tieren und lachenden
Masken und wunderlichen Wappen-
sprüchen noch von mancher Erinnerung
an die alten Tage umschwebt, und das
alles erzählt von einem Menschenschlag,
der sich das Leben nicht wirklich den-
ken konnte, solange er's nicht phantas-
tisch gemacht hatte. Und oberhalb des
Städtchens, jenseits der Biegung des
Flusses, gingen wir gewöhnlich nach-
mittags und zeichneten von einem der
grossen Kähne aus, die im Herbst den
Wein imd im Winter das Holz zum Meer
bringen, oder wir lagen im hohen Gra3
und entwarfen Pläne pour la gloire, et
pour ennuyer les Philistins, oder wir spa-
zierten an den niedrigen, schilfbewach-
senen Ufern und „bliesen imsere Rohr-
pfeife in fröhlichem Wettkampf", wie es
Gefährten in den alten Tagen Siziliens
145*
10
gern taten; und das Land war ein ziem-
lich gewöhnliches Land und sogar kahl,
wenn man an Italien dachte, wie da die
Oleanderbäume die Berge bei Genua mit
Scharlach schmückten und die Cyklamen
mit ihr^m Purpur jedes Tal von Florenz
bis Rom erfüllten; denn es gab nicht
viel wirkliche Schönheit hier, nur lange,
weisse, staubige Strassen und gerade,
feierliche Pappelalleen, aber dann und
wann verlieh ein kleiner flüchtiger Schim-
mer gebrochenen Lichts dem grauen Feld
oder der stillen Schemie ein Geheimnis
und eine Weihe, die sie nicht wirklich
besassen, und verklärte für einen ein-
zigen köstlichen Augenblick die Bauern,
die den Weinberg herabstiegen, oder den
Schäfer, der auf dem Hügel weidete, be-
tupfte die Weidenbäume mit Silber imd
verwandelte den Fluss in f liessendes Gold ;
und die wunderbare Wirkung zusammen
mit der seltsamen Einfachheit des Ma-
terials schien mir immer ein wenig wie
die Art dieser Verse meines Fremides.
146
SONETT AN DIE FREIHEIT
(OSCAR WILDE, POEMS. LONDON 1881.)
Nicht darum, weil ich hold bin deinen
Söhnen,
In deren Sinn nichts lebt als festgeballt
Der eignen dumpfen Leiden Missgestalt, —
Doch weil aus deinem wilden Macht-
verhöhnen,
Aus deines Schreckensreichs Gewitter-
dröhnen
Mir meiner eignen Leidenschaft Gewalt
Und meinem Grimm ein Echo widerhallt, —
Darum, du Freiheit 1 jauchzt bei deinen
Tönen
Mein Innerstes, sonst könnte Tyrannei
Das heiige Recht der Völker immerhin
Mit Knuten treffen und mit Kanonaden,
Und meine Seele bliebe kalt dabei —
Und doch, und doch I Gott weiss, wie eins
ich bin
Mit jenen Heilanden der Barrikaden.
Axel Junckers Buchhandlung Karl Schnabef
BERLIN W.9, Potsdamerstrasse 138
Früher erschien:
VERSCHOLLENE MEISTER DER LITERATUR
I.
MEISTER ECKHARTS
MYSTISCHE SCHRIFTEN
IN UNSERE SPRACHE ÜEBERTRAGEllN VON
GUSTAV LANDAUER
PREIS BROSCH. 5,— M., IN GANZLEDER GEB. 6.50 M.
Unsere Ausgabe soll nicht Geschichtsforschern das
Original ersetzen, sondern den grossen Meister und
gewaltigen Sprachschöpfer aufs neue zu Denkenden»
Empfindenden und Geniessenden sprechen lassen»
LITERARISCHES ECHO.
Eckharts Prosa gehört zum Schönsten und QewalHgsten,
was in deutscher Sprache geredet und geschrieben worden
ist. Sie vereinigt fvunderhare Atisdrucksfähigkeit für die
feinsten und geistigsten Dinge mit der unverbrauchten
Jugendkraft und naiven Bildlichkeit einer Zeit, die die sprach-
liche Form für ihr tiefbewegtes Innenleben erst schaffen
muss. Diese kösÜithe Frische und Originalität auch im neu-
hochdeutschen Gewände zu bewahren, erscheint mir als die
vornehmste Aufgabe des Uebersetzers, Landauer behält
nach Möglichkeit die Worte und syntaktischen Etgentümlidi"
keiten Eckharts hei. Man spiirt bei ihm noch, was im Ur-
text so tief ergreift, das mächtige Bingen der Gedanken mit
dem ungefügen Material der Sprache und das Uidenschaft^
liehe Pathos des Redners.
NEUE METAPHYSISCHE RUNDSCHAU.
Landauer ist, das kann man wohl sagen, tief in das
mystische Denken eingedrungen, und um so wertvoller ist
seine Spürarbeit, Mystik und Sprachkritik (im Anschluss
an Mauthner) miteinander in Verbindung zu bringen.
Axel Junckers Buchhandlung Karl Schnabel
BERLIN W.S, Potsdamerstrasse 138
KUNO ZWYMANN: AESTHETIK DER LYRIK
DAS GEORGESCHE GEDICHT
NEUE AUSGABE PREIS 2,50 MARK
Was Hildebrands Problem der Form in der bildenden
Kunst ist, das soll die Aesthetik der Lyrik in der Dicht-
kunst sein: Ein Buch, aus dem der Dichter lernen kann.
NEUE FREIE PRESSE 26. X.
Der Zweck dieser Schrift ist die Erschliessung des Ver-
ständnisses der eigenartigen, viehunstrittenen Schöpfungen
Stefan Georges. Dabei wird ein Weg eingeschlagen, der
von den Bahnen der üblichen literarischen Kritik gänzlich
abweicht. Neu und besonders für Aesthetiker interessant
ist der Versuch, ein allgemeines Schönheitsgesetz auf-
zustellen und deren Anwendung auf die Gedichte zu zeigen.
Prof. R. M. MLYER, Deutsche Literarische Zeitung.
Dieses merkwürdige Werkchen verdient um der uner-
sdtrockenen Selbständigkeit willen, mit der der Verfasser
:seinen Weg geht, Beachtung, auch von denjenigen, die nach
seinem eigenen Ausdruck zu den Geniessenden nicht gehören.
BEILAGE ZUR MUENCHENER ALLGEMEINEN ZEITUNG
1904 No.43.
Zwymanns Buch ist keine Sonntag^nachmittags-Lektüre.
Es erfordert eine tüchtige Denkanstrengung. Aber sie
iohnt sidi reichlich durch die Freude an der scharfsinnigen
Durdhdringufigf an den neuartigen Gedanken, für die die
Zeit erst reift, an der vollen Hingabe an Georges grosse
Kunst, die diese bisweilen so spröde klingenden Worte
erwärmt und durchleuchtet. Dem Märchen von der Un-
verständlichkeit Georges wird durch kurze Auseinander-
setzung der einzelnen Gedi chte ein Ende bereitet. .*. .*
Axel Junckers Buchhandlung Karl Schnabel
BEaiLIN W.9, Potsdamerstrasse 138
FRANZ FLAUM
FUENF ESSAYS VON
STANISLAW PRZYBYSZEWSKI, RUDOLF v. DELIUS
S. LUBLINSKI, Dr. EMIL GEYER, CESARY JELLENTA
MIT PORTRAIT UND 16 TAFELN IN LICHTDRUCK
PREIS 3,50 MARK
Ueber Flaums Skulpturen ist in Kritik und Gegenkritik
manch scharfes Wort gewechselt worden, und es Ist
Zeit, dass Flaums Plastiken weit hinaus über den
Jetzigen Kreis seiner Anhänger bekannt werden.
Erinnert doch das scharfe Für und Wider unserer
ersten Kritiker an die Zeit, da des grossen Vorbildes
Rodin's Balzac vom Salon zurückgewiesen wurde»
M. OSBORN, Nationalzeitimg.
»Mit fünf trefflich geschriebenen Essays, die mit hübsch dar^
gebotenen Abbildungen ein fesselndes Buch ergeben . . .
treten die Verfasser f&r die Bedeutung Flaums für die
deutsche Skulptur ein." Und weiter heisst es in der
Nationalzeitung: „Darin hciben die Verfasser durchaus
recht, dass sie Flaum eine besondere Stellung und Bedeutung-
einräumen. Und darüber ist kein Zweifel: Maum ist vom
Scheitel bis zur Sohle ein echter Künstler, der aus Eigenstem
arbeitet Man kann den Künstler wahrlich nicht damit
abtun, dass man ihn kurzerhand als Rodin-Nachahmer
rubriziert, sondern Flaums Bedeutung für die deutsche
Plastik ist die gleiche, wie die eines Rodln für Frankreich
oder eines Vigeland für Skandinavien. Und so sicher es
ist, dass die entscheidenden Anregungen von dem grossen
Franzosen ausgegangen sind, so sicher ist es auch, dass
es sich hier in der Tat um innerliches Verarbeiten der
Lehren des bewunderten Vorbildes handelt. Mag nun
die Kritik einerseits behaupten, seine Plastiken seien
.nachlässig, schloddrig, unvollendet**, oder andererseits, sie
seien an einem mit Bedacht gewählten Punkte abgebrochen.*^
Druck von Pass & Garleb, Borlin W. 35.
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