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Full text of "Der Sozialismus und die Seele des Menschen: Aus dem Zuchthaus zu Reading ..."

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VERSCHOLLENE MEISTER DER LITERATUR 



IL OSCAR WILDE. DREI ESSAYS 



BERLIN 1904 KARL SCHNABEL 
AXEL JUNCKERS BUCHHANDLUNG 



OSCAR WILDE: 
DER SOZIALISMUS UND DIE SEELE DES MENSCHEN 
AUS DEM ZÜCHTHAUS ZU READING 
AESTHETISCHES MANIFEST 



DEBERSETZT VON 
HEDWIG LACHHANN DND GUSTAV LANDAUER 



BERLIN 1904 KARL SCHNABEL 
AXEL JUNCKERS BUCHHANDLUNG 



Alle Rechte vorbehalten. 



VORBEMERKUNG. 

Der erste der drei Essays dieses Buches 
erschien unter dem Titel „The soul of man 
xmder sodalism" im Februar 1891 im 
„Fortnighthly Review". — Man wird mm, 
wo dieser verschollene Essay wieder ans 
Licht kommt, verstehen, warum die eng- 
lische Gesellschaft diesen genialen Mann, 
der einst ihr verhätschelter Liebling war, 
solange seine schönheitshungrige Seele mit 
ihnen zu spielen schien, später so tötlich 
hasste und so infam ins Elend stiess. Die 
Rache der Sklaven ist schrecklich; die 
Raneune der Herren aber ist unsäglich. 
Eine Einsicht, die einem oft verwandten 
Geiste, Friedrich Nietzsche, vielleicht nicht 
gefehlt hätte, wenn er nicht bloss Deut- 
scher, sondern sogar Engländer gewesen 
wäre. 



[7.63919 



Zweitens folgt ein offener Brief, den 
Wilde im Jahre 1897, bald nach seiner 
Entlassung aus dem Zuchthause zu Rea- 
ding, an den Herausgeber des „Daily 
Chronicle** richtete. Sein Inhalt berührt 
sich mit bestimmten Stellen des vorher- 
gehenden Essays, so dass er| hier an seinem 
Platze schien. Die Uebersetzung erschien 
zuerst 1897. 

Der dritte Essay entstammt einem 
1882 in Philadelphia erschienenen Ge- 
dichtebuch: Rose-leaf and Apple-leaf von 
Rennell Rodd. O. W. schrieb unter dem 
Titel L'Envoi (Zueignung) dazu eine Ein- 
führung. Da sie hier selbständig erscheint 
und die Kunstauffassung Wildes zum 
erstenmal und in entscheidender Form 
ausspricht, schien der von uns gewählte 
Titel — der also nicht von Wilde stammt 
— angemessen. 

G. L. 



DER SOZIALISMUS 
UND DIE SEELE DES MENSCHEN 




er grösste Nutzen, den die 
^Einführung des Sozialis- 
mus brächte, liegt ohne 
Zweifel darin, dass der 
Sozialismus uns von 
der schmutzigen Not- 
wendigkeit, für andere 
zu leben, befreite, die beim jetzigen 
Stand der Dinge so schwer auf fast allen 
Menschen lastet. Es entgeht ihr in, der 
Tat fast niemand. 

Hie im.d da ist im Lauf des Jahr- 
himderts ein grosser Forscher wie Darwin, 
ein grosser Dichter wie Keats, ein schar- 
fer kritischer Kopf wie Renan, ein un- 
gemeiner Künstler wie Flaubert imstande 
gewesen, sich abzusondern, sich vor den 
lärmenden Ansprüchen der andern zu 
retten, „im Schutz der Mauer zu stehen", 
wie Plato sich ausdrückt, und so zu seinem 
eigenen unvergleichlichen Gewinn und 
zum imvergleichlichen und bleibenden Ge- 



9 



winn der ganzei^ Welt die Vollendung 
'^6^en weixiricäien, was in ihm; war. Das 
.slAd.^bter.Au^^hiaen. Die meisten Men- 
•idieii • .Ve'ÄferWit ihr Leben mit einem 
heillosen, übertriebenen Altruismus — sie 
sind geradezu gezwungen, es zu tun. Sie 
sehen sich von scheussIicheiT Armut, 
scheusslicher Hässlichkeit, scheusslichem 
Hungerleben umgeben. Es ist unvermeid- 
lich, dass ihr Gefühl durch all das stark 
erregt wird. Die Gefühle des Menschen 
bäumen sich schneller auf als sein Ver- 
stand; tmd — wie ich vor einiger Zeit 
in einem Aufsatz über das Wesen der 
Kritik gesagt habe — Mitgefühl und Liebe 
zu Leidenden ist bequemer als Liebe zum 
Denken. Daher machen sie sich mit be- 
wundernswertem, obschon falschgerichte- 
tem Eifer sehr ernsthaft tmd sehr gefühl- 
voll an die Ar'beit, die Uebel, die sie 
sehen, zu kurieren. Aber ihre Mittel heilen 
diese Krankheit nicht: sie verlängern sie 
niu-. Ihre Heilmittel sind geradezu ein 
Stück der Krankheit. 

Sie suchen etwa das Problem der Ar- 
mut dadurch zu lösen, dass sie den Armen 



10 



am Leben halten; oder — das Bestreben 
einer sehr vorgeschrittenen Richtung — 
dadurch, dass sie für seine Unterhaltung 
sorgen. 

Aber das ist keine Lösimg : das Uebel 
wird schlimmer dadurch. Das eigentliche 
Ziel ist der Versuch und Aufbau der Gesell- 
schaft auf einer Grundlage^ die die Armut 
unmöglich macht. Und die altruistischen 
Tugenden haben tatsächlich die Errei- 
chimg dieses Ziels verhindert. Gerade wie 
die schlimmsten Sklavenhalter die waren, 
die ihre Sklaven gut behandelten und so 
verhinderten, dass die Grässlichkeit der 
Einrichtung sich denen aufdrängte, die 
imter ihr litten, und von denen gewahrt 
wurde, die Zuschauer waren, so sind in 
den Zuständen unserer Gegenwart die 
Menschen die verderblichsten, die am 
meisten Gutes tim wollen; und wir haben 
es schliesslich erlebt, dass Männer, die das 
Problem wirklich studiert haben und das 
Leben kennen — gebildete Männer, die 
im Londoner Eastend leben — auftreten 
imd die Gemeinschaft anflehen, ihre al- 
truistischen Gefühle imd ihr Mitleid, ihre 



11 



Wohltätigkeit und dergleichen einschrän- 
ken zu wollen. Das tun sie mit der Be- 
gründung, dass solches Wohltun herab- 
würdigt und entsittlicht. Sie haben völlig 
recht. Mitleid schafft eine grosse Zahl 
Sünden. 

Auch das muss noch gesagt werden. 
Es ist luisittlich, das Privateigentum dazu 
zu benutzen, die schrecklichen Uebel zu 
lindern, die die Institution des Privateigen- 
timis erzeugt hat. Es ist unsittlich und 
nicht loyal. 

Im Sozialismus wird natürlich all das 
geändert sein. Es wird keine Menschen 
geben, die in stinkenden Höhlen und stin- 
kenden Lumpen leben und kranke Kinder 
in immöglicher und widerwärtiger Um- 
gebung aufziehen. Die Sicherheit der Ge- 
sellschaft wird nicht wie heute von der 
Wittenmg abhängen. Wenn Kälte ein- 
setzt, wir'd es nicht hunderttausend Ar- 
beitslose geben, die in ekelhaftem Elend 
die Strassen ablaufen oder ihren Mitmen- 
schen etwas vorweinen, bis sie ein Al- 
mosen kriegen, oder sich vor dem Tor 
eines abscheulichen Asyls für Obdachlose 



12 



drängen, um ein Stück Brot und ein un- 
sauberes Nachtquartier zu ergattern. Jedes 
Mitglied der Gesellschaft wird an der all- 
gemeinen Wohlfahrt und dem Gedeihen 
der Gesellschaft teilhaben, und wenn die 
Kälte kommt, wird darum in der Tat nie- 
mand im geringsten schlechter gestellt 
sein. 

Andrerseits ist der Sozialismus ledig- 
lich darum von Werty weil er zum Individualist 
mos fuhrt. 

Der Sozialismus, Kommunismus, oder 
wie immet man den Zustand nennen will, 
gibt dadurch, dass er das Privateigentum 
in eine öffentlich-rechtliche Institution ver- 
wandelt tuid die Genossenschaft an die 
Stelle der Konkurrenz setzt, der Gesell- 
schaft ihren eigentlichen Charakter, den 
eines durchweg gesunden Organismus, 
zurück und sichert jedem Glied der Ge- 
meinschaft das materielle Wohlergehen. 
Er gibt in der Tat dem Leben seine rechte 
Grundlage und seine rechte Umgebimg. 
Aber für die volle Entfaltung des Lebens 
zum höchsten Grad seiner Vollendung tut 
noch etwas mehr not. Was not tut, ist 



13 



der Individualismus. Wenn der Sozialis- 
mus autoritär ist: wenn es in ihm Regie- 
rungen gibt, die mit ökonomischer Gewalt 
bewaffnet sind, wie jetzt mit politischer: 
wenn wir mit einem Wort den Zustand 
der industriellen Tyrannis haben werden: 
dann wird die letzte Stufe des Menschen 
schlimmer sein als die erste. Jetzt sind 
infolge des Vorhandenseins von Privat- 
eigentum sehr viele Menschen imstande, 
einen gewissen, recht beschränkten Grad 
des Invidualismus zu erreichen. Entweder 
stehen sie nicht imter dem Zwange, für 
ihren Lebensxmterhalt zu arbeiten, oder 
sie sind imstande, ein Tätigkeitsfeld zu 
wählen, das ihnen wahrhaft entspricht und 
ihnen Freude macht. Das sind die Dichr 
ter, die Philosophen, die Forscher, die 
Geistmenschen — mit einem Wort, die 
wirklichen Menschen, die Menschen, die 
sich selbst verwirklicht haben imd in denen 
die ganze Menschheit eine teilweise Ver- 
wirklichung findet. Andrerseits gibt es 
sehr viele Menschen, die nicht im Besitz 
von Privateigentum und immer in Gefahr 
sind, in Not und Hunger zu sinken; so 



14 



sind sie gezwungen die Arbeit von Last- 
tieren zu tun, Arbeit zu tun, die ihnen ganz 
und gar nicht entspricht, zu der sie aber 
durch die unerbittliche, unvernünftige, ent- 
würdigende Tyrannei der Not gezwungen 
werden. Das sind die Armen, und bei 
ihnen gibt es keine Grazie, keine Anmut 
der Rede, keine Bildung oder Kultur oder 
Verfeinerung der Genüsse, keine Lebens- 
freude. Aus ihrer Gesamtkraft zieht die 
Menschheit viel materiellen Wohlstand. 
Aber nur dieses materielle Ergebnis ist 
der Gewinn, und der Arme an sich ist 
völlig wertlos. Er ist nur das winzigste 
Atom einer Kraft, die, soweit er in Be- 
tracht kommt, ihn vernichtet, der es sogar 
lieber ist, wenn er vernichtet ist, da er in 
diesem Fall williger ist. 

Natürlich könnte man sagen, der In- 
dividualismus, wie er unter den Bedin- 
gungen des Privateigentums entsteht, sei 
nicht immer, nicht einmal in der Regel 
von edler und erfreulicher Art, und die 
Armen hätten, wenn ihnen auch Kultur 
und Grazie abgingen, doch viele Tugen- 
den. Beide Behauptimgen wären ganz 



15 



richtig. Der Besitz von Privateigentum 
ist sehr oft äusserst entsittlichend^ und 
das ist natürlich eine der Ursachen, warum 
der Sozialismus die Einrichtung abschaf- 
fen will. Das Eigentimi ist wirklich in der 
Tat eine Last. Vor einigen Jahren, reisten 
etliche im Lande herum und verkündeten, 
das Eigentum habe Pflichten. Sie sagten 
es so oft und so zum Ueberdruss, dass 
schliesslich die Kirche angefangen hat, 
dasselbe zu sagen. Man hört es jetzt von 
jeder Kanzel herab. Es ist völlig richtig. 
Das Eigentimi hat nicht nur Pflichten, son- 
dern so viele Pflichten, dass es eine Last 
ist, viel davon zu besitzen. Fortwährend 
muss man aufs Geschäft achten, fort- 
während werden Ansprüche geltend ge- 
macht, fortwährend wird man behelligt. 
Wenn das Eigentum nur Annehmlich- 
keiten brächte, könnten wir es aushalten; 
aber seine Pflichten machen es unerträg- 
lich. Im Interesse der Reichen müssen 
wir es abschaffen. Die Tugenden der 
Armen können bereitwillig zugegeben 
werden imd sind sehr zu bedauern. Man 
sagt ims oft, die Armen seien für Wohl- 



16 



taten dankbar. Einige von ihnen sind es 
ohne Frage; aber die besten unter den 
Armen sind niemals dankbar. Sie sind un- 
dankbar, imznfrieden, unbotmässig und 
aufsässig. Sie haben ganz recht, so zu 
sein. Sie fühlen, dass die Wohltätigkeit 
eine lächerlich ungenügende Art der Rück- 
erstattung ist, oder eine gefühlvolle 
Spende, die gewöhnlich von einem luiver- 
schämten Versuch seitens des Gefühl- 
vollen begleitet ist, in ihr Privatleben ein- 
zugreifen. Warum sollten sie für die Bro- 
samen dankbar sein, die vom Tische des 
reichen Mannes fallen ? Sie sollten mit an 
der Tafel sitzen und fangen an, es zu 
wissen. Was die Unzufriedenheit angeht, 
so wäre ein Mensch, der mit solcher Um- 
gebimg imd so einer niedrigen Lebenshal- 
timg nicht unzufrieden sein wollte, ein 
vollkommenes Vieh. Unbotmässigkeit ist 
für jeden, der die Geschichte kennt, die 
recht eigentliche Tugend des Menschen. 
Durch die Unbotmässigkeit ist der Fort- 
schritt gekommen, durch Unbotmässigkeit 
imd Aufsässigkeit. Manchmal lobt man 
die Armen wegen ihrer Sparsamkeit. Aber 



17 



den Armen Sparsamkeit zu empfehlen, ist 
ebenso grotesk wie beleidigend. Es ist 
dasselbe, als wollte man einem Halbver- 
htmgerten empfehlen, weniger zu essen. 
Von einem Stadt- oder Landarbeiter wäre 
es ujimoralisch, sparen zu wollen. Nie- 
mand sollte gewillt sein, zu zeigen, dass er 
wie ein schlecht gefüttertes Stück Vieh 
leben kann. Viele lehnen es denn auch ab, 
lind ziehen es vor, zu stehlen oder aber 
ins Armenhaus zu gehen, was manche für 
eine Form des Stehlens halten. Was das 
Betteln angeht, so ist es sicherer, zu betteln 
als zu nehmen, aber es ist vornehmer, zu 
nehmen als zu betteln. Wirklich: ein 
armer Maim, der undankbar, unsparsam, 
unzufrieden und aufsässig ist, ist vielleicht 
eine wirkliche Persönlichkeit und hat viel 
in sich. In jedem Fall ist er ein heilsamer 
Protest. Was die tugendhaften Armen an- 
geht, so kann man sie natürlich bemit- 
leiden, aber es fällt schwer, sie zu respek- 
tieren. Sie haben sich mit dem Feind in 
Unterhandlungen eingelassen und ihre 
Erstgeburt für eine Bettelsuppe verkauft. 
Sie müssen auch aussetgewöhnlich dumm 



18 



sein. Ich kann völlig v^erstehen, dass ein 
Mann Gesetze akzeptiert, die das Privat- 
eigentum schützen und erlauben, es auf- 
zuhäufen, solange er selbst unter diesen 
Bedingungen imstande ist, sich irgend eine 
Form schönen und geistigen Lebens zu 
schaffen. Aber es ist für mich fast un- 
glaublich, wie jemand, dessen Leben durch 
solche Gesetze verstümmelt imd besudelt 
worden ist, ihre Fortdauer zu ertragen ver- 
mag. 

Indessen ist die Erklärung in Wirk- 
lichkeit nicht schwer zu finden. Sie lautet 
einfach so. Elend und Armut sind so 
völlig entwürdigend, und üben eine so 
lähmende Wirkung auf die menschliche 
Natur aus, dass eine Klasse sich ihres 
eigenen Leidens niemals wii'klich selbst be- 
wusst wird. Es muss ihnen von andern 
'Menschen gesagt werden, und sie glauben, 
ihnen häufig durchaus nicht. Was manche 
grosse Unternehmer gegen die Agitatoren 
sagen, ist ohne Frage wahr. Agitatoren 
sind eine Art zudringlicher Störenfriede, 
die sich in eine völlig zufriedene Schicht 
der Bevölkerung begeben und die Saat der 

19 

2* 



Unzufriedenheit unter sie säen. Das ist 
der Grund, warum Agitatoren so absolut 
notwendig sind. Ohne sie gäbe es in unse- 
rem tmvoUkommenen Gemeinwesen kei- 
nerlei Annäherung an die Kultur. Als die 
Sklaverei in Amerika unterdrückt wurde^ 
geschah es nicht infolge irgend eines Vor- 
gehens von Seiten der Sklaven, nicht ein- 
mal infolge einer ausgesprochenen Sehn- 
sucht ihrerseits, frei zu sein. Sie wurde 
lediglich durch das gröblich ungesetzliche 
Vorgehen gewisser Agitatoren in Boston 
und ajndetn Orten unterdrückt, die nicht 
selbst Sklaven oder Sklavenhalter waren 
und in Wirklichkeit mit der Frage gar 
nichts zu tun hatten. Ohne Zweifel waren 
es die Abolitionisten, die die Fackel ent- 
zündeten, die die ganze Sache anfingen. 
Und es ist seltsam zu sehen, dass sie bei 
den Sklaven selbst nicht nur wenig Bei- 
stand, sondern sogar kaum Sympathien 
fanden; und als die Sklaven am Ende des 
Krieges vor der Freiheit standen, und zwar 
vor einer so vollständigen Freiheit, dass 
sie die Freiheit hatten, zu verhungern, da 
tat vielen unter ihnen der neue Stand der 



20 



Dinge bitter leid. Für denkende Menschen 
ist das tragischste Ereignis in der ganzen 
französischen Revolution nicht die Hin- 
richtung Marie Antoinettes, die getötet 
wurde, weil sie eine Königin war, son- 
dern der Aufstand der ausgesogenen Bau- 
ern der Vend6e, die sich freiwillig erhoben, 
um für die schmachvolle Sache des Feu- 
dalismus zu sterben. 

Es ist also klar, dass es mit dem auto- 
ritären Sozialismus nicht geht. Unter dem 
jetzigen System kaoxn wenigstens eine recht 
grosse Zahl Menschen ein Leben führen, 
das eine gewisse Summe Freiheit und 
Mächtigkeit und Glück aufweist, aber 
unter einem Industriekasernensystem 
oder einem System wirtschaftlicher Tyran- 
nei wäre niemand imstande, überhaupt ir- 
gend solche Freiheit zu haben. Es ist sehr 
schlimm, dass ein Teil unserer Gemein- 
schaft sich tatsächlich in Sklaverei befin- 
det, aber der Vorschlag, das Problem so 
zu lösen, dass man die ganze Gemeinschaft 
versklavt, ist kindisch. Jedem muss völlig 
die Freiheit gelassen sein, sich selbst seine 
Arbeit auszusuchen. Keine Form des 



21 



Zwangs darf ausgeübt werden. Wenn 
Zwang herrscht, dann wird seine Arbeit 
nicht gut für den Arbeitenden sein und 
nicht gut für die andern. Unter Arbeit ver- 
stehe ich lediglich irgend eine Betätigung, 

Ich glaube kaum, dass irgend ein So- 
zialist heutzutage im Ernst vorschlagen 
könnte, ein Inspektor solle jeden Morgen 
jedes Haus visitieren, um nachzusehen, ob 
jeder Bürger aufgestanden ist und sich an 
seine achtstündige körperliche Arbeit ge- 
macht hat. Die Menschheit ist über diese 
Stufe hinausgekommen und überlässt diese 
Art Leben den Menschen, die sie sehr un- 
vernünftiger Weise Verbrecher zu nennen 
beliebt. Aber ich gestehe, viele sozialistische 
Anschauungen, denen ich begegnet bin, 
scheinen mir mit unsaubem Vorstellungen 
von autoritärer Gewalt, wenn nicht tat- 
sächlichem Zwang behaftet zu sein. Auto- 
ritäre Gewalt und Zwang können natürlich 
nicht in Frage kommen. Alle Vereinigung 
muss ganz freiwillig sein. Nur in freiwillig 
gen Vereinigungen ist der Mensch schön. 

Aber es kann gefragt werden, wie der 
Individualismus, der jetzt zu seiner Entfal- 



22 



tung mehr oder weniger die Existenz des 
Privateigentums braucht, aus der Abschaf- 
fimg dieses Privateigentums Nutzen ziehen 
soll. Die Antwort ist sehr einfach. Aller- 
dings haben unter den bestehenden Ver- 
hältnissen ein paar Männer, die im Be- 
sitz von Privatmitteln waren, wie Byron^ 
Shelley, Browning, Victor Hugo, Baude- 
laire imd andere, ihre Persönlichkeit mehr 
oder weniger vollständig verwirklichen 
können. Keiner von diesen Männern tat je 
ein einziges Tagewerk um des Lohnes 
willen. Sie waren der Armut ledig. Sie 
hatten einen ungeheuren Vorteil. Die 
Frage ist, ob es dem Individualismus zu- 
gute käme, wenn ein so grosser Vorteil ab- 
geschafft würde. Nehmen wir an, er sei 
abgeschafft. Was wird dann aus dem In- 
dividualismus ? Welchen Nutzen hat er da- 
von? 

Der Nutzen wird so beschaffen sein. 
Unter den neuen Umständen wird der In- 
dividualismus viel freier, viel schöner und 
viel intensiver sein als heutigen Tags. Ich 
spreche nicht von der grossen Phantasie- 
wirklichkeit der Individualität bei solchen 



23 



Dichtern, wie ich sie eben genannt habe, 
sondern von der grossen tatsächlich wirk- 
lichen Individualität, die in der Mensch- 
heit im allgemeinen latent und bereit ist. 
Denn die Anerkenniuig des Privateigen- 
tums hat in der Tat den Individualismus 
geschädigt imd verdimkelt, indem es den 
Menschen verwechselte mit dem, was er 
besitzt. Es hat den Individualismus völlig 
in die Irre geführt. Es hat ihm Gewinn, 
nicht Wachstum zum Ziel gemacht. So 
dass der Mensch dachte, die Hauptsache 
sei zu haben, imd nicht wusste, dass es 
die Hauptsache ist, zu sein. Die wahre Voll- 
kommenheit des Menschen liegt nicht in dem^ 
was er hat^ sondern in dem^ was er ist. Das 
Privateigentum hat den waJiren Individua- 
lismus vernichtet und einen falschen hin- 
gestellt. Diurch Aushungern hat es 
einem Teil der Gemeinschaft die Möglich- 
keit benommen, individuell zu sein. Es 
hat dem andern Teil der Gemeinschaft die 
Möglichkeit, individuell zu sein, benom- 
men, indem es ihn auf den falschen Weg 
brachte imd ihn überbürdete. In der Tat 
ist die Persönlichkeit des Menschen so 



24 



völlig von seinem Besitz aufgesogen 
worden, dass das englische Gesetz stets 
einen Angriff gegen das Eigentum eines 
Menschen weit strenger behandelt hat als 
gegen seine Person; und ein guter Bürger 
wird immer noch daran erkannt, dass er 
Eigentum hat. Die Betriebsamkeit, die 
zum Geldverdienen erforderlich ist, ist 
gleichfalls sehr demoralisierend. In einer 
Gemeinschaft wie der unsern, wo das 
Eigentum Rang, gesellschaftliche Stellung, 
Ehte, Würde, Titel imd andere angenehme 
Dinge der Art verleiht, macht es der 
Mensch, ehrgeizig wie er von Natur wegen 
ist, zu seinem Ziel, solches Eigentum anzu- 
häufen, und fährt damit bis zur Ermü- 
dung und zum Ueberdruss fort, auch wenn 
er weit mehr aufgehäuft hat, aJs er braucht 
oder benutzen kann, ja sogar mehr, als ihn 
erfreut tmd mehr, als er weiss. Der Mensch 
arbeitet sich zu Tode, um Eigentum zu 
erlangen, und weim man freilich die un- 
geheuren Vorteile sieht, die das Eigentum 
mit sich führt, ist es nicht zum Verwun- 
dern. Bedauern muss man, dass die Ge- 
sellschaft so aufgebaut ist, dass der 



25 



Mensch in. eine Grube gezwängt ist, wo er 
nichts von dem frei zur Entfaltung 
kommen lassen kann, was Schönes und 
Baimendes und Köstliches in ihm ist — 
wo er tatsächlich die wahre Lust und die 
wahre Freude am Leben entbehrt. Auch 
lebt er imter den gegenwärtigen Umstän- 
den sehr unsicher. Ein ungeheuer reicher 
Kaufmann kann in jedem Augenblick 
seines Lebens auf Gnade und Ungnade 
Dingen überliefert sein — ist es oft — , 
auf die er keinen Einfluss hat. Der Sturm 
wütet ein bisschen mehr als sonst oder so 
ähnlich, oder das Wetter ändert sich plötz- 
lich, oder irgend eine triviale Sache tritt 
ein, und sein Schiff geht unter, seine Spe- 
kulationen gehen schief, er ist ein armer 
Maim und seine gesellschaftliche Stellung 
ist verloren. Nun, nichts sollte einen Men- 
schen schädigen können, es sei denn er 
selbst. Nichts überhaupt sollte einen Men- 
schen ärmer machen können. Was in ihm 
ist, das hat der Mensch wirklich. Was 
draussen ist, sollte ohne Bedeutung sein. 
Nach der Abschaffung des Privat- 
eigentums werden wir also den wahren. 



26 



schönen, gesunden Individualismus haben. 
Niemand wird sein Leben damit vergeu- 
den, dass er Sachen imd Sachwerte an- 
häuft. Man wird leben. Leben — es gibt 
nichts Selteneres in der Welt. Die meisten 
Leute existieren, weiter nichts. 

Es ist die Frage, ob wir jemals eine 
Persönlichkeit sich völlig haben ausleben 
sehen, es sei denn in der Phantasiesphäre 
der Kunst. In der Wirklichkeit haben wir 
es nie gesehen. Cäsar, so sagt uns Momm- 
sen, war der vollkommene und vollendete 
Mensch. Aber wie tragisch unsicher war 
Cäsars Existenz! Immer, wenn es einen 
Mann gibt, der Macht ausübt, gibt es auch 
einen Mann, der der Macht widersteht. 
Cäsar war sehr vollkommen, aber seine 
Vollkommenheit ging einen zu gefähr- 
lichen Weg. Marc Aurel war der vollkom- 
mene Mensch, sagt Renan. Ja; der grosse 
Kaiser war ein vollkommener Mensch. 
Aber wie unerträglich waren die ewigen 
Forderungen, die an ihn gestellt wurden! 
Er taumelte unter der Last des Römischen 
Reiches. Er war sich bewusst, wie wider- 
sinnig es war, dass ein einzelner Mensch 



27 



die Last dieses titanischen, ungeheuren 
Reiches tragen sollte. Unter einem voll- 
kommenen Menschen verstehe ich einen, 
der sich imter vollkommenen Zuständen 
ausleben kann; einen, der nicht verwun- 
det oder zerbissen oder verkrüppelt oder 
in ewiger Gefahr ist. Die meisten Persön- 
lichkeiten waren genötigt^ Empörer zu sein. 
Ihre halbe Kraft hat die Reibung mit der 
Aussenwelt verbraucht. Byrons Persönlich- 
keit zum Beispiel wurde in ihrem Kampf 
mit der Dummheit und Heuchelei und Phi- 
listerhaftigkeit der Engländer schrecklich 
mitgenommen. Solche Kämpfe machen die 
Kraft nicht immer intensiver : oft lassen sie 
die Schwäche ins Ungemessene wachsen. 
Byron hat uns niemals geben können, was 
er uns hätte geben können. Shelley kam 
besser davon. Gleich Byron verliess er 
England sobald aJs möglich. Aber er war 
nicht so bekannt. Wenn die Engländer 
eine Ahnung gehabt hätten, was für ein 
grosser Dichter er in Wirklichkeit gewesen 
ist, sie wären über ihn hergefallen und 
hätten ihm sein Leben so unerträglich ge- 
macht, wie sie irgend konnten. Aber er 



28 



spielte in der Gesellschaft keine grosse 
Rolle und entrann daher bis zu gewissem 
Grad. Aber auch in Shelley ist die Nuance 
der Empörung manchmal noch zu stark. 
Die Nuance der vollkommenen Persönlich- 
keit ist nicht Empörung, sondern Friede. 
Sie wird etwas Wimderbares sein — 
die eigentliche Persönlichkeit des Men- 
schen — wenn sie sich ims zeigen wird. 
Sie wird in natürlicher und einfacher Art 
wachsen, wie eine Blume, oder wie ein 
Baum wächst. Sie wird nicht im Streit 
liegen. Sie wird nie argumentieren oder 
disputieren. Sie wird nichts in der Welt be- 
weisen. Sie wird alles wissen. Und doch 
keinen Wissenschaftsbetrieb kennen. Sie 
wird weise sein. Ihr Wert wird nicht mit 
materiellen Dingen messbar sein. Sie wird 
nichts haben. Und wird doch alles haben, 
und soviel man ihr auch nimmt, sie hat 
noch immer, so reich ist sie. Sie wird sich 
nicht immer um andere kümmern oder 
von ihnen verlangen, sie sollten ebenso sein 
wie sie selbst. Sie wird sie lieben, weil 
sie anders sind. Und doch, während sie 
sich um andre nicht kümmert, wird sie 



29 



allen helfen, wie etwas Schönes uns hilft, 
indem es ist, wie es ist. Die Persönlich- 
keit des Menschen wird sehr wundervoll 
sein. Sie wird so wundervoll sein, wie die 
Persönlichkeit eines Kindes. 

In ihrer Entfaltung wird sie vom 
Christentum gefördert werden, wenn die 
Menschen das lieben; wenn sie es aber 
nicht lieben, ward sie sich auch so mit 
Sicherheit entfalten. Denn sie wird sich 
nicht um Vergangenes zerreissen und 
wii'd sich's nicht kümmern lassen, ob sich 
etwas ereignet hat oder nicht ereignet hat. 
Auch wird sie keine Gesetze anerkennen 
als ihre eigenen; und keine Autorität als 
ihre eigene. Doch lieben wird sie die, die 
ihre Mächtigkeit vorbereitet haben, und 
wird oft von ihnen sprechen. Und derer 
einer war Christus. 

„Erkenne dich selbst,** stand über dem 
Portal der antiken Welt zu lesen. Ueber 
dem Portal der neuen Welt wird stehen: 
„Sei du selbst.** Und die Botschaft Christi 
an den Menschen lautete einfach : „Sei du 
selbst.'* Das ist das Geheimnis Christi. 



30 



Wenn Jesus von den Armen spricht^ meint 
er einfach Persönlichkeiteny gerade wie er^ 
wenn er von den Reichen spricht, einfach Leute 
meint, die ihre Persönlichkeit nicht ausge- 
bildet haben. Jesus lebte in einer Gemein- 
schaft, die gerade wie unsere die Anhäu- 
fung von Privateigentum erlaubte, und das 
Evangelium, das er predigte, hiess nicht, 
es sei in einer solchen Gemeinschaft von 
Vorteil, von karger, verdorbener Nah- 
rung zu leben, zerlumpte, beschmutzte Klei- 
der zu tragen, in entsetzlichen, ungesunden 
Wohnungen zu hausen, imd es sei von 
Nachteil, in gesunden, erfreulichen und ge- 
ziemenden Verhältnissen zu leben. Solch 
ein Standpimkt wäre damals und in Pa- 
lästina falsch gewesen, und wäre natürlich 
heute und in unserm Himmelsstrich noch 
falscher; denn je weiter der Mensch nach 
Norden rückt, um so lebenentscheidender 
wird die materielle Notdurft, und unsere 
Gesellschaft ist unendlich komplizierter 
und weist weit stärkere Gegensätze von 
Luxus imd Armut auf als irgend eine Ge- 
sellschaft der antiken Welt. Was Jesus 
gemeint hat, ist folgendes. Er sagte dem 



31 



Menschen : „Du hast eine wundervolle Per- 
sönlichkeit. Bilde sie aus. Sei du selbst» 
Wähne nicht, deine Vollkommenheit liege 
darin, äussere Dinge aufzuhäufen oder zu 
besitzen. Deine Vollkommenheit ist in dir» 
Wenn du die nur verwirklichen könntest^ 
dann brauchtest du nicht reich zu sein. 
Der gemeine Reichtum kann einem Men- 
schen gestohlen werden. Der wirkliche 
Reichtum nicht. In der Schatzkammer 
deiner Seele gibt es imendlich wertvolle 
Dinge, die dir nicht genommen werden 
können. Und also, suche dein Leben so 
zu gestalten, dass äussere Dinge dich nicht 
kranken können. Und suche auch das per- 
sönliche Eigentum loszuwerden. Es führt 
niedriges Gebaren, endlose Angst, ewiges 
Unrecht mit sich. Persönliches Eigentimi 
hemmt die Individualität bei jedem 
Schritt." Es ist zu beachten, dass Jesus 
nie sagt, arme Leute seien notwendig gut^ 
oder reiche Leute notwendig schlecht. Das 
wäre nicht wahr gewesen. Reiche Men- 
schen sind als Klasse besser als arme, mo- 
ralischer, geistiger, gesitteter. Es gibt nur 
eine Klasse in der Gemeinschaft^ die mehr 



32 



ans Geld denkty als die Reichen^ und das 
sind die Armen. Die Armen können an 
nichts anderes denken. Das ist der Jammer 
der Armut. Jesus also sagt, dass der 
Mensch seine Vollendung erreicht: nicht 
durch das, was er hat, nicht einmal durch 
das, was er tut, sondern ganz und gar durch 
das, was er ist. Daher also ist der reiche 
Jüngling, der zu Jesus kommt, als durch- 
aus guter Bürger hingestellt, der kein 
Staatsgesetz, kein Gebot seiner Religion 
verletzt hat. Er ist ganz respektabel, im 
gewöhnlichen Sinn dieses ungewöhnlichen 
Wortes. Jesus sagt zu ihm: „Du solltest 
das Privateigentum aufgeben. Es hindert 
dich an der Verwirklichung deiner Voll- 
kommenheit. Es ist eine Fessel für dich. 
Es ist eine Last. Deine Persönlichkeit 
braucht es nicht. In dir selbst, nicht 
draussen findest du, was du wirklich bist 
und was du wirklich brauchst." Seinen 
Jüngern sagt er dasselbe. Er fordert sie 
auf, sie selbst zu sein und sich nicht immer 
um andere Dinge zu ängstigen. Was be- 
deuten andere Dinge? Der Mensch ist in 
sich vollendet. Wenn sie in die Welt 



33 



gehen, wird die Welt sich ihnen wider- 
setzen. Das ist unvermeidlich. Die Welt 
hasst die Individualität. Aber das soll sie 
nicht kümmern. Sie sollen still und in sich 
gekehrt sein. Wenn jemand ihnen den 
Mantel nimmt, sollen sie ihm den Rock 
noch dazu geben, eben um zu zeigen, dass 
materielle Dinge keine Bedeutung haben. 
Wenn die Leute sie beschimpfen, sollen 
sie nicht antworten. Was liegt daran? 
Was die Leute von einem Menschen sagen, 
ändert den Menschen nicht. Er ist, was 
er ist. Die öffentliche Meinung hat keiner- 
lei Wert. Selbst wenn die Leute Gewalt 
anwenden, sollen sie sich nicht zur Wehr 
setzen. Damit sänken sie auf dieselbe nie- 
drige Stufe. Und schliesslich kann ein 
Mensch selbst im Gefängnis völlig frei 
sein. Seine Seele kann frei sein. Seine 
Persönlichkeit kann unbekümmert sein, 
Friede kann in ihm sein. Und vor allem 
sollen sie sich nicht in andrer Leute Sachen 
einmischen oder sie irgendwie richten. Um 
die Persönlichkeit ist es etwas sehr Ge- 
heimnisvolles. Ein Mensch kann nicht 
inrnier nach dem, was er tut, beurteilt wer- 



S4 



den. Er kann das Gesetz halten und doch 
nichtswürdig sein. Er kann das Gesetz 
brechen und doch edel sein. Er kann 
schlecht sein, ohne je etwas Schlechtes zu 
tun. Er kann eine Sünde gegen die Gesell- 
schaft begehen, und doch durch diese 
Sünde seine wahre Vollkommenheit er- 
reichen. 

Es war da eine Frau, die beim Ehe- 
bruch ergriffen worden war. Man be- 
richtet uns nichts über die Geschichte ihrer 
Liebe, aber diese Liebe muss sehr gross 
gewesen sein; denn Jesus sagte, ihre 
Sünden seien ihr vergeben, nicht weil sie 
bereute, sondern weil ihre Liebe so stark 
und wunderbar war. Später, kurze Zeit 
vor seinem Tode, als er beim Mahle sass, 
kam das Weib herein und goss kostbare 
Wohlgerüche auf sein Haar. Seine Jünger 
wollten sie davon abhalten und sagten, es 
sei eine Verschwendung, und das Geld, 
das dieses köstliche Wasser wert sei, hätte 
mögen für wohltätige Zwecke, für arme 
Leute oder dergleichen verwendet werden. 
Jesus trat dem nicht bei. Er betonte, die 
leiblichen Bedürfnisse des Menschen seien 

35 

3* 



gross und immei*währen<l, aber die geisti- 
gen Bedürfnisse seien noch grösser, und 
in einem einzigen göttlichen Moment, in 
einer Ausdrucksform, die sie selbst be- 
stimmt, könne eine Persönlichkeit ihre 
Vollkommenheit erlangen. Die Welt ver- 
ehrt das Weib noch heute als Heilige. 

Wahrlich, es ist viel Wundervolles im 
Individualismus. Der Sozialismus zum Bei- 
spiel vernichtet das Familienleben. Mit 
der Abschaffung des Privateigentums 
muss die Ehe in ihrer bisherigen Form 
verschwinden. Das ist ein Teil des Pro- 
gramms. Der Individualismus nimmt das 
auf und verwandelt es in Schönheit. Er 
macht aus der Abschaffung gesetzlichen 
Zwanges eine Form der Freiheit, die die 
volle Entfaltung der Persönlichkeit för- 
dern wird, und die Liebe des Mannes und 
der Frau wimderbarer, schöner und edler 
macht. Jesus wusste das. Er wies die An- 
sprüche des Familienlebens zurück, ob- 
wohl sie in seiner Zeit und seiner Gemein- 
schaft in sehr ausgeprägter Form bestan- 
den. „Wer ist meine Mutter? Wer sind 
meine Brüder?" fragte er, als man ihm 



86 



sagte, dass sie ihn zu sprechen, wünschten. 
Als einer seiner Jünger um Urlaub bat, 
um seinen Vater zu beerdigen, war seine 
schreckliche Antwort: „Lass die Toten 
ihre Toten begraben.** Er wollte nicht 
dulden, dass irgend ein Anspruch an die 
Persönlichkeit herantrat. 

So also ist der, der ein christusgleiches 
Leben führen will, vollkommen und voll- 
ständig er selbst. Er mag ein grosser 
Dichter sein oder ein grosser Forscher; 
ein junger Student oder ein Schafhirt auf 
der Heide; ein Dramatiker wie Shake- 
speare oder ein gottdenkender Mensch wie 
Spinoza; ein spielendes Kind im Garten 
oder ein Fischer, der seine Netze aus- 
wirft. Es kommt nicht darauf an, was er 
ist, solange er die Vollkommenheit der 
Seele verwirklicht, die in ihm ist. Alle 
Nachahmung in moralischen Dingen und 
im Leben ist von Uebel. Durch die 
Strassen Jerusalems schleppt sich heutigen 
Tages ein Wahnsinniger, der ein hölzernes 
Kreuz auf den Schultern trägt. Er ist ein 
Symbol der Leben, die die Nachahmung 
verkrüppelt hat. Vater Damien war 



37 



christusgleich, als er hinausging und mit 
den Aussätzigen lebte, weil er in diesem 
Dienst völlig verwirklichte, was Bestes in 
ihm war. Aber er war nicht mehr christus- 
gleich als Wagner, der seine Seele in der 
Musik verwirklichte, oder aJs Shelley, der 
die Verwirklichimg seiner Seele im Liede 
fand. Es gibt nicht nur einen Typus des 
Menschen, Es gibt so viele Vollendungen, 
als es imvoUkommene Menschen gibt. Den 
Anfordenmgen des Mitleids kann ein 
Mann nachgeben und doch frei sein; den 
Ansprüchen aber, die alle gleich machen 
wollen, kann niemand nachgeben imd da- 
bei frei bleiben. 

Zum Individualismus also werden wir 
durch den Sozialismus kommen. Es liegt 
in der Natur der Sache, dass der Staat 
das Regieren ganz imd gar sein lassen 
muss. Er muss es sein lassen; denn, wie 
ein weiser Mann einst viele Jahrhunderte 
vor Christus gesagt hat, so etwas, wie die 
Menschheit in Ruhe lassen, gibt es; aber 
so etwas, wie die Menschheit regieren, 
gibt es nicht. Alle Arten^ regieren zu wollen^ 
sind verkehrt. Der Despotismus ist unge- 



38 



recht gegen jedermann, den Despoten in- 
begriffen, der wahrscheinlich für Besseres 
bestimmt war. Oligarchien sind unge- 
recht gegen die vielen, und Ochlokratien 
sind ungerecht gegen die wenigen. Grosse 
Hoffnungen setzte man einst auf die De- 
mokratie; aber Demokratie bedeutet ledig- 
lich, dass das Volk durch das Volk für 
das Volk niedergeknüppelt wird. Man ist 
dahinter gekommen. Ich muss sagen, dass 
es hohe Zeit war, denn jede autoritäre Ge- 
walt ist ganz entwürdigend. Sie entwür- 
digt die, die sie ausüben, und ebenso die, 
über die sie ausgeübt wird. Wenn sie ge- 
walttätig, roh und grausam verfährt, bringt 
sie eine gute Wirkung hervor, indem sie 
den Geist der Rebellion und des Individua- 
lismus erzeugt oder wenigstens hervor- 
ruft, der ihr ein Ende machen wird. Wenn 
sie in einer gewissen freundlichen Weise 
verfährt und Belohnungen und Preise ver- 
leiht, ist sie schrecklich entsi.t ichend. Die 
Menschen merken dann den schrecklichen 
Druck, der auf ihnen lastet, weniger und 
gehen in einer Art gemeinen Behagens 
durchs Leben und wie gehätschelte Haus- 



39 



tiere, und sie merken nie, dass sie anderer 
Leute Gedanken denken, dass sie nach 
anderer Leute Normen leben, dass sie 
wahrhaftig anderer Leute abgelegte Klei- 
der tragen und nie einen einzigen Augen- 
blick lang sie selbst sind. „Wer frei sein 
will,** sagt ein grosser Denker, „muss Dissi- 
dent sein/* Die Autorität aber, die die 
Menschen dazu bringt, sich zu nivellieren 
und ajnzupassen, erzeugt tmter ims eine 
sehr rohe Art satter Barbarei. 

Mit der autoritären Gewalt wird die 
Justiz verschwinden. Das wird ein grosser 
Gewinn sein — ein Gewinn von wahrhaft 
unberechenbarem Wert. Wenn man die 
Geschichte erforscht, nicht in den ge- 
reinigten Ausgaben, die für Volksschüler 
imd Gymnasiasten veranstaltet sind, son- 
dern in den echten Quellen aus der jeweili- 
gen Zeit, dann wird man völlig von Ekel 
erfüllt, nicht wegen der Taten der Ver- 
brecher, sondern wegen der Strafen, die 
die Guten auferlegt haben; und eine Ge- 
meinschaft wird unendlich mehr durch das 
gewohnheitsmässige Verhängen von Strafen 
verroht als durch das gelegentliche Vorkam" 



40 



men von Verbrechen, Daraus ergfibt sich von 
selbst, dass je mehr Strafen verhängt wer- 
den, um so mehr Verbrechen hervorgerufen 
werden, und die meisten Gesetzgebungen 
imserer Zeit haben dies durchaus aner- 
kannt und es sich zur Aufgabe gemacht, 
die Strafen, soweit sie es für angängig 
hielten, einzuschränken. Ueberall, wo sie 
wirklich eingeschränkt wurden, waren die 
Ergebnisse äusserst gut. Je weniger Strafe, 
xmi so weniger Verbrechen. Wenn es über- 
haupt keine Strafe mehr gibt, hört das 
Verbrechen entweder auf, oder, falls es 
noch vorkommt, wird es als eine sehr be- 
dauerliche Form des Wahnsinns, die durch 
Pflege und Güte zu heilen ist, von Aerzten 
behandelt werden. Denn was man heut- 
zutage Verbrecher nennt, sind überhaupt 
keine Verbrecher. Entbehrxmg, nicht 
Sünde ist die Mutter des Verbrechens 
imserer Zeit. Das ist in, der Tat der Gnmd, 
warum unsere Verbrecher als Klasse von 
einem irgend psychologischen Standpunkt 
aus so völlig uninteressant sind. Sie sind 
keine erstaunlichen Macbeths und schreck- 
lichen Vautrins. Sie sind lediglich das, 



41 



was gewöhnliche respektable Dutzend- 
menschen wären, wenn sie nicht genug zu 
essen hätten. Wenn das Privateigentum 
abgeschafft ist, wird es keine Notwendig- 
keit imd keinen Bedarf für Verbrechen 
geben; sie werden verschwinden. Natür- 
lich sind nicht alle Verbrechen Verbrechen 
gegen das Eigentum, obwohl das die Ver- 
brechen sind, die das englische Gesetz, 
das dem, was ein Mensch hat, mehr Wert 
beimisst als dem, was er ist, mit der grau- 
samsten und fürchterlichsten Strenge be- 
straft, wofern wir vom Mord absehen und 
den Tod für ebenso schlimm halten 
wie das Zuchthaus, worüber unsere Ver- 
brecher, glaube ich, anderer Meinung sind. 
Aber wenn auch ein Verbrechen nicht 
gegen das Eigentum gerichtet ist, kann 
es doch aus dem Elend und der Wut und 
der Erniedrigung entstehen, die unsere 
verkehrte Privateigentumswirtschaft her- 
vorbringen, und wird so nach der Ab- 
schaffung dieses Systems verschwinden. 
Wenn jedes Glied der Gemeinschaft so- 
viel hat, als es braucht und von seinen 
Mitmenschen nicht behelligt wird, hat es 



42 



kein Interesse daran, andern lästig zu 
werden. Der Neid, dem im Leben unserer 
Zeit ausserordentlich viele Verbrechen ent- 
springen, ist ein Gefühl, das mit unseren 
Eigentumsbegriffen eng verbunden ist; im 
Reiche des Sozialismus und Individualis- 
mus wird er verschwinden. Es ist bemer- 
kenswert, dass der Neid bei kommunisti- 
schen Stämmen völlig unbekannt ist. 

Wenn nun der Staat nicht zu regieren 
hat, kann gefragt werden, was er zu tun 
hat. Der Staat wird eine freiwillige Ver- 
einigung sein, die die Arbeit organisiert 
imd der Fabrikant und Verteiler der not- 
wendigen Güter ist. Der Staat hat das Nütz- 
liche zu tun. Das Individuum hat das Schöne 
zu tun. Und da ich das Wort Arbeit ge- 
braucht habe, will ich nicht unterlassen zu 
bemerken, dass heutzutage sehr viel Un- 
sinn über die Würde der körperlichen Ar- 
beit geschrieben und gesprochen wird. An 
der körperlichen Arbeit ist ganz und 
gar nichts notwendig Würdevolles, und 
meistens ist sie ganz und gar entwürdi- 
gend. Es ist geistig und moralisch ge- 
nommen schimpflich für den Menschen, 



43 



irgend etwas zu tun, was ihm keine Freude 
macht, und viele Formen der Arbeit sind 
ganz freudlose Beschäftigungen und soll- 
ten dafür gehalten werden. Einen kotigen 
Strassenübergang bei scharfem Ostwind 
acht Stunden im Tag zu fegen ist eine 
widerwärtige Beschäftigung. Ihn mit 
geistiger, moralischer oder körperlicher 
Würde zu fegen, scheint mir unmöglich. 
Ihn freudig zu fegen, wäre schauderhaft. 
Der Mensch ist zu etwas Besserem da, 
als Schmutz zu entfernen. Alle Arbeit 
dieser Art müsste von einer Maschine be- 
sorgt werden. 

Und ich zweifle nicht, dass es so 
kommen wird. Bis jetzt war der Mensch 
bis zu gewissem Grade der Sklave der 
Maschine, und es lieg^ etwas Tragisches 
in der Tatsache, dass der Mensch, sowie 
er eine Maschine erfxmden hatte, die ihm 
seine Arbeit abnahm, Not zu leiden be- 
gann. Das kommt indessen natürlich von 
xmserer Eigentums- und Konkurrenzwirt- 
schaft. Ein Einzelner ist der Eigentümer 
einer Maschine, die die Arbeit von fünf- 
hundert Menschen tut. Fünfhundert Men- 



44 



sehen sind infolgedessen beschäftigungs- 
los ; und da man ihre Arbeit nicht braucht, 
sind sie dem Hunger preisgegeben und 
legen sich auf den Diebstahl. Der Ein- 
zelne eignet sich das Produkt der Maschine 
an und behält es und hat fünfhundertmal 
soviel, als er haben sollte, und wahrschein- 
lich, was viel wichtiger ist, bedeutend 
mehr, als er tatsächlich braucht. Wäre 
diese Maschine das Eigentum aller, so 
hätte jedermann Nutzen davon. Sie wäre 
der Gemeinschaft von grösstem Vorteil. 
Jede rein mechanische, jede eintönige und 
dimipfe Arbeit, jede Arbeit, die mit wider- 
lichen Dingen zu tim hat imd den Men- 
schen in abstossende Situationen zwingt, 
muss von der Maschine getan werden. Die 
Maschine muss für uns in den Kohlen- 
gruben arbeiten und gewisse hygienische 
Dienste tun und Schiffsheizer sein und die 
Strassen reinigen und an Regentagen 
Botendienste tun und muss alles tun, was 
unangenehm ist. Jetzt verdrängt die Ma- 
schine den Menschen. Unter richtigen Zu- 
ständen wird sie ihm dienen. Es ist durchaus 
kein Zweifel, dass das die Zukunft der 



45 



Maschine ist, und ebenso wie die Bäume 
wachsen, während der Landwirt schläft, so 
wird die Maschine, während die Mensch- 
heit sich der Freude oder edler Müsse 
hingibt — Müsse, nicht Arbeit, ist das Ziel 
des Menschen — oder schöne Dinge 
schafft oder schöne Dinge liest, oder ein- 
fach die Welt mit bewundernden und ge- 
niessenden Blicken umfängt, alle notwen- 
dige und unangenehme Arbeit verrichten. 
Es steht so, dass die Kultur Sklaven 
braucht. Darin hatten die Griechen ganz 
recht. Wenn es keine Sklaven gibt, die 
die widerwärtige, abstossende und lang- 
weilige Arbeit verrichten, wird Kultur und 
Beschaulichkeit fast unmöglich. Die Skla- 
verei von Menschen ist ungerecht, unsicher 
imd entsittlichend. Von mechanischen 
Sklaven, von der Sklaverei der Maschine 
hängt die Zukunft der Welt ab. Und wenn 
gebildete und gelehrte Männer es nicht 
länger nötig haben, in ein fürchterliches 
Armenviertel hinabzusteigen und schlech- 
ten Kakao und noch schlechtere Decken 
an halbverhungerte Menschen zu verteilen, 
so werden sie eben köstliche Müsse haben. 



46 



wundervolle und herrliche Dinge zu ihrer 
eigenen und aller andern Freude zu er- 
sinnen. Es wird grosse Kraftstationen für 
jede Stadt und, wenn nötig, für jedes Haus 
geben, und diese Kraft wird der Mensch 
je nach Bedarf in Wärme, Licht oder Be- 
wegung verwandeln. Ist dies utopisch? 
Eine Weltkarte, in der das Land Utopia 
nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, 
denn sie lässt die eine Küste aus, wo die 
Menschheit ewig landen wird. Und wenn 
die Menschheit da angelangt ist, hält sie 
Umschau nach einem bessern Land imd 
richtet seine Segel dahin. Der Fortschritt 
ist die Verwirklichung von Utopien. 

Ich habe also gesagt: die Gemeinschaft 
sorgt mit Hilfe der Organisation der Ma- 
schinenarbeit für die nützlichen Dinge, und 
die schönen Dinge werden vom Indivi- 
duum hergestellt. Das ist nicht bloss not- 
wendig, sondern der einzig mögliche Weg, 
um das eine wie das andere zu erreichen. 
Ein Individuum, das Dinge für den Ge- 
brauch anderer zu machen und auf ihre 
Bedürfnisse und Wünsche Rücksicht zu 
nehmen hat, arbeitet nicht mit Interesse 



47 



Und kann also in sein Werk nicht das 
Beste hineinlegen, das er in sich hat. 
Ueberall andrerseits, wo eine Gemein- 
schaft oder eine mächtige Gesellschafts- 
schicht oder irgend eine Regierung den 
Versuch macht, dem Künstler vorzu- 
schreiben, was er tun soll, geht die Kunst 
entweder völlig zugrunde oder wird ste- 
reotyp oder verfällt zu einer niedrigen und 
gemeinen. Form des Handwerks. Ein 
Kunstwerk ist ein einziges Ergebnis eines 
einzigen Temperamentes. Seine Schönheit ent- 
springt der Tatsache^ dass der Künstler ist, 
was er ist. Es hat nichts mit der Tatsache 
zu tun^ dass andere brauchen^ was sie 
brauchen. In der Tat hört ein Künstler in 
dem Augenblick, wo er den Bedürfnissen 
anderer Beachtung schenkt und den Be- 
darf zu befriedigen sucht, auf ein Künstler 
zu sein und wird ein trauriger oder amü- 
santer Handwerker, ein ehrbarer oder un- 
ehrlicher Handelsmann. Er hat keinen An- 
spruch mehr darauf, als Künstler zu gelten. 
Die Kunst ist die intensivste Art Indi- 
vidualismusy die die Welt kennt. Ich bin ge- 
neigt zu sagen, sie sei die einzige wirkliche 



48 



Art Individualismus, die die Welt kennt. 
Das Verbrechen, das unter bestimmten 
Umständen den Individualismus zu erzeu- 
gen scheinen kaim, muss von andern Men- 
schen Kenntnis nehmen und sich um sie 
kümmern. Es gehört zum Bereich des 
Handehis. Aber der Künstler kann allein, 
ohne sich um seine Mitmenschen zu küm- 
mern imd ohne jede Einmischung etwas 
Schönes gestalten; xmd wenn er es nicht 
lediglich zu seiner eigenen Lust tut, ist er 
überhaupt kein Künstler. 

Und es ist zu beachten, dass gerade 
die Tatsache, dass die Kunst eine so in- 
tensive Form des Individualismus ist, das 
Publikum zu dem Versuch bringt, über 
sie eine Autorität auszuüben, die ebenso 
unmoralisch wie lächerlich und ebenso kor- 
rumpierend wie verächtlich ist. Es ist nicht 
ganz seine Schuld. Das Publikum ist 
immer, zu allen Zeiten, schlecht erzogen 
worden. Sie verlangen fortwährend, die 
Kxmst solle populär sein, solle ihrer Ge- 
schmacklosigkeit gefallen, ihrer törichten 
Eitelkeit schmeicheln, ihnen sagen, was 
ihnen früher gesagt wurde, ihnen zeigen. 



49 



was sie müde sein sollten zu sehen, sie 
amüsieren, wenn sie nach zu reichlichem 
Essen schwermütig geworden sind, und 
ihre Gedanken zerstreuen, wenn sie ihrer 
eigenen Dummheit überdrüssig sind. Die 
Kunst aber durfte nie populär sein wollen. 
Das Publikum müsste versuchen^ künstlerisch 
zu werden. Das ist ein sehr grosser Unter- 
schied. Wenn man einem Forscher sagte, 
die Ergebnisse seiner Experimente, und 
die Schlüsse, zu denen er gelangte, müssten 
dergestalt sein, dass sie die hergebrachten 
populären Vorstellungen über den Gegen- 
stand nicht umstürzten, oder das populäre 
Vorurteil nicht verwirrten, oder die Emp- 
findlichkeiten von Leuten nicht störten, die 
nichts von der Wissenschaft verstehen: 
wenn man einem Philosophen sagte, er 
habe ein vollkommenes Recht, in den höch- 
sten Sphären des Denkens zu spekulieren, 
vorausgesetzt, dass er zu denselben 
Schlüssen käme, wie sie bei denen in Gel- 
tung sind, die überhaupt niemals in irgend 
einer Sphäre gedacht haben — nun, heut- 
zutage würde der Forscher und der Philo- 
soph beträchtlich darüber lachen. Aber es 



50 



ist in der Tat nur sehr wenige Jahre her, 
dass Philosophie wie Wissenschaft der 
rohen Volksherrschaft und in Wirklichkeit 
der Autorität unterworfen waren — ent- 
weder der Autorität der in der Gemein- 
schaft herrschenden allgemeinen Un- 
wissenheit oder der Schreckensherrschaft 
und der Machtgier einer kirchUchen oder 
Regierungsgewalt. Nun sind wir zwar bis 
zu sehr hohem Grade alle Versuche von 
Seiten der Gemeinschaft oder der Kirche 
oder der Regierung, sich in den Individua- 
hsmus des spekulativen Denkens einzu- 
mischen, losgeworden, aber das Unter- 
fangen, sich in den Individualismus der 
Phantasie und der Kunst einzumischen, ist 
immer noch am Leben. Oder vielmehr: 
es lebt noch sehr lebhaft : es ist aggressiv, 
gewalttätig und brutal. 

In England sind die Künste am besten 
daran^ an denen das Publikum kein Interesse 
nimmt. Die Lyrik' ist ein Beispiel für das, 
was ich meine. Wir haben in England eine 
Lyrik voller Schönheit haben können, weil 
das Publikum sie nicht hest und daher 
auch nicht beeinflusst. Das Publikum liebt 



51 



es, die Poeten zu beschimpfen, weil sie in- 
dividuell sind; aber nachdem das erledigt 
ist, lässt es sie in Ruhe. Im Fall des Ro- 
mans xmd des Dramas, an welchen Künsten 
das Publikum Interesse nimmt, war das 
Ergebnis der Ausübung der Volksautorität 
absolut lächerlich. Kein Land liefert so 
jämmerlich geschriebene Belletristik, so 
widerwärtige gemeine Arbeit in Roman- 
form, so alberne, pöbelhafte Stücke wie 
England. Es ist Notwendigkeit, dass es so 
ist. Der Massstab des Volkes ist so be- 
schaffen, dass kein Künstler ihm ent- 
sprechen kann. Es ist beides: zu leicht 
und zu schwer, ein populärer Roman- 
schreiber zu sein. Es ist zu leicht, weil die 
Anforderungen des Publikums, soweit 
Fabel, Stil, Psychologie, Behandlung des 
Lebens und der Literatur in Frage kom- 
men, von der kleinsten Begabung und dem 
ungebildetsten Geist erfüllt werden 
köimen. Es ist zu schwer, weil der Künst- 
ler, um solchen Anforderungen zu ent- 
sprechen, seinem Temperament Gewalt 
antun müsste, nicht um der künstlerischen 
Freude am Schreiben willen arbeiten 



62 



dürfte, sondern zu dem 2!weck, sclileciit- 
erzogene Leute zu amüsieren, imd so seine 
Individualität imterdrücken, seine Kultur 
vergessen, seinen Stil austilgen imd alles 
Wertvolle in sich vernichten müsste. Mit 
dem Drama steht es ein bisschen besser: 
das Theaterpublikum liebt aflerdings das 
Alltägliche, aber es liebt nicht das Lang- 
weilige; und die burleske Komödie und 
die Posse, die beiden populärsten Formen, 
sind ausgesprochene Formen der Kunst. 
Entzückende Sachen können in Form der 
Burleske und der Posse geschrieben wer- 
den, und bei Arbeiten dieser Art sind dem 
Künstler in England grosse Freiheiten er- 
laubt.» Erst wenn man zu den höheren 
Formen des Dramas kommt, ist das Re- 
sultat der Volksherrschaft zu sehen. Was 
dem PubUkum am meisten missfällt, ist 
Neuheit. Jeder Versuch, das Stoffgebiet 
der Kunst zu erweitem, ist dem Publikum 
äusserst zuwider; und doch häng^ Leben 
und Fortschritt der Kunst in hohem Masse 
von der fortwährenden Erweiterung des 
Stoffgebietes ab. Dem Publikum missfällt 
die Neuheit, weil es Angst davor hat. Sie 



53 



stellt ihm eine Art Individualismus vor, 
eine Behauptung von seiten des Künstlers, 
dass er seinen eigenen Stoff wählt und ihn 
behandelt, wie es ihn gut dünkt. Das 
Publikum hat mit seiner Haltung ganz 
recht. Die Kunst ist Individualismus, und 
der IndividuaUsmus ist eine zerstörende 
und zersetzende Kraft. Darin liegt seine 
ungeheure Bedeutung. Denn was er zu 
zerstören sucht, ist die Eintönigkeit des 
Typus, die Sklaverei der Gewohnheit, die 
Tyrannei der Sitte und die Erniedrigung 
des Menschen auf die Stufe einer Ma- 
schine. In der Kunst lässt sich das Publi- 
kum gefallen, was gewesen ist, weil sie 
es nicht ändern können, nicht weil sie Ge- 
schmack daran finden. Sie verschlucken 
ihre Klassiker mit Haut und Haar und sie 
schmecken ihnen nie. Sie ertragen sie als 
das Unvermeidliche, und da sie sie nicht 
vernichten können, schwatzen sie über sie 
und ziehen wichtige Gesichter dazu. Son- 
derbar genug, oder auch nicht sonderbar 
— je nachdem man einen Standpunkt ein- 
nimmt — diese Anerkennung der Klassi- 
ker tut grossen Schaden. Die unkritische 



54 



Bewunderung der Bibel und Shakespeares 
in England ist ein Beispiel für das, was 
ich meine. Bei der Bibel übt die kirchliche 
Autorität einen Einfluss aus, so dass ich 
dabei nicht zu verweilen brauche. 

Aber im Fall Shakespeares ist es ganz 
offenbar, dass das Publikum in Wirklich- 
keit weder die Schönheiten noch die 
Schwächen seiner Stücke sieht. Wenn sie 
die Schönheiten sähen, würden sie sich 
der Weiterentwicklung des Dramas nicht 
entgegenstellen; und wenn sie die 
Schwächen sähen, würden sie sich eben- 
falls der Weiterentwicklung des Dramas 
nicht entgegenstellen. Tatsächlich benatzt 
das Publikum die Klassiker eines Landes als 
Mittel, den Fortschritt der Kunst zu hindern, 
Sie degradieren die Klassiker zu Autori- 
täten. Sie benutzten sie als Knüppel, um 
den freien Ausdruck der Schönheit in 
neuen Formen zu hindern. Sie fragen 
jeden Schriftsteller, warum er nicht wie 
der oder jener schreibt, jeden Maler, 
warum er nicht wie der oder jener malt, 
imd vergessen ganz die Tatsache, dass 
jeder, der etwas der Art täte, aufhörte, ein 



55 



Künstler zu sein. Eine frische Gestalt der 
Schönheit ist ihnen durchaus zuwider, und 
jedesmal, wenn sie erscheint, v/erden sie 
so aufgebracht und bestürzt, dass sie 
immer dieselben zwei Arten sich auszu- 
drücken haben — die eine ist, das Kunst- 
werk sei heillos imverständlich, und die 
andere, das Kunstwerk sei heillos unmora- 
lisch. Was sie mit diesen Worten meinen, 
scheint mir folgendes zu sein. Wenn sie 
sagen, ein Werk sei heillos unverständlich, 
meinen sie, der Künstler habe etwas 
Schönes gesagt oder vollbracht, das neu 
ist; wenn sie ein Werk als heillos unmo- 
ralisch bezeichnen, meinen sie, der Künst- 
ler habe etwas Schönes gesagt oder voll- 
bracht, das wahr ist. Der erste Aus- 
druck bezieht sich auf den Stil, der zweite 
auf den Gegenstand. Aber gewöhnlich ge- 
brauchen sie die Worte ganz unbestimmt, 
wie ein gewöhnlicher Pöbel fertige 
Pflastersteine benutzt. Es gibt zum Bei- 
spiel nicht einen einzigen wirklichen Dich- 
ter oder Prosaisten in diesem Jahrhundert, 
dem das britische Publikum nicht feierlich 
das Diplom für Unmoral überreicht hat. 



56 



und diese Diplome haben in der Tat in 
England die Bedeutung, die in Frankreich 
die formelle Aufnahme in die Akademie 
hat, so dass gottlob die Einführung 
einer solchen Institution in England 
ganz überflüssig ist. Natürlich ist 
das Publikum sehr wahllos in seiner 
Anwendung des Wortes. Dass sie 
Wordsworth einen unmoralischen Dichter 
nannten, war nur zu erwarten. Wordsworth 
war ein Dichter. Aber dass sie Charles 
Kingsley einen unmoralischen Roman- 
schreiber genannt haben, ist erstaunlich. 
Kingsleys Prosa war nicht sonderlich gut. 
Nun, das Wort ist da, und sie benutzen es, 
so gut sie können. Ein Künstler lässt sich 
natürlich dadurch nicht beirren. Der 
wahre Künstler ist ein Mensch, der durch- 
aus an sich glaubt, weil er durchaus er 
selbst ist. Aber ich kann mir vorstellen, 
dass ein Künstler, wenn er in England ein 
Kunstwerk veröffentlicht hätte, das gleich 
bei seinem Erscheinen vom Publikum ver- 
mittelst der Presse als ganz verständliches 
und hochmoralisches Werk anerkannt 
worden wäre, anfinge sich ernsthaft zu 



57 



fragen, ob er bei seiner Schöpfung wirklich 
überhaupt er selbst gewesen sei und ob 
also das Werk nicht ganz seiner unwürdig 
und entweder durchaus zweiten Rangs 
oder ganz und gar ohne künstlerischen 
Wert sei. 

Zwei andere Adjektive sind übrigens in 
den paar letzten Jahren dem sehr knappen 
Schimpflexikon zugefügt worden, das dem 
Publikum gegen die Kunst zur Verfügung 
steht. Das eine ist das Wort „ungesund**, 
das andere das Wort „exotisch**. Dies 
letztere drückt nur die Wut des vergäng- 
lichen Pilzes gegen die unsterbliche, be- 
rauschend schöne und unbeschreiblich 
liebliche Orchidee aus. Es ist eine Huldi- 
gung, aber eine Huldigung ohne be- 
sondere Bedeutung. Das Wort „unge- 
sund" jedoch lässt eine Untersuchung zu. 
Es ist ein recht interessantes Wort. Es ist 
in der Tat so interessant, dass die Leute, 
die es anwenden, nicht wissen, was es be- 
deutet. 

Was bedeutet es? Was ist ein ge- 
sundes, und was ein ungesundes Kunst- 
werk? Alle Ausdrücke, die man auf ein 



58 



Kunstwerk anwendet, vorausgesetzt, dass 
man sie vernünftig anwendet, beziehen sich 
entweder auf seinen Stil, oder auf seinen 
Gegenstand oder auf beide zugleich. Hin- 
sichtlich des Stils ist ein Kunstwerk ge- 
sund, wenn sein Stil die Schönheit des 
Materials, das es verwendet, erkennen 
lässt, bestehe es nun aus Worten oder aus 
Bronze, aus Farben oder aus Elfenbein, 
und wenn es diese Schönheit als Mittel 
zur Erzeugung der ästhetischen Wirkung 
benutzt. Hinsichtlich des Gegenstandes ist 
ein Kunstwerk gesund, wenn die Wahl 
dieses Gegenstandes vom Temperament 
des Künstlers bedingt ist und unmittelbar 
aus ihm entspringt. Kurz, ein Kunstwerk 
ist gesund, wenn es sowohl Vollendung wie 
Persönlichkeit hat. Natürlich können 
Form und Inhalt bei einem Kunstwerke 
nicht getrennt werden ; sie sind immer eins. 
Aber für die Zwecke der Untersuchung 
können wir für einen Augenblick die Unge- 
teiltheit des ästhetischen Eindrucks über- 
sehen und sie also im Verstände getrennt 
betrachten. Ungesund ist andrerseits ein 
Kunstwerk, wenn sein Stil gewöhnlich, her- 



59 



gebraclit xind vulgär ist, und wenn sein 
Gegenstand sorgsam ausgewählt ist, nicht 
weil der Künstler seine Freude daran hat, 
sondern weil er denkt, das Publikum werde 
ihn dafür bezahlen. In der Tat ist der po- 
puläre Roman^ den das Publikum gesund 
nennt^ immer ein durchaus ungesundes Pro- 
dukt; und was das Publikum einen unge- 
sunden Roman nennt^ ist immer ein schönes 
und gesundes Kunstwerk. 

Vielleicht jedoch habe ich dem Publi- 
kum imrecht getan, als ich seinen Wort- 
schatz auf Ausdrücke wie „unmoralisch**, 
„xmverständlich**, „exotisch** und „unge- 
sund** beschränkte. Es gibt noch ein ande- 
res Wort, das sie anwenden. Es lautet: 
„dekadent.** Sie wenden es nicht oft an. 
Der Sinn des Wortes ist so deutlich, dass 
sie sich scheuen, es oft zu gebrauchen. 
Aber inmierhin gebrauchen sie es manch- 
mal, und hie und da trifft man es in 
den Tageszeitimgen. Es ist natürlich in 
Anwendimg auf ein Kunstwerk ein lächer- 
liches Wort. Denn was ist Dekadenz an- 
ders als eine Seelenstimmung oder ein Ge- 
dankengang, den man nicht ausdrücken 



60 



kann? Die Publikumsmenschen sind alle 
dekadent, denn das Publikum kann für 
nichts einen Ausdruck finden. Der Künstler 
ist nie dekadent. Er drückt alles aus. Er 
steht jenseits seines Gegenstandes und 
bringt durch ihn unvergleichliche und 
künstlerische Wirkungen hervor. Einen 
Künstler dekadent zu nennen, weil er die 
Dekadenz als Gegenstand behandelt, ist 
ebenso albern, als wenn einer Shakespeare 
verrückt nennen wollte, weil er den „König 
Lear** geschrieben hat. 

Im ganzen gewinnt der Künstler in 
England etwas, wenn er angegriffen wird. 
Seine Individualität wird intensiver. Er 
wird vollständiger er selbst. Natürlich 
sind die Angriffe sehr grob, sehr unver- 
schämt und sehr verächtHch. Aber 
schliesslich erwartet kein Künstler vom 
vulgären Geist Grazie und ebensowenig 
Stil vom Vorstadtintellekt. Gemeinheit 
und Dunmiheit sind im Leben unserer 
Zeit zwei sehr lebendige Erscheinungen. 
Man bedauert sie natürlich. Aber sie sind 
einmal da. Sie sind ein Gegenstand der 
Beobachtung, wie andere Dinge auch. 



61 



Und es ist nur loyal, wenn hinsichtlich der 
Journalisten unserer Zeit konstatiert wird, 
dass sie einen Künstler immer unter vier 
Augen um Entschuldigimg für das bitten, 
was sie öffentlich gegen ihn geschrieben 
haben. 

Ich brauche kaum zu sagen, dass ich 
mich nicht einen Augenblick lang darüber 
beklage, dass das Publikum und die öffent- 
liche Presse diese Worte missbrauchen. 
Ich sehe nicht ein, wie sie bei ihrem 
Mangel an Verständnis für das, was die 
Kunst ist, sich irgendwie richtig aus- 
drücken könnten. Ich stelle bloss den Miss- 
brauch fest, und die Erklärung für seinen 
Ursprung und für die Bedeutung der 
ganzen Erscheinung ist sehr einfach. Sie 
geht auf den barbarischen Begriff der 
Autorität zurück. Sie geht zurück auf die 
natürUche Unfähigkeit einer Gemein- 
schaft, die durch die autoritäre Herrschaft 
verderbt ist, den Individualismus zu ver- 
stehen oder zu schätzen. Mit einem Wort, 
der Missbrauch kommt von dem unge- 
heuerlichen und unwissenden Gebilde, das 
man öffentliche Meinung nennt, die 



62 



schlimm und wohlwollend ist, wenn sie 
den Versuch macht, das Handeln der Men- 
schen zu beherrschen, die aber infam und 
übelwollend wird, wenn sie versucht, in 
die Sphäre des Geistes oder der Kunst 
überzugreifen. 

Es ist in der Tat viel mehr zugunsten 
der physischen Gewalt des Volkes zu sagen 
als zugunsten seiner Meinung. Die erstere 
kann gut und schön sein. Die letztere 
muss töricht sein. Man hat oft gesagt, 
mit Gewalt lasse sich nichts beweisen. Das 
hängt jedoch ganz davon ab, was man be- 
weisen will. Viele der wichtigsten Pro- 
bleme der paar letzten Jahrhunderte, wie 
die Frage der Fortdauer des persönlichen 
Regiments in England oder des Feudalis- 
mus in Frankreich, sind ganz und gar ver- 
mittelst der physischen Gewalt gelöst 
worden. Gerade die Gewalttätigkeit einer 
Revolution ist es, die das Volk einen Mo- 
ment lang grossartig und glänzend er- 
scheinen lässt. Es war ein verhängnis- 
voller Tag, als das Volk entdeckte, dass 
die Feder mächtiger als der Pflasterstein 
ist. Nun suchten imd fanden sie gleich 

68 



den Jourhalisten, bildeten ihn aus und 
machten ihn zu ihrem eifrigen und gut be- 
zahlten Diener. Es ist für beide Teile sehr 
zu bedauern. Hinter der Barrikade kann 
viel Edles und Heroisches stehen. Aber 
was steht hinter dem Leitartikel als Vor- 
urteil, Dummheit, Heuchelei und Ge- 
schwätz ? Und wenn diese vier zusammen- 
treffen, machen sie eine fürchterliche 
Macht aus und bilden die neue autoritäre 
Gewalt. 

In früheren Zeiten hatten die Men- 
schen die Folter. Jetzt haben sie die Presse. 
Gewiss, das ist ein Fortschritt. Aber es 
ist doch noch sehr schlimm xmd demorali- 
sierend. Jemand — war es Burke ? — hat 
den Journalismus den vierten Stand ge- 
nannt. Das war seinerzeit ohne Frage 
wahr. Aber in unserer Zeit ist er tatsäch- 
lich der einzige Stand. Er hat die andern 
drei aufgefressen. Der weltliche Adel sagt 
nichts, die Bischöfe haben nichts zu sagen, 
und das Haus der Gemeinen hat nichts zu 
sagen und sagt es. Der Journalismus be- 
herrscht uns. In Amerika ist der Präsi- 
dent vier Jahre am Regiment, und der 



64 



Journalismus herrscht für immer und ewig. 
Zum Glück hat in Amerika der Journalis- 
mus seine Herrschaft bis zur äussersten 
Roheit imd Brutalität getrieben. Als natür- 
liche Folge hat er angefangen, einen Geist 
der Auflehnung hervorzurufen. Man lacht 
über ihn oder wendet sich mit Ekel ab, 
je nach dem Temperament. Aber er ist 
nicht mehr die tatsächliche Macht, die er 
war. Man ninmit ihn nicht ernst. Bei uns 
spielt der Journalismus, da er, von einigen 
bekannten Fällen abgesehen, nicht solche 
Exzesse der Gemeinheit begangen hat, 
noch eine grosse Rolle imd ist eine tat- 
sächlich bedeutende Macht. Die Tyrannei, 
die er über das Privatleben der Menschen 
ausüben möchte, scheint mir ganz ausser- 
ordentlich zu sein. Sie kommt daher^ dass 
das Publikum eine unersättliche Neugier hat, 
alles zu wissen, es sei denn das Wissenswerte. 
Der Journalismus, dem diese Tatsache be- 
kannt ist, befriedigt die Nachfrage, wie 
es der Kaufmann eben zu tun pflegt. In 
früheren Jahrhunderten nagelte das Publi- 
kum den Journalisten die Ohren an die 
Pumpe. Das war recht hässlich. In 



65 



unserm Jahrhundert nagehi die Journa- 
listen ihr eigenes Ohr ans Schlüsselloch. 
Das ist weit übler. Und was den Unfug 
verschlimmert, ist die Tatsache, dass die 
Journalisten, die am meisten Tadel ver- 
dienen, nicht die Spassmacher sind, die für 
die Klatschblätter schreiben. Am schäd- 
lichsten sind die ernsthaften und gedanken- 
schweren Journalisten, die feierlich, wie es 
jetzt ihre Gepflogenheit ist, einen Vorfall 
aus dem Privatleben eines grossen Staats- 
mannes, eines Mannes, der der Träger eines 
politischen Gedankens und der Schöpfer 
einer politischen Macht ist, vor die Augen 
des Publikums zerren und es einladen, den 
Vorfall zu erörtern, in der Sache seine Auto- 
rität geltend zu machen, seine Ansicht zu 
äussern, und nicht bloss zu äussern, son- 
dern sie auch in Handlung umzusetzen, 
dem Mann gegenüber in allen anderen 
Sachen, und nicht nur ihm, auch seiner 
Partei, seinem Lande gegenüber den Dik- 
tator zu spielen, kurz, sich lächerlich, 
lästig und schädlich zu machen. Aus dem 
Privatleben von Männern und Frauen 
sollte dem Publikum nichts mitgeteilt 



66 



werden. Es geht das Publikum durchaus 
nichts an. In Frankreich sieht es um diese 
Dinge besser aus. Da ist es nicht statthaft, 
dass die Einzelheiten der Verhandlimgen 
in Ehescheidungsprozessen zum Vergnü- 
gen oder zur Lästersucht des Publikums 
veröffentlicht werden. Das Publikum darf 
nichts weiter erfahren, als dass die Schei- 
dxmg auf Grund des Antrages des einen 
oder des anderen der beiden Gatten oder 
beider ausgesprochen wurde. In Frank- 
reich wird tatsächlich der Journalist be- 
schränkt und dem Künstler fast voll- 
kommene Freiheit gewährt. In England 
hat der Journalist absolute Freiheit^ und der 
Künstler wird völlig beschränkt. Die eng- 
lische öffentliche Meinung, das muss ge- 
sagt werden, sucht den Mann, der tatsäch- 
lich Schönes erzeugt, zu fesseln und zu 
hindern und zu verkrüppeln, und zwingt 
den Journalisten Dinge breitzutreten, die 
hässlich und widerwärtig und empörend 
sind, so dass wir die ernsthaftesten Jour- 
nalisten der Welt und die unanständigsten 
Zeitungen haben. Es ist keine Uebertrei- 
bung, von Zwang zu sprechen. Es gibt 



67 



möglicherweise einige Journalisten, denen 
die Veröffentlichung hässlicher Dinge 
Vergnügen macht, oder die so arm sind, 
dass sie auf der Lauer nach Skandalen 
liegen, die eine Art dauernde Einkom- 
mensgrundlage bilden. Aber es gibt nach 
meiner Ueberzeugung andere Journalisten, 
gebildete imd wohlerzogene Männer, 
denen die Veröffentlichimg dieser Dinge 
wirklich zuwider ist, die wissen, dass es 
imrecht ist, es zu tun, und die es nur tim, 
weil die imgesunden Verhältnisse, unter 
denen sie ihrer Beschäftigung nachgehen, 
sie zwingen, dem Publikum das zu liefern, 
was das Publikum haben will, und mit 
anderen Journalisten zu wetteifern, um 
dem rohen Appetit der Leute möglichst 
viel imd möglichst Starkes zu liefern. Es 
ist eine sehr entwürdigende Stellung für 
jeden gebildeten Menschen, und ich zweifle 
nicht, dass die meisten es lebhaft emp- 
finden. 

Wir wollen indessen diese wirklich 
schmutzige Seite der Sache verlassen und 
zu der Frage der Volksherrschaft in 
Sachen der Kxmst zurückkehren, worunter 



68 



ich die öffentliche Meinung verstehe, die 
dem Künstler die Form vorschreibt, die 
er anwenden soll, und die Art und Weise, 
wie er es tun soll, und das Material, mit 
dem er arbeiten soll. Ich habe gesagt, dass 
die Künste in England am besten daran 
sind, an denen das Publikum kein Inter- 
esse nimmt. Am Drama jedoch nimmt es 
Interesse, und da in den letzten zehn oder 
fünfzehn Jahren im Drama gewisse Fort- 
schritte erreicht worden sind, ist es wich- 
tig, festzustellen, dass dieser Fortschritt 
ganz und gar einigen individuellen Künst- 
lern zu verdanken ist, die es ablehnten, die 
Geschmacklosigkeit der Menge zu ihrer 
Norm zu machen und die Kunst als blosse 
Sache von Angebot und Nachfrage zu be- 
trachten. Mit seiner glänzenden und leben- 
digen Persönlichkeit, mit einem Stil, der 
tatsächlich farbenprächtig ist, mit seiner 
ungewöhnlichen Macht nicht zu blosser 
Nachahmimg, sondern zu phantasievoller 
imd geistesstarker Schöpfung hätte Herr 
Irving, wenn sein einziger Zweck gewesen 
wäre, dem Publikum zu Willen zu sein, 
die gemeinsten Stücke in der gemeinsten 



69 



Manier spielen können und hätte dabei 
soviel Erfolg und Geld eingeheimst, als 
jemand irgend verlangen kann. Aber das 
war nicht sein Zweck. Sein Zweck war, 
seine eigene Vollkommenheit als Künst- 
ler imter bestimmten Bedingungen und in 
einer bestimmten Kimstform zu verwirk- 
lichen. Zuerst wandte er sich an die weni- 
gen: jetzt hat er die vielen erzogen. Er 
hat im Publikum Geschmack und Tempe- 
rament gebildet. Das Publikum würdigt 
seinen künstlerischen Erfolg ungemein. 
Ich frage mich indessen oft, ob das Publi- 
kum es weiss, dass dieser Erfolg lediglich 
der Tatsache zu verdanken ist, dass er 
nicht ihren Massstab anlegte, sondern 
seinen eigenen durchsetzte. Mit ihrem 
Massstab wäre das Lyceum-Theater eine 
Bude zweiten Ranges geworden, wie es 
einige populäre Theater in London zur 
Zeit sind. Ob sie es wissen oder nicht, 
es bleibt jedenfalls Tatsache, dass bis zu 
einem gewissen Grad im Publikum Ge- 
schmack und Temperament ausgebildet 
worden sind und dass das Publikum die 
Anlage hat, diese Eigenschaften aus sich 



70 



zu entwickeln. Das Problem Ist also: 
warum bekommt das Publikum nicht mehr 
Kultiu*? Es hat die Anlage. Was steht 
im Wege? 

Was im Wege steht, noch einmal sei 
es gesagt, ist ihr Verlangen, über Künst- 
ler und Kunstwerke eine autoritäre Gewalt 
auszuüben. In manche Theater, wie das 
Lyceum- und das Haymarket-Theater, 
scheint das Publikum in geeigneter Ver- 
fassimg zu kommen. In diesen beiden 
Theatern hat es individuelle Künstler ge- 
geben, denen es gelungen ist, in ihrem 
Zuhörerkreis — jedes Londoner Theater 
hat seinen eigenen Zuhörerkreis — das 
Temperament zu erzeugen, an das die 
Kunst sich wendet. Was für ein Tempera- 
ment ist das nun ? Es ist das Temperament 
der Empfänglichkeit. Das ist alles. 

Wenn jemand an ein Kunstwerk mit 
dem Verlangen herantritt, irgend eine 
autoritäre Gewalt darüber oder über den 
Künstler auszuüben, so ist er von einem 
Geist besessen, der ihn unfähig macht, 
überhaupt irgend welchen künstlerischen 
Eindruck zu empfangen. Das Kunstwerk 



71 



muss den Betrachter überwältigen: der ße- 
trachter darf nicht das Kunstwerk überwäl- 
tigen. Der Betrachter muss empfänglich 
sein. Er muss das Instrument sein, auf 
dem der Meister spielen soll. Und je voll- 
ständiger er seine eigenen albernen An- 
sichten, seine eigenen törichten Vorurteile, 
seine eigenen dunmien Ideen über das, 
was die Kunst sein soll und nicht sein 
soll, unterdrücken kann, um so geeigneter 
ist er, das Kimstwerk zu verstehen und zu 
würdigen. Das ist natürlich im Fall der 
Männer und Frauen, die das gewöhnliche 
Theaterpublikum bilden, ganz selbstver- 
ständlich. Aber es gilt ebensosehr für die 
sogenannten Gebildeten. Denn die Ideen 
eines Gebildeten über die Kunst sind natür- 
lich aus dem genommen, was die Kunst 
gewesen ist, wohingegen das neue Kunst- 
werk dadurch schön ist, dass es ist, was 
die Kunst nie gewesen ist, und wer es mit 
dem Massstab des Vergangenen misst, 
legt einen Massstab an, auf dessen Ueber- 
windung gerade seine Vollkommenheit be- 
ruht. Ein Temperament, das die Gabe hat, 
vermittelst der Phantasie und im Reiche 



72 



der Phantasie neue und schone EindrücKe 
aufzunehmen, ist das einzige Tempera- 
ment, das ein Kunstwerk würdigen kann. 
Und wenn dies für den Fall der Würdi- 
gung der Skulptur tmd Malerei gilt, so 
gilt es noch mehr für die Würdigung 
solcher Künste wie das Drama. Denn ein 
Gemälde oder eine Statue liegen nicht in 
Krieg mit der Zeit. Das Nacheinander der 
Zeit spielt bei ihnen keine Rolle. In einem 
Moment kann ihre Einheit erfasst werden. 
Mit der Literatur steht es anders. Es ist Zeit 
erforderlich, bevor die Einheit der Wir- 
kmig erreicht ist. Und so kann im Drama 
im ersten Akt des Stückes etwas vorfallen, 
dessen wahre künstlerische Bedeutung 
dem Zuschauer erst im dritten oder vierten 
Akt aufgeht. Soll da der alberne Kerl 
ärgerlich werden und schimpfen und das 
Stück stören und die Künstler belästigen ? 
Nein. Der ehrenwerte Mann soll ruhig 
sitzen und die köstlichen Gefühle des 
Staunens, der Erwartung und der Span- 
nung in sich erfahren. Er soll nicht ins 
Theater gehen, um seine triviale Laune zu 
verderben. Er soll ins Theater gehen, um 



73 



eine küastlerische Stimmung zu verwirk- 
lichen. Er soll ins Theater gehen, um 
eine künstlerische Stimmung, ein künst- 
lerisches Temperament zu gewinnen. 
Er ist nicht der Richter des Kunstwerks. 
Er ist einer, der zur Betrachtung des 
Kunstwerks zugelassen ist und dem es, 
wenn das Werk schön ist, vergönnt 
ist, in seiner Betrachtung all den Ich- 
wahn, der ihn quält, zu vergessen — 
den Ichwahn seiner Unwissenheit und 
den Ichwahn seiner Bildung. Diese Be- 
sonderheit des Dramas ist, glaube ich, 
noch kaum genug beachtet worden. Ich 
kann mir wohl vorstellen, dass, wenn 
„Macbeth** zum erstenmal vor einem mo- 
dernen Londoner Publikum, gespielt würde, 
viele Anwesende die Einführung der 
Hexen im ersten Akt mit ihrer grotesken 
Redeweise und ihren lächerlichen Worten 
streng und entschieden tadeln würden. 
Aber wenn das Stück vorbei ist, dann 
merkt man, dass das Gelächter der Hexen 
in „Macbeth" so schrecklich ist wie das 
Gelächter des Wahnsinns in „Lear" xmd 
schrecklicher als das Gelächter Jagos in der 



74 



Tragödie des Mohren. Kein Kunstbetrach- 
ter braucht die Stimmung der Empfäng- 
lichkeit vollendeter als der Zuschauer im 
Schauspiel. In dem Augenblick, wo er 
Autorität auszuüben sucht, wird er der er- 
klärte Feind der Kunst und seiner selbst. 
Die Kunst macht sich nichts daraus. Er 
aber leidet darunter. 

Mit dem Roman steht es ebenso. 
Die Autorität der Menge und die Aner- 
kennung dieser Autorität sind verhängnis- 
voll. Thackerays „Esmond** ist ein schönes 
Kunstwerk, weil er es zu seiner eigenen 
Lust schrieb. In seinen anderen Romanen, 
in „Pendennis**, in „Philip" und sogar 
manchmal in „Vanity fair** denkt er zu 
sehr ans Publikum und verdirbt sein Werk, 
indem er direkt an die Sympathien des 
Publikums appelliert, oder sich direkt über 
es lustig macht. Ein wahrer Künstler 
nimmt keinerlei Notiz vom Publikum, Das 
Publikum existiert nicht für ihn. Er hat 
keinen Mohnkuchen oder Honigkuchen, 
um damit dem Ungeheuer Schlaf oder an- 
genehme Stimmimg zu geben. Er über- 
lässt das dem Verfasser populärer Ro- 



75 



maiie. Einen Dichter unvergleichliche^ 
Romane haben wir jetzt in England: 
George Meredith. Frankreich hat grössere 
Künstler, aber Frankreich hat keinen, 
dessen Lebensanschauung so umfassend, 
so mannigfaltig, so überwältigend wahr 
ist. Es gibt Erzähler in Russland, deren 
Sinn für die Bedeutung von Qual und 
Leiden für die erzählende Dichtung leb- 
hafter ausgebildet ist. Aber er ist der 
Philosoph der Romandichtung. Seine Ge- 
stalten leben nicht nur, sie leben im Geiste. 
Man kann sie von imendlich vielen Stand- 
punkten aus sehen. Sie sind suggestiv. 
Es ist Seele in ihnen und um sie. Sie sind 
aufschliessend imd symbolisch. Und der 
sie geschaffen hat, diese wimdervollen, be- 
weglichen Gestalten, schuf sie zu seiner 
eigenen Lust und hat das Publikum nie 
gefragt, was sie haben wollten, hat dem 
PubUkum nie erlaubt, ihm Vorschriften zu 
machen oder ihn irgendwie zu beein- 
flussen, sondern er hat seine eigene Per- 
sönlichkeit immer iatensiver herausgebil- 
det und hat sein eigenes individuelles 
Werk geschaffen. Zuerst kam niemand zu 



76 



ihm. Das machte nichts aus. Dann Kamen 
die wenigen. Das änderte ihn nicht. Jetzt 
sind die vielen gekonmien. Er ist derselbe 
geblieben. Er ist ein unvergleichlicher 
Dichter. 

Mit den dekorativen Künsten steht es 
nicht anders. Das Publikum klammerte 
sich mit wirklich pathetischer Zähigkeit 
an das, was ich für die unmittelbaren 
Ueberlieferungen der grossen Weltaus- 
stellung internationaler Gewöhnlichkeit 
halte, an Ueberlieferungen, die so schau- 
derhaft waren, dass die Häuser, in denen 
die Leute lebten, nur für Blinde zum Woh- 
nen geeignet waren. Man fing an, schöne 
Dinge zu machen, schöne Farben kamen 
aus den Händen des Färbers, schöne 
Muster aus dem Hirn des Künstlers, und 
der Nutzen schöner Dinge und ihr Wert 
und ihre Bedeutung wurden dargetan. Das 
Publikum war wirklich sehr aufgebracht. 
Es wurde wütend. Es sagte Albernheiten. 
Niemand kehrte sich daran. Niemand war 
weniger wert. Niemand fügte sich der 
Autorität der öffentlichen Meinung. Und 
jetzt ist es fast unmöglich, in ein moder- 



77 



nes Haus zu kommen, ohne an irgend 
einer Stelle den guten Geschmack und den 
Wert schönen Wohnens anerkannt zu 
sehen; überall finden sich Anzeichen, dass 
man weiss, was Schönheit ist. In der Tat 
sind heutzutage in der Regel die Wohnun- 
gen der Leute ganz reizend. Die Leute 
sind bis zu sehr hohem Grade zivilisiert 
worden. Loyalerweise muss indessen fest- 
gestellt werden, dass der ausserordent- 
liche Erfolg der Revolution in der Woh- 
nungsdekoration, der Möblierung und der- 
gleichen nicht in Wirklichkeit dem Um- 
stand zu verdanken ist, dass die Mehrheit 
des Publikums einen sehr feinen Ge- 
schmack in diesen Dingen bekommen hat. 
Er war hauptsächlich dem Umstand zu 
verdanken, dass die Handwerker von 
solcher Freude erfüllt wurden, schöne 
Dinge machen zu können, und dass ein 
so lebhaftes Gefühl von der Hässlich- 
keit und Gemeinheit dessen in ihnen wach 
wurde, was das Publikum früher verlangt 
hatte, dass sie das Publikum mit seinem 
Geschmack einfach aushungerten. Es 
wäre zurzeit ganz unmöglich, ein Zimmer 



78 



so einzurichten, wie es vor einigen Jahren 
noch eingerichtet wurde, ohne dass man 
jedes Stück auf einer Versteigerung von 
alten Möbeln erstände, die aus einem 
Logierhaus dritten Ranges stammen. Die 
Sachen werden nicht mehr gemacht. So 
sehr sie sich dagegen stemmen, die Leute 
müssen heute schöne Dinge uni sich haben. 
Zu ihrem Glück ging ihr Anspruch auf 
Autorität in diesen Kunstdingen völlig in 
die Brüche. 

Es ist also offenbar, dass alle Auto- 
rität in diesen Dingen von Uebel ist. Die 
Leute fragen manchmal, unter welcher 
Regierungsform der Künstler am besten 
lebe. Auf diese Frage gibt es nur eine Ant- 
wort. Die Regierungsform^ die für den Künst- 
ler am geeignetsten ist, ist: überhaupt keine 
Regierung. Autoritäre Gewalt über ihn und 
seine Kunst ist lächerlich. Es ist behaup- 
tet worden, in Despotien hätten Künstler 
schöne Werke geschaffen. Das stimmt so 
nicht ganz. Künstler haben Despoten be- 
sucht, nicht als Untertanen, die tyranni- 
siert wurden, sondern als wandernde Wun- 
dermänner, als Vagabunden mit bezau- 



79 



bemder Persönlichkeit, die man bewirtete 
und beschenkte und in Frieden leben und 
schaffen liess. Es ist das zugunsten des 
Despoten zu sagen, dass er, der ein Indi- 
viduum ist, Kultur haben kann, während 
der Pöbel, der ein Ungeheuer ist, keine 
hat. Wer Kaiser oder König ist, kann sich 
bücken, um einem Maler den Pinsel auf- 
zuheben, aber wenn die Demokratie sich 
bückt, geschieht es nur, um mit Schmutz 
zu werfen. Und dabei braucht sich doch 
die Demokratie nicht so tief hinunterzu- 
bücken wie der Kaiser. Wenn sie mit 
Schmutz werfen wollen, brauchen sie sich 
sogar gar nicht zu bücken. Aber es ist 
nicht nötig, den Monarchen vom Pöbel 
zu trennen, alle autoritäre Gewalt ist gleich 
schlecht. 

Es gibt drei Arten von Despoten. 
Erstens den Despoten, der die Gewalt über 
den Körper ausübt. Zweitens den Des- 
poten, der die Gewalt über die Seele aus- 
übt. Drittens den Despoten, der zugleich 
über Seele und Leib die Gewalt ausübt. 
Der erste heisst der Fürst. Der zweite 
beisst der Papst. Der dritte heisst das 



80 



Volk. Der Fürst kann gebildet sein. Viele 
Fürsten waren es. Doch der Fürst ist ge- 
fährlich. Man muss an Dante auf dem 
bittem Fest von Verona denken, an Tasso 
in der Tobsuchtszelle Ferraras. Es ist für 
den Künstler besser, nicht mit Fürsten zu 
leben. Der Papst kann gebildet sein. Viele 
Päpste sind es gewesen; die schlechten 
Päpste sind es gewesen. Die schlechten 
Päpste liebten die Schönheit fast so leiden- 
schaftlich, ja sogar mit derselben Leiden- 
schaft wie die guten Päpste das Denken 
hassten. Den schlechten Päpsten dankt die 
Menschheit vieles. Die guten Päpste haben 
eine furchtbare Schuld gegen die Mensch- 
heit auf dem Gewissen. Obwohl der Va- 
tikan die Rhetorik seiner Donner behalten 
und die Rute seiner Blitze verloren hat, 
ist es doch besser für Künstler, nicht mit 
Päpsten zu leben. Es war ein Papst, der 
von Cellini zu einem Kardinalskonklave 
sagte, das gemeine Recht und die gemeine 
Autorität seien für Männer, wie er, nicht 
gemacht; aber es war auch ein Papst, der 
Cellini ins Gefängnis warf und ihn darin 
liess, bis sein Geist in Raserei verfiel und 



81 



er unwirkliche Visionen hatte und die gol- 
dene Sonne in sein Gemach treten sah 
und sich so in sie verliebte, dass er zu 
entfliehen suchte und von Turm zu Turm 
kletterte imd bei Sonnenaufgang schwind- 
lig hinabfiel und schwer zu Schaden kam. 
Ein Winzer fand ihn, bedeckte ihn mit 
Weinblättem und fuhr ihn in einem Karren 
zu einem, der schöne Dinge liebte und ihn 
pflegte. Päpste sind gefährlich. Und das 
Volk — was ist von ihm xmd seiner Herr- 
schaft zu sagen? Vielleicht hat man von 
ihm und seiner Herrschaft genug ge- 
sprochen. Seine Herrschaft ist ein Windes, 
taubes, scheussliches, groteskes, tragi- 
sches, spasshaf tes, ernsthaftes und schmutz- 
iges Ding. Es ist für den Künstler un- 
möglich, mit dem Volke zu leben. Alle 
Despoten bestechen. Das Volk besticht und 
ist brutal. Wer hat sie zur Herrschaft be- 
rufen? Sie waren bestimmt: zu leben, zu 
lauschen, zu lieben. Ihnen ist grosses Un- 
recht geschehen. Sie haben sich Schaden 
getan durch Nachahmung Geringerer. Sie 
haben das Szepter des Fürsten ergriffen. 
Wie sollten sie es handhaben können ? Sie 



82 



haben sich die dreifache Krone des Pap- 
stes aufgesetzt. V/ie sollten sie die Last 
tragen können? Sie sind wie ein Clown 
mit gebrochenem Herzen. Sie sind ein 
Priester mit noch ungeborener Seele. Alle, 
die die Schönheit lieben, mögen Mitleid 
mit ihnen haben. Wenn sie schon die 
Schönheit nicht lieben, mögen sie doch 
selbst Mitleid mit sich haben. Wer lehrte 
sie das Handwerk der Tyrannen? 

Es gibt noch viele Dinge, die zu sagen 
wären. Man könnte zeigen, wie die Re- 
naissance gross war, weil sie kein soziales 
Problem zu lösen suchte und sich nicht 
mit solchen Dingen abgab, aber dem In- 
dividuum erlaubte, sich frei, schön und 
natürlich zu entfalten, und so grosse und 
individuelle Menschen hatte. Man könnte 
zeigen, wie Ludwig XIV. dadiurch, dass er 
den modernen Staat schuf, den Individua- 
lismus des Künstlers zerstörte und be- 
wirkte, dass die Dinge in der Eintönig- 
keit ihrer Wiederholung schauderhaft 
wurden und verächtlich in ihrer Fügsam- 
keit unter die Regel, und im ganzen Frank- 
reich die entzückenden Freiheiten des Aus- 

83 

6* 



drucks zerstörte, die das Ueberlieferte in 
Schönheit neu gemacht und neue Formen 
in Einklang mit der Antike geschaffen 
hatten. Aber das Vergangene ist ohne 
Bedeutung. Das Gegenwärtige ist ohne 
Bedeutung. Wir haben es mit der Zukunft 
zu tim. Denn die Vergangenheit ist, was 
der Mensch nicht hätte sein sollen. Die 
Gegenwart ist, was der Mensch nicht sein 
sollte. Die Zukunft ist, was Künstler sind. 



Es wird natürlich gesagt werden, ein 
solcher Plan, wie er hier vorgebracht ist, 
sei ganz impraktisch und gehe gegen die 
Natur des Menschen. Das ist völlig wahr. 
Er ist unpraktisch und er geht gegen die 
Natur des Menschen. Darum verdient er 
es, durchgeführt zu werden, und darum 
schlägt man ihn vor. Denn was ist ein 
praktischer Plan? Ein praktischer Plan ist 
entweder ein Plan, der bereits besteht, oder 
ein Plan, der anter den bestehenden Verhält- 
nissen durchgeführt werden könnte. Aber ge- 
rade gegen die bestehenden Verhältnisse 
wendet man sich; und jeder Plan, der sich 



84 



in diese Verhältnisse fügen könnte, ist 
schlecht und töricht. Mit den Verhält- 
nissen wird aufgeräumt werden, und die 
Natur des Menschen wird sich ändern. 
Das einzige, was man von der Natur des 
Menschen wirklich weiss, ist, dass sie sich 
ändert. Veränderimg ist die Eigenschaft, 
die wir von ihr aussagen können. Die 
Systeme, die fehlschlagen, sind die, die 
auf die Konstanz der menschlichen Natur 
bauen, anstatt auf ihr Wachstum und ihre 
Entwicklung. Der Irrtum Ludwigs XIV. 
war, dass er glaubte, die Natur des Men- 
schen werde immer dieselbe bleiben. Das 
Ergebnis seines Irrtums war die franzö- 
sische Revolution. Ein wundervolles Er- 
gebnis. Alle Ergebnisse der Irrtümer der 
Regierungen sind ganz wundervoll. 

Es ist auch zu beachten, dass, wenn 
der Individualismus zum Menschen kom- 
men soll, dazu kein schwächliches Pfaffen- 
geschwätz über die Pflicht verhilft, wo- 
runter lediglich das Tun zu verstehen ist, 
das andere Leute haben wollen, weil sie es 
haben wollen; imd ebensowenig das widei» 
liehe Pfaffengeschwätz von Selbstaufopfe- 



85 



rung, die bloss ein Ueberrest des Brauchs 
der Wilden ist, sich zu verstümmeln. In 
der Tat kommt er mit gar keinen Forderungen 
und Ansprächen zum Menschen. Er kommt 
natürlich und unvermeidlich aus dem Men- 
schen heraus. Er ist der Punkt, zu dem alle 
Entwicklung hindrängt. Er ist die Diffe- 
renzierung, der alle Organismen entgegen- 
wachsen. Er ist die Vollkommenheit, die 
in jeder Form des Lebens darin steckt und 
zu der jede Form des Lebens unterwegs 
ist. Und so übt der Individualismus keinen 
Zwang auf den Menschen aus. Er sagt im 
Gegenteil zimi Menschen, er solle keinen 
Zwang über sich dulden. Er versucht 
nicht, die Menschen zum Guten zu zwin- 
gen. Er weiss, dass die Menschen gut sind, 
wenn man sie in Ruhe lässt. Der Mensch 
wird den Individualismus aus sich heraus 
entwickeln. Der Mensch ist jetzt dabei, 
den Individualismus so zu entwickeln. 
Fragen, ob der Individualismus praktisch 
ist, heisst fragen, ob die Entwicklung prak- 
tisch ist. Entwicklung ist das Gesetz des 
Lebens^ und es gibt keine Entwicklung^ die 
nicht zum Individualismus drängte. Wo diese 



86 



Tendenz keinen Ausdruck gefunden hat, 
da handelt es sich um einen Fall von künst- 
lich unterdrücktem Wachstum oder von 
Krankheit oder von Tod. 

Der Individualismus wird ferner un- 
eigennützig und ungeziert sein. Es ist 
schon gesagt worden, dass es eine Folge 
der aussergewöhnlichen Tyrannei der 
Autorität ist, dass der eigentliche und ein- 
fache Sinn der Worte völlig verdreht wird 
imd dass sie dazu benutzt werden, das 
Gegenteil ihrer wahren Bedeutung auszu- 
drücken. Was von der Kirnst gilt, trifft 
ebenso auf das Leben zu. Ein Mann wird 
heutzutage geziert genannt, wenn er sich 
kleidet, wie es ihm gefällt, sich zu kleiden. 
Aber wenn er das tut, handelt er völlig 
natürlich. Geziertheit in diesen Dingen ist 
es, wenn einer sich in seiner Kleidung nach 
den Ansichten seiner Mitmenschen richtet, 
die, da sie die Ansichten der Mehrheit 
sind, wahrscheinlich äusserst einfältig sind. 
Oder jemand wird selbstsüchtig genannt, 
wenn er auf eine Art lebt, die ihn für die 
volle Verwirklichung seiner eigenen Per- 
sönlichkeit die geeignetste dünkt; wenn 



87 



tatsächlich das ei'ste Ziel seines Lebens 
die Entwicklung seines Selbst ist. Aber 
das ist die Art, wie jedermann leben sollte. 
Selbstsucht heisst nicht: so leben^ wie man 
zu leben wünscht; sie heisst: von andern ver- 
langen^ so zu leben^ wie man zu leben wünscht. 
Und Uneigennützigkeit heisst: andrer 
Menschen Leben in Ruhe lassen, sich nicht 
hineinmischen. Die Selbstsucht strebt 
immer danach, um sich herum eine ab- 
solute Gleichförmigkeit des Typus zu er- 
zeugen. Die Uneigennützigkeit erblickt in 
der imendlichen Mannigfaltigkeit des Ty- 
pus ein köstliches Ding, akzeptiert sie, be- 
ruhigt sich dabei und freut sich darüber. 
Es ist nicht selbstsüchtig, auf seine Art zu 
denken. Wer nicht auf seine Art denkt, 
denkt überhaupt nicht. Es ist grobe 
Selbstsucht, von seinem Mitmenschen zu 
verlangen, er solle auf dieselbe Art denken 
und dieselben^ Ansichten haben. Warum 
sollte er? Weim, er denken kann, wird er 
wahrscheinlich anders denken. Wenn er 
nicht denken kann, ist es ungeheuerlich, 
irgendwelche Gedanken von ihm zu ver- 
langen. Eine rote Rose ist nicht selbst- 



88 



süchtig, weil sie eine rote Rose sein will. 
Sie wäre furchtbar selbstsüchtig, wenn sie 
verlangte, alle andern Blumen im Garten 
sollten rot und Rosen sein. Im Reiche des 
Individualismus werden die Menschen 
ganz natürlich und völlig uneigennützig 
sein, und werden den Sinn der Worte ver- 
stehen und ihn in ihrem freien, schönen 
Leben verwirklichen. Die Menschen wer- 
den nicht egoistisch sein, wie sie es heute 
sind. Denn Egoist ist, wer an andere An- 
sprüche stellt, und der Individualist wird 
das nicht tiui wollen. Es wird ihm kein 
Vergnügen machen. Wenn der Mensch 
den Individualismus verwirklicht hat, wird 
er auch das Mitgefühl verwirklichen und 
es frei und ungehemmt walten lassen. Bis 
jetzt hat der Mensch das Mitgefühl über- 
haupt kaum geübt. Er hat bloss Mitgefühl 
mit Leiden, imd das ist nicht die höchste 
Form des Mitgefühls. Jedes Mitgefühl ist 
schön, aber Mitleid ist die niedrigste Form, 
Es ist mit Egoismus dur'chsetzt. Es kann 
leicht krankhaft werden. Es liegt in ihm 
ein gewisses Element der Angst um unsere 
eigene Sicherheit. Wir fürchten, wir selbst 



89 



könnten so werden, wie der Aussätzige 
oder der Blinde, und es kümmerte sich 
dann niemand um uns. Es ist auch selt- 
sam beschränkt. Man sollte mit der Ganz- 
heit des Lebens mitfühlen, nicht bloss mit 
den Wunden und Krankheiten des Lebens, 
sondern mit der Freude und Schönheit und 
Kraft und Gesundheit und Freiheit des 
Lebens. Je umfassender das Mitgefühl ist, 
um so schwerer ist es natürlich. Es er* 
fordert mehr Uneigennützigkeit. Jeder 
kann die Leiden eines Freundes mitfühlen, 
aber es erfordert eine sehr vornehme Na- 
tur — es erfordert eben die Natur eines 
wahren Individualisten — den Erfolg 
eines Freimdes mitzufühlen. In dem Ge- 
dränge der Konkurrenz und dem Ellbogen- 
kampf imserer Zeit ist solches Mitgefühl 
natürlich selten imd wird auch sehr er- 
stickt durch das unmoralische Ideal der 
Gleichförmigkeit des Typus und der Füg- 
samkeit imter die Regel, das überall so 
sehr vorherrscht und vielleicht am schäd- 
lichsten in England ist. 

Mitleid wird es natürlich immer geben. 
Es ist einer der ersten Instinkte des Men- 



90 



sehen. Die Tiere, die individuell sind, das 
heisst die höheren Tiere, haben es wie wir. 
Aber man muss sich vergegenwärtigen, 
dass — während die Mitfreude die Summe 
der Freude, die es in der Welt gibt, er- 
höht — das Mitleid die Menge des Leidens 
nicht wirklich vermindert. Es kann den 
Menschen in stand setzen, das Uebel 
besser zu ertragen, aber das Uebel bleibt. 
Mitleid mit Schwindsüchtigen heilt die 
Schwindsucht nicht; das tut die Wissen- 
schaft. Und wenn der Sozialismus das 
Problem der Armut und die Wissenschaft 
das Problem der Krankheit gelöst hat, 
wird das Gebiet der Sentimentalen kleiner 
geworden sein, imd das Mitgefühl der 
Menschen wird umfassend, gesxmd und 
verschwenderisch sein. Der Mensch wird 
froh sein, wenn er das freudige Leben 
der andern betrachtet. 

Denn die Freude ist es, die den Indi- 
vidualismus der Zukimft zur Entwicklimg 
bringen wird. Christus machte keinen Ver- 
such, die Gesellschaft neu aufzubauen, und 
daher konnte der Individualismus, den er dem 
Menschen predigte, nur durch Leiden oder in 



91 



Einsamkeit erreicht werden. Die Ideale, die 
wir Christus verdanken, sind die Ideale 
des Menschen, der die Gesellschaft gänz- 
lich verlässt oder des Menschen, der sich 
der Gesellschaft völlig widersetzt. Aber 
der Mensch ist gesellig von Natur. Selbst 
die Thebais ist schliesslich besiedelt wor- 
den. Und wenn schon der Klostermönch 
seine Persönlichkeit verwirklicht, oft ist 
es doch eine verarmte Persönlichkeit, die 
er so verwirklicht. Andrerseits übte die 
schreckliche Wahrheit, dass das Leiden 
eine Form ist, durch die der Mensch sich 
verwirklichen kann, eine zauberische, wun- 
dervolle Gewalt über die Welt aus. Seichte 
Redner und seichte Denker schwatzen auf 
Kanzeln und Tribünen oft von dem Kultus 
des Genusses in der Welt und jammern 
darüber. Aber es ist in der Geschichte 
der Welt selten, dass ihr Ideal eines der 
Freude und Schönheit gewesen ist. Der 
Kultus des Leidens hat weit öfter die Welt 
beherrscht. Das Mittelalter, mit seinen 
Heiligen und Märtyrern, seiner Liebe zur 
selbsteigenen Marter, seiner wilden 
Leidenschaft, sich selbst zu verwunden, mit 



92 



seinen Messerstichen und seinen Geissei- 
hieben — das Mittelalter ist das wahre 
Christentum und der mittelalterliche Chri- 
stus ist der wahre Christus. Als die 
Renaissance über der Welt tag^e und die 
neuen Ideale der Schönheit und der 
Freude des Lebens mit sich brachte, 
konnten die Menschen Christus nicht 
verstehen. Selbst die Kunst zeigt es 
ims. Die Maler der Renaissance 
stellten Christus als kleinen Knaben 
dar, wie er in einem Palast oder einem 
Garten mit einem andern Knaben spielte, 
oder wie er in den Armen seiner Mutter 
lag imd ihr oder einer Blume oder einem 
glänzenden Vogel zulächelte; oder als edle, 
majestätische Gestalt, die adlig durch die 
Welt ging; oder als wundervolle Gestalt, 
die in einer Art Ekstase aus dem Tod 
sich zum Leben erhob. Selbst wenn sie 
ihn am Kreuze darstellten, zeigten sie ihn 
als schönen Gott, dem böse Menschen das 
Leiden auferlegt hatten. Aber er ging 
ihnen nicht sehr nahe. Sie entzückte es, 
wenn sie die Männer und Frauen malen 
konnten, die sie bewunderten, wenn sie 



93 



den Reiz dieser reizenden Erde zeigen 
konnten. Sie malten viele religiöse Bilder 
— tatsächlich malten sie viel zu viele, und 
die Eintönigkeit des Typus und des Motivs 
ist ermüdend und war von Uebel für die 
Kunst. Sie kam von der Autorität des 
Publikiuns in Sachen der Kunst und ist zu 
beklagen. Aber ihre Seele war nicht dabei. 
Raffael war ein grosser Künstler, als er 
sein Papstbildnis malte. Als er seine Ma- 
donnen und Christusknaben malte, war er 
durchaus kein grosser Künstler. Christus 
hatte der Renaissance nichts zu sagen, 
die wundervoll war, weil sie ein Ideal 
brachte, das ein anderes war als seines, 
xmd wenn wir die Darstellung des wirk- 
lichen Christus finden wollen, müssen wir 
ims an die Kunst des Mittelalters wenden. 
Da ist er ein Gemarterter und Verwunde- 
ter; einer, der nicht lieblich anzusehen ist, 
weil Schönheit eine Freude ist; einer, der 
kein schönes Gewand anhat, weil das auch 
eine Freude sein kann: er ist ein Bettler 
mit einer strahlenden Seele; er ist ein Aus- 
sätziger mit göttlicher Seele; er braucht 
nicht Eigentiun noch Gesundheit; er ist 



94 



ein Gott, der seine Vollendung durch 
Schmerzen verwirklicht. 

Die Entwicklung des Menschen ist 
langsam. Die Ungerechtigkeit der Men- 
schen ist gross. Es war notwendig, dass 
das Leiden als Form der Selbstverwirk- 
lichung hingestellt wurde. Selbst jetzt ist 
an manchen Punkten der Welt die Bot- 
schaft Christi notwendig. Niemand, der 
im modernen Russland lebt, kann seine 
Vollkommenheit erreichen, es sei denn 
durch Leiden. Ein paar russische Künst- 
ler haben sich in der Kunst verwirklicht, in 
Romanen, die im Charakter mittelalterlich 
sind, denn ihr vorherrschender Zug ist die 
Verwirklichimg der Menschen durch das 
Leiden. Aber für die andern, die keine 
Künstler sind, imd für die es keine andere 
Form des Lebens gibt als das tatsächliche 
Leben der Wirklichkeit, ist das Leiden das 
einzige Tor zur Vollendung. Ein Russe, 
der sich imter dem gegenwärtigen Regie- 
rungssystem in Russland glücklich fühlt, 
muss entweder glauben, dass der Mensch 
keine Seele hat, oder dass sie, wenn er 
eine hat, nicht wert ist, sich zu entfalten. 



95 



Ein Nihilist, der alle Autorität verwirft, weil 
er weiss, dass * die Autorität von Uebel 
ist, und der alles Leiden begrüsst, weil er 
dadurch seine Persönlichkeit verwirklicht, 
ist ein wirklicher Christ. Ihm ist das christ- 
Uche Ideal zur Wahrheit geworden. 

Und doch lehnte sich Christus nicht 
gegen die Obrigkeit auf. Er fügte sich 
der autoritären Gewalt des römischen 
Kaiserreichs und zahlte Tribut. Er dul- 
dete die geistliche Gewalt der jüdischen 
Kirche imd wollte ihrer Gewalt nicht mit 
eigener Gewalt begegnen. Er hatte, wie 
ich vorhin sagte, keinen Plan für einen 
Neubau der Gesellschaft. Aber die mo- 
derne Welt hat solche Pläne. Sie schlägt 
vor, die Armut imd das Elend, das sie 
mit sich bringt, abzuschaffen. Sie will das 
Leiden loswerden imd das Elend, das es 
mit sich bringt. Sie hat sich den Sozialis- 
mus und die Wissenschaft als Methoden 
gewählt. Was sie erstrebt, ist ein Indivi- 
dualismus, der sich durch die Freude zum 
Ausdruck bringt. Dieser Individualismus 
wird umfassender, völliger, reizender sein 
als je einer gewesejn ist. Das Leiden ist 



96 



nicht die letzte Form der Vollendung. Es 
ist nur vorläufig und ein Protest. Es ent- 
steht in schlechten, ungesunden, ungerech- 
ten Zuständen. Wenn das Uebel und die 
Krankheit und die Ungerechtigkeit ent- 
fernt sind, hat es keine Stätte mehr. E5 
hat dann sein Werk getan. Es war ein 
gewaltiges Werk, aber es ist beinahe vor- 
über. Sein Gebiet wird von Tag zu Tag 
kleiner. 

Und der Mensch wird es nicht ent- 
behren. Denn wonach der Mensch gesucht 
hat^ das ist wahrhaftig nicht Leiden and 
nicht Last^ sondern einfach Leben. Der 
Mensch hat danach gesucht, intensiv, 
völlig, vollkommen zu leben. Wenn er das 
tun kann, ohne gegen andere Zwang zu 
üben oder ihn je zu dulden, und wenn all 
seine Betätigungen ihm lustvoll sind, dann 
wird er gesünder und kraftvoller sein, 
mehr Kultur haben, mehr er selbst sein. 
Lust ist das Siegel der Natur, ihr Zeichen 
der Zustimmung. Wenn der Mensch glück- 
Hch ist, dann ist er in Harmonie mit sich 
selbst und seiner Umgebung. Der neue 
Individualismus, in dessen Diensten der 



97 



Sozialismus, ob er es will oder nicht, am 
Werke ist, wird vollendete Harmonie sein. 
Er wird sein, wonach die Griechen such- 
ten, was sie aber, ausser im Geiste, nicht 
vollständig verwirklichen konnten, weil sie 
Sklaven hatten und sie ernährten ; er wird 
sein, wonach die Renaissance suchte, was 
sie aber, ausser in der Ktmst, nicht voll- 
ständig verwirklichen konnte, weil sie 
Sklaven hatte und sie hungern liess. Er 
wird vollständig sein, und durch ihn 
wird jeder Mensch zu seiner Vollendung 
kommen. Der neue Individualismus ist 
der neue Hellenismus. 



98 



J 



AUS DEM ZÜCHTHAUS ZU READING 



Die Londoner Zeitung »The Daily Chronide" hatte 
berichtet, ein Gefängnisaufseher sei entlassen worden, 
weil er einem hungrigen Bande, das im Gefängnis 
eingesperrt war, ein paar Kakes zu essen gegeben 
habe. Darauf richtete 0. W. folgenden Brief an den 
Herausgeber des Blattes. 




?it grossem Be- 
J dauern entnehme 
ich den Spalten 
Ihrer Zeitung, 
dass der Auf- 
Iseher Martin aus 
I dem Reading-Ge- 
fängnis von der Gefängnisinspektion entlassen 
wurde, weil er einem armen hungrigen 
Kinde ein, paar Kakes gegeben hat. Ich 
habe die drei Kinder selbst an dem Mon- 
tag, der meiner Entlassimg vorherging, 
gesehen. Sie waren verurteilt worden imd 
standen der Reihe nach in der Zentral- 
halle; sie hatten die Gefängniskleidung an, 
trugen ihre Bettbezüge imter dem Arm 
xmd warteten, bis man sie in die für sie 
bestinunten Zellen abführte. Ich kam 
gerade auf einer der letzten Galerien vor- 
bei, auf dem Wege zum Besuchszimmer, 
wo ich eine Besprechimg mit einem 
Freunde haben sollte. Es waren ganz 

101 



'Ifleihe Kinder, "das jüngste — eben das, 
dem der Aufseher die Kakes gab — ein 
winziges Kerlchen, für das sie offenbar 
keine passenden Kleider finden konnten, 
die vorhandenen waren alle zu gross. Ich 
habe natürlich im Gefängnis in den zwei 
Jahren, in denen ich eingesperrt war, viele 
Kinder gesehen. Besonders das Wand- 
worth-Gefängnis beherbergte immer eine 
Anzahl Kinder. Aber das kleine Kind, das 
ich am Montag nachmittag in Reading 
sah, war winziger als irgend ein anderes. 
Ich kann kairni beschreiben, wie äusserst 
betrübt ich war, diese Kinder in Reading 
zu sehen, denn ich kannte die Behandlung, 
die ihrer wartete. Die Grausamkeit, die 
man bei Tag und bei Nacht an Kindern 
in englischen Gefängnissen verübt, ist un- 
glaublich für alle, die sie nicht selbst mit 
angesehen haben und die Brutalität des 
Systems nicht kennen. 

Die Menschen imserer Zeit wissen 
nicht, was Grausamkeit ist. Sie halten, sie 
für eine Art schreckliche mittelalterliche 
Leidenschaft und bringen sie in Verbin- 
dimg mit Männern vom Schlage Ezzelins 

102 



da Romano und anderer, denen es in der 
Tat einen wahnsinnigen Genuss bereitete, 
absichtlich Schmerzen zuzufügen. Aber 
Männer vom Gepräge Ezzelins sind nur 
aussergewöhnliche Typen eines perversen 
Individualismus. Die Grausamkeit des 
Alltags ist nichts weiter als Dummheit. 
Sie ist der gänzliche Mangel der Fähig- 
keit, sich ein Bild von den Dingen zu 
machen — des Verstandes. Sie ist in 
imseren Tagen die Folge der sterotypierten 
Systeme, det harten imd festen Ge- 
setze, der Dummheit. Wo Zentralisation 
herrscht, herrscht Duminheit. Wo im mo- 
dernen Leben der Beamte anfängt, hört 
der Mensch auf. Die Autorität ist ebenso 
gefährlich für die, die sie ausüben, wie 
für die, gegen die sie ausgeübt wird. Die 
Gefängnisbehörde und das System, das 
sie durchführt, ist die ursprüngliche Quelle 
dei" Grausamkeit, die an einem Kinde im 
Gefängnis verübt wird. Die Leute, die das 
System aufrecht erhalten, haben vielleicht 
vortreffliche Absichten. Die es ausführen, 
sind in ihren Absichten ebenfalls human. 
Die Verantwortlichkeit ruht auf den. Vor- 

103 



Schriften der Disziplin. Es wird ange- 
nommen, eine Sache sei recht, wenn sie 
Gesetz ist. 

Die gegenwärtige Behandlimg der 
Kinder ist schrecklich^ besonders wo es 
sich imi Leute handelt, die die besondere 
Psychologie der Kindesnatur nicht ver- 
stehen. Ein Kind kann eine Bestrafung, 
die von einem einzelnen Individuum, so 
vom Vater oder vom Vormimd, ausgeht, 
verstehen imd sie mit einem gewissen 
Grad von Fügsamkeit ertragen. Was es 
aber nicht verstehen kann, das ist eine 
Bestrafung von selten der Gesellschaft. 
Es kann sich nicht vorstellen, was das 
ist : die Gesellschaft. Mit erwachsenen Per- 
sonen verhält es sich natürlich imigekehrt. 
Diejenigen unter ims, die im Gefängnis 
sind oder gewesen sind, können und 
werden verstehen, was die Kollektivkraft, 
die man Gesellschaft nennt, bedeutet; und 
was wir auch von ihrer Methode und ihren 
Ansprüchen halten mögen, wir können tms 
dazu zwingen, ims zu fügen. Andrerseits 
aber ist eine Bestrafimg, die uns von 
einem Individuum zugefügt wird, eine 

104 



Sache, die Ireüi Erwachsener duldet, we- 
nigstens erwartet es niemand von ihm. 

Das Kind also, das von Leuten, die 
es nie gesehen hat und von denen es 
nichts weiss, seinen Eltern entrissen wird, 
das sich in einer öden imd abstossenden 
Zelle befindet, das von fremden Gestal- 
ten beobachtet wird, das von den Ver- 
tretern eines Systems, das es nicht ver- 
stehen kann, kommandiert imd abgestraft 
wird, wird dem ersten imd schlimmsten 
xmter den Gefühlen, die das Gefängnis- 
leben hervorbringt, zum Raub: dem Ge- 
fühl des Schreckens. Der Schrecken eines 
Kindes im Gefängnis ist grenzenlos. Ich 
erinnere mich, einmal in Reading, als ich 
zur Freistunde ging, in der düsteren Zelle, 
die der meinen gegenüberlag, einen Kna- 
ben gesehen zu haben. Zwei Aufseher — 
keine unfreundlichen Männer — sprachen 
zu ihm, offenbar etwas strenge, oder gaben 
ihm einen nützlichen Rat in bezug auf sein 
Verhalten. Einer war bei ihm in der Zelle, 
der andere stand aussen. Das AntUtz des 
Endes war voller Schrecken imd toten- 
blass. In seinen Augen lag der Schrecken 

105 



eines gehetzten Wildes. Am nächsten Mor- 
gen, zur Frühstückszeit, hörte ich ihn 
schreien und rufen, man solle ihn heraus- 
lassen. Er schrie nach seinen Eltern. Von 
Zeit zu Zeit konnte ich die tiefe Stimme 
des Aufsehers hören, der ihm sagte, er 
solle sich ruhig verhalten. Und dabei war 
er nicht einmal wegen irgend eines Ver- 
gehens verurteilt. Er war in Unter- 
suchungshaft. Das sah ich daran, dass er 
seine eigenen Kleider trug, die ziemlich 
sauber schienen. Indessen trug er An- 
staltsstrümpfe und -Schuhe, und das zeigte, 
dass er ein wirklich armer Knabe war, 
dessen eigene Schuhe, wenn et welche 
hatte, in einer bösen Verfassung waren. 
Richter und Beamte, in der Regel ein 
ganz dummer Menschenschlag, stecken 
oft Kinder für acht Tage ein imd erlassen 
dann irgend eine Strafe, die zu verhän- 
gen sie berechtigt sind. Sie nennen dies 
„ein Kind nicht ins Gefängnis schicken". 
Das ist natürlich eine blöde Auffassung 
von ihnen. Ein Kind kann die Spitzfindig- 
keit, ob es in Untersuchungs- oder Straf- 
hait ist, nicht unterscheiden. Das Schreck- 

106 



liehe für das Kind ist, überhaupt da zu 
sein. In den Augen der Menschheit sollte 
es etwas Schreckliches sein, dass es über- 
haupt da ist. 

Dieser Schrecken, der das Kind be- 
herrscht, ebenso wie er auch den Erwach- 
senen beherrscht, wird natürlich über alle 
Massen verstärkt durch die Einsamkeit 
des Zellensystcms. Jedes Kind ist dreiund- 
zwanzig Stunden von vierundzwanzig in 
seiner Zelle eingesperrt. Dies ist das 
Schreckliche an der Sache. Dass ein Kind 
dreiimdzwanzig Stunden im Tag in eine 
dunkle Zelle gesperrt wird, ist ein Beispiel 
für die Grausamkeit der Dummheit. Wenn 
ein Individuum, ein Vater oder Vormund, 
etwas der Art einem Kinde antäte, würde 
er streng bestraft werden. Der Schutzver- 
ein gegen die Kinderquälerei würde sich 
der Sache annehmen. Auf allen Seiten 
würde sich die lebhafteste Entrüstung 
über solche Grausamkeit erheben. Aber 
unsere eigene gegenwärtige Gesellschaft 
tut selbst noch Schlimmeres, und für ein 
Kind, das von einer unverständlichen ab- 
strakten Gewalt so behandelt wird, für 

107 



deren Ansprüche es keinen Verstand hat, 
ist solches viel schlimmer, als wenn es 
von seinem Vater oder seiner Mutter oder 
sonst einem Bekannten geschähe. Die un- 
menschUche Behandlimg eines Kindes ist 
immer immenschlich, von wem sie auch 
zugefügt wird. Aber die unmenschliche Be- 
handlimg, die von der Gesellschaft aus- 
geht, ist für das Kind schrecklicher, weil 
es gegen sie keine Berufung gibt. Ein 
Vater oder ein Vormund kann gerührt 
werden, so dass er das Kind aus dem 
dunkeln, öden Ramn, in dem es eingesperrt 
ist, herauslässt. Aber ein Aufseher kann 
das nicht. Die meisten Aufseher sind auf- 
richtige Kinderfreunde. Aber das System 
verwehrt es ihnen, dem Kind irgend wel- 
chen Beistand zu leisten. Falls sie das 
tim, wie in dem Fall des Aufsehers Martin, 
werden sie entlassen. 

Das zweite, worunter ein Kind im Ge- 
fängnis zu leiden hat, ist der Himger. Die 
Nahnmg, die es erhält, besteht aus einem 
Stück Gefängnisbrot, das gewöhnlich 
schlecht gebacken ist, und einem Krug 
Wasser zum Frühstück um halb sieben 

108 



Uhr. Um zwölf Uhr gibt es Mittagessen, 
das aus einem Topf Haferbrei besteht, und 
um halb sechs Uhr bekommt es ein 
Stück trockenes Brot imd einen Krug 
Wasser zum Abendessen. Diese Ernäh- 
rung bringt bei einem starken erwachsenen 
Manne immer irgend welches Unwohlsein 
hervor, besonders natürlich Durchfall und 
in seinem Gefolge Schwäche. In der Tat 
werden in jedem grösseren Gefängnis 
stopfende Medizinen regelmässig, als ob 
es sich von selbst verstünde, von den Auf- 
sehern verabreicht. Was aber das Kind 
angeht, so ist es in der Regel überhaupt 
nicht imstande, die Kost zu essen. 

Jeder, der etwas von Kindern ver- 
steht, weiss, wie leicht die Verdauung eines 
Kindes durch das viele Weinen oder durch 
Kununer und Seelenschmerz gestört wird. 
Ein Kind, das den ganzen Tag und viel- 
leicht die halbe Nacht in einer öden dunk- 
len Zelle geweint hat und vom Schrecken 
gepeinigt wird, kann solche schlechte 
grobe Kost einfach nicht essen. In dem 
Fall des kleinen Kindes, dem der Auf- 
seher Martin die Kakes gab, weinte das 

109 



Kind am Dienstag morgen vor Hunger 
imd war völlig imfähig, das Brot und das 
Wasser, das ihm zum Frühstück gegeben 
wurde, zu sich zu nehmen. Martin ging, 
nachdem er das Frühstück ausgegeben 
hatte, aus imd kaufte dem Kinde lieber die 
paar Kakes, als dass er es Hunger leiden 
sah. Das war schön von ihm gehandelt, 
imd es wurde von dem Kinde so dankbar 
empfimden, dass es, ohne eine Ahnung 
von den Gefängnisvorschriften zu haben, 
einem der Ober-Aufseher erzählte, wie 
freimdlich dieser Aufseher zu ihm gewesen 
sei. Die Folge davon war natürlich eine 
Anzeige xm,d die Entlassung. 

Ich k;armte Martin sehr gut; er war 
in den letzten sieben Wochen meiner Ge- 
fangenschaft mein Aufseher. Er hatte in 
Reading auf dem C-Flügel Dienst, in dem 
ich eingesperrt war, imd so sah ich ihn 
fortwährend. 

Ich war überrascht über die seltene 
Freundlichkeit \md Menschlichkeit, mit 
der er za mir und den übrigen Gefangenen 
sprach. Freundliche Worte sind im Ge- 
fängnis viel wert, xmd ein einfaches 

110 



„Guten Morgen," oder „Guten Abend" 
machen einen so glücklich, als es im Ge- 
fängnis möglich ist. Er war immer mild 
imd massvoll. Ich erinnere mich an, einen 
andern Fall, in dem er sich einem der Ge- 
fangenen gegenüber sehr freundlich er- 
wies, und ich nehme keinen Anstand, ihn 
zu erwähnen. Einer der schrecklichsten 
Zustände im Gefängnis sind die schlech- 
ten hygienischen Einrichtungen. Es ist 
dem Gefangenen unter keinen Umständen 
erlaubt, nach halb sechs Uhr die Zelle 
zu verlassen. Wenn er also an Durchfall 
leidet, muss er seine Zelle als Kloset be- 
nutzen imd die Nacht in einer sehr stinken- 
den und imgesunden Luft verbringen. 
Einige Tage vor meiner Entlassung machte 
Martin um halb acht Uhr mit einem der 
Ober-Aufseher die Runde, um die Werk- 
zeuge und das Werg aus den Zellen zu 
schaffen. Ein jüngst Verurteilter, der in- 
folge der imgewohnten Nahrung an hef- 
tigem Durchfall litt, bat den Ober-Auf- 
seher, ihm zu erlauben, das Gef äss in seiner 
Zelle leeren zu dürfen, wegen des schlech- 
ten Geruchs, und da er noch einmal in 

111 



der Nacht unwohl werden könnte. Der 
Ober- Aufseher lehnte das strikt ab; es war 
gegen die Vorschrift. Der Mann hätte die 
Nacht in seiner schrecklichen Lage ver- 
bringen müssen. Martin aber, der den 
armen Mann nicht in einer so abscheu- 
lichen Situation lassen wollte, sagte, er 
wolle ihm das Gefäss selbst ausleeren, und 
tat das auch. Ein Aufseher, der das Ge- 
fäss eines Gefangenen ausleert, ist natür- 
lich gegen die Vorschrift, aber Martin er- 
wies dem Mann diese Gefälligkeit aus der 
einfachen Menschlichkeit seiner Natur 
heraus, und der Mann war natürlich sehr 
dankbar. 

Was die Kinder angeht, so ist in letzter 
Zeit viel über den verderbenden Einfluss 
des Gefängnisses auf junge Kinder ge- 
redet und geschrieben worden. Was da 
gesagt wird, ist sehr wahr. Ein Kind wird 
durch das Gefängnisleben sehr verdorben. 
Aber der verderbliche Einfluss geht nicht 
von den Gefangenen aus. Er geht aus von 
dem ganzen Gefängnissystem — vom 
Direktor, dem Geistlichen, den Aufsehern, 
der öden Zelle, der Isolienmg, der em- 

112 



pörenden Ernährung, den Gefängnisvor- 
schriften, der Art, wie die Disziplin aus- 
geübt wird, dem ganzen Leben. Es ist alle 
erdenkliche Sorgfalt getroffen, dass das 
Kind die Gefangenen über sechzehn Jahren 
nicht einmal zu sehen bekommt. Die 
Kinder sitzen in der Kirche hinter einem 
Vorhang und haben ihre Freistunde in 
kleinen Höfen, wo keine Sonne hinkommt, 
nur damit sie die älteren Gefangenen nicht 
zu sehen bekommen. Aber in Wahrheit 
geht der einzige wirklich menschliche Ein- 
fluss, der im Gefängnis ausgeübt wird, 
von Gefangenen aus. Ihre Heiterkeit 
unter schrecklichen Umständen, ihre Sym- 
pathie füreinander, ihre Bescheidenheit, 
ihre Liebenswürdigkeit, ihr freundliches 
Lächeln, mit dem sie sich beim Begegnen 
begrüssen, die völlige Ruhe, mit der sie 
sich in ihre Strafe fügen, alles das ist ganz 
wundervoll, und ich selbst habe manches 
Gute von ihnen gelernt. Ich will nicht vor- 
schlagen, die Kinder sollten in der Kirche 
nicht hinter einem Vorhang sitzen, oder 
sie sollten mit den andern zusammen ihre 
Freistunde haben. Ich will nur feststellen, 

113 



dass der schlechte Einfluss nicht von den 
Gefangenen, sondern vom Gefängnis- 
system selbst ausgeht. Es ist nicht ein 
einziger Mann im Reading-Gefängnis, der 
nicht gern die Strafe der drei Kinder auf 
sich genommen hätte. Ich sah sie zuletzt 
an dem Dienstag, der ihrer Verurteilung 
folgte. Ich ging um halb zwölf Uhr mit 
imgefähr zwölf andern Männern zur Frei- 
stunde, imd die drei Kinder gingen an uns 
vorbei, in Begleitung eines Aufsehers; sie 
kamen von dem dumpfigen, traurigen Hof, 
wo sie zur Freistunde gewesen waren. Ich 
sah in den Augen meiner Gefährten das 
grösste und herzlichste Mitgefühl, als sie 
die Kinder erblickten. Gefangene sind, als 
eine zusanunengehörige Menschenklasse, 
ausserordentlich freundlich und liebevoll 
zueinander. Leiden und die Gemeinsam- 
keit der Leiden machen die Menschen 
gütig, imd Tag für Tag, wenn ich auf dem 
Hof einherging, fühlte ich mit Befriedi- 
gimg imd Freude, was Carlyle irgendwo 
„den stillen rhythmischen Reiz der mensch- 
lichen Kameradschaft** nennt. In diesem 
und in allen anderen Dingen sind die 



Philanthropen, und Leute ihres Schlages 
auf dem Holzwege. Nicht die Gefangenen 
bedürfen der Wandlung, sondern die Ge- 
fängnisse. 

Ich möchte jetzt die Aufmerksamkeit 
auf eine andere schreckliche Sache lenken, 
die in englischen Gefängnissen, in der 
Tat in den Gefängnissen der ganzen Welt 
imigeht, wo das System des Schweigens 
imd der Zelleneinspernmg ausgeübt wird. 
Ich spreche von der grossen Zahl derer, die 
im Gefängnis wahnsinnig oder geistesge- 
stört werden. In Zuchthäusern ist dies 
natürlich ganz allgemein; aber ebenso in 
anderen Gefängnissen, so z. B. in dem, 
wo ich eingesperrt war. 

Vor etwa drei Monaten bemerkte ich 
imter den Gefangenen, die mit mir Frei- 
stunde hatten, einen jungen Mann, der mir 
blödsinnig oder schwachsinnig zu sein 
schien. Jedes Gefängnis hat seine schwach- 
sinnigen Kunden, die immer wieder- 
kommen, von denen man fast sagen kann, 
dass sie ihr Leben im Gefängnis zubringen. 
Aber dieser jimge Mensch schien mir mehr 
als gewöhnlich schwachsinnig zu sein, 

115 



wegen seines blöden Grinsens und der idio- 
tischen Art, in der er in sich hineinlachte, 
und wegen der Ruhelosigkeit seiner 
Hände, die ewig zu zupfen hatten. Er fiel 
allen anderen Gefangenen wegen seines 
sonderbaren Wesens auf. Von Zeit zu Zeit 
blieb er in der Freistunde aus, ein Zeichen, 
dass er zur Strafe in seiner Zelle einge- 
sperrt war. Endlich bemerkte ich, dass er 
unter Beobachtung stand und Tag und 
Nacht von Aufsehern bewacht wurde. 
Wenn er in der Freistimde erschien, schien 
er immer hysterisch zu sein und ging 
schreiend und lachend herum. In der 
Kirche sass er imter der strengen Beob- 
achtung zweier Aufseher, die ihn sorgsam 
die ganze Zeit über bewachten. Manch- 
mal wollte er sein Haupt in den Händen 
bergen, was ein Verstoss gegen die Kir- 
chenordnung war, und sein Kopf wurde 
sofort von einem der Aufseher zurückge- 
bogen, so dass er seine Augen fortwährend 
nach dem Altar richten musste. Manch- 
mal wollte er aufschreien, aber er durfte 
keine Störung machen, die Tränen liefen 
in Strömen über sein Gesicht, und ein 

116 



hysterisches Schluchzen drang aus seiner 
Kehle. Manchmal grinste er idiotisch in 
sich hinein und schnitt Gesichter. Bei 
mehr als einer Gelegenheit wurde er aus 
der Kirche in seine Zelle zurückgeführt, 
und natürlich wurde er fortwährend be- 
straft. Da die Bank, auf der ich gewöhn- 
lich in der Kirche sass, direkt hinter der 
Bank war, an deren Ende der Unglück- 
liche seinen Platz hatte, hatte ich oft Ge- 
legenheit, ihn zu beobachten. Ich sah ihn 
auch oft in der Freistunde, und ich sah, 
dass er im Begriff war, wahnsinnig zu 
werden, während er als Simulant behan- 
delt wurde. 

Am Samstag der letzten Woche war 
ich ungefähr um ein Uhr damit beschäf- 
tigt, die Gefässe, die ich zum' Mittagessen 
benutzte, zu reinigen und blank zu putzen. 
Plötzlich wurde ich heftig erschreckt: die 
Stille des Gefängnisses wurde gebrochen 
durch furchtbares Geschrei oder eigent- 
lich Geheul; ich dachte zuerst, ein Tier, 
ein Stier oder eine Kuh werde ausserhalb 
der Gefängnismauem ungeschickt ge- 
schlachtet. Ich hörte indessen bald, dass 

117 



das Geheul aus dem Erdgeschoss des Ge- 
fängnisses kam, und ich merkte, dass 
irgend ein Unsehger gepeitscht wurde. 
Ich kann, nicht beschreiben, wie entsetz- 
lich imd schrecklich es für mich war, und 
ich fragte mich erstaimt, wer in dieser 
empörenden Weise gezüchtigt wurde. 
Plötzlich kam mir der Gedanke, dass es 
wohl dieser imglückliche Wahnsinnige 
war, der gepeitscht wurde. Was ich da- 
bei empfand, brauche ich nicht mitzuteilen, 
es hat nichts mit dieser Frage zu tun. 
Am nächsten Tag, am Sonntag, den 
16., sah ich den armen Mann in der 
Freistunde, sein hässliches Gesicht war 
von Tränen und hysterischen Krämpfen 
so entstellt, dass er kaimi zu erkennen 
war. Er ging in dem inneren Ring mit 
den aJten Männern, den Bettlern und Lah- 
men, so dass ich ihn die ganze Zeit über 
beobachten konnte. Es war mein letzter 
Sonntag im Gefängnis, es war ein sehr lieb- 
licher Tag, der schönste Tag, den wir im 
ganzen Jahr gehabt hatten, und da in 
diesem herrlichen Sonnenlicht ging dieses 
arme Geschöpf — das einst nach dem 

118 



Ebenbilde Gottes geschaffen war — grin- 
send wie ein Affe und mit seinen Händen 
die seltsamsten Gestikulationen machend, 
als ob er in der Luft auf einem imsicht- 
baren Saiteninstrxmient spielte, oder wie 
wenn er auf einem sonderbaren Spielbrett 
die Steine ordnete und verteilte. Mittler- 
weile hatten diese hysterischen Tränen, 
ohne die keiner von uns ihn jemals sah, 
tiefe Rinnen in sein verschwollenes Ge- 
sicht gegraben. Seine scheusslichen und 
bedächtigen Gesten machten ihn einem 
Possenreisser vergleichbar. Er war ein 
Urbild des Grotesken. Die andern Gefan- 
genen beobachteten ihn alle und nicht 
einer von ihnen lächelte. Jeder wusste, was 
ihm zugestossen war und dass er in den 
Wahnsinn getrieben worden war, dass 
er bereits wahnsinnig war. Nach einer 
halben Stunde befahl ihm einer der 
Aufseher hineinzugehen, ich vermute, dass 
er wieder bestraft wurde. Wenigstens war 
er am Montag nicht in der Freistunde, 
obwohl ich glaube, ihn an einer Ecke des 
Hofes in Begleitung eines Aufsehers ge- 
sehen zu haben. 

119 



Am Dienstag — meinem letzten Tag 
im Gefängnis — sah ich ihn in der Frei- 
stunde. Er befand sich schHmmer als vor- 
her imd wurde wieder hineingeschickt. 
Seitdem weiss ich nichts von ihm, aber 
ich erfuhr von einem der Gefangenen, der 
mit mir in der Freistimde ging, dass er am 
Samstag Nachmittag auf Befehl der 
Inspektionsbehörde auf Grund eines Be- 
richtes des Arztes im Küchenraum 24 
Hiebe erhalten habe. Das Geheul, das uns 
allen Entsetzen eingeflösst hatte, war von 
ihm gekommen. 

Dieser Mann wird ohne Zweifel unheil- 
bar wahnsinnig. Gefängnisärzte haben 
keine Kenntnis von Geisteskrankheiten. 
Sie sind durch die Bank unwissende Men- 
schen. Die Lehre von den Krankheiten des 
Geistes ist ihnen unbekannt. Wenn ein 
Mann wahnsinnig wird, behandeln sie ihn 
als Simulanten. Sie haben ihn wieder und 
wieder bestraft. Natürlich wird der Zu- 
stand des Mannes schlimmer. Wenn die 
gewöhnlichen Strafen erschöpft sind, be- 
richtet der Arzt über den Fall an die Be- 
hörde. Die Folge davon ist: er wird aus- 

120 



gepeitscht. Gewiss wird das Peitschen 
nicht mit der neiinschwänzigen Katze aus- 
geführt, man benutzt eine Birkenrute ; aber 
die Folgen, die diese Prozedur bei dem 
unseligen, halbverrückten Opfer hervor- 
bringt, k;ann man sich vorstellen. Dieser 
Fall ist ein treffendes Beispiel für die Grau- 
samkeit, die von einem unsinnigen System 
nicht zu trennen ist, denn der gegenwärtige 
Direktor von Reading ist ein Mann von 
edlem und menschenfreundlichem Cha- 
rakter, der bei allen Gefangenen sehr be- 
liebt und angesehen ist. Es ist ihm aber 
doch ganz unmöglich, das System zu än- 
dern. Ohne Zweifel sieht er täglich vieles, 
was er selbst für imgerecht, töricht und 
grausam hält. Aber die Hände siriä ihm 
gebunden. 



121 



AESTHETISCHES MANIFEST 




pter den vielen jungen 
(Leuten in England, die 
imit mir zusammen die 
) englische Renaissance zu 
^vollenden und voUkom- 
^men zu machen suchen 
} — Jeunes guerriers du 
drapeau romantique, wie Gautier uns ge- 
nannt hätte — gibt es keinen, der eine 
makellosere und glühendere Liebe zur 
Kunst hat, keinen, dessen künstlerischer 
Schönheitssinn zarter und feiner ist — 
keinen fürwahr, der mir lieber ist — als 
der junge Dichter, dessen Verse ich mit 
nach Amerika gebracht habe; Verse voll 
süssem Leid und doch voller Freude; 
denn nicht der ist der freudigste Dichter, 
der auf den öden Landstrassen dieser Welt 
den unfruchtbaren Samen des Lachens 
sät, sondern wer seinem Schmerz am mei- 
sten Musik verleiht — dies nämlich ist 
der wahre Sinn der künstlerischen Freude 
— dies unaussprechliche Element künst- 

125 



lerischen Genusses, das in der Lyrik zum 
Beispiel davon kommt, was Keats das 
„sinnliche Leben der Verse" nennt, das 
Element des Gesangs in dem Liede, das 
Element, das uns durch das Wunder der 
rhythmischen Bewegung so ganz hin- 
nimmt, das oft aus einer rein musikalischen 
Stimmung entspringt und das in der Male- 
rei nie im behandelten Gegenstand, immer 
nur im malerischen Reiz zu finden ist — 
im Ton und der Symphonie der Farbe, 
der beruhigenden Schönheit der Konturen : 
so dass der höchste Ausdruck unserer 
Kunstbewegung in der Malerei nicht die 
vergeisteten Visionen der Präraphaeliten 
gewesen sind, trotz all ihrem Wunder grie- 
chischer Legende und ihrem Mysterium 
italienischen Lieds, sondern die Arbeit 
solcher Männer wie Whistler und Albert 
Moore, die die Zeichnung und Farbe auf 
die ideale Stufe der Poesie und Musik 
gehoben haben. Denn die Eigenheit ihrer 
erlesenen Malerei kommt lediglich von 
der originellen und schöpferischen Be- 
handlung der Linie und der Farbe, von 
einer bestimmten Form und Auswahl 

126 



schöner Technik, die jede literarische 
Reminiszenz und jede nxetaphysische Idee 
verwirft und so dem ästhetischen Sinn für 
sich allein völlig genügt — sie ist, wie 
die Griechen gesagt hätten, Selbstzweck; 
die Wirkung ihrer Werke ist dieselbe wie 
die Wirkung, die die Musik hervorbringt; 
denn die Musik ist die Kunst, wo Form 
und Stoff inrnier eins sind — die Kunst, 
deren Gegenstand von der Form, wie er 
zum Ausdruck kommt, nicht getrennt wer- 
den kann; die Kunst, die uns das künst- 
lerische Ideal am vollständigsten verwirk- 
licht, die da steht, wohin alle andern 
Künste immer "unterwegs sind. 

Dieser gesteigerte Sinn nun für den 
in sich ruhenden und völlig gesättigten 
Wert schöner Technik, diese Anerkennung 
der ausschlaggebenden Bedeutung des 
sinnlichen Elements in der Kunst, diese 
Liebe zur Kunst um der Kunst willen ist 
der Punkt, wo wir, eine jüngere Richtung, 
uns von den Lehren Ruskins getrennt 
haben — endgültig und entschieden ge- 
trennt. 

Meister in jeder Wissenschaft edler 

137 



Lebensführung und in der Weisheit aller 
Dinge des Geistes wird er uns immer sein ; 
er war es ja doch, der durch die zwingende 
Kraft seiner Persönlichkeit und die Musik 
seiner Rede uns in Oxford die begeisterte 
Liebe zur Schönheit lehrte, die das Ge- 
heimnis des Hellenismus ist, und den 
schöpferischen Drang, der das Geheimnis 
des Lebens ist; der einigen von uns wenig- 
stens die erhabene und leidenschaftliche 
Sucht schuf, in weite, schöne Lande hin- 
auszugehen und den Völkern eine Bot- 
schaft und der Welt eine Sendung zu 
künden; und doch, in seiner Kunstkritik, 
seiner Einschätzung des künstlerischen 
Genusses, seiner ganzen Art, an die Kunst 
heranzugehen, gehen wir nicht mehr mit 
ihm; denn das Kriterium seines ästhe- 
tischen Systems ist immer ein ethisches. 
Er beurteilt ein Gemälde nach der Summe 
vornehmer Moralprinzipien, die es zum 
Ausdruck bringt; für ims aber sind die 
Wege, auf denen allein die vornehme male- 
rische Arbeit uns berühren kann und wirk- 
lich berührt, nicht Wege von Lebenswahr- 
heiten oder von metaphysischen Wahr- 

128 



heiten. Ihm bedeutet vollendete Technik 
nur ein Zeichen äusserlichen Glanzes, und 
Mangelhaftigkeit des technischen Kön- 
nens schreibt er einer Phantasie zu, die 
zu schrankenlos ist, als dass sie in den 
Schranken der Form ihren völligen Aus- 
druck finden könnte, oder einer Hin- 
gebung, die zu schlicht ist, um in ihrer 
Gestaltung nicht zu stammeln. Für ims 
aber ist daä Gebot der Kunst etwas anderes 
als die Gebote der Moral. In einem ethi- 
schen System natürlich, das nur einiger- 
massen mienschenfreundlich ist, wird frei- 
lich der gute Wille anerkannt werden; 
aber wer in das helle Haus der Schön- 
heit eingehen will, den fragen wir nicht, 
was er allenfalls tim möchte, sondern was 
er vollbracht hat. Nicht seine pathetischen 
Vorsätze haben Wert für uns, sondern nur 
seine verwirklichten Schöpfungen. Pour 
moi je pr^ffere les pofetes qui fönt des vers, 
les m^decins qui sachent gu^rir, les pein- 
tres qui sachent peintre. 

Auch sollten wir \ms bei Betrachtung 
eines Kimstwerkes nicht in Träimie ver- 
lieren, was es bedeutet, sondern es um 

129 



deswillen lieten, was es ist. tn der Tat 
ist der Geist der Transzendenz dem Geist 
der Kunst fremd. Der metaphysische Geist 
Asiens mag sich das ungeheuerliche und 
vielbrüstige Götzenbild schaffen, aber für 
den Griechen, der lediglich Künstler ist, 
ist das Werk am reichsten seelisch be- 
lebt, das den voUkomnxenen Erscheinim- 
gen auch des leiblichen Lebens am näch- 
sten kommt. Und ein Gemälde zum Bei- 
spiel hat in dem, was es von Haus aus 
in sich birgt, durchaus nicht mehr geistige 
Beziehung oder Bedeutung für uns als ein 
blauer Ziegel aus der Mauer von Damas- 
kus oder eine Hizenvase. Es ist eine 
schöngefärbte Fläche, nichts anderes, und 
wirkt auf uns mit keiner aus der Philo- 
sophie gestohlenen Idee, mit keinem aus 
der Literatur mitgenommenen Pathos, mit 
keinem dem Dichter entwendeten Gefühl, 
sondern mit seiner eigenen unsagbaren 
künstlerischen Wesenheit — mit der be- 
sonderen Form der Wahrheit, die wir Stil 
nennen, und mit dem Verhältnis von 
Werten, das die Kennmarke der Malerei 
ist, mit der ganzen Qualität der Aus- 

130 



führung, mit der ganzen Arabeske det 
Zeichnung, dem Glanz der Farbe, denn 
diese Dinge genügen, um die göttlichsten 
und verborgensten Saiten zu erschüttern, 
die in unserer Seele musizieren, und die 
Farbe ist wahrhaftig schon an sich ein 
mystisches Lebendigsein in den Dingen, 
und der Ton eine Art Empfindimg. 

Dies also — die neue Auffassung 
unserer jüngeren Richtung — ist das 
Hauptmerkmal der Lyrik Rennell Rodds 
— denn obschon sich in seinem Buch vieles 
findet, was den Verstand interessieren 
kann, vieles, wa3 zum Gefühl spricht, und 
viele rhythmische Akkorde süsser und 
schlichter Empfindung — denn denen, 
die die Kunst um ihrer selbst willen lieben, 
ist alles andre dazugegeben — ist doch 
die Wirkxmg, die sie vorwiegend üben 
will, eine rein artistische. Ein Gedicht, 
wie „Das Grab des Seekönigs" mit all 
seiner majestätischen Melodie, die so 
tönend und gewaltig ist wie das Meer, 
an dessen kieferumwallten Ufern es so 
schön empfangen und gestaltet wurde; 
oder das kleine Gedicht, daß dahinter steht, 

181 



dessen geschickte Arbeit, die mit einem 
so ungemein künstlerischen Sinn für Be- 
schränkung gefertigt ist, man mit der 
Kunst des erlesenen Ziseleurs vergleichen 
möchte, die sein Motiv ist; oder „In einer 
Kirche", die blasse Blüte eines köstlichen 
Augenblicks, wie man sie wohl kennt, wo 
alle Dinge ausser dem Augenblick selbst 
so seltsam wirklich scheinen, und wo die 
alten Gedächtnisse vergessener Tage an- 
gerührt und besänftigt werden und der 
vertraute Ort plötzlich in einer Vision der 
unsterblichen Schönheit der gestorbenen 
Götter glühend und feierlich wird; oder 
die Szene in der „Kathedrale von Char- 
tres", düsteres Schweigen brütet auf Ge- 
wölben und Bogen, stunrni knien da und 
dort Leute im Staub der leeren Fliessen 
und der jimge Priester erhebt den Leib 
des Herrn in kristallenem Stern ; imd dajon 
brechen gewalttätig Strahlen scharlache- 
nen Lichts durch die Glasmalerei des 
Fensters und schlagen an das geschnitzte 
Gitterwerk des Lettners, und rasche Orgel- 
stösse rollen und dröhnen in mächtiger 
Musik vom Chor zum Baldachin des Altars 

132 



und von Säule zu Säulenbündel, und über 
allem die helle, frohe Stimme eines sin- 
genden Knaben, die so überwältigend süss 
ins Ohr geht und eben den rechten künst- 
lerischen Grundton für unsere Gefühle 
trifft; oder das Gedicht „In Lavunium", 
wo man durch die Musik seiner Linien 
hindurch das Sausen der Bienen von 
Mantua wieder zu vernehmen glaubt, die 
aus den grünen Tälern ihrer Heimat und 
von den Flüssen ini Lande drinnen in 
dicken Haufen durch die Lüfte kommen, 
um den Bernsteinhonig einzusammeln, 
den die Blumen am Meere bergen; oder 
das Gedicht, das „Im Kolosseum" ge- 
schrieben ist, das einem denselben künst- 
lerischen Genuss gibt, wie wenn man 
einem Handwerker bei seiner Arbeit zu- 
sieht — einem Goldschmied, der sein Gold 
in so dünne Blättchen hämmert, dass sie 
zart sind wie gelbe Rosenblätter oder der 
es zu langen Fäden zieht wie ineinander- 
geworrene Sonnenstrahlen — so vollkom- 
men imd köstlich im blossen Machwerk; 
oder die kleinen lyrischen Zwischenspiele, 
die hie und da wie der Gesang einer 

133 



Drossel einfallen und die so flink und so 
sicher sind wie der Flügelschlag eines 
Vogels, so schwank und blajik wie die 
Apfelblüten, die in langsamem Hin \md 
Her nach einem Frühlingsgewitter auf 
den Rasen flattern imd noch lieblicher 
sind, da die Regentropfen auf ihrem zarten 
rosenroten Perlengeäder liegen; oder die 
Sonette — denn Rodd ist einer von denen 
qui sonnent le sonnet, wie die Ronsar- 
disten ru sagen pflegten — das eine, das 
sich „An den Hügeln des Ufers" nennt, 
mit dem feurigen Wimder seiner Phan- 
tastik und der seltsamen Schönheit seiner 
achten Zeile; öder das andere, das von 
dem Schmerz des grossen Königs um das 
tote kleine Kind spricht — nun, all diese 
Gedichte streben, wie gesagt, eine rein 
artistische Wirkung an imd haben die köst- 
liche und erlesene Eigenheit, die solcher- 
lei Arbeit auszeichnet; \md ich finde, dass 
die völlige Unterordnung aller bloss ge- 
fühls- und verstandesmässigen Motive 
unter das entscheidende formende Prinzip 
der Poesie das sicherste Zeichen für die 
Gesundheit unserer ästhetischen Bewegung ist. 

134 



Alier es ist nicht genug, dass ein 
Kunstwerk den ästhetischen Forderungen 
der Zeit entspricht: es muss auch, wenn 
es uns irgend dauernden Genuss gewähren 
soll, den Stempel einer besonderen Indi- 
vidualität tragen. Jedes Werk, das in 
unserm Jahrhundert gelten soll, muss auf 
den zwei Polen der Persönlichkeit und der 
Vollendimg ruhen. Und so könnte man 
in diesem dünnen Band die frühere und 
schlichtere Stufe von der späteren und 
kräftigeren trennen, wo der Dichter mehr 
technische Macht und mehr künstlerische 
Anschauimg besitzt, und dann reizt es 
einen, diese auseinanderfallenden Ge- 
dichte, diese wirren und vereinzelten Fä- 
den zu einem feuerfarbenen Band des 
Lebens zu weben: zuerst stösst man auf 
die blosse Fröhlichkeit eines Knaben dar- 
über, dass er jung ist, mit all seiner ein- 
fachen Freude im Feld und den Blumen, 
im Sonnenschein \md Gesang, und dann 
die Bitterkeit plötzlichen Schmerzes, wenn 
der Tod einer kurzen und schönen Jugend- 
freundschaft ein Ende macht, mit all dem 
vergeblichen Sehnen und hoffnimgslosen 

135 



Fragen, mit dem wir so nutzlos das starre 
Marmorantlitz des Todes bewegen wollen ; 
wobei der künstlerische Gegensatz! 
zwischen der UnvoUkommenheit des 
Geistes und der vollkommenen Vollendung 
des Stils!, der ihn zum Ausdruck bringt, 
das Hauptelement des ästhetischen Reizes 
dieser besonderen Gedichte ausmacht; 
und dann die Geburt der Liebe und all 
das Wunder und all die Angst und gefahr- 
volle Wonne, wenn zum erstenmal die 
Schwingen der Liebe die Stime des Kna- 
ben streifen; und die Liebeslieder, zart 
und fein, mit einer inneren Musik, als 
flögen leichte Schwalben, und so voller 
Freiheit und Duft, dass man sie alle im 
Freien und auf fliessendem Wasser singen 
möchte; und dann der Herbst, mit seinen 
verstummten Wäldern \md seiner duften- 
den Verwesung imd der untergehenden 
Lieblichkeit, wo die Liebe im Tode da- 
liegt; und die Klage darüber. 

Hier möchte man innehalten, denn 
von einem jungen Dichter dürfte man 
keine tieferen Klänge des Lebens verlan- 
gen als diese, die Liebe und Freundschaft 

136 



uns zu ewigen Klängen machen; und die 
besten Gedichte in diesem Bande gehören 
offenbar einer späteren Zeit an, wo diese 
Erfahrungen des Wirklichen in eine Form 
aufgelöst und zusammengezogen werden, 
die solchen Erfahrungen des Wirklichen 
sehr entfremdet und entfernt scheint; wo 
der einfache Ausdruck von Freude oder 
Schmerz nicht länger genügt und mehr 
in der Hoheit des Rhythmus, in der Musik 
und Farbe der verketteten Worte liegt als 
in unmittelbarem Aussprechen der Dinge ; 
mehr, möchte man sagen, in der Vollen- 
dung der Form lebt als im Pathos des 
Gefühls. Und doch können wir, nach der 
zerbrochenen Musik der Liebe und der 
Grablegung der Liebe in den Wäldern des 
Herbstes, wohl das Wandern unter selt- 
samen Menschen und in Ländern, die wir 
nicht kennen, darin spüren, wodurch wir 
so tragisch versuchen, die Stösse des 
Lebens, das wir kennen, zu heilen, imd 
die reine, inständige Hingebung an die 
Kunst, die den Menschen überkommt, 
wenn die rauhe Wirklichkeit des Lebens 
ihn zu plötzlich verwundet hat und ihm 

137 



die Jugend mit; Verzweiflung oder Kummer 
zerstört, und die, meine ich, nicht seltener 
daher kommt aJs von irgend einer natür- 
lichen Freude am Leben; \md die sonder- 
bare GewaJt des Blicks, die in Momenten 
überwältigender Trauer imd unbezwing- 
licher Verzweiflung künstlerische Dinge 
im Gedächtnis zu lebendiger Wirklichkeit 
beseelt, zu einer Wirklichkeit, die dem 
Leben angehört, das diese Dinge uns ver- 
gessen helfen — ein altes gr3.ues Grab in 
Flandern mit einer seltsamen Inschrift, das 
uns den Gedanken gibt, dass leidenschaft- 
liche Liebe vielleicht den Tod überlebt, 
eine Schnur aus blauen und bernstein- 
gelben Perlen und ein zerbrochener Spie- 
gel, die im Grab eines Mädchens in Rom 
gefunden wurden, ein Marmorbild eines 
Knaben, der wie Eros gekleidet ist, und 
mit der pathetischen Gebärde der Tragik 
eines grossen Königs, die wie ein pur- 
purner Schatten darin umgeht, hat sich 
über dem allem der müde und verklärte 
Geist mit der ruhigen und sicheren Freu- 
digkeit gelagert, die über einen komtnt, 
wenn man etwas gefunden hat, was die 

138 



Welt nicht zerstören und die Zeit nicht 
verwittern kann; und mit ihr kommt die 
Sehnsucht nach den Dingen Griechen- 
lands, die oft das Mittel des Künstlers ist, 
die Sehnsucht nach der Vollendung aus- 
zudrücken, und das Verlangen nach den 
alten gestorbenen Tagen, das so modern 
ist und so unvollkommen imd so rührend 
imd gewissermassen die umgekehrte 
Fackel der Hoffnimg vorstellt, die die 
Hand verbrennt, die sie führen sollte; \md 
über viele Dinge eine leichte Trauer, und 
zu allen Dingen eine grosse Liebe; und 
zuletzt, im Kiefernwald an der See, noch 
einmal der rasche, lebendige Puls froher 
Jugend, der in jeder Zeile lacht und hüpft, 
die frische, unverzagte Freiheit von Welle 
und Wind, die die ausgebrannte Asche 
des Lebens zu Flammen erwecken und zu 
Gesang die stummen Lippen der Qual — 
wie klar scheint man es alles zu sehen, 
die lange Zeile der Kiefern, durch die 
Wolken imd Meer hie imd da wie ein Silber- 
blick aufblitzen; den freien Platz im Grü- 
nen, das Herz des Waldes mit dem moos- 
amsponnenen Altar des alten italischen 

X39 



Gottes darauf, und die Blumen rings her- 
um, Alpenveilchen an schattigen Plätzen, 
und die Sterne der weissen Narzissen, die 
wie Schneeflocken über dem Gras liegen, 
wo die behende glanzäugige Eidechse über 
den Stein schiesst, und die Schlange zu- 
sammengerollt auf dem heissen Sand in 
der Sonne liegt, und zu Raupten von den 
Zweigen fliessen die Marienfäden, dünne, 
zitternde, goldene Fäden — die Szene ist 
in ihrem Motiv ganz vollendet, denn hier 
fürwahr, wenn irgendwo, könnte die wahre 
Freudigkeit des Lebens einer Jugend 
offenbart werden — die Freudigkeit, die 
nicht kommt, wenn man die Leidenschaft 
verstösst, sondern wenn man sie in sich 
einzieht und die so ist wie die ruhige 
Heiterkeit, die im Gesicht der griechischen 
Statuen liegt, und die Verzweiflung und 
Schmerz nicht vernichten, sondern nur 
verdichten und verstärken können. 

So etwa könnten wir diese losen imd 
zerstreuten Blumenblätter der Dichtimg 
zu einer vollkommenen Rose des Lebens 
sammeln und doch möchten wir vielleicht, 
wenn wir es tun, das wahre Wesen der 

140 



Gedichte nicht treffen ;^ des Menschen wirk- 
liches Leben ist so oft das Leben, das er 
nicht führt; und schöne Gedichte können 
wie schöne Seidenfäden zu vielerlei 
Mustern verwoben werden, die alle wun- 
derbar und verschieden sind: und dazu 
ist die romantische Dichtung wesentlich 
die Dichtung der Impressionen, und wie 
die letzte Richtung in der Malerei, die 
Richtung Whistlers und Albert Moores, 
wählt sie zu ihrer Situation nicht eine 
Fabel oder, ein Thema; sie behandelt lieber 
die Ausnahmen als die Typen des Lebens ; 
sie liebt die intensive Kürze in dem, was 
man ihre feuerfarbene Augenblicklichkeit 
nennen könnte, denn in der Tat sind es 
jetzt die Augenblickssituationen des 
Lebens, das momentane Aussehen der 
Natur, was Dichtung und Malerei uns ver- 
mitteln wollen. Ehrlichkeit und Treue wird 
der Künstler natürlich immer haben; aber 
künstlerische Ehrlichkeit ist bloss die 
plastische Vollendung der Ausführung, 
ohne die ein Gedicht oder ein Gemälde, 
mag die Empfindimg noch so edel, seine 
Herkunft noch so menschlich sein, nur 

141 



vergeudete und unwirkliche Arteit ist, und 
treu sein kann der Künstler nicht einem 
festgelegten Lebensgesetz oder System, 
sondern nur dem Prinzip der Schönheit, 
durch das die schwankenden Schatten des 
Lebens in ihrem flüchtigsten Augenblick 
festgehalten imd verewigt werden. Er wird 
sich zum Beispiel in Dingen der Erkennt- 
nis nicht bei der bequemen Orthodoxie 
unserer Zeit beruhigen und ebensowenig 
verlangt es ihn nach dem feurigen Glau- 
ben der antiken Zeit, der die Phantasie zwar 
intensiver machte, aber beschränkte; noch 
weniger wird er zugeben, dass der Friede 
seiner Kultur von der misstönenden Ver- 
zweiflung des Zweifels oder der Düster- 
keit unfruchtbarer Skepsis zerrissen wird, 
denn das TaJ der Gefahr, wo die Heere 
der Unwissenden zur Nacht rasselnd zu- 
sanmienstossen, ist kein schicklicher Ruhe- 
platz fiüjT; die,|der die Götter das helle Hoch- 
land, den heiteren Gipfel imd die sonnige 
Luft bestimmt haben — lieber wird er 
es imm,er in Neugier mit neuen Formen 
des Glaubens versuchen, wird seine Natur 
in den Gefühlen untertauchen lassen, die 

142 



noch um alten schönen'' Olauben zitterü, 
und wenn er, der die Erfahrung selbst, 
nicht ihre Früchte sucht, ihr Geheimnis 
gehörigen hat, wird er ohne Bedauern vieles 
lassen, was ihm einmal sehr teuer war. 
„Ich bin immer unaufrichtig," sagt Emer- 
son irgendwo, „da ich weiss, es gibt auch 
andere Stimmungen." „Les ^motions," 
schrieb Th6ophile Gautier einmal in einer 
Kritik über Arsfene Houssaye, „les 6mo- 
tions ne se ressemblent pas, mais £tre 6mu 
— voilä rimportant." 

Dies also ist das Geheimnis der Kunst 
der romantischen Schule unserer Zeit und 
gibt ims den rechten Grundton, sie zu er- 
fassen; aber das eigentliche Wesen aller 
Werke, die wie die Gedichte Rodds, wie 
ich sagte, nach einer rein künstlerischen 
Wirkung streben, kann nicht mit den Wor- 
ten, die der Sprache begrifflicher Kritik 
zur Verfügung stehen, beschrieben wer- 
den; sie sind dafür imzugänglich. Man 
kann vielleicht am besten in Ausdrücken 
zu ihnen führen, die den andern Künsten 
entnommen sind und auf sie hinweisen; 
und wirküch, einige dieser Gedichte iri- 

143 



sieren wie ein entzückendes Stück vene- 
tianisches Glas und sind ebenso köstlich; 
andere sind so duftig in der Vollkommen- 
heit ihrer Ausführung und so einfach im 
Naturmotiv wie eine Radierung Whistlers 
oder wie eine der schönen kleinen grie- 
chischen Figuren, die man in den Oliven- 
hainen um Tanagr^ heute noch finden 
kann, mit der matten Vergoldung und dem 
Hauch von Karmesin, die noch nicht ganz 
von Haar und Lippen und Gewand ge- 
schwunden sind; und viele von ihnen 
gleichen den Dämmenmgen Corots, die 
eben zu Musik werden, denn nicht bloss 
in der sichtbaren Farbe, sondern auch in 
der Empfindimg — die die Farbe der 
Poesie ist -— kann wohl eine Art Ton 
liegen. 

Aber ich glaube, das beste Gleichnis 
für das Wesen der Gedichte dieses jungen 
Poeten, das ich je sah, fand ich in der 
Loirelandschaft. Er und ich hielten uns 
einmal in dem kleinen Städtchen Amboise 
auf, mit seinen grauen Schieferdächern 
und seinen steilen Strassen \md dem 
schmalen, finsteren Torweg, wo die fried- 

144 



liehen Hütten wie weisse Tauben in den 
düstern Spalten der grossen Felsenfestung 
nisten, und die stattlichen Renaissance- 
gebäude schweigsam und vornehm dastehn 
— jetzt sehr öde, aber die feingedrehten 
Säulen und die geschnitzten Tore mit 
ihren grotesken Tieren und lachenden 
Masken und wunderlichen Wappen- 
sprüchen noch von mancher Erinnerung 
an die alten Tage umschwebt, und das 
alles erzählt von einem Menschenschlag, 
der sich das Leben nicht wirklich den- 
ken konnte, solange er's nicht phantas- 
tisch gemacht hatte. Und oberhalb des 
Städtchens, jenseits der Biegung des 
Flusses, gingen wir gewöhnlich nach- 
mittags und zeichneten von einem der 
grossen Kähne aus, die im Herbst den 
Wein imd im Winter das Holz zum Meer 
bringen, oder wir lagen im hohen Gra3 
und entwarfen Pläne pour la gloire, et 
pour ennuyer les Philistins, oder wir spa- 
zierten an den niedrigen, schilfbewach- 
senen Ufern und „bliesen imsere Rohr- 
pfeife in fröhlichem Wettkampf", wie es 
Gefährten in den alten Tagen Siziliens 

145* 

10 



gern taten; und das Land war ein ziem- 
lich gewöhnliches Land und sogar kahl, 
wenn man an Italien dachte, wie da die 
Oleanderbäume die Berge bei Genua mit 
Scharlach schmückten und die Cyklamen 
mit ihr^m Purpur jedes Tal von Florenz 
bis Rom erfüllten; denn es gab nicht 
viel wirkliche Schönheit hier, nur lange, 
weisse, staubige Strassen und gerade, 
feierliche Pappelalleen, aber dann und 
wann verlieh ein kleiner flüchtiger Schim- 
mer gebrochenen Lichts dem grauen Feld 
oder der stillen Schemie ein Geheimnis 
und eine Weihe, die sie nicht wirklich 
besassen, und verklärte für einen ein- 
zigen köstlichen Augenblick die Bauern, 
die den Weinberg herabstiegen, oder den 
Schäfer, der auf dem Hügel weidete, be- 
tupfte die Weidenbäume mit Silber imd 
verwandelte den Fluss in f liessendes Gold ; 
und die wunderbare Wirkung zusammen 
mit der seltsamen Einfachheit des Ma- 
terials schien mir immer ein wenig wie 
die Art dieser Verse meines Fremides. 



146 



SONETT AN DIE FREIHEIT 

(OSCAR WILDE, POEMS. LONDON 1881.) 



Nicht darum, weil ich hold bin deinen 

Söhnen, 
In deren Sinn nichts lebt als festgeballt 
Der eignen dumpfen Leiden Missgestalt, — 
Doch weil aus deinem wilden Macht- 
verhöhnen, 
Aus deines Schreckensreichs Gewitter- 
dröhnen 
Mir meiner eignen Leidenschaft Gewalt 
Und meinem Grimm ein Echo widerhallt, — 
Darum, du Freiheit 1 jauchzt bei deinen 

Tönen 
Mein Innerstes, sonst könnte Tyrannei 
Das heiige Recht der Völker immerhin 
Mit Knuten treffen und mit Kanonaden, 
Und meine Seele bliebe kalt dabei — 
Und doch, und doch I Gott weiss, wie eins 

ich bin 
Mit jenen Heilanden der Barrikaden. 



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GUSTAV LANDAUER 

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Unsere Ausgabe soll nicht Geschichtsforschern das 
Original ersetzen, sondern den grossen Meister und 
gewaltigen Sprachschöpfer aufs neue zu Denkenden» 
Empfindenden und Geniessenden sprechen lassen» 

LITERARISCHES ECHO. 

Eckharts Prosa gehört zum Schönsten und QewalHgsten, 
was in deutscher Sprache geredet und geschrieben worden 
ist. Sie vereinigt fvunderhare Atisdrucksfähigkeit für die 
feinsten und geistigsten Dinge mit der unverbrauchten 
Jugendkraft und naiven Bildlichkeit einer Zeit, die die sprach- 
liche Form für ihr tiefbewegtes Innenleben erst schaffen 
muss. Diese kösÜithe Frische und Originalität auch im neu- 
hochdeutschen Gewände zu bewahren, erscheint mir als die 
vornehmste Aufgabe des Uebersetzers, Landauer behält 
nach Möglichkeit die Worte und syntaktischen Etgentümlidi" 
keiten Eckharts hei. Man spiirt bei ihm noch, was im Ur- 
text so tief ergreift, das mächtige Bingen der Gedanken mit 
dem ungefügen Material der Sprache und das Uidenschaft^ 
liehe Pathos des Redners. 

NEUE METAPHYSISCHE RUNDSCHAU. 

Landauer ist, das kann man wohl sagen, tief in das 
mystische Denken eingedrungen, und um so wertvoller ist 
seine Spürarbeit, Mystik und Sprachkritik (im Anschluss 
an Mauthner) miteinander in Verbindung zu bringen. 



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KUNO ZWYMANN: AESTHETIK DER LYRIK 

DAS GEORGESCHE GEDICHT 

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Was Hildebrands Problem der Form in der bildenden 
Kunst ist, das soll die Aesthetik der Lyrik in der Dicht- 
kunst sein: Ein Buch, aus dem der Dichter lernen kann. 

NEUE FREIE PRESSE 26. X. 

Der Zweck dieser Schrift ist die Erschliessung des Ver- 
ständnisses der eigenartigen, viehunstrittenen Schöpfungen 
Stefan Georges. Dabei wird ein Weg eingeschlagen, der 
von den Bahnen der üblichen literarischen Kritik gänzlich 
abweicht. Neu und besonders für Aesthetiker interessant 
ist der Versuch, ein allgemeines Schönheitsgesetz auf- 
zustellen und deren Anwendung auf die Gedichte zu zeigen. 

Prof. R. M. MLYER, Deutsche Literarische Zeitung. 
Dieses merkwürdige Werkchen verdient um der uner- 
sdtrockenen Selbständigkeit willen, mit der der Verfasser 
:seinen Weg geht, Beachtung, auch von denjenigen, die nach 
seinem eigenen Ausdruck zu den Geniessenden nicht gehören. 

BEILAGE ZUR MUENCHENER ALLGEMEINEN ZEITUNG 

1904 No.43. 
Zwymanns Buch ist keine Sonntag^nachmittags-Lektüre. 
Es erfordert eine tüchtige Denkanstrengung. Aber sie 
iohnt sidi reichlich durch die Freude an der scharfsinnigen 
Durdhdringufigf an den neuartigen Gedanken, für die die 
Zeit erst reift, an der vollen Hingabe an Georges grosse 
Kunst, die diese bisweilen so spröde klingenden Worte 
erwärmt und durchleuchtet. Dem Märchen von der Un- 
verständlichkeit Georges wird durch kurze Auseinander- 
setzung der einzelnen Gedi chte ein Ende bereitet. .*. .* 



Axel Junckers Buchhandlung Karl Schnabel 

BEaiLIN W.9, Potsdamerstrasse 138 

FRANZ FLAUM 

FUENF ESSAYS VON 

STANISLAW PRZYBYSZEWSKI, RUDOLF v. DELIUS 

S. LUBLINSKI, Dr. EMIL GEYER, CESARY JELLENTA 

MIT PORTRAIT UND 16 TAFELN IN LICHTDRUCK 

PREIS 3,50 MARK 

Ueber Flaums Skulpturen ist in Kritik und Gegenkritik 
manch scharfes Wort gewechselt worden, und es Ist 
Zeit, dass Flaums Plastiken weit hinaus über den 
Jetzigen Kreis seiner Anhänger bekannt werden. 
Erinnert doch das scharfe Für und Wider unserer 
ersten Kritiker an die Zeit, da des grossen Vorbildes 
Rodin's Balzac vom Salon zurückgewiesen wurde» 

M. OSBORN, Nationalzeitimg. 
»Mit fünf trefflich geschriebenen Essays, die mit hübsch dar^ 
gebotenen Abbildungen ein fesselndes Buch ergeben . . . 
treten die Verfasser f&r die Bedeutung Flaums für die 
deutsche Skulptur ein." Und weiter heisst es in der 
Nationalzeitung: „Darin hciben die Verfasser durchaus 
recht, dass sie Flaum eine besondere Stellung und Bedeutung- 
einräumen. Und darüber ist kein Zweifel: Maum ist vom 
Scheitel bis zur Sohle ein echter Künstler, der aus Eigenstem 
arbeitet Man kann den Künstler wahrlich nicht damit 
abtun, dass man ihn kurzerhand als Rodin-Nachahmer 
rubriziert, sondern Flaums Bedeutung für die deutsche 
Plastik ist die gleiche, wie die eines Rodln für Frankreich 
oder eines Vigeland für Skandinavien. Und so sicher es 
ist, dass die entscheidenden Anregungen von dem grossen 
Franzosen ausgegangen sind, so sicher ist es auch, dass 
es sich hier in der Tat um innerliches Verarbeiten der 
Lehren des bewunderten Vorbildes handelt. Mag nun 
die Kritik einerseits behaupten, seine Plastiken seien 
.nachlässig, schloddrig, unvollendet**, oder andererseits, sie 
seien an einem mit Bedacht gewählten Punkte abgebrochen.*^ 

Druck von Pass & Garleb, Borlin W. 35. 



14 DAY USE 

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LOAN DEPT. 

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on the date to which renewed. 

Renewed books are subject to immediate recall. 



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