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Full text of "Der Sprung über den Schatten : Betrachtungen auf Grenzgebieten"

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Presented to the 
LIBRARY of the 
UNIVERSITY OF TORONTO 


by 


Peter Kaye 


Digitized by the Internet Archive 
in 2010 with funding from 
University of Toronto 


http://www.archive.org/details/dersprungberde00mosz 


n 


er Sprung über den Schatte 


Im gleichen Verlag erſchien: 


Das Buch der 1000 Wunder 
von 
A. Fürſt und A. Moszkowski 


Zwanzigſte Auflage 


Der Sprung über den Schatten 


Betrachtungen auf Grenzgebieten 
von 


Alexander Moszkowski 


Albert Langen, München 


LIBRARY 


Copyright 1917 by Albert Langen, Munich 


Druck von Heſſe & Becker in Leipzig 
Einbände von E. A. Enders, Leipzig 


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Inhalt 


Zum Geleit 

Die ewige Wiederkunft. 8 
Das Geheimnis der großen Zahl 
Das Laboratorium des Lukrez 
Die entlarvte Natur . 


Das Glück in mathematiſcher Beleuchtung 


Der Projektilzug i 
Zwiſchen Bergſon und dias 
Zufunftsfing . \ 
Klavier und Maſchine 

Ein verlorenes Paradies 

Wo ſitzt die Kultur 

Wie groß iſt die Welt? 

Die Annäherung 

Der Alpdruck 


Die Hemmung und die Förderung 8 


Gedanke, Blitz und Chronometer 
Der unſterbliche Cajus. 

Das Relativitätsproblem 

Die Heimat der Größen 

Vom hohen Berge 


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Zum Geleit 


„Wenn Gott in feiner Rechten alle Wahrheit, und in ſei⸗ 
ner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, 
obſchon mit dem Zuſatze, ſich immer und ewig zu irren, 
verſchloſſen hielte, und ſpräche zu mir: Wähle! — ich fiele 
ihm mit Demut in ſeine Linke und ſagte: Vater, gib! Die 
reine Wahrheit iſt ja doch nur für dich allein!“ 

In dieſem Wort unſeres Leſſing liegt der Vorſpruch für 
jedes Beginnen des Verſtandes, der nach fernen, fliegen— 
den Zielen hinſtrebt; den die Unendlichkeit eines Weges nicht 
davon abſchreckt, ihn zu beſchreiten. Seine Lockungen ſind 
das nie zu erreichende, nie zu vollendende, das Jenſeitige, 
das von keinem Diesſeitigen an magnetiſcher Kraft über— 
troffen wird. 

Für dieſes Streben beſitzen wir ein einfaches, ſeit Urzeit 
bekanntes Symbol: Den Sprung über den eigenen 
Schatten. 

Ob der Denker des Altertums am fliegenden Pfeil hin- 
ter das Geheimnis der Bewegung zu kommen ſucht, ob 
er das All in das Nichts der Atome auflöſt, ob ein Gali⸗ 
lei das Buch der Natur in Kreiſen und Dreiecken entſiegeln 
will, ja wo immer in der Erſcheinungen Flucht ruhende 
Pole geſucht werden, — die Gedankenbewegung iſt und 


9 


bleibt der Schattenſprung; — ausſichtslos, wenn man auf 
ein in feſter Lehre vortragbares Endergebnis rechnet, — 
notwendig und verheißungsvoll im Sinne der Anſtrengung 
des Gedankens, der es immer wieder mit Luſt unternimmt, 
über die Unmöglichkeit hinwegzugelangen. 

Man könnte auch andere Bilder und Gleichniſſe heran— 
ziehen: Das Emporziehenwollen der Leiter, auf deren 
Sproſſe man ſteht, das Verlangen des Gehirnes, ſich ſelbſt 
unter die Lupe zu nehmen. Tröſtliche Unmöglichkeiten; tröſt⸗ 
lich, weil auch aus ihnen ferne blitzende Lichter entgegen— 
ſchimmern: hat es doch in unſeren Tagen ein Forſcher, Carl 
Ludwig Schleich, ausgeſprochen, daß eine Hälfte des Ge⸗ 
hirns die andere in jedem Moment zu beobachten imſtande 
ſei! Bisweilen will es wirklich ſcheinen, als ob in derartigen 
Verſuchen, das Unvollendbare zu vollenden, Anſätze einer 
Möglichkeit liegen könnten. 

Tatſächlich werden durch ſie Dinge erſchloſſen, die zum 
Rauſch hoher Entdeckerfreude berechtigen. Bis wir wahr⸗ 
nehmen, daß auch hier nur Endlichkeiten gegen Unermeß— 
liches ins Treffen geführt werden. Nichts anderes hat ſich 
eingeſtellt, als ein neues fliegendes Ziel. Auch die beob— 
achtende Gehirnhälfte macht den Sprung über den Schat— 
ten, wie ſonſt das Gehirnganze. Es bleibt beim „Als Ob“, 
bei Dingen, die auf ewig zur Fiktion, zur Hypotheſe, zur 
gedanklichen Unmöglichkeit verurteilt ſind, und die den— 
noch zu Herrlichkeiten geführt haben, die den Stolz der 
Wiſſenſchaften ausmachen; dafür zeugen, um aus entlegenen 
Gebieten nur einige wenige zu nennen: die neueſte Atom— 
lehre, die Infiniteſimalrechnung, die Relativitätstheorie. 

Das „Ignorabimus“, das einſt Dubois-Reymond in die 
Welt hinausſchrie, bleibt der verhaltene Unterton in den 


10 


Bekenntniſſen aller Forſcher und Denker, die da wiſſen, daß 
ſie vorwärtskommen, ohne ſich dem großen Unbekannten 
zu nähern. In einer ungeheuren Springprozeſſion bewegen 
ſie ſich, die von Beobachtung zu Beobachtung, von Denk— 
akt zu Denkakt den Sprung über den Schatten wiederholt, 
über den Schatten, der Wiſſen von Nichtwiſſen trennt, über 
den eigenen Schatten, der dazwiſchen liegt. Letzten Endes 
ſteckt alles in der Zwangsläufigkeit, deren lückenloſe Macht 
uns anhält, den Schatten trotz alledem mit liſtigem Anſatz 
für überſpringbar zu halten, das Als Ob für Augenblicke 
gleichzuſetzen dem: So iſt es! Zwar, über den Schatten 
kommen wir dabei nicht hinweg und dem Horizont nicht 
näher; aber wir gewahren dabei eine Vielfältigkeit der Ho— 
rizonte, die ſich demjenigen verſchließt, der gar nicht ſprin— 
gen will. 

Wir gelangen aus Ausſichtsſtellen, an beſtimmte Punkte 
des Denkweges, die uns ungeachtet der fatalen Schatten— 
gefolgſchaft als bemerkenswert erſcheinen. Wir fangen an, 
abzumeſſen und entdecken uns auf ſeltſamen Gebieten. Und 
auf dieſen Gebieten ſtarren uns, immer im gleichen Hori— 
zontabſtand, Probleme entgegen. 

Wiederum ſetzt eine Zwangsläufigkeit ein, die uns ver— 
bietet, dieſe Probleme einfach mit müdem Verzicht anzu— 
blicken, vielmehr uns zwingt, vorübergehend einen Zuſtand 
zwiſchen lösbar und unlösbar anzunehmen. Wir geraten in 
eine Hochſtimmung des Denkens, die vom Reiz der Be— 
wegung ausgeht und in dem Gefühl mündet: Hier iſt es 
anders! Der mit Problemen umſtellte Umkreis ſieht an— 
ders aus; ja vielleicht ſpielt hier ſogar der leidige Selbſt— 
ſchatten eine andere Rolle. 

Wir befinden uns auf Grenzgebieten von ſchwer be— 


mi 


ſtimmbarem Charakter; auf Hochebenen, die das Verdun- 
ſten auch des Unkörperlichen begünſtigen. Im Hirn und 
in den Nerven entwickeln ſich Zuſtände, die ins Erahnen 
hinüberſpielen. Selbſt aus der Logik mit ihrem geſchloſſenen 
Aufbau von Folgerungen und Schlüſſen ſcheinen Reſte der 
Erdenſchwere zu verſinken. Das innere Auge gewinnt blitz— 
artige Zuckungen, als könnte es röntgenſtrahlig in das Außen 
dringen. Jener Kreis erſcheint uns wie eine Phantaſiefigur, 
die ſich in rieſigem Bogen um das Alltägliche ſchwingt, zwi⸗ 
ſchen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten hindurch. 

Neue Schattenbilder zeichnen ſich ab: Die Schatten der 
Probleme, die dem ahnenden Auge erkennbar werden, wie 
ſie ſich über die Flächen der Grenzgebiete hinwerfen. Und 
die Luſt überfällt uns, an den Grenzlinien dieſer Schatten 
hinzuſchreiten. Ohne bildhaften Ausdruck: Wir ſchlagen The⸗ 
men an, die ſich einer ſyſtematiſchen Behandlung ſonſt ent⸗ 
ziehen, aber doch zugänglich werden, wenn wir uns nur 
entſchließen können, auf meſſerſcharfe Definitionen und Be⸗ 
weiſe zu verzichten. Nicht wie die in der Höhle eingeſpon— 
nenen Menſchen bei Plato wollen wir Schatten betrachten: 
auf freier Höhe, in offenen Grenzländern mit verfließenden 
Umriſſen ſchauen wir ſie an; aus ihren Linien wollen wir 
etwas von der Wahrheitsſonne erahnen, die ihren Eigen— 
glanz verbirgt, aber doch durch Schatten verrät. 

Wunderbares begibt ſich. Aus Wirbeln widerſtreitender 
Denkſtrebungen wagen ſich Einſichten empor, die, obſchon 
mit allen Zweifeln durchtränkt, uns mit Seligkeiten be— 
ſtürmen; Bergpredigten des Denkens, in denen noch andere 
Beweiſe gelten, als die in den Lehrbüchern erhärteten und 
erftarrten. Und mit Wonne pflücken wir an den Schatten— 
linien gewiſſe Blüten abenteuerlicher Formung, wenn auch 


2 


der Botaniker mit dem Schulatlas in der Hand daneben 


ſteht und uns erklären will: ſolche Blüten gibt's ja gar 
nicht! 


* 


Wäre ich imſtande, das Weſen dieſer Grenzgebiete klar 
aufzuzeigen und exakt zu beſchreiben, ſo hielte ich wohl die 
Schlüſſel zu einigen letzten Fragen in Händen. Wie die 
Dinge liegen, will ich ſchon zufrieden fein, wenn es mir ge— 
lingt, meinen Leſern eine Ahnung von der Exiſtenz ſolcher 
Gebiete zu vermitteln; eine Ahnung von der Möglichkeit 
gewiſſer Denkfelder, die gleichzeitig vielen Diſziplinen an- 
gehören und keiner, wo Leben und Kunſt mit Phyſik und 
Metaphyſik, mit Mathematiſchem und Erkenntnistheoreti— 
ſchem in einem Nebel zuſammenfließen und die Nadel jedes 
Kompaſſes, dem du dich anvertrauen möchteſt, wirbelnd im 
Kreiſe herumſchwingt. 

Aber nicht auf die beſtimmbare Richtung, ſondern auf 
die Freiheit der Bewegung kommt es an, und dieſe bleibt 
gewährleiſtet: denn dieſes herrenloſe Grenzgebiet iſt größer 
als alle Gelände, die von der angebbaren Wiſſenſchaft und 
Kunſt feſt beſiedelt ſind. Und es lohnt ſich ſchon, einmal 
darauf zu ſpazieren, ſchon um der Geräumigkeit willen, die 
es uns eröffnet. Es iſt ein Gebiet für die Intuition, deren 


Reize und Macht, lange verkannt, heute mehr und mehr 


zur Geltung gelangen. 

Freilich fehlt es da auch nicht an Gegenſtimmen, und 
unter ihnen gibt es mißtönende. Kritik wird geübt an For⸗ 
ſchungswegen, die von den Sohlen fremdländiſcher Denker 
berührt wurden. Und dabei werden Bereiche in die Be— 
trachtung gezogen, die von den Dingen, wie ſie uns hier 


13 


vorſchweben, weltenweit entfernt liegen. Es erfcheint ges 
boten, die Grundverſchiedenheit dieſer Bereiche beſonders zu 
betonen, da die vorliegende Schrift uns auch mit ſolchen 
Fremdbürtigen in Beziehung ſetzen wird: 

Ich betrat die „Grenzgebiete“ zu allererſt in einer Zeit, 
die zu innerer Sammlung Muße gewährte, als noch keine 
Glocke Schickſalsſtunde läutete, noch keine Fanfare dem 
Weltkrieg voraustönte. Wir alle haben ſeitdem ſehr viel um— 
gelernt, neue Werte gepflanzt, alte entwurzelt, und ſo mußte 
ich auch gewiſſe Anſchauungen nachprüfen, die hier als Lehr— 
meinungen vorgetragen und beurteilt werden. Dieſe Anſchau— 
ungen ſetzen voraus: den ewigen Kampf der Geiſter, nicht 
minder aber auch den von äußeren Fehden unberührten Burg— 
frieden innerhalb der Wiſſenſchaft und Kunſt. Ich bekenne 
alſo, daß für mein tiefſtes Bewußtſein das alte Ideal des 
unverbrüchlichen Zuſammenhanges aller Denkforſchung und 
Kunſtgeſtaltung noch fortlebt; ragt hier irgendwo ein poli— 
tiſcher Schatten hinein, ſo muß dieſer zu allererſt überſprun— 
gen werden. Wer könnte ſein Vaterland lieben, ohne ihm 
alle kosmiſchen Fernblicke zu wünſchen? wer wollte ſich von 
dem Grundbekenntnis trennen, daß nichts ſo ſicher die Ge— 
walt vaterländiſchen Geiſteslebens verbürgt, wie die Weite 
ſeiner Horizonte, daß jedes Übergreifen der Verbitterung auf 
das Neutralgebiet der Einſicht und der muſiſchen Formung 
dieſe Horizonte verengen müßte? 

Wenn ich aber außerſtande bin, eine völkiſch abgeteilte 
Wiſſenſchaft unter die ſinnvollen Möglichkeiten zu rechnen, 
mir eine auf Landesfarben abgetönte Phyſik, Aſtronomie, 
Algebra vorzuſtellen, ſo darf ich mich auch nicht dazu ver— 
ſtehen, rein kritiſche Erörterungen über fremde Forſcher nach 
neugewonnenen politiſchen Erfahrungen nachträglich umzu— 


14 


färben. Dies gilt beiſpielsweiſe in Anſehung einer Perſön— 
lichkeit, von deren Leiſtungen auf dieſen Blättern die Rede 
iſt, in der Abhandlung „Zwiſchen Bergſon und Laplace“. 
Im Verlauf des Krieges hat es Bergſon über ſich gewonnen, 
aus den Hochebenen der Erkenntnis herabzuſteigen in die 
Niederungen, wo die Sphärenharmonie verſtummt und der 
Lärm regiert. Begäbe ſich mein Buch auf ähnliche Gebiete, 
ſo würde ich ihm die zweckdienliche Antwort nicht ſchuldig 
bleiben. Aber in dieſer Schrift bin ich lediglich Erkenntnis— 


theoretiker und darf mein Urteil über Ergebniſſe der Berg— 


ſonſchen Lehre ebenſowenig abändern, wie meine Anſicht von 
der Darwinſchen Theorie, den Geſetzen Newtons oder der 
Geometrie des Descartes. Möge er ſelbſt ſeine Schwenkung 
vor ſeinem Gewiſſen verantworten, er, der doch auch deut— 
ſchem Denken ſo viel verdankt, er, der vordem ſelbſt ſo eifrig 
am weltbürgerlichen Garn geſponnen hat und — beiläufig 
bemerkt — in einem an mich gerichteten Briefe auch meine 
eigenen Studien als für ihn wertvolle und neue Blicke ver— 
heißend in Ausſicht nahm. Gehört die Verleugnung fortan 
etwa zum Weſen des Bergſonismus, ſo bleibe ſie auf ihren 
Herd beſchränkt. Ihr Übergreifen auf andere wäre eine Ge— 
fahr, ihre Rückwirkung auf früher gewonnene Ergebniſſe ein 
philoſophiſcher Widerſinn. Ich habe daher der erwähnten 
Abhandlung das Fortbeſtehen auf Grenzgebieten geſtattet, 
ohne dem Groll die Befugnis eines Zenſors einzuräumen. 

Ich will aber auch mit dem Bekenntnis nicht zurückhalten, 
daß dieſes Buch von dem, was mir auf der Feder ſaß und 
ſitzt, nur Stichproben gibt; nämlich genau ſoviel, als ſich 
mir bis heute einer allgemein volksverſtändlichen Einkleidung 
fügen wollte. Das Maß dafür konnte mir nicht verloren 
gehen. Ein Teil der Aufſätze erſchien zuerſt vor einem Teil— 


15 


77 
*. 
N 


nehmerkreis, der mir aus der Entfernung in den Arm ge: 
fallen wäre, wenn ich mich in meinen Betrachtungen allzu⸗ 
ſehr ins Schwierige verloren hätte. So iſt das Ganze, wie 
ſchon angedeutet, kein Syſtem geworden, ſondern eine loſe 
Folge von Anſagen auf Feldern mit wogenden Schatten und 
huſchenden Lichtern. 


16 


Die ewige Wiederkunft 
Wirbeltanz der Atome 


Vor einem Menſchenalter war es, in Sils-Maria. Zwi⸗ 
ſchen Weinen und Jauchzen fühlte ſich Friedrich Nietzſche von 
einer neuen Offenbarung entbunden, der bedeutſamſten ſei— 
nes Denkerlebens: „Wenn dieſer augenblickliche Zuſtand da 
war, dann auch der, der ihn gebar, und deſſen Vorzuſtand 
und ſo weiter zurück; daraus ergibt ſich, daß er auch ein 
zweites, drittes Mal ſchon da war, ebenſo, daß er ein zwei— 
tes, drittes Mal da ſein wird, unzählige Male vorwärts 
und rückwärts. Das heißt: es bewegt ſich alles Werden in 
der Wiederholung einer beſtimmten Zahl vollkommen glei— 
cher Zuſtände.“ Das Unendliche hatte ſich vor ihm auf— 
getan. Ewiges und Erfülltes floß für ihn zuſammen. Ge— 
löſt lag das Problem vor dem Weitblick des Jauchzenden. 
Dasſelbe Problem ſoll hier von einem anderen Standpunkt 
aus geſehen und erörtert werden. Wir werden dabei ſchnell 
genug in Verflechtungen geraten, die dem einſam Wandern— 
den in Graubünden ferner lagen als jede Rückkehr des 
Gleichen. 

Denn ſchon im erſten Anlauf ſtoßen wir hier an einen 
der Grenzfälle, wo der berüchtigte „Satz vom Widerſpruch“ 
(eine der ſchlimmſten Geißeln in der Folterkammer der 
Logik) ſich mit ſich ſelbſt in Widerſpruch ſtellt. An einen 

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 2 


17 


der Punkte, wo das einſetzt, was man das „polare Den— 
ken“ nennen darf: nämlich die Spaltung des Denkens in 
zwei einander ſchnurſtracks entgegenlaufende Vorſtellungen; 
ſo daß wir jede dieſer beiden Vorſtellungen gegenwärtig ha— 
ben, mit dem Bewußtſein ihres unüberbrückbaren Abſtandes; 
daß wir von beiden beſeſſen ſind, hilflos von der einen in 
die andere taumeln und ſozuſagen beide zugleich für die 
allein richtigen und für die allein falſchen halten. Ein ſchau— 
riger Prozeß, der, wie ich ſchon hier ſagen möchte, ſich über— 
all ohne Ausnahme einſtellt, wo wir den Verſuch machen, 
über die platte Alltäglichkeit hinaus irgend etwas zu Ende 
zu denken, wo wir alſo philoſophieren. 

Wir können uns eine Endlichkeit des Raumes ebenſo— 
wenig vorſtellen wie eine Unendlichkeit. Stellſt du dir den 
Raum als endlich vor, ſo ſpürſt du ſofort, daß du damit 
eine unſinnige Grenze ſetzeſt, von der die Vorſtellung nichts 
wiſſen will, die unbedingt durchbrochen werden muß. Ver— 
ſuchſt du, dir die Unendlichkeit vorzuſtellen, ſo merkſt du 
augenblicklich, daß du dabei nur mit einem Allgemeinbe- 
griff, mit einem Widerſpruch, mit einem unbegreiflichen 
Wort ſpielſt, daß die Vorſtellung als ſolche dich im Stich 
läßt; daß ſie nicht weiter reicht als bis ins Ungeheure. Die 
Anſtrengung iſt darauf gerichtet (und kann auf nichts an— 
deres gerichtet ſein), dieſes Ungeheure zu multiplizieren; mit 
Tauſend, mit Million, mit Trillion. In uns entſteht ein 
rechneriſcher Vorgang, der ſehr viel Anſtrengung, ſehr viel 
Willen, aber gar kein Begreifen einſchließt. Es iſt nur noch 
der Widerſpruch gegen die erſte Denkform, die uns zwingt, 
aber nichts, was in den Intellekt eingeht. Wir verſchieben 
die Grenze mit den endlichen Betätigungen unſeres Verſtan— 
des, ſie wird für uns fließend, hinausrückend, vor uns flie— 


18 


ar a 
W 3 


hend, ſie verliert ſich irgendwo in einen Nebel, der außer— 
halb der Denkmöglichkeit liegt. Am Ende ſtellen wir uns 
auch in der Verzweiflung, der Unendlichkeit beizukommen, 
einen endlichen Raum vor. Es iſt die Denkpolarität in rein— 
ſter Geſtalt. Man kann aus beiden Anſchauungsformen nicht 
hinaus, in beide nicht hinein und ſitzt zwiſchen ihnen wie 
in der Zwangslage des Prokruſtesbettes. Noch grauſamer 
wird dieſe Qual, wenn wir vom unerfüllten zum erfüllten 
Raum übergehen, wenn wir etwa verſuchen, uns die Anzahl 
der Weltkörper, der Körper überhaupt, vorzuſtellen. Hier hat 
die Verzweiflung der Denklage einen unſerer ſchärfſten Den— 
ker, Eugen Dühring, direkt zu einer Gewaltmaßregel gegen 
den eigenen Intellekt getrieben. Er fordert „das Geſetz der 
beſtimmten Anzahl“, was im letzten Grunde nichts anderes 
bedeuten kann als die Endlichkeit der Subſtanz. Das iſt 
ein Ukas wie etwa der folgende: Es iſt verboten, über eine 
Trillion hinauszuzählen. Ein Ukas, der das Denken wie mit 
dem Fallbeil abſchneidet und vielleicht ein dogmatiſches oder 
pädagogiſches Geſetz gibt, aber keinen erkenntnistheoretiſchen 
Wert. Wir anderen wollen an die Trillion immer noch und 
immer wieder eine Null hängen und kommen von der Vor— 
ſtellung nicht los (die keine Vorſtellung iſt, ſondern nur ein 
Denkzwang), daß der unendliche Raum von einer unend— 
lichen Körperzahl erfüllt iſt. Wiederum nur aus dem Zwang 
des Widerſpruchs: weil jede noch ſo große Körperzahl uns 
als eine Null erſcheint gegenüber der Möglichkeit, weil wir 
den Gedanken nicht zu faſſen vermögen, daß die körperliche 
Natur irgendwo begrenzt ſei, und weil uns, ſobald wir un— 
ſere Vorſtellung körperlich betonen, die Annahme der un— 
endlichen Stoffmenge immer noch erträglicher ſcheint als das 
unendliche Vakuum. 
2 * 


19 


Im Banne dieſes Denkzwanges operieren wir alſo im 
dreidimenſionalen Raum mit der unvorſtellbaren Menge der 
Körperunendlichkeit, die einfach unendlich wäre, wenn ſie 
uns in einer Linie angeordnet erſchiene, zweifach, wenn wir 
fie in einer Ebene annehmen würden, und dreifach unend— 
lich in der gegenwärtigen Wirklichkeit unſeres Denkens, in 
die uns wiederum die Unvorſtellbarkeit eines begrenzten Rau— 
mes hinausjagt. 

Der polar entgegengeſetzte Denkzwang nötigt uns, jeden 
einzelnen Körper unaufhörlich zu zerkleinern, zu zerſchnei— 
den, in der Hoffnung, irgendwo eine begriffliche oder ſach— 
liche Grenze zu erreichen. Will der Verſtand beim erſten Ver— 
fahren unaufhaltſam über ſich hinaus, ſo kriecht er jetzt 
ebenſo hartnäckig in ſich hinein: und alsbald zeigt ſich eine 
weitere Polarität, da uns bei dieſer Zerkleinerungarbeit die 
blanke Null ſo unannehmbar erſcheint wie jede noch ſo kleine 
Größe, die noch nicht Null iſt. Beſitzt das von der Gedan— 
kenſchneide abgeſplitterte Teilchen noch irgendwelche Aus— 
dehnung, ſo liegt kein Grund vor, das Schneiden aufzu— 
geben. Man kann weiter zweiteilen, dritteln, ohne je auf— 
zuhören. Haben wir es aber tatſächlich bis auf Null her— 
untergebracht, ſo prallen wir vor einem Fehler zurück, der 
uns am Schluß der Verrichtung angrinſt: denn wir begreifen 
nicht, können niemals begreifen, daß ſich aus lauter Nul- 
len, ſei es auch aus unendlich vielen Nullen, etwas Greif— 
bares aufbauen ſoll. 

Die theoretiſche Phyſik hat ſich, um dieſer unheilvollen 
Polarität zu entfliehen, zur Annahme einer Vermittlung ent— 
ſchloſſen, die in den Grundſätzen der Molekulartheorie und 
der Atomlehre feſtgelegt iſt. Der reine Verſtand will auch 
das „Atom“, das nach der Wortdefinition „atomos“, Un⸗ 


20 


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9 N 


* 8 


teilbare, weiterzerſchneiden; der phyſikaliſche Verſtand be— 


ruhigt ſich beim ſehr Kleinen, ſobald die Hypotheſe, die 
dieſes Winzige umſchließt, ausreicht, um phyſikaliſch und 
chemiſch brauchbare Reſultate zu liefern. Die Natur, ſo 
wird angenommen, ſetzt dieſem Verfahren irgendwo einen 
unbeſieglichen Widerſtand entgegen; in Stoffpunkten, die 
zwar keine mathematiſchen Punkte ſind, aber ſich, vermöge 
ihrer vollkommenen Gleichartigkeit und abſoluten Härte, 
allen weiteren Angriffen entziehen. Wir behalten alſo im 
Atom eine Rechnungsgröße übrig, die ſich mit Zahlen aufs 
Papier bringen läßt, eine Gegenſtändlichkeit, die zwar une 
terhalb aller Vorſtellung liegt, aber doch vor dem Ver— 
ſchwinden geſchützt iſt. Wir haben nur nötig, einen Bruch 
aufzuſchreiben, in deſſen Zähler ſich ein Milligramm befin— 
det und deſſen Nenner aus zweiundzwanzig Ziffern beſteht, 
ſo gelangen wir an ein Gewichtchen, das dem Atom des 
Waſſerſtoffgaſes entſpricht. Vor der anſchaulichen Vorſtel— 
lung verkriecht ſich ſolches Atom bis zur Unauffindbarkeit; 
es mag ſich der Größe nach zu einem Tropfen verhalten 
wie ein Apfel zum Erdplaneten; immerhin bleibt es eine 
endliche Größe, die im Zug ſolcher Betrachtung einen un— 
leugbaren Vorteil gewährt. Denn wenn wir nun ſagen: „Die 
unendliche Welt der Körper beſteht aus Atomen,“ ſo er— 


halten wir zwar eine neue ungeheure Multiplikation, aber 


nicht eine neue Unendlichkeit zu den bereits erkannten; es 
bleibt vielmehr bei der dreifachen Unendlichkeit, in die ſich 
die Wirklichkeit der Atome einzuordnen hat. 

Die Atomlehre bietet uns die weitere Erleichterung, daß 
ſie uns aus der anſchaulichen Erfahrung nicht ganz ſo un— 
erbittlich herausreißt wie die Zwangsvorſtellung des unend— 
lichen Raumes ſamt den ſie erfüllenden Körpern. Wenn 


2 


wir einen Tropfen Säure in taufend Waſſertropfen ver: 
dünnen, einen Tropfen des verdünnten Stoffes wiederum 
in tauſend Waſſertropfen löſen, ſo gelangen wir ſchon bei 
der ſiebenten oder achten Operation an die Grenze, die durch 
jene Hypotheſe feſtgehalten wird. Und wenn wir uns auch 
das erzielte Ergebnis, das mit dem Bruchteil eines tril— 
lionſtel Milligrammes rechnet, nicht vorzuſtellen vermögen, 
ſo bleiben wir doch im Rahmen einer gewiſſen Begreiflich— 
keit, wir brauchen unſerem Zählſinn nicht ſo Gewalt anzu— 
tun wie bei der völlig jenſeitigen und doch völlig unver— 
meidlichen Anſchauung des Unendlich-Großen. 

Die augenblickliche Lagerung der an Zahl dreifach unend— 
lichen Atome bedingt den Zuſtand der Dinge, die gegen— 
wärtige Weltlage in allen Einzelheiten. Sie bedingt ihn, 
aber ſie erſchöpft ihn noch nicht. Denn die Atome ſind in 
Bewegung; und erſt die Summe aller dieſer Bewegungen, 
dynamiſch ergriffen in dieſem einen unteilbaren Moment, 
ergibt die tatſächliche Weltbedeutung dieſes Augenblickes mit 
allen ſeinen mechaniſchen und ſeeliſchen Notwendigkeiten. 
Kein Gott rettet uns hier vor der Schwierigkeit, zwei neue 
Unendlichkeiten hinzuzudenken; die eine umſchließt die Be— 
wegungsrichtung jedes Atoms, die andere die Geſchwindig— 
keit oder das Maß der Beſchleunigung für jeden einzelnen 
Maſſenpunkt. Wir gelangen alſo zu fünf Unendlichkeiten, 
die wir „in Rechnung“ ſtellen müſſen, wenn wir den Zu— 
ſtand der Dinge feſthalten und aus ihm einen zukünftigen 
erahnen wollen. Das hat ſich nun allerdings Nietzſche mit 
ſeiner Träumerei von der ewigen Wiederkehr beträchtlich er— 
leichtert; richtiger: ihm iſt gar nicht eingefallen, ſolche Viel— 
fältigkeit zur Grundlage der Betrachtung zu machen. Auf 
ſeinen Spaziergängen bei Sils-Maria erſchien ihm einfach 


2 — 


das Weltgebäude als ein Wirbeltanz von Partikelchen, und 
er ſchloß mit der ſchönen Zuverſicht des prophetiſchen Dich— 
ters, daß die Anfangsfigur dieſes Tanzes wohl irgendeinmal 
wieder auftauchen müſſe. Nicht mit einer Silbe geht er 
auf die Grundfrage ein: ob die Möglichkeiten der Zeit, ſelbſt 
einer unendlichen Zeit, ausreichen, um die gehäuften Un— 
endlichkeiten der Atombewegungen reſtlos abzuwickeln. 
Eine Promenade im Oberengadin mag angenehmer und 
ſtimmungsvoller ſein als ein Quergang durch arithmetiſche 
Schwierigkeiten. Um Nietzſches Problem von der Wieder— 
kunft des Gleichen wenigſtens als Aufgabe zu erfaſſen, muß 
man ſich ſchon entſchließen, die ganze Angelegenheit in das 
Licht der Permutationsrechnung zu ſtellen. Es handelt ſich 
um ein Rechenexempel von univerſaler Ausdehnung: eine 
fünffach unendliche Anordnung von beweglichen Atompunk— 
ten und Kräften iſt in Variation begriffen; iſt es denkbar, 
möglich oder wahrſcheinlich, daß die Anordnung von heute 
in irgendeiner noch ſo fernen Zeit wiederkehrt? Populär 
ausgedrückt: Iſt die Zeit mächtig genug, um die Permuta— 
tionen zu bezwingen, oder wächſt die Menge der Permutatio— 
nen der Zeit über den Kopf? Verſuchen wir, uns die Sache 
dadurch klarer zu machen, daß wir von ganz einfachen Bei— 
ſpielen zu verwickelteren aufſteigen. Statt der Atome wäh— 
len wir handliche Körper, und aus den ungezählten Myriaden 
greifen wir eine beſcheidene Anzahl heraus: die drei Elfen— 
beinkugeln auf der engbegrenzten Billardfläche. Mitten im 
Spiel fragen wir, ob dieſe beſtimmte Stellung der drei Ku— 
geln ein beiſpielloſer Einzelfall ſei oder wiederkehren könne. 
Hier brauchen wir uns in keine Unendlichkeit zu verirren, 
denn das Handlungsgelände iſt begrenzt, die Kugeln berühren 
die Unterlage nicht in einem Punkt, ſondern in einem klei⸗ 


23 


nen Kreis, jede Beziehung ift in endlichem Sinn erfaß— 
bar; und ſo gelangen wir (einſtweilen noch ohne Rechnung) 
zu dem Ergebnis: Ja, dieſe Stellung kann wiederkommen, 
wenn der Zufall gut mitſpielt, noch in derſelben Partie, ſonſt 
vielleicht erſt nach Wochen und Monaten; wir werden aber 
auch den Gedanken nicht abweiſen, daß trotz der Enge des 
Problems die beiden Spieler die Wiederkehr dieſer einen 
beſtimmten Stellung vielleicht niemals mehr erleben wer— 
den. 

Dieſes Billard ſoll ſich zu einer Welt auswachſen. An 
der Kugelgröße ändern wir nichts; aber wir verbreitern die 
grüne Fläche ins Unabſehbare und verlegen die Banden be— 
liebig über die Siriusfernen hinaus. Und nun legen wir den 
zwei Dämonen, die dieſem intereſſanten Spiel auf geräumi- 
ger Unterlage obliegen, wiederum mitten in der Partie die 
Frage vor: Kann dieſe Stellung wiederkehren? 

Ich erwarte von den Nietzſche-Anhängern ein herzhaftes 
Ja. Denn noch ſind wir nicht über das Drei-Körper— 
Problem hinaus, noch haften wir an den zwei Ausmaßen 
der Ebene; wir erſchöpfen noch nicht einen Tropfen der Mög— 
lichkeiten, von denen die „Ewige Wiederkunft“ einen Ozean 
darſtellt. Aber ich glaube annehmen zu müſſen, daß dieſes 
erwartete „Ja“ ſchon etwas ſchüchterner klingen wird. Denn 
hier könnte ſich zum Beiſpiel die Erwägung einſchleichen, 
daß das Dreieck der Ausgangsſtellung, das wir mit kurzen 
Seiten in Erdnähe annehmen wollen, ſich im Fortgang des 
Spiels beſtändig erweitert, ſo daß der Größe der Zeit gar 
keine andere Aufgabe zufiele, als die Abſtände der Kugeln 
in ihrer Ruhelage beſtändig zu vergrößern. Wir hätten dann 
in der Unendlichkeit der Zeit nicht, wie Nietzſche hoffte, das 
ſichere Mittel zu einer Herbeiführung der Wiederkehr, ſon— 


24 


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dern im Gegenteil die zuverläffige Bürgſchaft, daß die drei 


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Kugeln niemals wieder in die urſprüngliche Lagerung zu— 
rückkehren werden. Gerade die Zeit iſt es, die fie daran ver— 
hindert, und zwar um ſo ſicherer, als die drei Abmeſſungen, 
Länge, Breite, Zeit, in denen ſich die Mechanik des Spiels 
abrollt, nicht das geringſte Intereſſe haben, irgendwann und 


irgendwo auf ihre Unendlichkeit zu verzichten. Nietzſches Lö— 


ſung verſagt alſo ſchon bei drei Körpern in der Ebene. 

Aber einen Einwand könnte der Nietzſche-Bekenner noch 
machen: er könnte behaupten, daß neben den ſelbſtverſtänd— 
lich auseinandertreibenden Wirkungen jenes Spieles noch 
zentripetale Kräfte tätig ſeien; denen müſſe man nur Zeit 
genug laſſen, dann würden ſie ſchon einmal die bis in alle 
Fernen auseinandergeſprengten Körperchen wieder hübſch in 
die erſte Ordnung zuſammenbringen. In dieſem Einwand 
lauert die Allerwelthypotheſe der Attraktion. Sie iſt im 
Zuge dieſer mechaniſchen Betrachtung ſinnlos, da wir über 
die Beziehung der Kräfte von Atom zu Atom nur das Eine 
mit Sicherheit wiſſen: daß die Geſetze der Attraktion im 
Lehrgebäude der Atomiſtik ihre Gültigkeit verlieren. Trotz 
dem wollen wir den Einwand gelten laſſen und uns mit 
dieſem Zugeſtändnis rein auf die permutatoriſche Aufgabe 
zurückziehen. Sie lautet nun: Iſt es möglich, zwiſchen den 
in der Weltmechanik denkbaren Permutationen und der zu 
ihrer Erfüllung notwendigen Zeit einen Vergleichsmaßſtab 
zu finden? 


Die fünffache Unendlichkeit 
Hier ſoll nun endlich einmal die wachſende Zahl ihre 


Rechte üben. Abermals wählen wir unſere Atome aus der 


anſchaulichen Welt: zehn Perſonen eines Stammtiſches, die 


25 


— 


ſich vorgenommen haben, jeden nächſten Abend in verän— 
derter Reihenfolge zu ſitzen. Wann erleben ſie die Wieder— 
kunft des Gleichen? Der alten Tafelordnung? Das kann 
ja wohl nicht ſo lange dauern; bei Zehnen iſt die Reihe doch 
ſchnell herum. Dennoch: ſie werden ſich gedulden müſſen. 
Das Experiment erfordert rund 9900 Jahre. Wenn ſie im 
Schwarzen Walfiſch zu Askalon ihre erſte Wirtshausrech— 
nung mit Keilſchrift auf Ziegelſtein beglichen hätten, blieben 
immer noch ein paar Jahrtauſende übrig; und wenn ſie 
heute ihre Permutation beginnen, ſo dämmert eine neue Eis— 
zeit über die Erde herauf, bevor ſie die Wiederkunft des 
Gleichen erleben. Da haben wir in ganz ſchwachem, ganz 
elementarem Anfang die Beziehung zwiſchen Vertauſchung 
weniger Elemente und der Zeit. Wir merken ſchon hier, daß 
die Elle erheblich länger wird als der Kram; will ſagen: die 
Zeit ſtreckt ſich ins Ungeheuerliche, während die Elemente 
noch in Verhältniſſen ſtecken, die man an den Fingern ab— 
zählt. 

Steigern wir ein wenig: bis zu den 32 Schachfiguren, 
bis zu den 52 Kartenblättern. Hier geraten wir hart an 
die Grenze, wo uns die Arithmetik im Stich läßt. Die 
Frage nach den verſchiedenen Stellungen auf dem engen 
Schachbrett wäre wohl rechneriſch noch zu beantworten. Fra— 
gen wir aber, wie viele verſchiedene Spiele denkbar ſeien 
(was, dem Sinne nach, unſerer Atomfrage genauer ent— 
ſprechen würde), ſo erhebt ſich bereits das Geſpenſt des 
„Ignorabimus“. Vielleicht gibt es Schachſpieler, die da 
allenfalls noch eine Endlichkeit vorausſehen; die von mir 
Befragten ſind aber der Meinung, daß keine Zeit ausreichen 
würde, alle Möglichkeiten des Spiels zu erſchöpfen. Was 
ich als die vierte und fünfte Unendlichkeit bezeichnete, wird 


26 


hier durch einen neuen Faktor erſetzt, durch die aus dem 
Spielgeſetz abgeleitete Sinnbeziehung der Figuren, die eine 
neue Klaſſe von Möglichkeiten außerhalb der Arithmetik 
ſchafft. Eine Wiederkunft des Gleichen iſt alſo bei 32 be— 
wegten Atomen in ebener Anordnung auf Feldern kaum noch 
zu erwarten. 

Die Anzahl der möglichen Kartenverteilungen unter vier 
Whiſtſpieler iſt ungefähr 50000 Quadrillionen. Größten 
Spielfleiß vorausgeſetzt, würden hierzu 30000 Billionen 
Jahrtauſende erforderlich ſein. Und dieſe Jahrtauſende 
ſchrumpfen zu Minuten zuſammen, wenn man die Aufgabe 
erweitert, wenn man den ausdauernden Herren zumutet, 
ſich nicht mit den Mannigfaltigkeiten der erſten Verteilung 
zu begnügen, ſondern wirklich alle möglichen Whiſtſpiele 
zu erledigen. Abermals wächſt die Zeit ins Jenſeitige; und 
die 32 Atome liefern nie wieder das gleiche Erlebnis. 

Eine der beliebteſten Querfragen altgriechiſcher Philoſophie 
hing eng mit unſerem Problem der Permutation zuſammen. 
Um die Exiſtenz einer planmäßig ſchaffenden Göttlichkeit zu 
beweiſen, ſtellte man die Frage: Iſt es denkbar, daß ein 
Gedicht wie die Ilias aus dem Zufall einer Buchſtaben— 
begegnung hervorgegangen ſein könnte? Die Lächerlichkeit 
der Annahme lag auf der Hand. Und doch ſteckt in dieſer 
erſichtlichen Abſurdität noch der Schimmer einer arithmeti— 
ſchen Möglichkeit. Ja, wenn Nietzſche als Mathematiker ſo 
gewaltig geweſen wäre wie als Phantaſt, ſo hätte er den 
Anſatz zu dieſer Berechnung aufſchreiben können. Denn die 
Ilias iſt im letzten Grunde wirklich nur das Beiſpiel einer 
Permutation, und aus allen möglichen Buchſtabengruppen 
muß ſich auch der in Verſe gegliederte Zorn des Achilleus mit 
allen hexametriſchen Fortſetzungen als ein Sonderfall her— 


27 


ausrechnen laſſen. Wann diefer Sonderfall eintreten könnte, 
wenn die Buchſtaben den Wirbeltanz der Atome mitmach⸗ 
ten? Nun, die Anfänge ſolcher Geduldſpiele haben die Arith⸗ 
metiker bereits beſchäftigt. Um von der Buchſtabenfolge 
„Revolution Francaise“ auf das Anagramm „Un Corse 
la finira“ zu ſtoßen, muß man nur die genügende Zahl 
von Variationen zur fünfzehnten Klaſſe bilden; der ſchöne 
Hexameter „tot tibi sunt dotes, virgo, quod sidera 
coelo“ hat ſogar die Gefälligkeit, in feinen maſſenhaften 
Wortpermutationen 3312 Verſetzungen zu geſtatten, die wies 
derum einen Hexameter liefern. Und die gar nicht ſeltenen 
Wortrhythmen, die, vorwärts und rückwärts geleſen, iden- 
tiſch klingen (Beiſpiel: Signa te, signa, temere me tangis 
et angis), führen wirklich im Bann unüberſehbarer Per⸗ 
mutationen zu einer Wiederkunft des Gleichen. So geſehen, 
erſcheint alſo die Ilias tatſächlich als ein Anagramm aus 
einem Buchſtabenchaos. Wenn man aber dieſes Anagramm 
auf die Zeit projiziert, muß man ſich mit Ewigkeitsgeduld 
waffnen; jedenfalls hat ſich der Philoſoph von Sils-Maria 
die von ihm erträumte Wiederkunft als in raſcherem Tempo 
möglich vorgeſtellt. 

Aber die Zufalls-Ilias iſt ein Kinderſpiel auch nur gegen 
einen Zufallstropfen im Weltmeer. Und hundert Ozeane er— 
reichen noch nicht eine der Unendlichkeiten, deren Permutation 
in Frage kommt, wenn an die wirkliche Wiederkunft des 
Gleichen, im Sinn des Weltgeſchehens, gedacht werden ſoll. 
Wir haben uns vergegenwärtigt, daß ſchon aus Winzigkeiten 
an Ziffern, ſobald ſie in den Wirbel der Permutation geraten, 
Ungeheuer entſtehen, die mit keiner ausdenkbaren Zeit zu 
bewältigen ſind. Und nun wollen wir uns der Tatſache er— 
innern, daß wir es hier ſchon in der Grundlage der Berech- 


28 


A 


nung, ehe noch die erſte Veränderung vorgenommen wird, 


mit einer fünffachen Unendlichkeit an Atomen, Richtungen 


und Beſchleunigungen zu tun haben. 

Immerhin droht mir noch der Einwand der „ewigen Zeit“. 
Damit glaubt der Wiederkünftler einen unbeſiegbaren 
Trumpf in der Hand zu haben. Die Zeit, denkt er, iſt 
ſchließlich fo lang, daß fie mit allen Unendlichkeiten fertig 
werden muß. Das iſt aber genau ſo, als ob ſich die punk— 
tierte Unendlichkeit der Linie mit der punktierten Unendlich— 
keit des Raumes meſſen wollte. Innerhalb der Unendlich— 
keiten herrſcht eine Rangordnung, die ſie noch viel unerbitt— 
licher ſcheidet als irgendwelche Vorſchrift für das Große und 
Kleine in begrenztem Bereich. So gewiß ſchon die Ebene an 
Einheiten unendlichfach mächtiger iſt als die Linie, ſo ge— 
wiß erdrücken die fünffachen Unendlichkeiten, die hier erſt 
die Grundlage der Operation bilden, jede Zeit, jede Ewigkeit, 
die doch nur eine eindimenſionale Unendlichkeit darſtellt. Die 
Parallele vom Fußgänger und Siebenmeilenſtiefler bietet uns 
nur ein ganz unzulängliches Bild des Unterſchiedes im Zeit— 
maß; denn eher vermöchte eine Schnecke den Lichtſtrahl zu 
überholen, als der Zeitlauf die Permutation. Stellen wir 
uns die Zeit als mit einem Willen begabt vor, ſo will ſie 
mit dem Danaidenſieb die bewegte Flüſſigkeit des Univerſums 
ausſchöpfen; mit ihrer armſeligen, einfach und geradlinig ge— 
ſtreckten Ewigkeit bleibt ſie um Welten hinter ihrer Aufgabe 
zurück, und je weiter ſie vorſchreitet, um ſo hoffnungsloſer 
entfernt fie ſich von der Löſung des Problems: einen früheren 
Zuſtand des Weltbildes herbeizuführen. Wie dieſes Weltbild 


ſich darſtellt, heute, jetzt, iſt es ein Einziges, ohne Vor— 


läufer, ohne Nachfolger. Nie zuvor war die Konſtellation 
der gegenwärtigen gleich oder auch nur ähnlich, in keiner 


29 


Zukunft kann fie ſich wiederholen, und wenn eine Unſterb— 
lichkeitlehre ſich auf die „Wiederkunft“ ſtützen will, ſo wirft 
ſie ihren Anker ins Bodenloſe ). 

Die Idee einer Weltformel, die den Augenblickszuſtand 
alles Geſchehens als eine Lagerung bewegter Teilchen auf— 
faßt und in einem Syſtem von Differentialgleichungen er⸗ 
faſſen möchte, iſt von Laplace. Die differentialen Verſchie— 
bungen in der Zeit entſprechen unſeren Permutationen. Wäre 
es möglich, dieſe nur in mathematiſcher Phantaſie beſtehen— 
den Gleichungen zu integrieren, ſo würde ſie auch im Inte— 
gralergebnis die Nicht-Wiederkunft als eine beweisbare Si⸗ 
cherheit ergeben. Und das iſt ein Glück für den Kosmos, für 
die Menſchheit. Denn Nietzſches Traum, der ihm ſelbſt als 
der Höhepunkt ſeines Denkens, als ein Troſt, eine Hoff— 
nung, ein ſublimer Rauſch erſchien, wäre in ſeiner Ver— 
wirklichung der Gipfel aller Schrecken, aller Troſtloſigkeit. 

Nehmen wir ihn einmal für erfüllbar. Stellen wir uns 
blind gegen die Tatſachen, taub gegen den Verſtand, reißen 
wir uns mit einem Ruck von unſeren atomiſtiſchen Betrach— 
tungen los, treten wir mit Nietzſche auf die Plattform der 
Wiederkunft. Was glauben wir dann? Um jede Verſchleie⸗ 
rung auszuſchließen, gelte uns ſein eigenes Orakel: „Hüten 
wir uns, zu glauben, daß das All eine Tendenz habe, gewiſſe 
Formen zu erreichen, daß es ſchöner, vollkommener, kom— 
plizierter werden ſollte! Das iſt alles Vermenſchung! Anar— 

*) Wer in ſolchen Problemen über die Denkſchablone hinaus 
will, wird ſich früher oder ſpäter auf Wegen entdecken, die unſer 
Fritz Mauthner geöffnet oder gezeigt hat. Für einen Teil dieſer 
Sätze fühle ich mich einem Abſchnitt in Mauthners gewaltigem 
Wörterbuch der Philoſophie verpflichtet. Beim Artikel „Apokata- 
stasis“ fand ich Richtlinien, denen ich anzuſpüren hatte, um zu 
den hier vorliegenden Tempovergleichungen zu gelangen. 


30 


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8 

Br. 


chie, häßlich, Form find ungehörige Begriffe. Für die Me— 
chanik gibt es nichts Unvollkommenes. Alles iſt wiederge— 
kommen: der Sirius und die Spinne und deine Gedanken in 
dieſer Stunde und dieſer dein Gedanke, daß alles wieder— 
kommt.“ Alſo das Leben eine Repetieruhr, die Weltſeele 
ein Wiederkäuer, das Univerſum ein Kinotheater, das ſeine 
Vorſtellung abſchnurrt und, wenn es die letzte Nummer ab— 
gerufen hat, wieder den erſten Film auf die Walze ſteckt. 
Ich bekenne mich zu der Überzeugung, das Weltbild müſſe, 
infolge der Raumüberwindung, einer fortſchreitenden Ver— 
langweiligung anheimfallen. Wenn Nietzſche recht behielte, 
müßte ich hinzufügen: Für ſo langweilig hätte ich es doch 
nicht gehalten! Im Rauſch feiner Eingebung ſtellt er ſich 
vor: dieſe Promenade mit ihren theoretiſchen Wonnen werde 
ſich erneuen, ſeine Erfinderfreude, ſein Entdeckerruhm, die 
gehobene Stimmung dieſes Tages inmitten einer gewaltigen 
Natur, die ihm zuruft: Du biſt ewig! Nur dieſe Stimmung 
und dieſe Freude? Nein: auch alles Mißbehagen, alle 
Gleichgültigkeit, aller Kummer der abgelaufenen Bahn; jeder 
Arger der Profeſſur, jede Verſtimmung durch den Verleger, 
jeder läſtige Brief, jeder Fehler im Korrekturbogen, jedes 
Leibſchneiden und Zahnweh, jeder Flohſtich im Nachtlager 
und jedes Hühnerauge. Und ſo im Kleinſten wie im Größ— 
ten: unzählige Renaiſſancen und Rückfälle in die Barbarei, 
unzählige Reformationen und Dreißigjährige Kriege, alle 
Not der Maſſen und alles Elend des Einzelnen in unaufhör— 
licher Abhaſpelung. 

Mit ungeheuren Räumen dazwiſchen, in denen das Une 
bekannte vorgeht, verſteht ſich, in denen ſich alles das er— 
eignet, zu dem uns die ſpärlichen Taten der bekannten Welt⸗ 
geſchichte keinen Vergleich bieten. Denn bevor eine beſtimmte 


31 


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Atomgruppierung wieder eintritt, müſſen erſt alle möglichen 
vorher durchprobiert ſein. Was ſtellen die möglichen vor? 
Nichts anderes als ſämtliche Geſchehniſſe, von denen wir 
nichts wiſſen, die aber einer möglichen und alſo im Kreis 
dieſer Betrachtung unvermeidlichen Anordnung der kleinſten 
Teilchen entſprechen; zum Beiſpiel: die Perſer ſiegreich bei 
Marathon und Varus im Teutoburger Walde, Cäſar als Er— 
oberer von Japan, die Entdeckung des Südpols durch Ko= 
lumbus, Pilatus als Papſt in Avignon, Kröſus in Monte 
Carlo ſein Geld verſpielend, Semiramis als Suffragette in 
London, Lucullus in der Berliner Volksküche, alles Uner— 
meßliche, nie Geweſene und Widerſinnige, alles Denkbare 
und Undenkbare, über jede Phantaſiegrenze Hinausſchwei⸗ 
fende, was trotzdem im Wirbeltanz der Atome einmal Wirk⸗ 
lichkeit werden müßte, bevor Das wirklich werden könnte, 
was dieſer Tanz uns als das Bekannte vorgeſtellt hat. Und 
er ſelbſt, der große Hellſeher vom Engadin, würde ſich für 
dieſe Möglichkeiten der Kombination bedankt haben, die in 
ſeinem Gedankengange irgendwann zur Form der Wirklich— 
keit gedeihen müſſen: Nietzſche im Duell mit Zarathuſtra, 
Nietzſche als Kopiſt beim Heiligen Auguſtinus, am Galgen, 
Nietzſche zwölfmal verheiratet. Man müßte einen Streifen 
von der Länge der Milchſtraße zur Verfügung haben, um 
auch nur in Stichworten einen Teil der blöden Abenteuer 
zu notieren, die ſich erfüllen müßten, ehe eine genau logiſche 
Wiederkehr zuſtande käme. Unter dieſen Abenteuern würde 
ich mich ſelbſt finden, wie ich auf ſeinem Lieblingsſtern, dem 
Sirius, ſitze und mir den Kopf zerbreche, um für das 
Nietzſche-Archiv einen Beitrag zu ſtiften. Denn die Atome 
ſind ſehr ungefällig und laſſen ſich viel eher dazu bewegen, 
aus Buchſtabenverſetzung eine identiſche Ilias zu bilden, als 


32 


dazu, einen identischen Menſchenkörper aufzubauen, der ge 
nau ſo lebt und dichtet wie einer, der vor Aonen auf der Erde 
wandelte. 

Die Dogmatik unterſcheidet zwiſchen Wundern contra 
naturam und extra naturam. Die ſoeben leiſe angedeu— 
teten find contra. Aber auch die extra naturam ſtehen⸗ 
den find nur beſtimmte Gruppierungen auf irgendeiner Halte— 
ſtelle der Anordnung. Jede Ausgeburt des hellen Wahnſinns 
und des verwegenſten Aberglaubens, Fegefeuer, Hölle und 
Teufelsſpuk ſind mögliche Kombinationen und als Phäno— 
mene in Atombegegnungen denkbar; denn es ſind anſchauliche 
Vorſtellungen, der Beſchreibung und Malerei zugänglich wie 
jede andere Unwahrſcheinlichkeit, alſo nichts als zwar nie er— 
lebtes, aber beſtimmt zu erwartendes Stelldichein der klein— 
ſten Teilchen; beſtimmt zu erwarten, weil in dieſem heilloſen 
Wirbel erſt jede andere Figur durchgetobt werden muß, ehe 
der status quo ante eintreten kann. Wahrhaftig: wenn ich 
der Berechnung Nietzſches alles zugeben wollte, was ich ihr 
verweigern muß, zu dieſer Lehre möchte ich mich nicht be— 
kennen; der Preis der Wiederkunft wäre mit ſolchen unge— 
mütlichen Zwiſchenſtadien doch zu teuer erkauft. 

Sie würde uns auch zu lange dauern, ſelbſt dann, wenn 
ich durch einen radikalen Denkakt die ganze Unendlichkeit ab— 
ſchaffte und ſie einfach durch eine unermeßliche Endlichkeit er— 
ſetzte. Beide ſind nämlich nur ſchlimme Auswüchſe und Not— 
behelfe des Denkens, aus polarem Denkzwang geboren, und 
ich ſcheue vor der waghalſigen Annahme nicht zurück, daß 
beide Vorſtellungen im Grunde zuſammenfallen, als zahlen 
ſpieleriſche Umſchreibungen des ſehr Großen. Das Unendliche 
beginnt nämlich erkenntnistheoretiſch gar nicht im Jenſeits, 
ſondern diesſeits, an der Grenze der nicht mehr ausſprech— 

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 3 


33 


baren Zahl, mag dieſe Zahl auch noch in mathematiſchen 
Zeichen, etwa in hohen Potenzausdrücken, einer Niederſchrift 
fähig ſein. Das aber ſteht auf einem anderen Blatt und führt 
zu einer anderen Lehre, an deren Ende man die zwar ſchreck— 
lichen, aber gut begründeten Sätze finden wird: Das Ziel 
aller Erkenntnis, die Wahrheit, iſt eine anthropomorphe Vor— 
ſtellung; es iſt nur halbrichtig ausgedrückt, wenn man den 
Intellekt als unzureichendes Werkzeug erklärt; denn die 
Wahrheit ſelbſt exiſtiert nur im beſchränkten Gebiete der ma— 
thematiſchen Identitäten, und jede andere Frage nach der 
Wahrheit iſt in ſich ſelbſt ſinnlos. 

Zu dieſer erſt in der Andeutung vorhandenen Betrachtung 
„Denkzwang und Denkfehler“ möge dieſe Studie über die 
Wiederkunft das Präludium bilden. Sie zeigt auf halbwegs 
anſchaulicher Grundlage das Walten des polaren Denkens, 
alſo zweier Denkvorgänge, die aus gemeinſamer Wurzel ent⸗ 
quellen, aber mit zwei einander ſchnurſtracks entgegengeſetzten 
Unmöglichkeiten aufeinanderprallen. Deshalb ergibt ſich auch 
das Reſultat zwieſpältig: als ein negatives, denn die Ewige 
Wiederkunft iſt eine Angelegenheit der Unendlichkeit und des— 
halb nicht bis zu Ende zu denken; und als ein poſitives, 
denn auch in der Form eines Dichtertraumes enthält ſie nicht 
eine Hoffnung, ſondern eine Verzweiflung, dieſe Lehre von 
der ewigen Wiederkunft, an der nur das Eine etwas taugt, 


nämlich: daß ſie falſch iſt. 


34 


9 A S 
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t er. — 


Das Geheimnis der großen Zahl 


Vor meinem Fenſter dehnt ſich eine dreißig Meter breite 
Straße in der Oſt-Weſt⸗Richtung. Und gerade gegenüber iſt 
in der Häuſerreihe eine Lücke, die den Blick nach Norden frei— 
gibt. Überſchreite ich die Straße, ſo bewege ich mich auf dem 
Berliner Meridian und unternehme den Beginn einer Nord— 
polarreiſe: auf dem jenſeitigen Fußſteg bin ich dem Nordpol 
der Erde näher, als zuvor auf dem diesſeitigen. 

Man wird dieſe Annäherung als verſchwindend klein be— 
zeichnen; und im Verhältnis zu irdiſchen Reiſemaßen bleibt 
ſie wirklich unter der Schwelle der Merkbarkeit. Sie wächſt 
aber in einer anderen Betrachtung. Denn mit demſelben 
Wege habe ich mich auch dem Polarſtern genähert; und es 
unterliegt keinem Zweifel, daß der Grad der erſten An— 
näherung, der an den Nordpol, um viele, viele millionen— 
mal ſtärker ausfällt als der zweite. Faſſe ich alſo bei mei— 
nem kurzen Marſch quer über die Straße dieſes Verhältnis 
ins Auge, bin ich mir der Relativität dieſer Unterſchiede be— 
wußt, ſo kann ich ſagen: Nach der Überwindung der Stra— 
ßenbreite bin ich dem Nordpol beträchtlich nähergerückt. 
Und mit einiger Phantaſie dürfte ich im nämlichen Gedanken— 
zug hinzufügen: Wenn jetzt zufällig ein Nordlicht erſtrahlt, 
ſo kann ich es beſſer drüben als hüben beobachten. Ich 
bin dem Licht weſentlich nähergekommen. Ahnlich ſind die 
Wege überhaupt, die wir mit dem Fernblick auf ein Licht 

35 


oder eine Erkenntnis beſchreiten. Wer unausgeſetzt die Kürze 
des Schrittes mit der Weite des Zieles in Vergleich ſtellt, 
muß dem Verzicht anheimfallen. Den aber, der dieſe Rela— 
tivität zeitweilig im Bewußtſein ſpürt, mag die Eigenbe— 
wegung ſelbſt mit Zuverſicht ſtärken; ſogar mit der großen 
Ladung von Zuverſicht, die man zu einem Flug ins Ganz- 
Große, Unmeßbare, Unendliche nötig hat. Und zu einem 
ſolchen Weitflug wollen wir uns nun rüſten. Sie ſoll uns 
auf gewiſſen Umwegen einem Rätſel näherführen, das wir 
zwar nicht ergründen und löſen werden, das uns aber 
wenigſtens in ſeiner Frageſtellung etwas verſöhnlicher an— 
blicken ſoll als das Grundproblem in ſeiner grauſamen Ur— 
geſtalt. 
* 

Was immer menſchlichen Geiſt bewegt hat und aus ihm 
entſproß, findet ſeinen tatſächlichen Ausdruck in Büchern. 
Und ſo gelte uns das Buch als die Darſtellung alles Den— 
kens, Empfindens, Könnens und Wiſſens. Setzen wir die 
Zahl ſeiner typographiſchen Stellen, hoch gegriffen, mit 
einer Million feſt, ſo ergeben alle erdenklichen Permutationen 
und Variationen innerhalb dieſer typographiſchen Anordnung 
ſämtliche Bücher, die jemals geſchrieben und gedruckt wur— 
den, und dazu noch ſämtliche, die in aller Zukunft gedruckt 
werden können. Vorausſetzung bleibt nur, daß keine Um— 
ſetzung übergangen werde und daß ſich keine wiederhole. 
Denken wir uns dieſes in Wirklichkeit unmögliche, in Ge— 
danken aber leicht faßbare Verfahren reſtlos durchgeführt, 
ſo erhalten wir lauter Bücher, die ſich irgendworin unter— 
ſcheiden, und wäre es auch nur in einem Buchſtaben, einer 
Interpunktion, einem Spatium. Zugleich aber erkennen wir, 
daß die ſo gewonnene Bücherei abſolut lückenlos ſein muß, 


36 


a 
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daß kein Buch, einerlei welches Inhalts, in ihr fehlen kann. 
Denn die Summe ſämtlicher Unterſcheidungen in der Viel— 
fältigkeit aller druckmöglichen Anordnungen ergibt eben den 
Inbegriff aller jemals möglichen Bücher. 

Man könnte alſo auf mechaniſchem Weg, ohne auf eine 
Überlieferung oder Vorahnung angewieſen zu ſein, die ge— 
ſamte vorhandene und zukünftige Literatur herſtellen. Der 
Druckauftrag freilich würde zu erheblichen Umſtänden füh— 
ren. Aber ſein Umfang läßt ſich ganz genau berechnen: er 
beläuft ſich, wenn wir mit hundert verſchiedenen Drucktypen 
rechnen, auf eine Sammlung von Büchern, deren Anzahl 
Zehn zur zweimillionſten Potenz beträgt. Iſt innerhalb die— 
ſer Reihe nur das eine garantiert, daß jedes Buch einer 
beſtimmten, nie mehrfach auftretenden Ausfüllung der Mög— 
lichkeiten entſpricht, ſo hat die übernehmende Firma das 
Problem gelöſt. Die fertige Lieferung enthält das „Uni— 
verſalbuch“, wie es Kurd Laßwitz genannt hat, das Buch 
der Bücher, den Inbegriff und die Summe alles Druckbaren. 
Dieſes Univerſalbuch entſpricht, mathematiſch geſehen, kei— 
ner Unendlichkeit, ſondern ſtellt zunächſt eine ſcharf umſchrie— 
bene Endlichkeit vor. Ordnet man die Exemplare nebenein— 
ander, ſo erſtrecken ſich die Bücherrücken nicht bis in in— 
kinitum, ſondern irgendwo in weiter Ferne iſt Schluß. Wie 
lange würde man wohl wandern müſſen, um die Reihe ab— 
zuſchreiten? Ein Fußgänger würde es nicht erleben; ebenſo 
ausſichtslos wäre der Plan, die Strecke im Schnellzug zu 
bewältigen. Auch das Zeitmaß einer Kanonenkugel erweiſt 
ſich der Aufgabe gegenüber als ganz unzulänglich; bleibt 
alſo nur der Lichtſtrahl, der in ſeiner Leiſtung von dreihun— 
derttauſend Kilometern in der Sekunde mit der Fahrt längs 
jener Bücherrücken in irgendwelcher Zeit fertig werden könnte. 


34 


Aber auch die Lichtſekunde, die Lichtminute und die Lichte 
ſtunde erſcheinen hier noch als völlig unbrauchbare Rech— 
nungsgrößen. Und ſelbſt wenn wir das Lichtjahr als Ein⸗ 
heit wählen, ſo erhalten wir immer noch eine völlig un— 
ausſprechbare, lediglich als Potenzausdruck angebbare Zahl, 
die zu üblicher Niederſchrift ein Notizblatt von ungefähr zehn 
Kilometern Länge beanſprucht. 

Wird dieſes Buch der Bücher nicht als Reihe aufgeſtellt, 
ſondern geſchichtet und verpackt, ſo würde ein Hohlraum 
vom Durchmeſſer der geſamten ſichtbaren Fixſternwelt nicht 
ausreichen, um auch nur einen nennenswerten Bruchteil un⸗ 
ſeres Bücherſchatzes aufzunehmen. Wie wir es auch an⸗ 
ſtellen: wir gelangen ſofort an das Unvorſtellbare, Unaus- 
ſprechbare, während der Rechner darauf beharrt, die Zahl 
der Bücher ganz präzis als 102000000 anzugeben, nicht auf 
eins mehr oder weniger; eine begrenzte Zahl, die ſeiner An— 
ſicht nach mit dem Unendlichkeitswert nichts zu ſchaffen hat. 

An dieſem Punkt meldet ſich unſer Widerſpruch. Denn 
der begriffliche Inhalt dieſes nach Zahl und Maß noch end— 
lichen Univerſalwerkes iſt für menſchliches Denken nicht mehr 
nur unermeßlich, ſondern ſchlechtweg unendlich. 

Daß es alle vorhandene Literatur einſchließt, von den ba— 


byloniſchen Urſchriften bis zum letzterſchienenen Volkskalen- 


der, daß es die Ilias, alle Dramen und Logarithmentafeln, 
alle exiſtierenden Romane und Kochbücher, alles bereits für 
Schrift und Druck Gedachte als Einzelfälle irgendwo dar— 
bietet, würde für dieſe Anſchauung noch nicht genügen. All 
das bedeutet nur einen Tropfen im Ozean unſeres vorge— 
ſtellten Druckwerkes. Denn dieſes erſchöpft zugleich Sinn 
und Inhalt aller überhaupt möglichen Schriften, bis in die 
unendliche Zukunft gerechnet, ſämtliche Sinnigkeiten und Un⸗ 


38 


ſinnigkeiten, die überhaupt in Druckſchrift ergreifbar find, 
und keines Menſchen Gehirn wird auch nur einen Augen— 
blick zögern, dieſer Summe den Wert des Unendlichen zu— 
zuerkennen. Anders ausgedrückt: an den Verſtand tritt hier 
die Forderung, über ſich hinauszudenken, in unvereinbarem 
Zwieſpalt zu der mathematiſchen Anſchauungsweiſe, die ihm 
dergleichen durchaus nicht zumutet, ſondern ihm mit dem 
genauen Potenzausdruck 102000000 eine klar umſchriebene End- 
lichkeit vorſpiegelt. 

Sollte aber noch der geringſte Zweifel darüber e 
daß hier ein grober logiſcher Fehler wirtſchaftet, ſo wird die 
nachfolgende Überlegung ihn in aller Schärfe bloßſtellen. 
Nicht nur alles begrifflich Ausdenkbare iſt der Niederſchrift 
in gewöhnlichen Drucktypen fähig, ſondern auch alles Fünft- 
leriſch Empfundene. Für die muſikaliſche Kompoſition zum 
Beiſpiel bedeutet die Note nur ein ſehr bequemes, aber nicht 
das ausſchließliche Vermittlungsſymbol. Die Note läßt ſich 
vielmehr in ihrer Höhe, Dauer, Anordnung und Beziehung 
mit Worten beſchreiben, höchſt umſtändlich allerdings, aber 
doch eindeutig. Und da unſer Buch der Bücher ſämtliche 
Wortformungen erſchöpft, ſo wird ſich in irgendeinem Bande 
eine Anordnung vorfinden, die irgendeiner beſtimmten Kom— 
poſition entſpricht. Das heißt alſo: in allen Bänden müſſen 
alle Tonſtücke vorkommen, die bereits komponiert ſind, und 
ſämtliche in aller Zukunft möglichen; das vollſtändige, reſtlos 
aufgearbeitete Integral der Muſik; in Bänden, getrennt durch 
Siriusweiten von anderen, welche die Weltgeſchichte für alle 
Lebeweſen beſchreiben, den geſamten Zeitungsinhalt bis zum 
Welterlöſchen umfaſſen, von jedem Ameiſenkrieg ſtrategiſch 
genaue Kunde geben und jede fernſte, feinſte Verfaſerung al- 
ler überhaupt jemals möglichen Wiſſenſchaft, Technik, jeder 


39 


Wirklichkeit, jeder traumhaften Unmöglichkeit, jeder Mitteil⸗ 
barkeit auf Blättern verewigen; auf endlichen Blättern, ma— 
thematifch genommen, auf unendlichen, in reiner Anſchauung 
betrachtet, die mit aller Macht die Vorſtellung einer begrenz— 
ten Kunſt, Wiſſenſchaft, Geſchichte abwehrt und ſich mit letz— 
ter Anſtrengung aus der Umklammerung einer beſtimmten 
Grenze losreißen muß. 

Wer hat nun recht? Der Rechner mit ſeinem genauen 
Potenzausdruck oder die Anſchauung, die im Zug der ſchwei— 
fenden Phantaſie keine Grenze anerkennt? Dieſe Frage findet 
keine Antwort, da ſie in eine tranſzendente Unterſuchung mit 
einem untranſzendenten, diesſeitigen Begriff dreinfährt. Wir 
müſſen von dem treuherzigen Glauben loskommen, in jenem 
Grenzgebiet des Denkens etwas wie ein Recht oder Unrecht 
zu etablieren. Es handelt ſich auch nicht darum, dieſe Schei— 
delinie zu ziehen, ſondern vielmehr um einen gangbaren Aus— 
weg aus der philoſophiſchen Angſt, in die uns jener offen— 
kundige Zwieſpalt hineingehetzt hat. Und ſo flüchten wir 
denn aus dem Zwang zweier unmöglichen Komponenten in 
die Reſultante, die zwar vorerſt auch nicht tröſtlicher und 
einleuchtender erſcheint, aber doch einen vorläufigen Ruhe— 
punkt bietet; wir wollen nämlich ſagen: für menſchliche Denk— 
art greift der hochgegriffene mathematiſche Potenzausdruck 
über die Endlichkeit hinaus. Zehn zur zweimillionſten Po— 
tenz iſt nicht nur ſehr groß, ſondern ohne weiteres unend— 
lich. Und wiederum kann der Begriff Unendlich fehlerlos 
durch die ſehr große Zahl nicht nur charakteriſiert, ſondern 
erſetzt werden. Vertauſchen wir beide Begriffe nach Will— 
kür, ſo begehen wir keine Ungenauigkeit, ſondern wir be— 
ſeitigen im Gegenteil einen Denkfehler, der uns zu einem 
den Intellekt vergewaltigenden Sprung zwingen will. 


40 


Dieſe Lehre iſt waghalſig und gleicht dem draufgängeri— 
ſchen Hieb, mit dem der gordiſche Knoten nicht gelöſt, ſondern 
zerſpalten wurde. Aber auf dieſem Grenzgebiet findet die 
Feinmechanik des langſamen Aufdröſelns keine Arbeitsſtätte. 
Wo zwei Unmöglichkeiten aufeinanderſtoßen, bleibt nichts 
übrig als ein grundſtürzender Akt, der, ſo unverantwortlich 
er auch auf den erſten Anhieb erſcheinen mag, doch in ſeinen 
Denkfolgen ſich als der wahre Samariter für das gequälte 
Gehirn erweiſen wird. 

Solche Quälerei kann ſchon da auftreten, wo wir einen 
einfachen Satz der Schullogik bis in ſeine Wurzeln ver— 
folgen. Alle Menſchen ſind ſterblich; Cajus iſt ein Menſch: 
alſo muß Cajus ſterben. Es iſt nicht eine Vermutung, ſon— 
dern eine Gewißheit, die den Cajus als einen unter allen 
zum Tode verurteilt, und die Wahrſcheinlichkeit hierfür wird 
nicht durch die große Zahl, ſondern durch das Unendlich aus— 
gedrückt; wenn wir dem Oberſatz die axiomatiſche Wahrheit 
zuerkennen. Tatſächlich gibt aber der Oberſatz nicht eine Vé— 
rite éternelle im Sinn Leibnizens, ſondern höchſtens eine 
Veérité de fait; das Ergebnis einer langen Erfahrung, die 
bisher durch keinen Gegenbeweis geſtört wurde. In zwei— 
hundert Generationen und bei einer Menſchenzahl, die in 
die Milliarden anſchwoll, aber noch unter der Billion zurück— 
blieb, iſt ein Gegenfall nicht bekannt geworden. Wir be— 
geben uns alſo in einen Wahrſcheinlichkeitsbeweis, wenn wir 
aus dieſer zwar großen, aber begrenzten Anzahl den Schluß 
auf einen noch nicht bis zu Ende beobachteten Lebenden ge— 
ſtalten. Die biologiſche Notwendigkeit des Sterbens hat mit 
dieſem Syllogismus nichts zu tun, denn ſie iſt ja erſt aus 
der langen Erfahrungsreihe entfloſſen, alſo ſelbſt ein von 
einer gewiſſen Wahrſcheinlichkeit abhängiger Schluß des ſta— 


41 


tiftifchen Oberſatzes. Mathematiſch korrekt müßte demnach 
das Schulbeiſpiel lauten: Alle bisher ermittelten Menſchen— 
ſchickſale haben mit dem Tod geendet; Cajus iſt ein Menſch, 
folglich beſteht eine große, in Milliarden ausdrückbare Wahr: 
ſcheinlichkeit für feine Sterbenotwendigkeit“). Wenn wir 
dieſe klarere und wahrere Faſſung zugunſten der reſtloſen 
Gewißheit ablehnen, daß Cajus ſterben muß, ſo verraten 
wir hierdurch, daß über die ſcheinbar unüberbrückbare Kluft 
in unſerer Erkenntnis zwiſchen dem als endlich Feſtſtehen— 
den und dem als unendlich Geforderten doch ein geheimer 
Meg eriftiert; ein Schleichweg, der ſich der mathematiſchen 
Kontrolle und Beſtätigung entzieht. Durch welche Windun⸗ 
gen dieſer Weg führt, wiſſen wir nicht. Aber was der In⸗ 
tellekt will, wenn er ſich des Weges bedient, das ſteht nun 
feſt. Er will hinüber, hinüber um jeden Preis, ſelbſt um 
den der mathematiſchen Richtigkeit. Und ſo urteilt er für 
den Spezialfall der Menſchenſterblichkeit: ich erreiche den 
wirklichen Unendlichkeitswert mit einer begrenzten Zahl, die 
unter der Billion liegt. Es gibt hier keinen in Ziffern zu 
beglaubigenden Reſt. Nicht nur die in den Erfahrungsbereich 
eingeſchloſſenen Menſchen müſſen ſterben, ſondern alle. Und 
der einzig nachweisbare Fehler liegt lediglich bei dem, der 
ſich auf einen Unterſchied zwiſchen einer ſolchen Verite de 
fait und einer Vérité éternelle verſteift. Mit der großen 
Zahl erreiche ich eine ewige Wahrheit. 

Wir können ſogar in die Lage geraten, das Vertauſchungs⸗ 
recht und die Vertauſchungsgrenze in Regionen anzunehmen, 
die wir in der Praxis des Lebens gar nicht als unermeßlich 
anzuſehen geneigt ſind. Wer hunderttauſend Mark im Be— 

*) Der mathematiſche Ausdruck würde lauten: . 
die Anzahl aller bisher geſtorbenen Menſchen bedeutet. 


worin n 


42 


ſitz hat, wird ſich mit feinen zehn Millionen Pfennigen ganz 
gewiß noch nicht zu den ungeheuer Reichen zählen. Wer 
ſich aber auf eine zehnmillionenfache Erfahrung beruft, 
lebt im Unendlichen und wird die daraus gezogene Wahr— 
ſcheinlichkeit ſo ſicher als die abſolute Gewißheit anſprechen, 
daß er den Zweifel daran als hellen Wahnſinn erklärt. Die 
von Helmholtz erwähnte Erwartung, daß es in den nächſten 
vierundzwanzig Stunden in Berlin einmal Nacht und ein— 
mal Tag werden wird, ſtützt ſich auf ein viel engeres Gebiet 
von Beobachtungen, als es die allgemeinen Prinzipien der 
Mechanik tun. Und doch konnten dieſe allgemeinen Prin— 
zipien der Mechanik (durch das Relativitätsprinzip) er⸗ 
ſchüttert werden, während ſich an die Erwartung des Tag— 
und Nachtwechſels ein Bedenken niemals heranwagen darf. 
Hier liegt die Beobachtungsreihe ſehr tief, kaum bei der 
dritten Million; wir müſſen ſchon weit über Adams Zeit 
zurückgehen, um ſelbſt bei dieſer geringen Zahl zu landen. 
Aber wenn wir auch nur über die Erfahrung von dreißig 
Menſchenaltern verfügten, die den Tag- und Nachtwechſel 
höchſtens vierhunderttauſendmal lückenlos beglaubigten, ſo 
hätten wir ſchon längſt den Evidenzpunkt gewonnen, unab⸗ 
hängig von aller aſtrophyſikaliſchen Theorie, die ja in dieſer 
Schlußkette nicht als Grund, ſondern als Folge auftritt. 
Während wir alſo in der Betrachtung des Univerſalbuches 
zu unausſprechlichen Ziffern, beim ſterblichen Cajus immer 
noch hoch in die Milliarden hinaufklettern mußten, erhal— 
ten wir hier die Vertauſchungsgrenze ſchon in einer ſehr be— 
ſcheidenen, um die Million herumpendelnden Zone; eine tril—⸗ 
lionenfache, eine unendliche Erfahrung würde unſere Erwar— 
tung gar nicht mehr ſteigern. Mit der Gewißheit, daß es 
in den nächſten vierundzwanzig Stunden Tag und Nacht 


43 


werden muß, erhebt der Verſtand für diefen beſonderen Fall 
eine Zahl von höchſtens ſieben Ziffern zu einem Unend— 
lichkeitswert. 

Die Kluft zwiſchen den beiden polaren Vorſtellungen End— 
lich und Unendlich, von denen die eine niemals genügt, die 
andere niemals durchzudenken iſt, zeigt ihre Schrecken viel— 
leicht nur in der Tiefe, nicht in der Breite. Wenn ſich 
der Verſtand zum Wageſprung entſchließt (und das tut er 
immer, ſobald er nur einen Augenblick von der ſtreng ma— 
thematiſchen Anſchauung loskommt), was geht ihn da die 
Tiefe an? Wie könnte es die Sicherheit ſeines Sprunges 
beeinträchtigen, daß ganz unten in unerkennbarer Verſen— 
kung ein Monſtrum hauſt, das die ſcholaſtiſche Rechnung mit 
eins dividiert durch Null bezeichnet? Nur die Breite ermißt 
er; und mit untrüglicher Gewißheit traut er ſich zu, das 
andere Ufer zu erſpringen. Dieſe Gewißheit, unzählige Male 
gewonnen und zu einer neuen Erkenntnis organiſiert, wird 
nichts anderes bedeuten als: der Begriff des Unendlichen iſt 
eine täuſchende Zwangsvorſtellung; nie lebt im Wirklich— 
keitsdenken etwas Höheres, Tranſzendenteres als die große 
Zahl. Und dieſe große Zahl, abgeſtuft nach den Bedürf— 
niſſen des Falles, tritt mit ſämtlichen Wirkungen des Unend— 
lichkeitswertes auf, iſt das ſouveräne Unendlich für den ge— 


gebenen Denkakt. 
* 


Ich glaube nicht, daß die zugrunde liegende Antinomie je— 
mals zu überwinden ſein wird. Aber ihre Schroffheit kann 
gemildert werden, wenn man ſich gewöhnt, ein Neutralgebiet 
anzuerkennen, worin das Unermeßliche, Unbegrenzte und Un— 
endliche einander durchdringen; mit dem Vorbehalt, daß das 


44 


Unermeßliche arithmetiſch begrenzt fein kann. Hier kommt 
es nicht darauf an, daß man zählt, ſondern wie man zählt. 
Der arithmetiſche Ausdruck für eine hohe Potenzgröße, für 
eine Reihe, ergibt zunächſt noch keinen klaren Begriff, ſtellt 
vielmehr nur die in Ziffern niedergelegte Abkürzung für ein 
Poſtulat vor. Es wird gefordert, eine Rechnung auszufüh— 
ren, die im grauen Nebel des ungeheuer Großen, vielleicht 
Unendlichen, jedenfalls nicht mehr Vorſtellbaren, ausläuft. 
Aber das Vorſtellbare wechſelt nach der Natur des Falles; 
und hier kann es ſich ereignen, daß die arithmetiſche Diktatur 
als eine unerträgliche Tyrannei empfunden wird. 

Betrachten wir einmal die unendliche Reihe / 1/5 + 
1/, + 175 „ die, wie man ſich wohl ausdrücken darf, ſchwach 
divergent ſein muß. Sie erreicht als Summe den Unend— 
lichkeitswert, wenn auch in einem ſehr langſamen Tempo. 
Denn wenn wir ſie in Gruppen von 2, 4, 8, 16 uſw. Glie— 
dern abteilen, ſo erkennen wir leicht, daß jede einzelne Gruppe, 
angefangen von ( +1/,) größer ausfällt als /½; und da 
kein Grund vorliegt, mit dieſer Einteilung jemals aufzuhö— 
ren, ſo bleibt allerdings nichts übrig, als das Ergebnis dieſer 
Reihe für unendlich groß auszugeben. 

Dieſer Zweifelloſigkeit gegenüber regt ſich aber im Unter— 
grund unſeres Bewußtſeins ein Widerſtand, wenn wir uns 
vorſtellen, welche Operation auszuführen wäre, um auch 
nur eine ſehr kleine Zahl von poſitivem Wert zu erreichen. 
Geſetzt, ich hätte mir vorgenommen, dieſe Reihe bis zu dem 
ganz beſcheidenen Summenergebnis von 64 hinzuſchreiben, 
ſo geriete ich damit ſchon ins Unbegrenzte, jenſeits von jeder 
Möglichkeit und Vorſtellbarkeit. Die Reihe würde nämlich, 
eng geſchrieben, einen Papierſtreifen von 100 Billionen Ki— 

lometern erfordern, einen Streifen, mit dem man das ganze 


45 


r. e 


Sonnenſyſtem bis zur Neptunsferne etwa ſiebentauſendmal 
einwickeln könnte. 

Wir erleben alſo eine Spaltung des Denkens. Der arith⸗ 
metiſch gehorchende Teil wird vom Divergenzbegriff hypno— 
tiſiert, der praktiſch erkennende erklärt jene Reihe für minder: 
wertig und in ſehr engen Grenzen eingeſpannt. Ihrer Ten⸗ 
denz, ſich auch nur über ein höchſt dürftiges Mittelmaß aus⸗ 
zuwachſen, ſteht eine unbeſiegliche Trägheit entgegen. Statt 
irgendwie erkennbar zur Höhe aufzuklimmen, ſchleicht ſie 
in einer bis zum Erwürgen gepreßten Spirale um den Berg; 
und ihr Verſprechen, die Unendlichkeitsſpitze zu gewinnen, 
erſcheint, bürgerlich geſprochen, als eine Flunkerei. Wenn 
ein Gelähmter uns anſagen wollte, er werde von der Erde 
zum Mond ſpringen, ſo wäre die Wahrſcheinlichkeit der Er— 
füllung noch größer als die Ausſicht dieſer Reihe auf wirk— 
liche Divergenz. 

Derſelbe Rechner, der die Reihe fo hoch einſchätzt, behaup- 
tet daneben, daß der einfache Ausdruck 99, in Worten neun 
hoch: (neun zur neunten Potenz), nur eine ſehr große Zahl, 
aber beileibe keine Unendlichkeit darſtellt. Und hier klafft 
der Widerſpruch ſperrangelweit. Denn dieſer Ausdruck ſchnellt 
ſofort ſteil an und verliert ſich in einer fabelhaften Be— 
ſchleunigung, mit einer wahren Zahlenorgie ins Unfaßbare. 
Allerdings kennt der mit Logarithmentafeln arbeitende Ma— 
thematiker das Ergebnis. In dekadiſchem Maß aufſchreiben 
kann er es nicht, und jedes Sprachmittel verſagt, wenn er 
es nennen will. Aber er weiß, daß es aus 369 Millionen und 
690000 Ziffern beſteht und daß die hingeſchriebene Zahl 
ungefähr von Berlin bis zum Nordkap reichen würde. Und 
dieſe Zahlengröße nimmt er für eine Endlichkeit, weil ſeine 
Unendlichkeit anders definiert iſt. Ihn darf es nicht an— 


46 


fechten, daß die Anzahl der Waſſerſtoffatome im Atlantiſchen 
Ozean eine Null iſt gegen den Wert dieſer Potenzgröße, eben⸗ 
ſowenig wie es ihn berührt, daß jene zuvor genannte Bruch— 
reihe, millionenfach über die Siriusweite verlängert, noch 
keine dreiſtellige Zahl, noch nicht den einzigen Wert der er- 
ſten Hundert erreicht. Er vergleicht nicht das Phlegma der 
Reihe mit dem exploſivem Temperament der Potenz, er zieht 
ſich auf die Definition zurück und beharrt dabei, den Reihen— 
wert als unendlich, den Potenzwert als endlich auszurufen; 
in völligem Widerſpruch mit allem, was wir aus der Er— 
fahrung, aus der Zählübung, aus natürlicher Größenvor— 
ſtellung in uns aufbieten können und aufbieten müſſen, wenn 
wir das ſehr Große nicht bloß formelhaft umſchreiben, ſon— 
dern in irgendwelcher Anſchaulichkeit erfaſſen wollen. Und 
dieſer Widerſpruch läßt ſich nicht einfach mit den Verdikten 
Wahr und Falſch aus der Welt ſchaffen. Auf dem Grund 
dieſer Definition lauert vielmehr eine arithmetiſche Schul— 
fuchſerei; ein zugleich Okkultes und Pedantiſches. Wie der 
Anſpruch auf kirchliche Unfehlbarkeit nicht mit dogmatiſchen 
Mitteln bekämpft werden kann, ſo der auf mathematiſche 
Unfehlbarkeit nicht mit rechneriſchen. Hier ſcheiden ſich uns 
erbittlich zwei Logiken, wie ſie ſich im Traumland, im Wun⸗ 
der⸗ und Märchengebiet trennen. Der Hindu-Fabuliſt erzählt 
ganz gelaſſen von einer Schlacht, in der 10000 Sertillionen 
Affen gekämpft haben, und hält einen auf der Erde exiſtie— 
renden Wald als Schauplatz für ausreichend; in der Hindu— 
logik etabliert ſich da nur ein Abenteuer, aber kein Widerſinn; 
zwei Endlichkeiten, die ſich vertragen müſſen. Und ſo um⸗ 
ſpannt auch der Rechenmeiſter die fabelhafte 99% mit einer 
endlichen Umhüllung, gegen die feine Speziallogik nichts ein⸗ 
zuwenden hat. Demgegenüber ſtellt er der Reihe, deren 


47 


Schneckengang, anfchaulich gemeſſen, fo gut wie nichts be⸗ 
wältigt, das Zeugnis der Unendlichkeit aus; in einem Do— 
kument, das ungefähr ſoviel Wert hat wie der Wechſel auf 
Sicht, der einem toten Gläubiger zur Begleichung einer 
Schuld in den Sarg gelegt wird. Auch dieſe Reihe muß 
ſterben, bevor ſie die mitgegebene Verſchreibung in bare Un— 
endlichkeit umſetzt. Wann und wo das geſchieht, entzieht 
ſich unſerer Betrachtung. Es genüge, mit einem Beiſpiel 
ſchärfſten Kontraſtes auf ein Grenzgebiet gewieſen zu ha— 
ben, auf dem ſich die Erkenntnistheorie der Zukunft noch 
ſehr kräftig zu tummeln haben wird. 

Auf die konkrete Körperwelt übertragen, kann ſich die 
hier angedeutete Lehre vielleicht mit einem anderen Prinzip, 
dem „Geſetz der beſtimmten Anzahl“, kreuzen oder tan— 
gential berühren. Ihrer inneren Frageſtellung nach ſind ſie 
jedenfalls miteinander verwandt. Sollte dieſes Geſetz dereinſt 
zu der ausdrucksvollen Geſte, mit der Eugen Dühring es 
vortrug, die eindrucksvolle Begründung erfahren, ſo wird 
es abermals zu einem Begriffszerfall führen. Denn es wird 
ſich dann nicht mehr um ein Geſetz handeln, ſondern um 
eine wechſelnde Denkform, nicht um eine beſtimmte Anzahl, 
ſondern um eine unbeſtimmte, die ins Unermeßliche hin— 
aufſteigt, ohne darum unendlich zu werden; oder am Ende 
nur um einen begrenzten, diesſeitigen Quotienten aus zwei 
Jenſeitigkeiten, von denen die eine im Raum, die andere in 
uns liegt. Und fo könnte ſchließlich auf ein Diviſionsexem— 
pel mit einem numerus clausus hinauslaufen, was Schil— 
ler als tranſzendente Anſchauung verkündet: 

Fürchte nicht, ſagte der Meiſter, des Himmels Bogen, 

ich ſtelle 

Dich unendlich, wie ihn, in die Unendlichkeit hin! 


48 


Das Laboratorium des Lukrez 
Eine ultramikroſkopiſche Phantaſie 


Durch eine Landſchaft von ſchwer beſtimmbarem Charak— 
ter ſchritt der Wanderer. Daß ſie nicht zu dieſer Wirklich— 
keitswelt gehörte, war erſichtlich, denn obſchon mehrere Son— 
nen am Himmel ſtanden, lag ſie in geiſterhaftem Dämmer. 
Aber in dieſem verſchwimmenden Licht blieben die Bäume 
und Felſen als ſcharfumriſſene Körper erkennbar, und der 
Wanderer ſelbſt machte nicht den Eindruck eines dahinſeuf— 
zenden Schattens, ſondern eines rüſtig ausſchreitenden Men— 
ſchen. Er trug die Züge des Eleaten Zenon und hätte mit 
ſeinem Denkerkopf ſehr gut in Raffaels Schule von Athen 
hineingepaßt. Allein weit entfernt, irgendwelchem klaſſiſchen 
Säulenbau zuzuſtreben, machte er vielmehr an einem ſchlich— 
ten Landhaus halt und klingelte. Jawohl: klingelte. Und 
auf dieſes Zeichen erſchien an der Schwelle der Beſitzer des 
Landhauſes, der Römer Lucretius, und lud den Wanderer 
zum Nähertreten ein: 

„Ich bin zwar augenblicklich beim Experimentieren, allein 
nichtsdeſtoweniger — deine Störung, preiswerter Zenon, 
iſt mir lieber als die Arbeit. Du triffſt zudem gute Bekannte 
aus klaſſiſchen Jahrhunderten: Leucipp, Demokrit und Epikur 
ſind auch drin.“ 

Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 4 


49 


„Da ſeid ihr alten Atomiſtiker ja glücklich alle beieinan⸗ 
der,“ ſagte Zenon, indem er dem Wirt folgte. Prüfend 
überflog ſein Blick den Raum. Da ſtanden Mikroſkope, 
Retorten, Reagenzgläſer, guter Hausrat eines neuzeitlichen 
Gelehrten. Der Eintretende ergänzte: „Zu meiner Zeit ſah 
es anders aus bei einem Philoſophen.“ Lukrez fing das 
Wort auf: „Zu meiner Zeit auch noch; aber es hilft nichts, 
man muß ſich moderniſieren. All das gehört ſozuſagen zu 
den Materialiſationsphänomenen, in denen uns die Leben⸗ 
den mit praktiſchem Beiſpiel vorangehen. Die Menſchen be— 
ſchwören Geiſter, wir laſſen die Werkzeuge der Menſchen zu 
uns kommen. Ich ſehe bereits die Zeit, da wir als Aus⸗ 
tauſchprofeſſoren in Berlin dozieren werden. Vorläufig bin 
ich ganz zufrieden, daß ich mir mit Inſtrumenten aus dem 
zwanzigſten Jahrhundert dies Laboratorium einrichten konnte. 
Sieh mal dort, Zenon, das blanke Geſtell, woran eben unſer 
Epikur hantiert: das neueſte Inſtrument von fabelhafter 
Vergrößerungskraft; ein Ultramikroſkop von Zeiß in Jena!“ 

„Laß mich mal hindurchſchauen, lieber Lukrez!“ 

„Vorläufig nicht. Wir brauchen es gerade zur Kontrolle 
darüber, ob es mit der Größe und Maſſe der Atome ſeine 
Richtigkeit hat.“ 

Epikur drehte den Kopf am Apparat ein wenig zur Seite 
und ſagte kurz und ſachlich: „Es ſtimmt!“ 

Demokrit und Leucipp, mit Rechnungen beſchäftigt, füg— 
ten hinzu: „Wie vorauszuſehen war, — es muß ſtimmen!“ 

Lukrez ſtrahlte: „Ich hatte ja von Anfang an nicht den 
geringſten Zweifel; denn im Grunde haben ſich eben nur 
die Methoden geändert, nicht die Anſchauungen. Aber es 
macht uns doch ſtolz, daß die Prinzipien, für die wir ſchon 
vor Jahrtauſenden kämpften, heute jo glänzend ſiegen. Un: 


50 


fer ganzer Atomismus, den wir aus innerer Intuition ſchöpf⸗ 


ten, iſt nunmehr klar erweisbar, durch Experiment und Ma⸗ 
thematik bis zur Evidenz erhoben. Mit einem Wort: Wir 
ſtehen vor dem größten Triumph der Wiſſenſchaft, und die⸗ 
ſer Triumph gehört uns!“ 

Aber der Wanderer Zenon ſah nicht im geringſten über- 
zeugt aus: „A priori möchte ich bemerken, daß ihr etwas 
als erwieſen anſprecht, was nicht nur unbeweisbar, ſondern 
ſogar unmöglich iſt. Meine Vernunft iſt mein Ultramikro⸗ 
ſkop, und durch dieſes ſehe ich das genaue Gegenteil der von 
euch behaupteten Dinge.“ 

„Weil du das Material nicht kennſt. Zenon, Vernunft⸗ 
menſch, ſei vernünftig und informiere dich ſyſtematiſch. Setze 
dich in die Ecke da drüben und ſtudiere vor allem erſt die 
Schriften, die du dort auf dem Bücherbrett findeſt. Was 
weißt du von Dalton, von Avogadro, von Boltzmann?“ 

„Nichts. Brauche ich auch nicht zu wiſſen.“ 

„Es iſt aber zur Verſtändigung unbedingt erforderlich. 
Alſo lies, Zenon. Du haft doch Zeit, nicht wahr? Als ge⸗ 
borener Eleat hältſt du es wohl bequem vier Wochen auf 
einem Studierſitz aus.“ 

„Wenn es allein darauf ankäme, vier Monate meinet⸗ 
wegen.“ 

„um ſo beſſer. Und wenn du dort fertig biſt, wollen wir 
dir die Experimente vorführen. Da ſollſt du dein Wunder 
und — modern geſagt — deinen Tag von Damaskus er⸗ 
leben!“ 

* 

Nach geraumer Zeit erhob ſich Zenon, mit einer gelinden 
Verſteifung in den Gliedern, die erſt wich, als er die Länge 
des Raumes hundertmal nachdenklich durchmeſſen hatte. 

4* 


51 


Dann blieb er vor dem Ultramikroſkop ſtehen und blickte 
hindurch. 

„Das find die ſogenannten Browuſchen Bewegungen in 
einer milchigen Flüſſigkeit; kannſt du die verfolgen, Zenon?“ 
fragte Epikur. 

„Ich ſehe allerdings ein Chaos wirbelnder Körperchen. 
Sie ſchlängeln ſich zu Tauſenden, zucken blitzartig hin und 
her, verändern regellos die Richtung wie die Stäubchen im 
Sonnenſtrahle. Es find offenbar ſehr kleine Teile der Sub— 
ſtanz in geſtörtem Gleichgewicht. Und nun wollt ihr be— 
haupten, daß dies die Atome ſeien, die unteilbaren letzten 
Dinge der Wirklichkeit?“ 

Lukrez erläuterte: „Nicht eigentlich die Atome, ſondern 
die Moleküle, deren jedes eine endliche Gruppe von Atomen 
darſtellt. Die Hauptſache iſt, daß dieſe Moleküle nunmehr 
aus der Welt des unendlich Kleinen emportauchen in die 
augenfällige Sichtbarkeit. Unſere Ahnung wird hier ſinn— 
lich bewahrheitet. Der Schleier, den die Natur ſelbſt vor 
den Menſchenblick ſpannte, verbrennt im Strahle des Mikro— 
ſkops, und der Urgrund wird offenbar, genau wie wir alten 
Atomiſten ihn vorausgeſagt hatten.“ 

Zenon: „Du verſtehſt dich bereits zu einer Einſchränkung: 
das Atom entgeht euch noch, allein das Molekül habt ihr be= 
reits leibhaftig erfaßt und könnt es aus der Flüſſigkeit her— 
ausfiſchen.“ 

Lukrez: „Der Ausdruck trifft die Sache. Wir fiſchen 
heraus, wenn auch nicht mit der Angel, ſo doch mit dem 
Auge. Tatſächlich beſitzen dieſe Dingerchen Haken und Oſen, 
als klammernde Organe, die ineinander eingreifen, wie ich 
ſelbſt, weit vorausſchauend, im zweiten Buch meines be— 
rühmten Werkes de natura rerum verkündete: 


52 


„Leicht erkennt man daraus, was lieblich die Sinne be— 
rühret, f 

Müßt' aus glatten beſtehn und rundlichen Körpern des 
Urſtoffs, 

Während hingegen was bitter und ſtreng den Sinnen zu— 

wider, 

Mehr ſich verbindet in ſich durch hakenförmige Kör— 

per.“ 

Zenon: „Sage, Lukrez, du willſt alſo wirklich durch dein 
Mikroſkop in dieſem Gewimmel Haken und Oſen erkennen?“ 

Lukrez: „Das war doch nur bildlich geſprochen. Und 
ebenſo bildlich war es gemeint, wenn ich behauptete, daß 
wir die Moleküle wirklich ſähen. Eigentlich ſind es nicht ſo— 
wohl die Moleküle, als vielmehr gewiſſe äußerſt winzige 
harzige Teilchen, Emulſionskügelchen, deren Exiſtenz uns 
das Vergrößerungsglas verrät. Sie ſind groß genug, um 
durch die Stöße der Moleküle in lebhafte Bewegung zu ge— 
raten. Das Weitere iſt dann Sache einer äußerſt verwickel— 
ten, aber doch treffſicheren Berechnung.“ 

Zenon: „Mit anderen Worten: das thema probandum 
wird ſchon wieder preisgegeben, kaum daß es aufgeſtellt 
war. Ihr habt nur eine neue Schwierigkeit konſtruiert und 
unterſchiebt ihr eine andere Schwierigkeit in der Hoffnung, 
daß aus dem Zuſammenprall beider Schwierigkeiten das 
große X, euer fabelhaftes Atom, herausſpringen werde. Ihr 
könnt weder das Atom noch das Molekül nachweiſen, ſon— 
dern ihr ſchließt aus einem rätſelhaften Kugeltanz auf ein 
primum, auf ein primissimum agens nach der Denkſcha— 
blone: klein, kleiner, am kleinſten. Als ob das Allerkleinſte, 
das ihr erreichen könnt, nicht immer noch ein Fragezeichen 
hinter ſich hätte ſo groß wie das ganze Univerſum!“ 


or 
[0%] 


Demokrit: „Und doch gibt es keine andere Methode, 
um der Wahrheit näher zu kommen; deinem rieſigen Frage— 
zeichen droht eine Antwort von gleicher kosmiſcher Größe. 
Die Methode beſteht darin, die Wahrheit zu überliſten, wenn 
wir ſie nicht auf geradem Wege überwältigen können. Laß 
dir das erklären, Zenon: Dieſe Kügelchen, die wir in den 
Bannkreis des Lichtes zwingen, ſind tatſächlich die Verräter 
der Urſubſtanzen geworden, die wir ſuchten; ſo wie ein ſchau— 
kelndes Schiff am Horizont die Meereswellen verrät, die 
wir aus jo weiter Entfernung nicht mehr wahrnehmen kön⸗ 
nen. Oder noch beſſer ſo zu verſtehen: wir zeigen dir durch 
das Fernglas den Tanz der Monde um einen Planeten; da 
haſt du zunächſt den Eindruck einer grobſinnlichen Erſchei— 
nung. Aber hinter ihr verſteckt ſich das Walten des feinſten 
Fluidums. Durch eine Kette ſcharfſinnigſter Überlegungen 
beweiſen wir dir, daß hier der Tanz das Außerliche iſt, das 
Innerliche indes die kleine Lichtſchwingung, von der Millionen 
auf den Meter und Billionen auf die Sekunde entfallen. 
Solche Ziffern geben das Maß für den Fortſchritt der Er— 
kenntnis. Hier nun ſtehen die Lichtſchwingungen in lehr—⸗ 
hafter Parallele mit den Molekülen. Mit der Zange zu grei- 
fen ſind weder die einen noch die anderen. Aber zu errechnen, 
graphiſch abzubilden ſind ſie genau. Und wir haben ſie er— 
rechnet. Wenn ich „wir“ ſage, fo meine ich damit die Ato⸗ 
miſten überhaupt. Wir fühlen uns weſenseins mit denen, 
die nach uns kamen, mit den Genies: Gaſſendi, Avogadro, 
Fechner, Mendjelejew, Becquerel, Curie, Vant' Hoff, Planck, 
Perrin, Einſtein, Langevin, deren Forſchungen wir überprüft 
haben.“ 

Epikur: „Mit dem Ergebnis, wie geſagt: es ſtimmt!“ 

Zenon: „Die Freude ſteht dir gut zu Geſicht, Epikur; 


54 


du haft offenbar von der Tafel der Erkenntniſſe ein befon- 


ders ſaftiges Schlemmerſtück genoſſen.“ 

Epikur: „Ein pythagoreiſches Stück: Das Weſen der 
Dinge iſt die Zahl, das Weſen der Urdinge die gewaltige Po- 
tenzenzahl. Exakt geſprochen: Die Zahl der Moleküle in 
einem einzigen Liter Gas beträgt dreimal zehn zur zwei 
undzwanzigſten Potenz; eine mit dreiundzwanzig arabiſchen 
Ziffern zu ſchreibende Zahl, die ſich hoch in die Trilliarden 
erſtreckt..“ | 

Zenon: „. . . Und von der ihr euch ebenſowenig irgend— 
ein Bild machen könnt wie ich. Eure Phantaſie entzündet ſich 
an der Billion, an der Trillion, an der Trilliarde; ſie wird 
getäuſcht, indem fie an einer vorgeblichen Exaktheit empor⸗ 
klettert, die in Wirklichkeit nichts anderes iſt als ein Sprache 
ungeheuer. Dem Papier, das die Notiz trägt, bedeutet die 
klar ausgeſchriebene Potenz einen Triumph, eurem Blick eine 
Augenweide, — dem Verſtand iſt die raſſelnde Zahl lediglich 
eine Beſchämung, beſtenfalls eine Umſchreibung für ſehr viel, 
unvorſtellbar viel, alſo eine Tautologie dafür, daß wir nach 
der Zahl nicht um ein Haar klüger ſind als vor ihr.“ 

Lukrez: „Ich finde, du tuſt der Zahl unrecht. Zum min⸗ 
deſten hat ſie etwas Berauſchendes, ſie öffnet Weiten und 
Horizonte, in die man vorher noch nicht geblickt hat. In 
ihrer Unvorſtellbarkeit ruht ihr geheimer Reiz, und wie wir 
zuerſt die Natur überliſteten, ſo beſchleichen wir nunmehr die 
Zahl, um ihren Reiz ſinnlich zu erfaſſen; wie ein Verlieb— 
ter das Haupthaar ſeines Mädchens durch die Finger lau— 
fen läßt als eine Vielheit, deren numeriſcher Zauber ſich 


ihm in einer Entzückung offenbart. Wir ſtellen uns zum 


Beiſpiel vor, jener Liter ſei leer, ein vollkommenes Vaku⸗ 
um. Durch eine feine Stichöffnung in der Wand laſſen wir 


55 


die Luft in das Innere ftreichen mit dem Auftrag, pro Se: 
kunde zehn Millionen Moleküle in das Innere zu befördern. 
Wie lange meinſt du wohl, Zenon, brauchte die Luft, um den 
Liter wiederum bis zum urſprünglichen Gasdruck zu fül— 
len?“ 

Zenon: „Ich bin überzeugt davon, das wird ſehr lange 
währen. Wenn ich dir einen beſonderen Gefallen damit er— 
weiſe, ſage ich: ein Menſchenalter.“ 

Lukrez: „Weit gefehlt! Hundert Millionen Jahre 
würde das dauern, nicht einen Tag weniger! Auch das iſt 
unvorſtellbar, aber es liefert doch eine anſchauliche Ahnung.“ 

Zenon: „Mein Experiment wäre einfacher. Ich erteile 
der Luft den Auftrag, etliche Trillionen Moleküle pro Se— 
kunde durch die Stichöffnung zu ſchaufeln, und ſiehe da, ſie 
leiſtet das Kunſtſtück in wenigen Minuten. So oder ſo: 
Die Trillionen wirſt du nicht los, willſt ſie ja auch gar nicht 
loswerden. Im Gegenteil, ſie machen dich glücklich. Und 
noch glücklicher wärſt du, wenn du noch etliche Nullen an— 
heften und dich bis in die Quadrillionen verſteigen könnteſt.“ 


Lukrez: „Du haſt es getroffen, Zenon, und ich kann dir 
die erfreuliche Mitteilung machen, daß es des Wunſches nicht 
mehr bedarf, da bereits die Erfüllung vorliegt. Wenn wir 
nämlich vom Urgrund zum Ururgrund vorſchreiten, alſo vom 
Molekül zum Atom, ſo ermitteln wir die Maſſe des Waſſer— 
ſtoffatoms als eine Größe, die ungefähr dem quadrillionſten 
Teil eines Grammes entſpricht.“ 

Zenon: „Nimm meine herzlichſte Gratulation entgegen! 
Warum ſollte ich dir deine Zahlenorgien mißgönnen? Du 
betreibſt ſie in deiner Weiſe ſo aufrichtig wie jene Romanen, 
die ihre berittenen Truppen vervielfältigen, indem ſie nicht 


56 


die Reiter, ſondern die Gliedmaßen zählen und einen Kriegs: 
haufen nicht auf hundert Mann, ſondern auf ſechshundert 
Beine beziffern, Soldatene und Pferdebeine impoſant zu⸗ 
ſammengezählt. Freilich ſind dieſe Romanen Stümper gegen 
dich, und ihre Einheiten, methodologiſch genommen, Kinder— 
ſpielereien gegen deine. Ich gebe ohne weiteres zu, daß eure 
Diviſoren und Multiplikatoren erſchütternd auf mich wir— 
ken.“ 

Lukrez: „Ironie, Heftigkeit und Irrtum ſind uns eine 
gewohnte Trias. In Wahrheit überrumpelt die Größe un— 
ſerer Zahlen nicht ſowohl die Vorſtellungskraft, als viel— 
mehr einen alten Denkfehler, nämlich den, daß von der Quan⸗ 
tität keine Denkbrücke zur Qualität führe. Was ſich äußer- 
lich als eine Zahlenſchwelgerei darſtellt, umſchließt im Kern 
eine höchſtbezifferte Wahrſcheinlichkeit, und in dieſer hohen 
Wahrſcheinlichkeit erkennen wir das arithmetiſche Geſicht der 
Wahrheit. Wir ſchließen tatſächlich von der Maſſe auf die 
Eigenſchaft, und mit der wachſenden Zahl verengert ſich die 
Fehlergrenze auch für das qualitative Erfaſſen.“ 

Zenon: „Vermöge eines Prinzipes, das euch immer wie— 
der verlockt, einen Denkfehler zu eliminieren, indem ihr einen 
zweiten, noch unerkannten, rechnungsmäßig einſchmuggelt, 
und ſo fort, ohne aufzuhören.“ 

Lukrez: „Es hört auf. Die Fehler tilgen ſich gegenſeitig, 
und aus dem regressus wird ein progressus in inf initum. 
Wir ziehen die Maſchen eng und enger, bis aller Zweifel ge— 
fangen iſt und die abſolute Sicherheit hindurchfiltriert. Und 
ſelbſt wo wir hypothetiſche Gerüſte errichten, entwickeln ſich 
hinter ihnen die herrlichſten der Ewigkeit trotzenden Faſſaden. 
Nimm das Atom für eine Hypotheſe, das Atomgewicht, das 
Verhältnis der Moleküle wiederum als Hypotheſen, jo bre— 


N 


chen wir fie als Hilfskonſtruktionen eines Tages ab und 
zeigen dir den Wunderbau des periodiſchen Syſtems der Ele— 
mente, der allen Erfahrungen ſtandhält. Mehr als das: Von 
der Zinne dieſes Syſtems, wie es Mendjelejew entwickelt hat, 
beherrſchen wir die Zukunft der Wiſſenſchaft. Die Atome 
können wir nicht ſehen, aber ihre Eigenſchaften vorausſagen 
in Elementen, die noch kein Forſcher dargeſtellt hat, das 
können wir! Die ſpätere Erfahrung muß genau das liefern, 
was die frühere Induktion als zwingend und notwendig vor= 
gebaut hatte. Und ſie liefert es wirklich. Es iſt ſo, als ob 
die Wirklichkeit auf den Befehl des Atompropheten wartete. 
Der Stein der Weiſen iſt längſt überholt. Er hätte beſten⸗ 
falls etwas dargeſtellt, was man ſchon kannte, das Gold. 
Wir beſchließen theoretiſch Metalle, wie das Thallium, Skan⸗ 
dium, Germanium, wir verkünden vor der Exiſtenz irgend⸗ 
einer Probe alle Qualitäten, und ſpäter kommt die Wirk⸗ 
lichkeit nachgehinkt und bringt die vorausbeſchloſſenen Ele— 
mente Thallium, Skandium, Germanium. Wo in aller Me⸗ 
taphyſik haſt du ähnliches erlebt? Wo haſt du erlebt, daß 
der Theoretiker erfand, was der Praktiker nachher entdeckte? 
Aus einer ſcheinbaren Unmöglichkeit heraus, aus dem Atom, 
erwachſen hier kriſtalliſch alle Unerſchütterlichkeiten der Fol- 
gezeiten. Vor unſeren Atomrechnungen kapituliert die Na— 
tur ſelbſt.“ 

Zenon: „Wenn dir an meinem Staunen gelegen iſt — 
habeas! Du entwickelſt mir Phaethonflüge, denen gegenüber 
ich bekennen muß: ihr fliegt oben, ich ſtehe unten. Ich müßte 
nicht aus Elea, ſondern aus Böotien ſein, wenn ich leugnen 
wollte, daß aller Glanz der Erſcheinung ſich an eure Be— 
wegung heftet, während tiefer Schatten meinen Standpunkt 
bedeckt. Nur daß ich ſicherer unten ſtehe, als ihr oben fliegt; 


58 


und daß eine einzige große Erfahrung euch wie der Blitz— 
ſchlag des Zeus aus allen Himmeln ſchleudern kann. Einſt⸗ 
weilen fahrt ihr ja noch am Himmelsbogen, verblüfft über 
euer eigenes Gelingen, und ihr glaubt den Weg zu meiſtern, 
weil eure Sonnenroſſe noch galoppieren. Aber das unheil— 
volle Geſpenſt, das euch bereits die Zügel aus der Hand 
gewunden hat, das ſeht und ahnt ihr nicht. Es iſt das Ge— 
ſpenſt des Widerſpruchs. In allen euren Verkündigungen 
ſteckt die Theſe und die Antitheſe, das Ding an ſich und 
deſſen Gegenteil: nämlich das Atom, atomos, das unteilbare 
Letzte, daß ihr trotzdem wieder teilen müßt, um zu ſeinen 
Eigenſchaften vorzudringen. Ein Punkt hat keine Eigenſchaf— 
ten. In dem Moment, da ihr von Qualitäten, von dinglichen 
Beziehungen, von Wirkungen redet, zerſpaltet ihr den Punkt 
im Körper, während die ganze Beweisführung darauf ange— 
legt war, den Körper in Punkte zu zerlegen; zwei Opera— 
tionen, von denen jede für ſich nur mit Spitzfindigkeit durch— 
zudenken, die aber in ihrer Vereinigung eine blanke Sinn— 
loſigkeit ergeben. Und der Logos wird ſich rächen an denen, 
welche die Logik vergewaltigen.“ 

Demokrit: „Dazu hätte er ſchon reichlich Zeit gehabt 
von meiner erſten Anſage bis zu Gaſſendi, von Gaſſendi bis 
zu Fechner, von Fechner bis zu Ramſay. Aber was hat er 
getan? Er hat immer nur beſtätigt, der ſcheinbaren Antino— 
mie immer neue Stützen geliefert. Auf wieviel verſchiedenen 
Wegen ſind wir dem Atom zu Leibe gegangen, um jedes— 
mal auf dieſelbe Größenordnung zu ſtoßen! Gänzlich un— 
abhängig, durchaus getrennt in Raum, Zeit und Motivation, 
kamen die Zeugniſſe von den Bromnfchen Bewegungen, von 
der Spektralanalyſe, von der Opaleſzenz, von der Elektrizi⸗ 
tät, vom Radium und Helium, von der Energieſtrahlung, 


59 


und alle Zeugniffe trafen in ein und derſelben Trilliardenhöhe 
zuſammen.“ 

Leucipp: „Dreizehn verſchiedene Methoden wurden be— 
ſchritten, und dreizehnmal mit derſelben Evidenz ſprang die— 
ſelbe überwältigende Zahl heraus: die Avogadro-Konſtante, 
die über Größe und Gewicht der Moleküle Aufſchluß gibt“). 
So ward die Wahrſcheinlichkeit zur Gewißheit erhöht. Die 
logiſche Prognoſe, daß Cajus ſterben muß, weil alle Men— 
ſchen vor ihm ſtarben, iſt eine lockere Konjektur gegen die 
Sicherheit dieſer Avogadrozahl.“ 

Lukrez: „Und in ihrer unfaßbaren Größe ruht zugleich 
ihre Majeſtät. Was dem von brüllenden Ziffern erſchreckten 
Gemüte als Phantasma erſcheint, iſt nur der Ausdruck ihrer 
ſouveränen Macht und Geltung. Die Zahl in ihrer wuchtigen 
Größe entſpricht der Weite der Schatzkammer, die das Ge— 
heimnis der Subſtanz umſchließt; das Molekül auf der 
Grenze zwiſchen Körper und Nichts gibt den Maßſtab für 
die Feinheit unſerer Konſtruktionen. Ihre Verſchmelzung 
legt uns zur Eröffnung jener Schatzkammer den Schlüſſel 
in die Hand. Wir berechnen die innere Struktur der Sub— 


*) Zum Vergleich ſeien empfohlen: Jean Perrin: „Die Atome“ 
(deutſche Ausgabe von Lottermoſer im Verlage von Steinkopf, 
Dresden und Leipzig). — A. von Antropoff: „Die chemiſchen 
Elemente und Atome im Lichte alter und neuer Forſchung“ (Vor⸗ 
träge aus der Baltiſchen Literariſchen Geſellſchaft, Riga). — 
Ferner: Van't Hoff: „Die Lagerung der Atome im Raume“ (Verlag 
Vieweg, Braunſchweig). — K. Laßwitz: „Atomiſtik und Kritizismus“ 
(ebenda). — Fritz Mauthner: „Artikel Atom im Wörterbuch der 
Philoſophie“ (Georg Müller). H. Vaihinger: „Die Atomiſtik als 
Fiktion“, in dem Werk „Die Philoſophie des Als Ob“. — Fechner: 
„Atomenlehre.“ — Emanuel Lasker: „Atomſtudien“ in „Das Be— 
greifen der Welt.“ 


60 


ſtanzen weit über jede Leiſtungsfähigkeit des Mikroſkopes 
hinweg; wir zerfällen die Elemente und laſſen eines aus dem 
anderen hervorgehen; wir ermitteln ſubſtantielle, atomiſti— 
ſche Kernpunkte in den Energien; wir zerſtören die alte Me— 
chanik und bauen eine neue Kauſalerkenntnis über dem Re— 
lativitätsprinzip; wir zwingen die Zeit in die Dimenſionen 
des Raumes; grundſtürzend und grundlegend gehen wir vor, 
wir Atomiſten.“ 

Zenon: „Und merkwürdig genug, trotz aller dieſer An— 
ſtrengungen ſpart ihr dabei noch Energie. Die ſchichtet ihr 
empor zu ungeheuren Stapeln, die faßt ihr in Sammelbecken, 
aus denen ihr die Welt ſpeiſt. Nur daß die Rechnung nicht 
ſtimmt. Denn das letzte Ziel bleibt unweigerlich ein tech— 
niſches Werk mit der letzten Ausſicht auf einen neuen Ge— 
ſchwindigkeitsrekord, den ihr für einen Glücksrekord nehmt. 
Indem ihr Subſtanz und Kraft in Elektronen zerrechnet, 
mit der Abſicht, die Natur zu überliſten, werdet ihr nicht 
gewahr, daß dabei eo ipso die gegenteilige Wirkung ein— 
tritt: die Natur überliſtet euch! Sie ſchiebt euch Trillionen 
von Rechenpfennigen zu, und ihr bucht ſie als bare Münze. 
Immer wieder reitet ihr euer Paradepferd, die Konſtanz der 
Energie, und überſeht dabei, daß auch Menſchheitsglück eine 
Energie iſt, die nicht gleichzeitig erhöht, verbreitert und ver— 
tieft werden kann.“ 

Epikur: „Ein Sophisma, Zeno! In dieſem Zuſammen— 
hange dürfteſt du nicht von Glück, ſondern müßteſt von 
Kultur ſprechen.“ 

Zenon: „Und wenn ich nach eurem Rezept die Kultur 
analyſiere und nicht auf Glücksmoleküle ſtoße, wozu dann 
die ganze Arbeit? Aber halten wir uns für den Augenblick 
nicht an Werte, ſondern an Worte, reden wir von der Kultur: 


61 


eG 
1 


Iſt der Lebende, weil er drahtlos telegraphiert, kultivierter, 
als es mein Lehrer Parmenides war? kultivierter als Pla⸗ 
to? kultivierter als du ſelbſt, Epikur, der du in deinem Gar⸗ 
ten zu Athen ſoviel Strahlen der Einſicht und Luſt in einem 
Brennpunkt zu fangen wußteſt?“ 

Epikur: „Heut weiß ich dennoch, was mir damals im 
epikureiſchen Garten fehlte: die Kunſt, Erkenntniſſe in 
Schöpfungen zu verwandeln. Das war der Neuzeit vorbe— 
halten; indem ſie erkennt, bewältigt ſie, ſchafft ſie. Ich ahnte 
im Atomismus nur die fernen Linien der Forſchung, nicht 
deren Werke, die den Menſchen zum Herrn der Energien 
macht.“ 

Zenon: „Und wiederum ſage ich dir: Es ſtimmt nicht! 
In unzähligen Fällen ging das Werk vorauf, die Theorie 
folgte: Heron von Alexandrien konſtruierte die erſte Dampf— 
maſchine, ohne von dem Bombardement der Gasmoleküle 
gegen die umſchließenden Wände eine Ahnung zu haben. Der 
Kompaß, die Elektriſiermaſchine wurden erfunden, als der 
Begriff des magnetiſchen Feldes, der Kraftlinie, des elektri— 
ſchen Potentials noch nicht exiſtierten. Die ſelbſttätige 
Dampfſteuerung war das Werk eines britiſchen Kindes, das 
ſich mit dieſer Erfindung nur die Langeweile vom Halſe 
ſchaffen, aber nicht den Weg von der Erkenntnis zur Energie— 
bewältigung finden wollte. Der Erbauer des erſten Fern— 
rohrs wußte nichts von Billionenſchwingungen des Licht— 
äthers, die galvaniſchen Werke erwuchſen nicht als Blüte aus 
erkannten Geſetzen, ſondern aus einem doppelten Zufall un— 
ter Aſſiſtenz toter Fröſche. Im Grunde kommt es aber auch 
nicht darauf an, in welche Praxis die Erkenntniſſe münden, 
ſondern ob ſie uns dem Weltgeiſt näherbringen. Das eben 
leugne ich gegenüber der atomiſtiſchen Kleinarbeit, die im 


62 


Exakten nur wiederholt, was uns im Groben die Danaiden 


ſchon vorgemacht haben. Als ich vorhin in deinen Büchern 
blätterte, Lukrez, ſtieß ich auf den Atomiſten Thompſon und 
auf fein Wort: Die Annahme der Atome kann keine Eigen⸗ 
ſchaft der Körper erklären, die man nicht vorher den Ato— 
men ſelbſt beigelegt hat. Eure Feinmechanik durchläuft 
alſo einen circulus vitiosus. Jedes Atom repetiert die Uns 
erklärlichkeit der ganzen Welt, jede hohe Zahl potenziert deren 
Rätſel, jede Helligkeit interferiert mit anderer Helligkeit und 
erzeugt eine Finſternis. Zugegeben, daß ihr die Oberfläche 
des poſitiven Wiſſens vergrößert, ſo wächſt damit nur die 
Oberfläche des Unbekannten, denn beide berühren ſich und 
ſind identiſch. Wie ich ſchon in Elea verkündete und Pascal 
nach mir ſehr treffend weiterſagte.“ 

Damit verließ Zenon das Laboratorium und wanderte hin⸗ 
aus in die asphodeliſche Wieſe, wo zahlloſe Taumoleküle 
in den Gräſern iriſierten. Und er empfand ſie deutlich als 
zahllos, hielt es aber für unerheblich feſtzuſtellen, ob es 
ſich um Tauſende oder um Trillionen handelte. 


63 


Die entlarvte Natur 


Ein Forſcher bereitet zu beſonderem Zweck einen Aufguß 
über gewiſſen Pflanzenfaſern. Nach etlichen Tagen entwickelt 
ſich in der Flüſſigkeit ein munter bewegtes, nur in ſtarker 
Vergrößerung erkennbares Völkchen von Infuſorien. Sie 
ſcheinen im allgemeinen mit ihrem Daſein zufrieden, nur ein 
beſonders geſcheites Wimpertierchen nimmt ſich eine Kritik 
heraus und teilt ſie ſeinen Artgenoſſen mit: in dem Tropfen 
ſei es zu eng, die Nahrungsverhältniſſe ließen zu wünſchen 
übrig, ja ihr eigener Bau mit Häutchen, Wimpern und Gei— 
ßeln ſei eigentlich als verfehlt zu betrachten. Und rückſchlie— 
ßend auf die Entſtehungsurſache kommt der winzige Kritiker 
zu der Folgerung: da ſeien gewiß grobe Fehler vorgefallen; 
und er ſelbſt, der zwerghafte Wimperträger, hätte das alles 
viel beſſer gemacht. 

Der Vorgang iſt unmöglich. Auch das klügſte Infuſions— 
tierchen findet keinen Gedankenweg von ſich zu dem Forſcher, 
der den Aufguß bereitete, zu den Abſichten, die ihn leiteten, 
zu den Entwicklungstatſachen, mit denen er rechnete. Das 
denkende und kritiſierende Infuſorium iſt ein Unding. Oder 
doch nicht?? wäre es vielleicht nur ein verkleinertes Ab— 
bild des Forſchers ſelbſt, der jene Phantaſie belächelt und 
nachher in ſeiner Vorleſung genau die nämlichen Denkwege 
einſchlägt? 


64 


| Ja, dieſer Forſcher begibt ſich in den Hörſaal und erörtert 


dab 


dort die Abſichten der Natur. Er vergleicht ſie mit ſeinen 
eigenen und entdeckt Fehler in dem Schöpfungsplan, beſon⸗ 
ders im Aufbau der Organismen. Er weiſt nach, wo ſie 
fehlgegriffen und wie man das und jenes hätte beſſer, folge 
richtiger, zweckentſprechender machen können. Das von ihm 
gern gebrauchte Wort „Allmeiſterin“ erhält einen ironiſchen 
Nebenton. Denn dieſe Allmeiſterin hat Vorſchriften des Ge— 
ſchehens aufgeſtellt, Naturgeſetze, die unter der Sonde des 
Menſchenverſtandes ſozuſagen ſittliche Schwächen verraten. 


Der Dozent geht noch weiter: er ſpricht geradezu von Uns 


tugenden der Natur und weiſt deren Vorhandenſein mit er— 
ſtaunlichem Scharfſinn nach. 

Er kann ſich dabei auf berühmte Vorgänger berufen, wenn 
man nämlich den Wortlaut der Großen gelten läßt, die mit 
der Natur nicht einverſtanden waren und ſich mit ihr ſcharf 
auseinanderſetzten. An ihrer Spitze ſteht der Gewaltigſten 
einer, vielleicht der größte in der Zuſammenfaſſung natur— 
wiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher Erkenntnis: Hermann 
Helmholtz. Ob er es genau ſo anthropomorphiſch, ver— 
menſchlichend, meinte, wie er es ſagte, bleibe einſtweilen au= 
ßer Betracht. Aber geſagt hat er es, und ſein Wort bean— 
ſprucht den Wert eines geſchichtlichen Urteilsſpruchs. 

Er erging gegen die Natur als Verfertigerin des menſch— 
lichen Auges. Helmholtz leugnete nicht gewiſſe bewunde— 
rungswürdige Eigenſchaften dieſes Organs, aber heftig be— 
mängelte er den Umſtand, daß bezüglich der Hornhaut und 
Kriſtallinſe keine richtige Zentrierung ſtattfindet. Und er er⸗ 
klärte: brächte mir ein Mechaniker ein Inſtrument ſo vol— 
ler Fehler und unnötiger Erſchwerungen, ſo würde ich ihm 
die Tür weiſen! Alſo ein Rüffel in ſtärkſter Form. 

Moszkowski, Der Sprung Über den Schatten 5 


65 


Hiernach hat alſo die Natur entweder nicht genügend Optik 
ſtudiert, oder ſie hat das Studierte nicht recht begriffen, oder 
ſie verfuhr mit unzureichender Geſchicklichkeit; falls nicht 
noch ärgere Sünden im Spiele ſind. Denn ſchließlich hat 
doch die Mechanikerin Natur als Vorausſetzung ihrer Arbeit 
die ganze Weltmechanik geſchaffen, und dieſe ſtützt ſich auf 
einen Satz, den Galilei 1638 entdeckt hat: auf das „Träg— 
heitsgeſetz“. Wie ſchlau! Sie verordnet als durchgrei— 
fendes Leitmotiv eine Untugend und nimmt ſie für ihre ei— 
genen Geſtaltungen in Anſpruch. Jenes Geſetz, — auch das 
iſt geſagt worden, — bedeutet nichts anderes als den Deck— 
mantel für jede flüchtige Arbeit in der Weltwerkſtatt: Die 
Natur iſt träge, ſie ſcheut die Arbeit, ſie gibt ſich nicht genug 
Mühe bei ihren Herſtellungen. 

Das angeblich verſtümperte Auge ſoll nur einen beſonders 
ſinnfälligen Beweis darbieten. Aber auch andere Organe lie— 
fern den Anlaß zu trübſeligen Wahrnehmungen. Vor al— 
lem: die Natur überprüft nicht, was ſie einmal gemacht hat, 
ſie erneuert nicht das Erneuerungsbedürftige, verbeſſert keine 
Schäden. Wegen dieſes Verhaltens hat ihr Metſchnikow 
vom Pafteur-Inftitut, Mitſchöpfer der organifchen Immuni— 
tätslehre, tüchtig die Leviten geleſen: 

Wenn man alten Hausrat übernimmt, ſo findet man unter 
noch brauchbaren auch unnütze und ſogar gefährliche Stücke; 
z. B. wir benützen elektriſches Licht und erben eine Lichtputz— 
ſchere. Der Menſch hat Organe geerbt, die ſolchen Möbeln 
gleichen. „Der Blinddarm iſt die Lichtputzſchere.“ Die 
Natur will nicht einſehen, daß ſie uns damit nur eine böſe 
Laſt aufpackt. Sie erſchafft immer wieder, aus bloßer über— 
lebter Routine, das völlig zweckloſe und ſtörende Organ, das 
wir, wenn es nur irgend geht, herausſchneiden und fort— 


66 


werfen ſollten. Ebenſo liegt es beim Dickdarm. Da dieſer 
nicht nur zu nichts dient, ſondern täglich ungefähr 120 Bil- 
lionen Bakterien ernährt, wird er als Mikrobenſchützer zum 
Herd vieler ernſter Krankheiten. 

Sogar den Magen hielt Metſchnikow für das Ergebnis 
einer Pfuſcherarbeit, wenigſtens inſofern, als auch in ihm 
die Trägheit und abgeſtandene Routine fortwirke. „Die Na— 
tur will nicht einſehen ...“ ſagte der Gelehrte und überließ 
es ſeinen Hörern, die Folgerung auf Unklugheit oder böſen 
Willen zu ziehen; vielleicht auf beides. Der Profeſſor als 
Staatsanwalt betont die Tatſchuld und läßt die Ausrede auf 
das Trägheitsgeſetz höchſtens als mildernden Umſtand gel— 
ten. Die Natur hätte eben einſehen müſſen, was ihm, 
dem hellſichtigen Metſchnikow, ſo klar vor Augen lag. 

Zweifellos hatte die Natur im Anbeginn die Wahl zwiſchen 
verſchiedenen Arbeitsmethoden. Deren Ergebnis, die wirk— 
liche Welt, iſt nach Leibniz die beſte unter allen möglichen; 
Schopenhauer ergänzt: aber immer noch ſchlechter als gar 
keine. Der uns zeitlich näherſtehende Forſcher verfährt radi— 
kaler. Er greift beſtimmte Organe heraus und erklärt: der 
wirkliche Dünn- und Dickdarm iſt ſogar ſchon der ſchlechteſte 
unter allen möglichen Därmen. 

Und da öffnet ſich obendrein noch eine höchſt bedenkliche 
Gegenrechnung. Sie entſpringt dem Bewußtſein von den 
fehlenden Organen. Wie? die Natur hat uns hinausge— 
ſtellt in ihr Erſchaffenes, um deſſen Botſchaften zu verneh— 
men, und ſie verſagte uns hierfür die notwendigſten Mit— 
tel und Organe? In unendlichen Schwingungen umgibt uns 
dieſe elektro⸗magnetiſche Welt, und wir können fie nur auf 
mühevollſten Umwegen errechnen, erahnen, in unkenntlichen 
Verkleidungen den mangelhaften Sinnen zuführen, aber nie= 

5 5 


en 


mals in ihrer Urform ſpüren! Unſer auf Optik eingeftelltes 
Auge iſt ein blindes Werkzeug im Verhältnis zu dem elek⸗ 
triſchen Auge, das uns die Natur verweigerte, unſer Ohr 
iſt taub, unſer Taſtſinn ſtumpf in dieſer elektriſchen Unend— 
lichkeit; in ihr ſollen wir uns zurechtfinden wie ein in den 
Himalaja verſchlagener Wanderer, der als Wegweiſer ein 
Handbuch vom Thüringer Gebirge mitbekommen hat. Welche 
unzweckmäßige Knauſerei! Niederen Tieren, wie dem Zit⸗ 
terrochen, dem Nilwels, ja ſogar dem lebloſen Magneteiſen 
ward dieſer Sinn zur Orientierung verliehen; und der Menſch 
braucht den ungeheuren Weg von den altägyptiſchen Weiſen 
bis zu Guericke und Volta, um ſich nur einen kümmerlichen 
Stecken zur tölpelnden Vorwärtstaſtung zurechtzuſchnitzen! 

Alſo käme auch der Geiz auf die Liſte der Naturſünden, 
und dicht darunter die ſinnloſe Verſchwendung, in Keimen, 
in Räumen, in ungenützten Kräften. Beide zuſammen er⸗ 
geben eine bis zur Spitze getriebene, in allen logiſchen Zick— 
zackſprüngen taumelnde Inkonſequenz der Natur, die man 
ja auch ſchon aus ihrem ureigenen Geſetze ableiten kann. Sie 
erfand die kürzeſte Linie, angeblich als Regel für die Voll- 
ziehung größter Aufgaben mit dem kleinſten Kraftaufwand 
und wurde dafür von Fermat, Maupertuis, Euler irrtüm⸗ 
licherweiſe belobt; und daneben erfand ſie die längſte Linie, 
das Prinzip des größten Umweges, in der Züchtung aller 
Organismen. Denn wenn nach der Selektionslehre immer 
nur das paſſendſte Weſen übrig bleibt, und wenn dabei 
keine einzige Entwicklung ihren Abſchluß fand, ſo beweiſt das 
doch nur, daß bisher noch kein einziges Exemplar richtig in 
die Welt gepaßt hat, daß der Natur bisher alles ohne Aus- 
nahme mißglückt iſt. Ob Art, ob Einzelweſen, ob Organ, 
gleichviel; die Natur hantiert an ihnen mit Geiz, Verſchwen⸗ 


68 


T 


5 dung, Grauſamkeit, Trägheit und Überſtürzung, zeigt immer 


an einem Prinzip, daß das andere nicht ſtandhält. Millionen 


von Jahren hat ſie verbraucht, um aus einem Pigmentfleck 


ihr Paradeſtück, das Auge, zu entwickeln; ein Fehlerwerk, 
das Helmholtz' Mechaniker in ernſte Unannehmlichkeiten 
mit ſeinem Auftraggeber verwickelt hätte. 

Das Regiſter mit ſeinen Bekräftigungen könnte über hun— 
dert Seiten weit fortgeführt werden. Aber wer ein Buch 
daraus machen will, vergeſſe nicht, das letzte Kapitel an den 
Eingang anzuknüpfen: an das Aufgußtierchen, das ſich über 


den Aufguß beklagt. Denn über den Zirkelſchluß gelangen wir 


nicht hinaus. Sind die Werke verfehlt, ſo iſt es auch der Ver⸗ 
nunftmaßſtab, den wir in uns vorfinden, und jene erſcheinen 
ſo, weil wir ſie mit einem irreführenden Werkzeug meſſen. 
Es bleibt der Sprung über den eigenen Schatten, wenn der 
Forſcher im Unbegreiflichen Vollkommenheiten oder Mängel 
ſucht; nichts anderes iſt da zu erſpringen, als die Unvoll— 
kommenheit des Forſchenden. Keiner zuvor und Keiner nach 
her hat das ſo kurz und ſchlagend ausgeſprochen wie Goethe 
mit ſeinem weltumſpannenden Satze: „Der Menſch begreift 
niemals, wie anthropomorphiſch er iſt!“ 


69 


Das Glück in mathematiſcher 
Beleuchtung 


„Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück iſt im⸗ 
mer da!“ — Bei aller Wertſchätzung Goetheſcher Lebens— 
weisheit kam mir dieſer Befehl in jener Stunde ziemlich läp⸗ 
piſch vor. Denn ich hatte ſoeben wieder einmal gründlich am 
Glück vorbeioperiert, wie das ſo in Monte Carlo ehedem zu 
meinen Lebensgewohnheiten gehörte. Das Glück iſt immer 
da — zweifellos! Es liegt immer auf einer Farbe und auf 
einer Nummer, und es läßt ſich auch ergreifen, wenn man 
gerade richtig herauskommt. Aber gelernt kann das nicht 
werden, nicht mit Ausdauer, Talent und Fleiß, von keinem 
Manne wenigſtens, denn dieſes Gelernthaben bleibt das vor— 
behaltene Recht einer Frau, der Madame la Banque, in deren 
Aktivpoſten ſich meine Einſätze mit ſchöner Regelmäßigkeit 
in Dividenden verwandelten. 

Vor dem Cafe de Paris ſaß ich einſt in der warmen Winter: 
ſonne und dachte der letzten Serien, die für mich ſo ſeriös 
verlaufen ſollten. Es ſitzen dort wenige, die nicht an Glück 
und Unglück denken. „Höchſtes Glück der Erdenkinder iſt 
nur die Perſönlichkeit!“ Wieder ſo eine liebe Goetheſentenz, 
mit der in Monte Carlo nicht das leiſeſte anzufangen iſt. 
Alſo an meiner Perſönlichkeit ſoll ich mich in dieſer Stunde 


70 


der Zerſchmetterung erfreuen, an meiner pechbehafteten, im⸗ 
mer daneben ratenden, total ausgebeutelten Perſönlichkeit. 
Und gleich im Superlativ als am „höchſten“ Glück! Wäh⸗ 
rend dieſes ſich doch ganz klar auf der verdammten Nummer 
32 etabliert hatte, die im Laufe einer Stunde achtmal heraus— 
gekommen war. Hätte da nur meine Perſönlichkeit drauf— 
geſeſſen! Nein, definitiv, davon hat Goethe nichts verſtan— 
den, eher ſchon der Schubertſche Wandersmann: „Da wo du 
nicht bift, auf dem numéro en plein, wo du nicht ſetzt, 
da iſt das Glück! 

Am nämlichen Tiſch nahm ein älterer Herr Platz, der mit 
ſeiner gänzlich unmodiſchen Kleidung nicht recht in dieſen 
Lebenskreis zu paſſen ſchien. Mein Name iſt Bernoulli, ſagte 
er, und da Sie mich als gebildeter Menſch vermutlich ſo— 
gleich fragen werden, ob ich mit der berühmten Gelehrten— 
familie gleichen Namens zuſammenhänge, ſo ergänze ich: 
Daniel Bernoulli, geboren 1700, der glänzendſte Vertreter 
der Bernoulliſchen Dynaſtie, ſozuſagen der gefeiertſte Mathe— 
matiker meiner Zeit, zehnmal mit dem Preis der Pariſer 
Akademie gekrönt. 

Ich hätte nun eigentlich über dieſen Anachronismus ſtau— 
nen müſſen. Allein man wundert ſich nicht an der Riviera. 
Das Abenteuerliche iſt ja hier die Regel. Eine lückenloſe Folge 
von zweiundzwanzig Rouges erſcheint im erſten Anblick un— 
wahrſcheinlicher als das Auftauchen eines Menſchen aus dem 
achtzehnten Jahrhundert. Wer, wie ich, eine ſolche unmög— 
liche Serie leibhaftig erlebt hat, der behält keinen Sinn für 
andere Überraſchungen übrig. Ich wunderte mich alſo nicht 
im geringſten, ſondern fragte einfach: Spielen Sie? 

Gewiß ſpiele ich, antwortete Bernoulli. Ich ſpiele mit 
dem Einſatz mathematiſcher Methoden und gewinne dabei 


71 


Überzeugungen, die ſich von denen der Mitwelt ſehr erheblich 
unterſcheiden. Ich berechne das menſchliche Glück und füge 
hinzu, daß alle Glückswertungen außer der meinigen falſch 
ſind und an einem bösartigen Denkfehler leiden. 

Ach, Herr Bernoulli, entgegnete ich, ich weiß, worauf 
Sie hinaus wollen und möchte Sie bitten, ſich nicht zu be— 
mühen. Alle dieſe Wahrſcheinlichkeitsrechnungen ſind für 
mich olle Kamellen. Sie werden mir beweiſen wollen, daß 
kein Syſtem ſtandhält, daß die Bank durch das Zero der 
Roulette und durch das Refait des Prente et Quarante ein 
Übergewicht beſitzt, das ſich mit dem Zwang der großen 
Zahl unter allen Umſtänden durchſetzt. Das ſind papierene 
Weisheiten, die theoretiſch feſtſtehen mögen, aber vor der 
Praxis ihren Sinn verlieren. Ich zum Beiſpiel kann jeder 
Wahrſcheinlichkeit zuwider überhaupt niemals irgend etwas 
gewinnen. Und durch keinen Beweis können Sie die Mög- 
lichkeit aus der Welt ſchaffen, daß ein Glückspilz mit einer 
Patrone von fünf Franes die vierzig Millionen der Bank in 
die Luft ſprengt. Er braucht nur ſoviel Glück zu entwickeln 
wie ich Pech, dann ſtößt er ſich auch nicht mehr an der Grenze 
des Maximums; denn Zufall iſt alles. 

Bernoulli: Wir reden aneinander vorbei. Sie berühren 
da Dinge, die in das Gebiet der unwahrſcheinlichen Wahr— 
ſcheinlichkeiten fallen, während meine Theorie prinzipiell ganz 
anders gerichtet iſt und das Glück an der Wurzel erfaßt. 
Stellen Sie ſich einmal vor, das Zero wäre gar nicht vor= 
handen; dann würden Sie und die Bank nach Allerwelts— 
meinung unter gleichen Chancen ſpielen. Sie ſind ferner da— 
von überzeugt, daß Sie und jeder Mitſpieler im Anfangs— 
punkt, ehe noch eine Entſcheidung gefallen iſt, von den Wech— 
ſelfällen am grünen Tiſch in gleicher Weiſe begnadet oder 


72 


Sal Pe ae 


verurteilt werden können. Da eben liegt der Kardinalfehler, 
den ich ſchon vor 180 Jahren beſeitigt habe und der doch 
noch immer in allen Köpfen ſpukt. Nach meiner Theorie 
ſtellt der Vermögenszuwachs, obſchon er für den Einzelfall 
berechenbar iſt, niemals etwas Abſolutes vor. Er muß viel⸗ 
mehr jedesmal als ein Abhängigkeitswert des bereits vor⸗ 
handenen Stammvermögens betrachtet werden; und zwar 
als eine abnehmende Funktion, umgekehrt proportional 
dem vorher vorhandenen Vermögen. Was Sie und mit 
Ihnen alle aufgeklärten Haſardmenſchen herausrechnen, iſt 
nichts anderes als die „mathematiſche Hoffnung“, der ich 
einen anderen, weit fruchtbareren Begriff entgegenſtelle: 
„die moraliſche Hoffnung“. 

Ich: Endlich einmal etwas Moraliſches in Monte Carlo! 

Bernoulli: Über die Güte des Ausdrucks läßt ſich ſtrei⸗ 
ten. Aber er iſt ſo in die ſtrenge Literatur übergegangen, und 
deshalb wollen wir ihn beibehalten. Die moraliſche Hoff: 
nung alſo umſpannt nicht den ziffernmäßigen Ausdruck des 
möglichen Glücksfalls, ſondern den wirklichen Glückswert, den 
er juſt in dieſem Augenblick und juſt für dieſen Spieler dar⸗ 
ſtellt. Sie faßt einzig und allein den wirklichen Vorteil 
ins Auge. Was heißt das: 12000 Franes Gewinn? Ein 
Vermögen für Sie, eine ſehr fühlbare Gefühlsſteigerung, 
wenn Ihre Kaſſe vorher nur 100 Franes wert war; eine 
Gleichgültigkeit für Herrn Vanderbilt, der neben Ihnen ſteht 
und genau ſo pointiert wie Sie. Und nun kommt das Er⸗ 
ſtaunliche: dieſe umgekehrte Proportionalität, auf der die 
moraliſche Hoffnung ruht, iſt ebenſo der rechneriſchen Be— 
handlung zugänglich wie die niedrige mathematiſche Hoff— 
nung, von der die pöbelhaft elementare Wahrſcheinlichkeit 
einzig Notiz nimmt. Nur daß wir dabei, wie Sie ſchon ahnen 


73 


mögen, zu ganz anderen und ſehr überrafchenden Ergebniſſen 
gelangen werden. 

Ich: Einen Einwand, Herr Bernoulli! Ich kann mir 
Fälle denken, in denen der Vorteil, das Vergnügen am Zu: 
wachs, kurz das, was Sie das Moraliſche im Spielzufall 
nennen, von ganz anderen Faktoren abhängt als vom Grund⸗ 
vermögen. Erſtlich iſt das Stammkapital eines Spielers nur 
ſchwer zu definieren. Wenn ich mit 100 Franes im Porte⸗ 
monnaie den Spielſaal betrete und habe dabei 50 000 Franes 
als Guthaben im Kredit Lyonnais — mit welchem Kapital 
ſpiele ich da eigentlich? Auf welche Summe bin ich als Ge— 
fühlsmenſch abgeſtimmt? Oder zerfalle ich da in zwei Per— 
ſönlichkeiten, die eine umgekehrte Proportionalität an ſich 
ſelber erleben werden? Und ferner: könnte ich nicht, ſelbſt 
wenn ich die 100 Franes reſtlos verliere, aus der bloßen 
Senſation des Spiels mehr Glücksempfindung, alſo Vor⸗ 
teil ziehen als wenn ich zu Hauſe in Berlin ein Verleger— 
honorar empfange, das ich mir ohne Riſiko, aber vielleicht 
auch ohne prickelnde Aufregung erſchrieben habe? 

Bernoulli: Sie verwirren die Aufgabe, und Sie brau— 
chen Sie nur noch etwas weiter zu verwirren, um die Un— 
haltbarkeit Ihres Standpunktes zu begreifen. Nehmen wir 
einmal einen Unterſuchungsgefangenen, der, nach der Münze 
meiner Zeit gerechnet, 1990 Dukaten beſitzt. Mit 2000 Du— 
katen könnte er einen Beamten beſtechen, der ihm die Frei— 
heit verſchafft, vielleicht den Galgen erſpart. An dieſem Plus 
von 10 Dukaten hängt alſo ſeine ganze Exiſtenz, während die 
nämlichen 10 Dukaten für einen weit ärmeren Zeitgenoſſen, 
der etwa den vierten Teil beſitzt, nur eine ſchätzbare Annehm— 
lichkeit darſtellen, aber durchaus nicht die letzte Rettung. Oder 
ein Beiſpiel, das Ihnen näher liegt. Sie ſelbſt haben einmal, 


74 


wie ich erfuhr, ein Theaterſtück über folgendes Problem ver: 
faßt: Ein reicher Geizhals ſoll in den Genuß einer Millionen— 
erbſchaft unter der Bedingung treten, daß er vorher ſein 


- eigenes Vermögen im Laufe eines Jahres vergeudet. Hier 


ſind die Verhältniſſe, der Wert und damit alle Proportionali— 
tät geradezu auf den Kopf geſtellt; denn innerhalb des be— 
ſtimmten Zeitabſchnittes verwandelt ſich jeder Geldverluſt 
in einen Vorteil, während jeder Zuwachs eine fatale Ver— 
ſchlechterung der Lage bewirken müßte. Das ſind Ausnahme— 
fälle, die man erſinnen und konſtruieren kann, um ein an 
ſich klares Lebensprinzip künſtlich zu verſchleiern. Will man 
es wiſſenſchaftlich erfaſſen, ſo muß man es im Gegenteil 
von jeder willkürlichen Konſtruktionslaune reinigen, damit 
es in ungezwungener Natürlichkeit hervortritt. Schält man 
es aber ſo heraus, ſo kann kein Zweifel beſtehen, daß der 
wirkliche Wert eines Gewinnes, der perſönliche Vorteil, nur 
dann ſich erreichen läßt, wenn man deſſen ſtrenge Abhängig— 
keit vom Grundvermögen in Anſatz bringt. Und hier führt die 
Rechnung nicht auf die einfache Skala, wie man ſie vom 
Tableau einer Roulette ableſen kann, ſondern auf eine loga— 
rithmiſche Beziehung, welche die Wertverhältniſſe gründ— 
lich verſchiebt. Ich will Sie mit einem einfachen Reſultat 
bekannt machen, ohne Sie über die logarithmiſchen Unbe— 
quemlichkeiten zu führen, die als Barrikaden auf meinem 
Forſchungswege lagen. Es ſollen alſo zwei Spieler unter 
ganz gleichen Chancen gegeneinander operieren; denken Sie 
ſich einen Würfelbecher oder eine Roulette ohne Zero als Ent— 
ſcheidungsinſtrument. Jeder Spieler beſitzt 100 Dukaten, 
von denen er die Hälfte dem Glückszufall anvertraut. Dann 
beſteht ſein Beſitz vor der Entſcheidung aus zwei Werten: 
aus den ihm ſicher verbleibenden 50 Goldſtücken und aus der 


75 


4 


Hoffnung auf weitere 100. Dieſe „Hoffnung“ iſt aber, 
nach meiner etwas komplizierten und ſchwierigen Regel be— 
rechnet, gar nicht 100, ſondern nur 87 Dukaten wert. So 
daß alſo jeder der beiden Spieler von vornherein einen 
Verluſt von 13 Dukaten erleidet durch die bloße Tatſache, 
daß er den Zufall herausfordert und dabei wähnt, daß ſei⸗ 
nem Riſiko von 50 Dukaten das vollgültige Aquivalent ge⸗ 
genüber ſteht. Dieſes Aquivalent ſteht eben in moraliſcher Ab⸗ 
hängigkeit von der Tatſache, daß er im Verluſtfalle 
ſein halbes Vermögen eingebüßt haben wird. Geſetzt, 
jeder der beiden Spieler beſäße vor dem nämlichen 
Einſatz 200 Dukaten, fo erhöht ſich hier der Wert der Ge— 
winnhoffnung, weil ihm ein Fehlſchlag nur noch den vierten 
Teil ſeines Stammkapitals dahinraffen würde. Allein ein 
Nachteil von 6 Dukaten bliebe immer noch beſtehen, niemals 
würde der moraliſche Gewinnwert die ſcheinbar ſo unzwei— 
deutige ziffernmäßige Grenze erreichen, und hieraus ergibt 
ſich, daß zwei Perſonen, mögen ſie beide dürftig bemittelt 
oder Kröſuſſe ſein, in jedem Fall unklug handeln, wenn 
ſie ſich zu einem Spiel gegeneinander unter völlig gleichen 
Chancen verabreden. Aber die Partner haben einander nichts 
vorzuwerfen: Die Dummheit rechts, die Dummheit links, 
das Glücksſpiel in der Mitten! 

Ich: Da hätten wir alſo zu Ihrer moraliſchen noch eine 
Klugheits- und Torheitsmathematik, ſozuſagen eine prozen— 
tuale Einteilung der Spielervernunft. Aber ich muß Ihnen 
ſagen, Herr Bernoulli, das Moraliſche, das ſich bekanntlich 
immer von ſelbſt verſteht, liegt weitab von Ihrem Moral— 
begriff; und wenn es im Hirn zwei Zentren gibt, von denen 
das eine den elementaren Spieltrieb, das andere Ihre loga— 
rithmiſch gewogene Spielklugheit beherrſcht, ſo ſehe ich da 


76 


A 
75 1 


vorläufig keine Möglichkeit einer Verſtändigung zwiſchen dies 


ſen beiden Zentren. 

Bernoulli: Ich eigentlich auch nicht. Denn wenn es 
mir auch gelungen iſt, einen alten Denkfehler nachzuweiſen, 
ſo bleibt doch von der Aufzeigung bis zur Ausrottung ein 
weiter Weg. Im Grunde waltet hier eine pſychiſch-optiſche 
Täuſchung, derjenigen vergleichbar, die uns in der Jugend, 
bei vorwärts geſtellter Perſpektive, das Leben als ungeheuer 
lang, im Alter, bei rückwärts geſtellter, als ſehr kurz vor— 
ſpiegelt. So zeigt auch jedes perſönlich erlebte Spielereignis 
avant ein ganz anderes Geſicht als après. Nur wäre es 
ſehr unklug, das perſönliche Verhalten im Anfang nach der— 
jenigen Perſpektive abzumeſſen, einzurichten und zu beurtei— 
len, die ſich am Ende, alſo nach der Entſcheidung, darbietet. 
Wie auch ein Jüngling ſehr töricht handeln würde, wenn 
er ſeinen Exiſtenzplan auf die verkürzende Lebensoptik des 
Greiſes einſtellen wollte. Einem ähnlichen Fehler verfallen 
aber die Spieler ausnahmslos. Weil ſie ſchon ſo viele Ent— 
ſcheidungen erlebt, ſo oft die Perſpektive von der anderen 
Seite erprobt haben, trübt ſich ihnen der Blick für die Sach— 
lage, die noch unter dem Zeichen der Erwartung ſteht. Viel: 
leicht lebt im Unterbewußtſein manches Spielers eine Spur 
jener logarithmiſchen Einſicht, vielleicht ſtrebt gar einmal 
einer bis zur Erkenntnisquelle ſelbſt“). In meinem Text wird 

) Specimen Theoriae novae de Mensura Sortis auctore 
Daniele Bernoulli, 1731; herausgegeben von der Petersburger 
Akademie der Wiſſenſchaften. Eine erweiterte Ausgabe erſchien 1896 
bei Duncker & Humblot in Leipzig unter dem Titel „Verſuch 
einer neuen Theorie der Wertbeſtimmung von Glücksfällen“, aus 
dem Lateiniſchen überſetzt und mit Erläuterungen verſehen von 
Profeſſor Dr. Alfred Pringsheim; mit einer Einleitung von Dr. 
Ludwig Fick. Auf dieſe Abhandlung ſeien beſonders diejenigen 


77 


er dann die logarithmiſche Kurve finden, die auf Grund der 
ihm vorſchwebenden Gewinne die wirklichen Vorteile in Zeich— 
nung ſymboliſiert. Er wird beobachten, daß dieſe Kurve auf 
dem Gewinnaſt nur langſam anſteigt, während ſie auf der 
Verluſtſeite im ſteilen Gefälle niederſtürzt, daß alſo die mo— 
raliſchen Vorteile weit langſamer wachſen als die baren Ge— 
winne, wogegen die moraliſchen Verluſte ſich weit rapider 
verſchärfen als die entſprechenden Vorteile. Ja, dieſe Kurve 
wird ihm ſogar den Begriff einer unendlichen Dummheit 
nahebringen, die nämlich nach dem klaren Verlauf der Linie 
dann eintritt, wenn jemand ſein ganzes Vermögen auf eine 
Karte ſetzt, mag die Gewinnhoffnung auch noch ſo groß ſein. 
Ganz ſinnfällig zeigt ſich hier, daß der Klugheitskalkül über 
die landläufige Wahrſcheinlichkeitsrechnung weit hinaus— 
greift, daß ſie die Daten dieſer Rechnung erſt recht eigentlich 
in den Bereich der Intelligenz erhebt. Die Bank von Monte 
Carlo überhöht ihre Gewinnausſicht nach dem Grundſatz 
eines vorſichtigen Kaufmanns, der gute Geſchäfte machen 
will. Aber ſelbſt beim Gleichgewicht aller Chancen müßte 
man für ſämtliche Spieler — in der Vorausrechnung — 
einen Verluſt im Sinne der moraliſchen Hoffnung heraus— 
rechnen, denn meine Kurve lehrt: die Klugheitsgrenze wird 
erſt dann erreicht, wenn der erhoffte Gewinn in barem Wert 
ausgedrückt größer iſt, und zwar durchſchnittlich auffal— 
lend größer als der Einſatz. 


verwieſen, denen an einer exakten Beweisführung für die aben— 
teuerlich klingenden Behauptungen in der Dukatenrechnung ge— 
legen iſt. Durch die ebenſo tiefgründigen wie eleganten Erläu— 
terungen des berühmten Münchener Mathematikers Pringsheim 
iſt das Werk wiſſenſchaftlich noch weiter vertieft, künſtleriſch er— 
höht worden. 


78 


Damit erhob ſich Bernoulli, um ſeitwärts zu wandeln 
und in der Richtung der bergwärts anſteigenden Palmen⸗ 
allee zu verdämmern. 

Mir blieb aus dieſer Unterhaltung die Gewißheit, daß 
man die Bank von Monte Carlo, wenn auch nicht als eine 
moraliſche Anſtalt, ſo doch als eine eminent weiſe Anſtalt zu 
betrachten habe. Dann eilte ich zum Telegraphenbureau, 
um auf dem Wege des Funkſpruchs ein neues Betriebskapital 
in meine Börſe zu beſchleunigen. Denn ich verkehre ſehr gern 
mit klugen Leuten, ſelbſt auf die Gefahr hin, in der Loga— 
rithmenlinie Bernoullis eine ſchlechte Zenſur zu erhalten. 


79 


Der Projektilzug 


So weit wären wir nun. Das gelöſte Problem liegt in 
Form des „fliegenden Zuges“ nach dem Grundriß des In— 
genieurs Bachelet vor, und die Mitwelt hat mit gelindem 
Erſtaunen darüber quittiert; ſo wie man eben heutzutage von 
einem neuen Rekord anerkennend Notiz nimmt. Ein guter 
neuer Aktivpoſten im Konto des zwanzigſten Jahrhunderts. 
In der Rubrik „ſchnellſte Reiſeverbindungen von und nach 
Berlin“, Numero ſoundſo des Reichskursbuches in ſpäterer 
Friedensausgabe, wird es für eilige Gemüter etliche tröſt— 
liche Veränderungen geben: nach Frankfurt am Main eine 
Stunde, nach Paris zwei Stunden, und wenn der Keller: 
mannſche Tunnel erſt fertig iſt, nach New Vork vom Früh⸗ 
ſtück bis zum Mittagbrot. Wirklich höchſt erfreulich für 
heute, vorläufig. Der nächſte Erfinder wird's ſchon beſſer 
machen. 

Woran aber nicht jedermann im erſten Anlauf denkt, iſt 
folgendes: es handelt ſich hier nicht mehr um eine bloß 
graduelle Steigerung der Reiſegeſchwindigkeit; wir nähern 
uns vielmehr einem kritiſchen Punkte, der eine prinzipielle 
Neuordnung der Dinge anzeigt. Denn mit den 550 Kilo— 
metern pro Stunde erreichen wir nahezu die Geſchwindigkeit 
der Projektile. Der fliegende Zug gewinnt ſeine Parallele 
nicht mehr aus dem Vergleich mit dem Federzeug der Adler, 


80 


4 
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| 23 Rauchſchwalben und Brieftauben, ſondern er wird ein Mit⸗ 
bewerber der Geſchoſſe. Auf die Sekunde berechnet leiſtet 


er 152 Meter, wogegen die ſchnellſten Vögel mit ihren 60 
Metern geradezu als Flugſtümper erſcheinen. Auch der Kol— 
lege Pfeil, der ſich von der Armbruſt losringt und ehedem 
den Reſpekt der Dichter herausforderte, iſt längſt überholt. 

Die nächſten Vordermänner des fliegenden Zuges ſind 
nunmehr der Schall in freier Luft mit 330 Metern und das 
Haubitzengeſchoß mit 220 Metern. Kein Zweifel, daß ſchon 
die nächſte techniſche Vervollkommnung dieſen geringen Vor: 
ſprung überwinden wird. Damit aber treten neue Möglich— 
keiten auf den Plan, eröffnen ſich neue Ausblicke, denen 
gegenüber der Maßſtab des Kursbuches völlig verſagt. Da 
dürfte eine kosmiſche Betrachtungsweiſe angebrachter er— 
ſcheinen. 

* 


Nehmen wir alſo den Begriff: Menſch — Projektil als 
verwirklicht. Die Phantaſie braucht ſich hierzu nicht mehr 
anzuſtrengen, denn wir befinden uns ſchon heute hart an 
dieſer Weſensgleichheit, und wenn Bachelet ſenior 550 Kir 
lometer herausbrachte, ſo wird ein Bachelet junior den feh— 
lenden Reſt beſtimmt hinzuerfinden. Da ergeben ſich zu— 


nächſt einige Phänomene, die aus dem Rahmen der üblichen 


Reiſeerlebniſſe merklich herausfallen. 

Alſo erſtens: als Fahrgäſte der Zukunft überholen wir 
den Ton. Stellen wir uns vor, ein kapriziöſer Fahrgaſt 
habe auf die Plattform des Wagens ein Klavier geſchafft 
und ſpielte die Reihenfolge der Töne vom Baß zum Diskant, 
jo würde er damit für fein eigenes Ohr eine ſtumme Mus 
ſik hervorbringen. Denn die Schallgeſchwindigkeit bleibt hin⸗ 

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 6 


81 


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ter ihm zurück, und er felbft fliegt ſeinem Konzert davon. 
Erſt wenn ſich das Zugtempo verlangſamt, dringen die aku— 
ſtiſchen Sendboten zu ihm, allein — o Wunder! — er hört 
nunmehr etwas ganz anderes; ja das genaue Gegenteil deſ— 
ſen, was er zu hören vermuten durfte. Denn die zuletzt 
ausgeſandten Schallwellen erreichen natürlich ſein Hörorgan 
zuerſt; die erſten, räumlich weit zurückliegenden Töne mel- 
den ſich als die letzten; ſtatt der aufſteigenden Tonleiter, 
die er wirklich geſpielt hat, hört er ſomit zu ſeiner Über— 
raſchung die abſteigende Skala vom Diskant zum Baß. 
Dieſer Schnellzug wirkt alſo wie ein Phonograph mit ver— 
kehrt abgedrehter Schallplatte. Und wenn er, als Luxus- 
zug gedacht, zur Unterhaltung der Fahrgäſte wirkliche Mu— 
ſik mitnimmt, ſo genießen dieſe von einem gewiſſen Zeit— 
punkt an die Vortragsſtücke von rückwärts, was bei man⸗ 
chen modernen Kompoſitionen eine weſentliche Verſchöne— 
rung des Klangcharakters bewirken wird. 

Allein es bedarf gar keiner mitgenommenen Inſtrumente, 
um den Inſaſſen höchſt auffällige akuſtiſche Wirkungen zu 
vermitteln. Es genügt, wenn ſie an einem tönenden Bahn— 
hofsſignal oder an einer läutenden Turmglocke vorbeifahren. 
Schon unfere heutigen Erfahrungen im gewöhnlichen P-Zug 
ſagen uns, daß der Ton bei Annäherung höher wird, bei 
Entfernung ſich vertieft, je nachdem wir pro Sekunde eine 
vermehrte oder verminderte Schwingungszahl empfangen. 
Dieſer Vorgang (den wir den Doppler-Effekt, die Franzoſen 
auch das Fizeau-Prinzip nennen) wird für die Gäſte des Zu— 
kunftszuges ein vollſtändiges Überſchnappen der Töne da 
draußen zur Folge haben. Denn während man heute im 
Höchſtfalle eine plötzliche Anderung um eine Terz beobachtet, 
wird nunmehr über die Oktaven hinweg eine ſprunghafte 


82 


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Steigerung der Tonhöhe bis über die Grenze der Wahr— 
nehmbarkeit eintreten. Der Signalklang erliſcht mit Über⸗ 
ſchreitung der zehnten Oktave, alſo gerade dann, wenn ſeine 
Nähe den Höhepunkt der Tonſtärke verſpricht. Denn der 
gehäuften Wellenzahl gegenüber verlegt ſich das Ohr aufs 
Streiken. 

Der Doppler⸗Effekt wird auch das vom Wagenfenſter aus 
betrachtete Landſchaftsbild beeinfluſſen. Denn was die Ton— 
höhe für den Klang bedeutet, das wird für das Geſicht durch 
die Farbe beſtimmt. Nach der phyſikaliſchen Schulauffaſſung 
werden zu ſolchen Farbveränderungen Stern-Geſchwindig⸗ 
keiten vorausgeſetzt. Neuere Forſchungen auf dem Gebiet der 
Atomiſtik machen es indes wahrſcheinlich, daß ſchon Zeit— 
maße, die zur Gattung des „fliegenden Zuges“ gehören, 
ſpektrale Verſchiebungen erzeugen können. Das gelbe Ahren— 
feld bleibt nicht mehr unbedingt gelb, ſondern gewinnt eine 
Tönung nach grün bei der Annäherung, nach Orange bei 
der Entfernung; der am Horizont auftauchende grüne Baum 
ſtrebt eine Sekunde ſpäter nach Blau. Freilich werden zur 
Wahrnehmung ſolchen Regenbogenſpiels in der Landſchaft 
höchſt empfindliche Augen vorausgeſetzt und dazu wohl auch 
Reiſegeſchwindigkeiten, die denn doch noch über die von Herrn 
Bachelet erzeugten ganz merklich hinausgehen. 

Aber was heute als Wahnvorſtellung erſcheint, kann über— 
morgen Wirklichkeit werden, und vom 550-Kilometer-Zug 
bis zum Projektilzug iſt tatſächlich nur ein Schritt. Die ein— 
fache Verdoppelung des jetzt als zuläſſig erkannten Gang⸗ 
maßes führt bereits dahin, daß wir mit der Sonne, mit 
feſtſtehender Zeit reiſen. Nicht mehr die gehende, ſon— 
dern die ſtehende Taſchenuhr gibt dann dem Fahrgaſt die 
richtige Ortszeit an. Sofern es die Entwicklung von Land 

83 


zu Land erlaubt, fährt man mittags um 12 Uhr von Berlin 
ab und kommt mittags um 12 Uhr in Paris an, nämlich 
zum zwölften Glockenſchlage von Notre-Dame, mit einer 
abſoluten Fahrzeit von einer Stunde, mit einer relativen 
von 0,0. Und wer ſich über geographiſche Ortszeitdifferenzen 
hinwegſetzt, wird dann ruhig behaupten können, daß er 
gleichzeitig in Berlin und in Paris geweſen ſei. 

In techniſchen Dingen gerät die Prognoſe immer zu kurz. 
Alle utopiſchen Schriften von ehedem zeigen uns an, daß 
die Phantaſie ihrer Verfaſſer auf Krücken ſchlich, während 
die Technik ihnen auf Siebenmeilenſtiefeln davonlief. Wir 
verlieren uns ſomit ganz gewiß nicht ins Extravagante, wenn 
wir für den Blitzzug der Zukunft eine Progreſſion anſetzen, 
die ſich aus den bekannten Anfangsgliedern der von uns er— 
lebten Zeiten aufbaut. 

Seit zwei Menſchenaltern hat ſich das Fahrtempo ver⸗ 
zehnfacht. Nehmen wir an, daß die Technik dieſes Verhält- 
nis nur noch wenige Jahrzehnte durchhält, ſo errechnen wir 
für das einundzwanzigſte Jahrhundert einen Projektilzug, 
der überhaupt nichts mehr braucht als ſeine eigene Geſchwin— 
digkeit, um ſich von allen Beſchleunigungen durch magneti- 
ſche, elektromotoriſche Kräfte unabhängig zu machen. Die— 
ſer Zug wird ein Planet; er kreiſt als Trabant um die 
Erde, bindet ſich an keine Stationen, kennt nur einen Fahr— 
plan: „Reiſe um die Welt in infinitum“ und bietet aller⸗ 
dings für die Teilnehmer den Übelſtand, daß ſie zeitlebens 
nicht ausſteigen können; ſelbſt dann nicht, wenn ein Ge— 
birge die Fahrtrichtung kreuzt und einen kataſtrophalen Still 
ſtand heraufbeſchwört. 

Die ganze Rechnung ſcheint freilich ein Loch zu haben, da 
fie den Luftwiderſtand nicht berückſichtigte, der als geſchwo— 


84 


ener Feind jeder rapiden Bewegung gegen ſolche planetariſche 
Reiſe ein entſchiedenes Veto einlegen wird. Und zwar nicht 
nur dadurch, daß er allmählich die Geſchwindigkeit aufzehrt, 
ſondern ſchon im erſten Anlauf. Da beſinnt ſich die Luft auf 
die Elemente der Phyſik, auf Reibung und Kalorik, ſie fährt 
mit ihren mechaniſchen Wärmeäquivalenten in den Zug und 
verwandelt ihn, ehe er noch das Höchſttempo erreichen kann, 
in Aſche und Dampf. 

Gelänge es aber, dieſen Pl⸗Zug (Planet⸗Zug) nur für wer 
nige Sekunden dem Einfluß der Lufthülle zu entziehen und 
ihn tangential zur Erde oder vertikal zu beſchleunigen — 
Aufgabe der Technik, mithin lösbar! —, jo würde er über⸗ 
haupt nicht mehr zur Erde zurückkehren, ſondern endlos in 
dem Weltenraum fliegen, um eventuell auf einem anderen 
Geſtirn zu landen. Dieſe Jules-Verne⸗Leiſtung mit der Reife 
nach dem Monde oder dem Mars iſt nunmehr in theore— 
tiſch faßbare Nähe gerückt. Der Pl-Zug, dem wir fie zu: 
trauen dürfen, ſteht in einem ganz beſtimmten, durchaus 
nicht phantaſtiſchen Verhältnis zu einer ſchon heute vorhan— 
denen Gegenſtändlichkeit: er verhält ſich zum Bachelet-Zug, 
wie dieſer zu einem Poſtwagen etwa, kann alſo der dritten 
Generation als eine Möglichkeit, der vierten als eine Wahr: 
ſcheinlichkeit verſprochen werden. 

Der Ruf: „weh dir, daß du ein Enkel biſt“, verliert dann 
ſeine Geltung endgültig. Der Urahne dieſes Enkels wünſchte 
ſich einen Zaubermantel mit etwas Feuerluft darunter und 
mußte die Hilfe eines Teufels in Anſpruch nehmen, um 
dieſen Ausbund aller Fernwünſche zu befriedigen. Und was 
leiſtete dieſer mephiſtopheliſche Zaubermantel? Eroberte er 
das ungemeſſene Reich des Athers, erhob er den Mann mit 
ſeinem fauſtiſchen Drang in jene Zonen, in denen es kein 


85 


Oben und kein Unten gibt? Ach nein, er beförderte ihn von 
Wittenberg bis Leipzig, und feine Feuerluft war eine At— 
trappe; zwei Gäule vor einem Landomnibus hätten das— 
ſelbe geleiſtet. Der Enkel iſt anſpruchsvoller. Er hat die 
irdiſchen Probleme gezählt und gefunden, daß ſie bis auf 
winzige Reſte aufgebraucht ſind. Wohl weiß er, daß alles 
techniſches Wirken auf Raumerfaſſung hinausläuft, aber ge— 
rade deswegen empfindet er es als geozentriſch und rück— 
ſtändig. 

Ein noch ſchnelleres Schiff, ein noch wirkſamerer Luft— 
propeller, eine alles übertreffende Magnetbahn — was ſtel— 
len ſie ihm anderes dar als immer wieder augenblickliche 
Höchſtleiſtungen im längſt vertrauten, ach ſo engen Erdkreis? 
Darüber will er nun endlich hinaus; ſein Zaubermantel ſoll 
ſich nicht mehr mit jenen Jämmerlichkeiten abgeben, gegen 
die unſere Luftflüge ſchon meteoriſch erſcheinen. Das Uni— 
verſum ſoll er feiner Körperlichkeit erſchließen! Und auf ſei— 
nem Papier ſteht es, daß dieſe Aufgabe mit einer Sekunden— 
geſchwindigkeit von 11 Kilometern zu löſen iſt, notabene nur 
für den einmaligen erſten Antrieb; das weitere beſorgen ihm 
die Weltmechanik, die Verminderung der Gravitation im 
Quadrat der Entfernung und die auf den Projektilzug an— 
wendbaren Keplerſchen Geſetze; wohl ihm, daß er ein Enkel 
iſt! 

Der Weg geht von den Balliſten und Katapulten zu Krupp 
und Armſtrong, vom Teekeſſel des Knaben Watt zur Schnell— 
zugslokomotive, vom elektriſchen Verſuchsſpielzeug zur Sie— 
mens⸗Bahn. Die Anfänge garantieren für die Folgeglieder, 
jedes Unmöglich des Philiſters von heute wird durch das 
Wirklich vom Folgejahr überrumpelt. Kenntnisreiche und 
jeder Illuſion abgewandte Ingenieure verſichern, daß der 


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„fliegende Zug“, aus dem Modell in die Praxis überſetzt, 
tatſächlich die angeſagten 550 Kilometer entwickeln wird. 
Der winzige Multiplikator 2 erhöht ihn alsdann zum erſten 
Projektilzug, der mit dem Schall, mit der Achſendrehung 
der Erde in Wettbewerb tritt und bei weiterer Steigerung in— 
nerhalb vorausſehbarer Grenzen der Planetenklaſſe zuſtrebt. 

Gewiß werden gar bald wieder die ängſtlichen Zweifler 
auftreten mit der Frage, ob denn der Menſch das „aushal⸗ 
ten“ werde; genau wie anno olim, als die erſten Bahnen 
Nürnberg —Fürth und Zehlendorf — Potsdam ein neues 
Schnelligkeitsmaß aufſtellten und allerhand ärztliche Autori— 
täten mit ihren Sorgenköpfen wackelten. Aber der Menſch 
hält in dieſem Betracht gar viel aus: er wird mit der Erde 
um die Sonne, mit der Sonne nach dem Sternbild des Her— 
kules geſchoſſen, und ſeine Nerven ſpüren es nicht. Er wird 
ſogar eine Eiſenbahnkataſtrophe im Projektilzug leichter über- 
winden als im Bummelzug; denn die letzten Molekularfor— 
ſchungen machen es wahrſcheinlich, daß zwei Körper bei hin— 
reichend großer Geſchwindigkeit einander durchdringen kön— 
nen, ohne ihre Struktur zu zerſtören. Freilich wird hierzu 
ein Preſtiſſimo vorausgeſetzt, das zunächſt noch jenſeits des 
Vorſtellbaren liegt. 

Es kommt aber nicht darauf an, daß der Zug durch eine 
Mauer hindurchfährt, wie der Lichtſtrahl durch hartes Glas, 
ja nicht einmal darauf, daß wir ſchneller fahren als vor— 
dem, ſondern der Kernpunkt der Sache bleibt das veränderte 
Ziel. An die Stelle der Stationshäuſer treten Probleme, 
tranſzendente Ausblicke in eine erreichbare Welt, die den Enkel 
von dem peinlich zu tragenden Erdenreſt, vom Zwang der 
irdiſchen Schwere, befreien ſoll. 


87 


a 


Zwiſchen Bergſon und Laplace 


Man iſt ſich klar darüber, daß das neunzehnte Jahrhundert 
in dem, was man gemeiniglich Fortſchritt nennt, mehr auf— 
zuweiſen hat als irgendein Jahrhundert zuvor; ja, es läßt 
ſich darüber reden, ob dieſes neunzehnte nicht mit einem 
ſtärkeren Saldo abſchneide als die geſamte Entwicklungs— 
zeit des Menſchen von der Steinzeit an bis etwa zu den En— 
zyklopädiſten. Grund genug für die Spekulation, um ſchon 
heute dem zwanzigſten Jahrhundert ein Aquivalenzzeugnis 
abzuverlangen und aus dieſen Anfangsgliedern berechnen zu 
wollen, ob das zuletzt eingeſchlagene Schrittmaß ſich über: 
haupt noch fortſetzen laſſe. Es ſcheint, daß die Prognofen- 
ſteller überwiegend zu einem verneinenden Ergebnis gelan— 
gen. Sie erblicken eine gewiſſe Enge in den noch übrig gelaſ— 
ſenen Problemen und Möglichkeiten und neigen der Anſicht 
zu, daß das zwanzigſte Jahrhundert im Grunde nur noch 
Reſte aufzuarbeiten haben wird, nachdem das neunzehnte 
ſo viele Utopien aus früheren Zeiten nahezu verwirklicht hat. 
Es ſoll hier nicht unterſucht werden, ob dieſes Mißtrauen 
im rein Techniſchen, Praktiſchen, ja, in allen Strebungen, 
die ſich durch Überwindung der Schwierigkeit kennzeichnen, 
irgendwelche Begründung findet; obſchon die Verſuchung 
naheliegt, hier als gute Trümpfe das Flugweſen, den Funk 
ſpruch, die Entdeckung der Erdpole, das Erwachen Oſtaſiens 


88 


und ähnliche Kulturzeichen auszuſpielen, die weſentlich in 
das erſte Zehntel des jungen Jahrhunderts fallen und für 
die reſtlichen zweiundachtzig Prozent ſeiner Spanne immer⸗ 
hin etliches erhoffen laſſen. Hier ſei vielmehr nur auf drei 
Elemente verwieſen, die meines Erachtens unſerem Jahr— 
hundert ſchon heute zum mindeſten die Gleichwertigkeit, viel— 
leicht ein Übergewicht verleihen, obſchon fie ausſchließlich theo— 
retiſcher Natur find, ganz und gar keinen Nutzeffekt aufwei— 
fen und im Zuge der Dampf- und Elektrizitätskultur vorläu⸗ 
fig keine Bedeutung beſitzen. Dafür bezeichnen ſie neue Denk— 
etappen, die im Lichte der Zukunft als wirkliche große Sta— 
tionen der Menſchheit erſcheinen werden, nur vergleichbar 
den Einſichten, die wir dem Kopernikus, dem Descartes und 
den Klaſſikern der theoretiſchen Mechanik verdanken. Es 
ſind: das Relativitätsprinzip, das Quantentheorem und die 
Bergſonſche Philoſophie. Die nachfolgenden Erörterungen 
ſollen weſentlich von den neuen erkenntnistheoretiſchen Un— 
terſuchungen Bergſons ausgehen, weiterhin nachzuweiſen ſu— 
chen, daß zwiſchen jenen drei Elementen ein innerer Zu— 
ſammenhang beſteht, und ſchließlich hieraus einen Durch— 
blick gewinnen, der uns ein unabſehbar großes Neuland der 
Denkmöglichkeiten erſchließen wird. 

Zum Studium oder gar zur Kritik der Bergſonſchen Phi— 
loſophie, wie ich ſie verſtehe, gibt es keine Methode, keinen 
ebenen Weg, auf dem Anfang, Mitte und Ende zu unter— 
ſcheiden wären. Und da ich von vornherein von der Aus— 
ſichtsloſigkeit überzeugt bin, in dieſe Unterſuchungen fo et 
was wie eine Architektonik hineinzubringen, ſo will ich ſo 
unſyſtematiſch wie nur möglich verfahren; unſyſtematiſch dem 
Werk gegenüber, aber mit der ganz beſtimmten Abſicht, 
den Leſer in eine beſtimmte Denkgeſtaltung hineinzugewöh— 


89 


nen, ihn teilnehmen zu laſſen an den Denkerlebniſſen und 
⸗zerwürfniſſen, die ich ſelbſt an Bergſon erfuhr, und fie 
ſchließlich auf einen Punkt zu führen, von dem ſich ein Hori— 
zont von ungeahnter Tiefe eröffnet; nicht auf einem „kö— 
niglichen Wege“, ſondern vielfach durch Geſtrüpp, durch 
Irrungen und Wirrungen, durch Dunkelheiten, in denen 
uns einzig das Prinzip des „Als ob“, das heißt die Mög⸗ 
lichkeit, durch Falſches ans Richtige zu gelangen, zu wei— 
terem Vorſchreiten ermutigen kann. Sehr bequem wird ſich 
alſo die Wanderung nicht geſtalten, weder für den Leſer 
noch für mich, da ich, weit entfernt davon, einfach „über“ 
Bergſon zu ſchreiben, über ihn direkt vorzutragen, vielmehr 
ſehr indirekt entwickeln will. Mit dem Philoſophen, der 
hereintritt, um zu beweiſen, es müßte ſo ſein, und wenn das 
Erſt' und das Zweit' nicht wär', das Dritt' und Viert' wär' 
nimmermehr, iſt hier nichts anzufangen; wie überhaupt nicht 
mit irgendwelchen nach klaſſiſchem Muſter angelegten Li— 
nien, die von Vorausſetzung über Behauptung hinweg einen 
Beweis erreichen wollen. 

Schon in der Bergſonſchen Lehre an ſich liegen die Dinge 
ſo, daß man den Anfang nicht verſtehen kann, ohne die 
Mittelglieder zu kennen, und daß man dieſe nicht begreift, 
ohne das Ende erfaßt zu haben. Ein ſcheinbarer oder wirk— 
licher Circulus vitiosus, aus dem es vorerſt kein Entrinnen 
gibt. Hier vollends, wo mit teilweis Nichtbergſonſchen Mit— 
teln Bergſonſche Reſultate angeſtrebt werden und umgekehrt 
auf Bergſonſchen Wegen Nichtbergſonſche Ergebniſſe, ſcheint 
ſich die Wirrnis ins Unabſehbare zu ſteigern. Aber vielleicht 
liegt gerade hierin der Anſatz zu einer Vereinfachung. 

Ich möchte dies an einem Gleichnis erläutern: Es gibt in 
unſeren Alpen Genies der Bergführung, Männer mit ein— 


90 


geborenem Felſen⸗ und Gletſchergeiſt. Solch ein Genie in 
übertragenem Sinne, alſo ein Pfadfinder auf ſchwierigem 
Terrain, iſt Bergſon. Geſetzt nun, ich vertraue mich ſeiner 
Führung an zur Erforſchung eines von uns beiden noch un— 
betretenen Gebietes, ſo wird ſein intuitives Begreifen der 
Konfiguration von Schritt zu Schritt die wertvollſten Dienſte 
leiſten; er wird Wege ahnen, wo ich keine bemerke, und 
Wege vermeiden, die mir gangbar erſcheinen. Und dennoch 
werde ich in die Lage kommen, ihn zu korrigieren: wenn 
ich nämlich zufällig etwas beſitze, was jenem fehlt, nämlich 
eine nach trigonometriſchen Aufnahmen hergeſtellte Karte 
des ganzen Geländes. Und wenn wir gemeinſam einen Gipfel 
erklommen haben, ſo werde ich viele Details der Ausſicht 
genauer beurteilen als er, wenn ich ein Fernrohr benütze, 
während ihm der Augenſchein genügt. Womit ich von vorn— 
herein alles Genialiſche ihm, dem Führer, alſo dem Bergſon, 
zuweiſe, und mir nur einen gewiſſen inſtrumentalen Vor— 
teil reſerviere. Es wird zu erweiſen ſein, ob dieſe Inſtru— 
mente wirklich exiſtieren und ob ſie im Zuſammenhang mit 
der Bergſonſchen Intuition zu wirken vermögen. Einſt— 
weilen will ich nur die Andeutung wiederholen, daß hier 
vornehmlich Elemente, nicht eigentlich aus der Philoſophie, 
ſondern aus der neuen Mechanik einzuſetzen haben, die in 
Bergſons Lehre fehlen, einfach deshalb, weil dieſe Lehre für 
ihn ſelbſt abgeſchloſſen vorlag, ehe dieſe Elemente exiſtierten. 
Daß aber gerade dieſe anſcheinend ſo verſchiedenartigen Pole 
genähert werden müſſen, um den erkenntnistheoretiſchen Fun⸗ 
ken überſpringen zu laſſen, gilt mir als zweifellos. Und um 
es rund herauszuſagen: Es iſt eigentlich dieſe Überzeugung al- 
lein, die mir hier die Feder führt“). 
*) Man vergleiche hierzu Seite 15 des Geleitwortes. 


* 


eee 
* NW . 


Wollte ein Dichter die Schrecken eines philoſophiſchen In⸗ 
ferno entwerfen, ſo müßte er ſeine Arbeit in der Ausmalung 
eines Dämons gipfeln laſſen, der in allen Schlünden und 
Gründen dieſer Hölle heimiſch iſt. Wo ſich eine philoſophiſche 
Not erhöht oder vertieft, wo ſie Kunde gibt von den Ver— 
zweiflungen der Denker, ſtets gehorcht ſie den unheimlichen 
Befehlen eines Dämons, des eigentlichen Herrn aller Antino— 
mien, ſtets iſt es der Zeitbegriff, der die Geiſter verwirrt, 
ihnen den Weg zur Wahrheit verſperrt, fie mit Tantalus- und 
mit Siſyphusqualen heimſucht. Alle Schwierigkeiten, die 
ſich in den Exponenten: Bewegung, Geſchehen, Notwendig⸗ 
keit äußern, münden in der „Zeit“. Nie wird es gelingen, 
ihrer Herr zu werden, das Außerſte, wozu wir gelangen kön⸗ 
nen, wird ſein, die Stellung des Feindes genau zu erkunden, 
ſeine Befeſtigungen nicht einzunehmen, ſondern zu beſchrei— 
ben. Es iſt Bergſons unbeſtreitbares Verdienſt, dieſe Beſchrei— 
bung in einem bedeutſamen Entwurf geliefert zu haben. Und 
wenn wir auch, trotz Bergſon, nicht wiſſen, was ſie iſt, die 
Zeit, ſo erfahren wir doch durch Bergſon etwas über die Natur 
der Verſchanzungen, hinter denen ſie ihre Ränke gegen das 
Erkennen ſpinnt. Und eine neue Antinomie, univerſaler als 
alle bisherigen, tut ſich vor uns auf: in der Zeit, die alle Er⸗ 
kenntniſſe vereitelt, ſich jeder möglichen Richtung des Intel— 
lekts entgegenwirft, ſollen wir zugleich den Urheber jedes 
Denkprozeſſes, den eigentlichen Schöpfer alles organiſchen 
Geſchehens entdecken. 

Die Zeitdauer, Ia durée, la duree interieure — äußer⸗ 
lich identiſch mit unſerem Zeitbegriff, innerlich ſehr verſchie— 
den von dem, was uns als eine ſpezifiſche Wahrnehmungs— 
qualität des Nacheinander gilt — dieſe Dauer bildet die ei— 
gentliche erkenntnistheoretiſche Subſtanz in allen Unterſu— 


92 


4 


N 
1 
Hy 


chungen Bergſons, vornehmlich in feinen Hauptwerken „Les 


données immediates de la conscience“, und „Evolution 
eréatrice“. Alle Strahlen feiner Betrachtung konvergieren 


nach der Dauer. In dieſem Konvergenzpunkt entzündet 


ſich tatſächlich eine Flamme von überraſchender Helligkeit. 
Man wird in ihr zwiſchen Erleuchtungsſtärke und Blen- 
dungseffekt zu unterſcheiden haben, aber man kann nicht an 


ihr vorbeiſehen. 


Was von der Lehre Bergſons in den Rahmen dieſer Un- 
terſuchung zu ſtellen iſt, kann naturgemäß nichts anderes 
ſein als ein Torſo, durch ein Verkleinerungsglas geſehen, 
eine äußerſt verkürzte Projektion auf die Ebene meiner 
Zwecke. Und es muß ſpäteren Ausführungen vorbehalten 
bleiben, einzelne Glieder beſonders vorzunehmen. Hier ſoll 
uns zunächſt an dieſem merkwürdigen Lehrkörper die Rück— 
gratlinie beſchäftigen und die Frage, ob ihre anatomiſche Ge— 
ſtaltung auf einen erhöhten Typus der ganzen Figur hin— 
weiſt. Denn es handelt ſich in erſter wie in letzter Inſtanz 
um den Menſchen als Objekt für den Menſchen als erkennen— 
des Subjekt; um den ſcheinbar ganz ausſichtsloſen, hier 
aber zum mindeſten mit ganz neuen Mitteln gewagten Ver— 
ſuch, die Seele unter die Lupe zu nehmen, und wiederum die— 
ſelbe Seele von oben her durch die nämliche Lupe blicken zu 
laſſen. Ein optiſcher Vergleich, der auf eine Unmöglichkeit 
hinauslaufen würde, wenn uns nicht die Natur ſelbſt zeigte, 
daß mit ſolchen Unmöglichkeiten fertig zu werden iſt. 

Denn was die Seele hier leiſten ſoll, liegt im Auge bereits 
vorgebildet. Das Auge war in ſeiner erſten primitiven An— 
lage nichts als ein Pigmentfleck, hervorgerufen durch einen 
Lichtſtrahl, alſo ein Eindruck, eine Photographie. Im Laufe 
der Evolution hat ſich dieſer Eindruck nicht etwa zu einer 


93 


größeren, zu einer beſſeren Photographie ausgeſtaltet, ſon— 
dern zu einem photographiſchen Apparat mit Linſe und auf— 
nahmefähiger Platte. Hier liegt an irgendeiner Stelle ein un— 
begreiflicher Sprung vor, vom Objektiven zum Subjektiven, 
von dem, was leidet, zu dem, was ſchafft, vom Werdenden 
zum Geſtaltenden. Und wenn dies in der Natur möglich 
war, wenn ihr das ſich ſelbſt aufnehmende Auge gelingen 
konnte, ſo muß auch im Pſychologiſchen die Unbegreiflichkeit 
des Sichſelbſterkennens erfüllbar ſein. 

Sie iſt nach Bergſon nicht erfüllbar, das heißt, das Un— 
begreifliche bleibt für den Intellekt unlöslich, wenn wir die 
unzerbrechbare Notwendigkeit, die Kauſalität, die eiſerne Bin— 
dung von Urſache und Wirkung, kurz den Schulbegriff des 
Determinismus als den einzigen Ordner unſeres Denkens 
gelten laſſen. Hier liegt ein Denkzwang vor, den wir viel— 
leicht in demſelben Moment überwinden, wo wir einſehen, 
daß er an einem entſcheidenden Punkte zu einem offenbaren 
Fehlſchuß führt; wo wir erkennen, daß das Grundſtatut des 
Determinismus: „Gleiche Urſache — gleiche Wirkung“ un⸗ 
ter einer beſonderen Belaſtung anfängt brüchig zu werden. 
Zu dieſem entſcheidenden Punkte gelangen wir, wenn wir uns 
entſchließen, zwiſchen Organiſchem und Anorganiſchem den 
Weſensunterſchied nicht nur in phyſikaliſcher, chemiſcher, ſon— 
dern auch in mathematiſch-mechaniſcher Hinſicht anzuerken— 
nen. Bergſon ſcheidet hier unerbittlich. Weit entfernt davon, 
ſich auf die Pſychologie ohne Seele einzulaſſen, wie fie das 
Weber-Fechnerſche Prinzip und die über dieſem Prinzip errich— 
tete pſychophyſiſche Schule fordert, trennt er alles Erſchaf— 
fene in zwei Welten überhaupt: in die anorganiſche, die der 
Mechanik zugänglich bleibt, ſich durch Koordinatenſyſteme 
abteilen läßt und in ihrer molekularen Struktur auf eine 


94 


FW 


2 


Löſung letzter Fragen durch Differentialgleichungen hinweiſt; 
und in die Welt der Organismen, von denen jeder einzelne 
ein geſchloſſenes Syſtem darſtellt und die Erſcheinungen des 
einzig mechaniſch geſchloſſenen Syſtems, nämlich des reſt— 
los als Einheit begriffenen Weltalls wiederholt. Es ergibt 
ſich ſomit im erſten Anlauf eine petitio prineipii: der Or⸗ 
ganismus könnte als ein Ablauf berechenbarer Erſcheinun— 
gen nur dann aufgefaßt werden, wenn zuvor die Wahrheit 
über den Kosmos erforſcht wäre; und dieſe Wahrheit ließe 
ſich nur dann erforſchen, wenn ſich zuvor alle Teilanſichten, 
die wir aus der Betrachtung willkürlich herausgeſchnürter 
Syſteme gewinnen können, zu einem kosmiſchen Geſamtbilde 
zuſammenſchlöſſen, was ebenſo ſinnwidrig iſt, wie zu verlan— 
gen, daß ſich aus einer Häufung vieler Photographien eine 
Körperlichkeit aufbaute. In letzter Inſtanz bleibt alſo ein une 
gelöſter Reſt, der genau ſo groß wie das Ganze iſt und nichts 
Minderes bedeutet, als die ewige Unlösbarkeit des ganzen 
Problems. 

Bei dem Verſuch, dieſem Reſt irgendwie beizukommen, 
ſpringt in Deutlichkeit nur eine negative Wahrheit heraus, 
nämlich nicht eine ſolche, die den Schlüſſel zum Problem lie— 
fert, ſondern eine andere, die uns zeigt, daß alle Metaphyſik 
dieſen Schlüſſel bisher auf falſchem Wege geſucht hat; inſo— 
fern er weder dort liegen kann, wohin uns die Kauſalität, 
noch dort, wohin uns die Finalität, die teleologiſche Be— 
trachtung etwaiger Zweckurſachen, leitet. Gewiß, das Si⸗ 
gnalement iſt unvollſtändig, aber es iſt doch ein Signalement, 
und eine negative Erkenntnis bleibt wertvoller als eine poſitiv 
auftretende, die poſitiv falſch iſt. Wir werden nämlich von 
unſerem Meiſter durch eine Fülle bilderreicher Argumente 
dahin gedrängt, ein Prinzip anzunehmen, von dem ſich mit 


95 


Sicherheit nur das eine ausſagen läßt, daß es ſich mit keinem 
anderen Prinzip berührt. Zwiſchen Kauſalität und Finali⸗ 
tät liegend, vielleicht außerhalb beider, entzieht es ſich 
der Berechnung, der Vorherſehbarkeit, ja direkt jedem an den 
Polen Determinismus — Zweckmäßigkeit geſchulten Denken 
und jedem Sprachmittel, das darauf ausgeht, die Dinge ein⸗ 
deutig zu bezeichnen. Nur in Bildern, Symbolen, Ahnungen 
iſt es ergreifbar. Es ſoll zum Ausdruck gebracht werden, 
daß noch ein Drittes vorhanden iſt, das wirkt, im Bereich 
des Organiſchen das eigentliche Wirkſame darſtellt, ohne daß 
im unmittelbaren Vor- und Nacheinander etwas aufträte, das 
als Urſache angeſprochen werden könnte. Nicht die Folge des 
unmittelbar vorausgehenden Momentes iſt die organiſche Erz 
ſcheinung, in letzter Spitze eine Empfindung, ein Gedanke, 
ſondern — hier fehlt der Worterſatz für „Folge“ — ſagen 
wir alſo: fie iſt ein Integrationsergebnis der geſamten er— 
lebten Vorzeit, ein Komplex aus der ganzen Geſchichte dieſes 
Organismus, ein Letztes aus einer unendlichen Zeittiefe, das 
in die Laplaceſchen Weltformel niemals einzugehen vermag, 
ſelbſt wenn wir dieſe Formel für erfüllbar halten. 

Der Laplaceſche Gedanke, der die Welt in bewegte Atome, 
die Erſcheinungen in Differentialgleichungen auflöſt, der ſtark 
genug iſt, den gegenwärtigen Zuſtand in aller Schärfe zu be— 
ſchreiben und hieraus jeden künftigen als eine Konſtellation 
der kleinſten Teile zu berechnen, geht nicht zurück in die 
Geſchichte, in die Vielfältigkeit des Erlebten. Er begnügt ſich 
mit dem Moment und den Zeitdifferentialen, die dieſen Mo— 
ment umgeben. Für ihn liegt weder das Bedürfnis noch die 
Möglichkeit vor, darüber rückwärts hinauszugreifen in die 
Vergangenheit, denn mit dem molekularen Erfaſſen des Mo— 
mentes erſchöpft es für den Determiniſten eine Welt, die 


96 


ganze Welt, die Welt der Anorganismen. Allen Bewegungs: 
erſcheinungen der Himmelskörper genügt es reſtlos. Wir 
brauchen nichts von der unendlichen Vorgeſchichte des Firma— 
mentes zu kennen, um jede Folgeerſcheinung mit Sicherheit 
anſagen zu können, ſobald nur für ein einziges kleinſtes Zeit— 
teilchen die Bewegung in aller Schärfe der Rechnung unter— 
worfen wurde. Und hier tritt der ſpringende Punkt hervor. 
Jene Formel integriert nur die kosmiſche Differentialglei— 
chung, nicht die Geſchichte. Und ſie würde bei ihrem Pro— 
gramm verharren, wenn ſie die organiſche Zelle als Ablauf 
von Erſcheinungen, alſo als ein Sonnenſyſtem für ſich mit 
bewegten Atomplaneten, behandeln wollte. Ihr Ergebnis, 
ihre Voranſage müßte richtig ſein, rein für die Lagerung der 
Atome, für das Anorganiſche in der Zelle. Sie wird falſch, 
wenn aus der mathematiſch beſchriebenen Anordnung die or— 
ganiſche Ausdeutung herausgeleſen werden ſoll, falſch, bei 
jedem Verſuch einer Interpretation. Gerade das Entſcheiden— 
de fehlt ihr, die Integration der Ewigkeitszeit vorher, in 
der wir die eigentliche causa efficiens im Organiſchen, Pſy— 
chologiſchen erraten, eine Urſache, die in mechaniſchem Sinne 
gar keine Urſache iſt, da fie ſich weder dynamiſch noch zeitlich 
abgrenzen läßt, da zwiſchen ihr und der Wirkung keine ein— 
deutigen Beziehungen beſtehen, da ſie für ihre Endwirkung 
überhaupt gar nicht anders beglaubigt iſt als die natura 
naturans bei der natura naturata. Und eben für dieſes 
dritte Prinzip hat Bergſon feine „durée“ als ein vorläu— 
figes Wortzeichen eingeſetzt. Es iſt wie alle mit Begriffs— 
leichen umherziehenden Worte durch eine hemmende Vor— 
ſtellung beſchwert; denn als ein Dauerndes verneint es ge— 
rade die unendliche Variabilität, auf die es hier ankommt. 
Aber man wird es anerkennen müſſen, da es uns an den 
Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 7 


9 0 


ſauſenden Webſtuhl der Zeit verſetzt, an den ſelbſttätig we— 
benden und wirkenden Apparat, deſſen Muſter ſich niemals 
wiederholen, ja niemals wiederholen können. Die ewige 
Wiederkehr, die in den großen und experimentell nachbild— 
baren Kreisprozeſſen des Unbelebten ihre Rolle ſpielen mag, 
fie findet hier keine Stätte. Denn eine organiſche Erſchei— 
nung, zumal eine Empfindung, iſt bei ihrer Wiederkehr ſchon 
darum eine andere, neue, weil ſie wiederkehrte, weil ſie durch 
die Erinnerung an den Vorgang eine neue Färbung und We— 
ſensart gewinnt. Und wie die Begriffe Nominalismus — 
Realismus, ſubjektiv-objektiv im Lauf der Gedankenentwick⸗ 
lung ſich gewandelt haben, ſo wird man ſich daran gewöhnen 
müſſen, mit der „Dauer“ als mit einer Variabeln zu rech— 
nen, „an der nichts dauernd iſt als der Wechſel“. 
Zahlreiche und ſchwere Einwände werden ſich im erſten 
Anlauf geltend machen. Die rückſichtsloſe Schärfe des 
Schnittes, mit der jener Philoſoph die unbelebte Maſſe vom 
Leben abſchneidet, entſpricht einer Gedankenoperation, die auf 
ein Syſtem zielt, aber nicht der Wirklichkeit. Die Schei— 
dung der ſogenannten organiſchen und unorganiſchen Welt 
iſt ganz willkürlich, ſagt Du Bois-Reymond in ſeinen „Re— 
den“, und dieſe Meinung hat ſich ſeither ſo befeſtigt, daß 
das alte Dogma vom neuen Antidogma faſt überholt er— 
ſcheint. Soweit der Monismus reicht, wird man es leugnen, 
daß die Natur nur in dem Organismus „geſchloſſene Sy— 
ſteme“ hervorbringt. Ein Kriſtall im Kleinen, ein Sirius 
im Großen werden die Rechte des geſchloſſenen Syſtems 
in Anſpruch nehmen, nicht nur in der Struktur, ſondern 
darüber hinaus, bis auf die Seele. Wenn ſich Bergſon von 
der Fechnerſchen Allbeſeelung abkehrt, ſo oſtentativ, daß wir 
in dieſem Werk nicht einmal einen Hauch des Zend-Aveſta 


98 


* 
| 


verſpüren, jo erkennen wir in dieſem Widerſtand nur das 
eine: daß der alte Dualismus ſeinen Einfluß nicht nur auf 
das eigentlich wiſſenſchaftliche Denken erſtreckt, ſondern auch 
auf die „Intuition“. Im Grunde genommen verhalten ſich 
Fechners und Bergſons Intuition wie Gegenſtand zum Spies 


gelbild, inkongruent, gegenſätzlich, mit gegenſätzlichen Vor— 


zeichen behaftet, aber doch gleich und ähnlich. Sie können 
nicht zur Deckung gebracht werden, aber ſie ergänzen ein— 
ander als zwei von entgegengeſetzten Punkten aufgenommene 
Spiegelbilder ein und derſelben Wahrheit. Es wäre ein Buch 
darüber zu ſchreiben, daß ſich Vaihingers „Als ob“ auch 
in dem Widerſtreit dieſer Intuitionen durchſetzt. Bergſons 
gewaltige Lehre konnte nur zuſtande kommen, wenn er ver— 
fuhr, als ob ſein gewaltiger Trennungsſchnitt der Wirk— 
lichkeit entſpräche. Aber am Ende ſeiner Wanderung er— 
kennen wir, daß die Doktrin von der ſchöpferiſchen Dauer 
auch aufrecht bleibt, wenn jene Scheidewand zwiſchen Orga— 
niſch und Anorganiſch fällt, genau ſo, als ob dieſe Wand 
niemals ein Daſein gehabt hätte. Denn ſie war nur metho— 
dologiſch unentbehrlich und kann, wenn erſt das Lehrgebäude 
ſteht, als überflüſſiges Gerüſt abgetragen werden. 

Aber ein gefährlicherer Feind ſcheint aus einer anderen 
Ecke der Erkenntnistheorie heranzuſtürmen. Im Brennpunkt 
des materialiſtiſchen Denkens ſteht der von F. A. Lange ſo 
ſcharf formulierte Hauptſatz, daß das Geſetz von der Erhal— 
tung der Kraft im Innern des Gehirns keine Ausnahme 
erleiden kann, wenn es nicht total ſinnlos werden ſoll; daß 
damit das ganze Tun und Treiben der Menſchen, der ein— 
zelnen wie der Völker, durchaus ſo vor ſich gehen könnte, 
wie es wirklich vor ſich geht, ohne daß übrigens auch nur in 
einem einzigen dieſer Individuen irgend etwas wie Gedanke 

Te 
99 


oder Empfindung vor ſich ginge. „Zwei Welten nebenein- 
ander ſtelle man ſich vor, beide mit Kreaturen und deren 
Handlungen erfüllt: mit dem gleichen Verlauf der Welt— 
geſchichte, mit dem gleichen Ausdruck aller Gebärden, dem 
gleichen Klang der Stimme, — nur mit dem Unterſchiede, 
daß in einer der ganze Mechanismus abliefe wie die Mechanik 
eines Automaten, ohne daß irgend etwas dabei empfunden 
oder gedacht würde, während die andere „unſere Welt“ iſt; 
dann würde die Weltformel für die beiden Welten durch— 
aus dieſelbe fein. Sie wäre vom Standpunkt der exak— 
ten Forſchung nicht zu unterſcheiden.“ 

Gäbe es auch hier ein Kompromiß, eine Verſtändigung, 
eine Brücke, die von Langes Unumſtößlichkeit zu der intui— 
tiven Erfaſſung des Erſcheinungsablaufs führte? Bergſon 
wirft die Frage nicht auf, vielleicht weil ſie für ihn uner— 
heblich geworden iſt, nachdem er Kauſalismus und Laplaceſche 
Formel in Bauſch und Bogen abgeurteilt hat. Vielleicht 
aber auch, weil die Frage in ſolcher Schroffheit nur dem— 
jenigen erwachſen kann, der ſich an Lange durch ſo intime 
Fäden geknüpft fühlt wie Bergſon an Schelling. Und hier 
muß ich geſtehen, daß ich keine Seite im Bergſon zu leſen 
vermag, ohne daß zwiſchen den Zeilen der Langeſche Haupt— 
ſatz mir grinſend abwinkt; bis ich dann wiederum dermaßen 
in den Bannkreis der ſchöpferiſchen durée gerate, daß ich das 
Walten zweier Antinomien ſpüre, die ſich in ihrer Gegen— 
ſätzlichkeit aufeinander einzurichten haben wie die entgegen— 
geſetzten Wurzeln einer und derſelben quadratiſchen Glei— 
chung. Aber mit einem Gewaltſtreich ließe ſich der Zwie— 
ſpalt löſen. Man ſtelle ſich nicht zwei, ſondern unendlich 
viele Welten nebeneinander vor. Eine davon ſei die auto— 
matiſche, eine die unſerige, alle anderen vom Gegenwarts— 


100 


1 U re 
* EAN 


\ 


punkt gerechnet in allen ſeeliſchen Begleiterſcheinungen un— 
bekannte Ausſtrahlungen mit unendlich verſchiedenen Be— 
ſchaffenheiten. Da das Pſychologiſche an das Mechaniſche 
nicht mathematiſch gefeſſelt iſt, zum mindeſten nicht durch 
eindeutige Beziehungen, ſo liegt in dieſer Vorſtellung bei aller 


Phantaſtik nichts Widerſinniges; wie denn auch Lange ſelbſt 


mit großem Bedacht geſchrieben hat: „. .. genau fo vor ſich 
gehen könnte“ und nicht: „... vor ſich gehen müßte“. 
Dies vorausgeſetzt, erſchiene jene Brücke zwiſchen den Antino— 
mien konſtruktiv nicht mehr unmöglich. Denn unſere Welt 
wäre dann virtuell befähigt, in jedem Augenblick in jede 
der anderen Welten überzugehen, vollkommen vom Zwange 
des Determinismus befreit und trotzdem, körperlich betrach— 
tet, der alleingültigen Laplaceſchen Formel reſtlos unterwor— 
fen; womit ſich am Ende die Materialiſten ſtrengſter Ob— 
ſervanz ebenſo befreunden könnten wie die Bergſoniſten, 
denen hier für die Geheimkräfte der „durée“ und des „Elan 
vital“ ein immerhin ganz auskömmlicher Wirkungskreis, 
nämlich die Unendlichkeit, zugewieſen wird. 

Aber der Überwindung des Determinismus ſteht noch ein 
anderer Denkzwang entgegen: unſere Vorſtellung von der 
Stetigkeit im Ablauf der organiſchen Erſcheinungen und 
in allen Außerungen irgendwelcher Energie überhaupt. Wir 
alle denken vorläufig infiniteſimal, in jedem Denkakt wieder— 
holt ſich der lückenloſe Akt des freien Falles, der Planeten 
bewegung, der Lichtſtrahlung, die wir nicht anders zu faſ— 
ſen vermögen denn als einheitlichen Zuſammenhang. Die 
Kontinuität ſcheint hinter allen Kauſalitäten als Urkauſalität 
zu ſtehen, hinter allen Urſachen als Ururſache; wer es da— 
her wie Bergſon unternimmt, dieſe Kette zu zerreißen, Zwi— 
ſchenglieder hineinzuſchmieden, der wird vor allem darauf 


101 


ſinnen müſſen, die Stetigkeit im Erſcheinungsabfluß, allem 
Vorſtellungszwange zum Trotz, durch die Unwiderleglichkeit 
beobachteter Tatſachen zu lockern. Mit zwei Hebeln greift 
Bergſon in die Widerſtände: mit der Mutationslehre und 
mit dem kinematographiſchen Charakter unſerer Erkenntnis 
der Dinge. Hugo de Vries hat es vertreten und experi— 
mentell bewieſen, daß die Veränderung der Arten nicht durch 
Summierung kleinſter Abänderungen, ſondern durch Mu— 
tation ſprungweiſe aus inneren Gründen erfolgt. Plötzlich— 
keit an Stelle der Stetigkeit wäre der wahre Sinn der or— 
ganiſchen Entwicklung, die ſich hinter der ſcheinbaren Kon— 
ſtanz der Arten verſchleiert. Und ebenſo liegt Plötzlichkeit an 
Stelle der Stetigkeit unſerer Wahrnehmung zugrunde, vor 
der die Natur ihre Dinge abrollt, wie der kinematographiſche 
Apparat ſeine Films. Nichts nehmen wir von den vorüber— 
gleitenden Erſcheinungen wahr als Momentbilder, als ge— 
trennte Atome des Wahrnehmbaren, die wir erſt ſpäter durch 
einen künſtlichen Prozeß zu einer wirklich abfließenden Be— 
wegung, zum Heraklitiſchen „Panta rhei“ vereinigen. 

Prachtvolle Argumente, aber dennoch vergebliche Mühe 
der Hauptſache gegenüber. Denn ſtetig blieben hinter allen 
Erſcheinungen immer noch die wirkenden Kräfte, die phyſi— 
kaliſchen Geſetzmäßigkeiten, die von jenen Auflockerungsver— 
ſuchen nicht betroffen werden. Hier fehlt eine dritte Beſchwö— 
rungsformel, die nur aus der theoretiſchen Phyſik kommen 
kann; und aus dieſer iſt ſie gekommen, vor etwa dreizehn 
Jahren, alſo zu einer Zeit, da der Pariſer Denker ſeine grund— 
legenden und grundſtürzenden Unterſuchungen längſt abge— 
ſchloſſen hatte. Es iſt die Quantenhypotheſe, und ihr 
allein kann es vorbehalten ſein, über Bergſon hinaus die 
Bergſonſche Lehre zu vollenden. 


102 


Die Quantenhypothefe*), die heute durchaus nicht mehr 
hypothetiſch, vielmehr in ihren Grundlagen völlig geſichert 
erſcheint, ſtützt ſich auf das Nernſtſche Wärmetheorem im 
Kontakt mit den unvergänglichen Arbeiten Boltzmanns. In 
letzter Inſtanz bedeutet die Quantenhypotheſe den wahren 
Triumph der Unſtetigkeit. In ihrem Gefolge würde nämlich 
der erſchütternde Leitſatz auftreten, daß die Energie der elek— 
tromagnetiſchen Wellenſtrahlung, oder daß wenigſtens die 
Schwingungsenergie der Elektronen eine atomiſtiſche 
Struktur beſitzt, ja, daß die Elementargeſetze ſelbſt, 
welche die atomiſtiſchen Kräfte beherrſchen, aufhören, der 
ſozuſagen logiſchen Forderung unverbrüchlicher Stetigkeit zu 
genügen, vielmehr einen Weſenskern von Diskontinuitäten 
enthüllen. 

Von hier bis zu dem Radikalſchluß, daß jede Energie ato— 
miſtiſch konſtituiert ſei, iſt noch ein weiter Schritt. Aber 
vielleicht erſcheint dieſe Verallgemeinerung im Lichte aller 
Denkmöglichkeiten nicht waghalſiger, als der Quantenbegriff 
überhaupt einem Vertreter der altklaſſiſchen Dynamik er— 
ſchienen wäre. Es ſoll ja auch nur mit einer Möglichkeit zu— 
künftiger Denkformen gerechnet werden, denen die Intuition 
eine Zuflucht bietet. Wird ihnen dereinſt dieſes Aſyl geöff— 
net, dann könnte Bergſons Lehre in Wahrheit das werden, 
was ſie heute noch nicht iſt oder zu ſein verſchmäht, die Ver⸗ 
wirklichung der Anſage in Kants „Prolegomena“ als der 
künftigen Metaphyſik, „die als Wiſſenſchaft wird auftreten 
können“. 

Dann wird es auch gegeben fein, in eine Reviſion der „du— 


*) Hauptquelle: ein tiefgründiger Vortrag Max Plancks vom 
16. Dezember 1911, abgedruckt in den Berichten der Deutſchen 
chemiſchen Geſellſchaft, Heft 1 von 1912. 


103 


rée“ einzutreten. Wenn Bergſon meint, der wahre Sinn der 
Zeit könne ſich nicht erſchließen, wenn wir ſie zu einer vierten 
Dimenſion des Raumes herabwürdigen, ſo wird ſich über 
dieſen Verzicht ein neuer Anſpruch aufbauen: der wahre Sinn 
der Zeit kann erſt dann erſchloſſen werden, wenn die Zeit im 
Sinne der Einſtein-Minkowskiſchen Relativitätstheorie zur 
vierten Dimenſion des Raumes emporgehoben und die 
Welt des Geſchehens zu einer Geometrie von vier Dimenſio— 
nen geläutert wird. Schlägt unſer Naturerkennen dereinſt 
Wurzel im Quanten- und im Relativitätsbegriff, erwächſt 
hieraus als eine organiſierte Denkform die völlige Gleich— 
wertigkeit von Raum und Zeit, dann mag ein anderer Berg— 
ſon kommen, der uns den ſchöpferiſchen Raum mit Ein— 
ſchluß aller Zeit vordemonſtriert. Nichts Beſſeres kann ich 
dieſem Nachfolger wünſchen als die bewundernswerte Bered— 
ſamkeit ſeines Vorgängers, als deſſen intuitives Vermögen, 
tiefe Erkenntniſſe in Bildern und Symbolen zu geſtalten. 
Denn ſelbſt wenn es gelingt, in ſeiner Lehre den Dualismus 
zu beſeitigen, wird über das Symbol nie hinauszukommen 
ſein in der Darſtellung alles Erſchaffenen, alles Dauernden 
und alles Vergänglichen, das ein Gleichnis iſt und nur in 
Gleichniſſen ausgeſprochen werden kann. 


104 


Zukunftskino 


Wenn heute ein Prediger in der Wüſte aufträte, um gegen 
Naturkraft und Mechanik zu donnern, ſo würde man ihn für 
einen verſpäteten Nachzügler der Inquiſition halten. Man 
würde ſich der grauen Zeiten erinnern, da zu Rom das Sy— 
ſtem des Kopernikus und die Lehre von den Antipoden auf 
dem Index ſtand, gewiſſe Kometen verflucht wurden und 
die Idee des Flugzeugs zum Teufelswerk zählte. Wir ſind 
moderner geworden. Man entrüſtet ſich nicht mehr gegen 
die Mechanik des Himmels und der Erde, aber man hat ſich 
einen Rückſtand der Entrüſtung gegen die „Mechaniſierung 
der Welt“ aufgeſpart. Ja, es gehört ſogar zum guten Ton, 
gegen dieſe Mechaniſierung zu wettern, ſobald ſie Miene 
macht, in irgendein Kunſtgebiet überzugreifen. An dieſen 
Feldzügen iſt das Sanctum Offieium unſchuldig. Führer 
und Generalſtäbler der Kampagne ſind vielmehr die vorge— 
ſchrittenen Kritiker, die Hüter der Kunſttempel, und in zahl— 
loſen kampffrohen Feuilletons raſſeln die Federn gegen den 
Einbruch der Maſchine in den Kunſtbetrieb, gegen Licht— 
bildnerei, Grammophon, Pianola und Film. 

Im Prinzip aber macht es keinen Unterſchied, ob man 
gegen die Mechanik anſtürmt oder gegen die Mechaniſierung. 
Die Donquichotterie bleibt dieſelbe. Denn es gibt nichts Sinn— 
loſeres als den Kampf gegen das Unvermeidliche. Von Cä— 


105 


far bis zu Moltke hat kein Feldherr den Kampf anders be- 
griffen und definiert als im Hinblick auf den Zweck des 
Kampfes: den Sieg. Wo die Möglichkeit des Sieges fehlt, 
iſt der Kampf an ſich eine Abſurdität; etwa ſo, wie wenn je— 
mand eine Schachpartie ohne Figuren, bloß mit Bitten, Über⸗ 
redung oder Beſchimpfung des Gegners gewinnen wollte; 
oder eine Schlacht auf dem Papier, während der Feind im 
Gelände ſeine Maſchinengewehre ſpielen läßt. Der Satz des 
großen Friedrich: „Gott iſt immer mit den ſtarken Ba- 
taillonen“ behält ſeine Geltung auch im Kunſtweſen. Das 
Reſultat allein ſchafft das Recht und die Moral; ihre Gültig⸗ 
keit erhält die Prägung vom Erfolge. Die Anſage: „Das 
Kino ruiniert das Theater“ iſt im letzten Grunde gar nicht 
ſehr verſchieden von der Behauptung: Die Schiefe der Eklip⸗ 
tik verdirbt die Jahreszeit. Beides läßt ſich theoretiſch be— 
weiſen. Nur daß wir die Welt von neuem erſchaffen müß— 
ten, um ſolche Mißſtände zu korrigieren. Und nur ein ge— 
borener Wolkenkuckucksheimer wird ſich auf derartige Erörte— 
rung einlaſſen, mit rückwärts gewendeter Utopie und ſitt⸗ 
licher Entrüſtung gegen die Ekliptik. Wer ſich in der wirk— 
lichen Welt zurechtfindet, wird es vorziehen, Tadel und Lob 
als unzureichende Gerätſchaften einzupacken und der Mecha— 
nik einzig mit dem zu antworten, was auf ſie paßt: mit der 
Berechnung. 

Von dem Augenblick an, wo das erſte Stroboſkop als ein 
Kinderſpielzeug das Heraufziehen einer neuen optiſchen Me— 
chaniſierung ankündigte, war das Kinoproblem geſtellt. Daß 
es ein Kunſtproblem geworden iſt, war eine harte Notwendig— 
keit. Seine Löſung iſt nicht von Gebeten und äſthetiſchen Be— 
ſchwörungen zu erwarten, ſondern einzig von der Vorausſicht. 
Die Anfangsglieder liegen vor, aus ihnen iſt die weitere 


106 


Entwicklung ohne Gejammer, aber mit möglichfter Präziſion 
zu errechnen. N 

Ich kann nicht finden, daß ſich die Prieſter der Kunſt bis—⸗ 
her als ſonderliche Propheten bewährt hätten. Sie verglichen 
faſt durchweg das vorhandene Kino mit dem vorhandenen 
Theater, das elende Maſchinchen mit der ruhmvollen Dich— 
tung von Sophokles bis Ibſen, waffneten ſich mit Ironie 
und Begeiſterung, griffen zu den ewigen Sternen am 
Theaterhimmel und verwieſen mit verachtungsvoller Gebärde 
die Flimmerkiſte zu den Teufelsrädern und Wackeltöppen der 
Rummelplätze. Wer ihnen beginnende Möglichkeiten ent— 
gegenhielt, flog auf die Strafbank der Böotier, Banauſen 
und Kunſtpiefkes. Und es galt als ausgemacht, daß kein 
„Diener am Wort“, insbeſondere kein Dichter ſich je ſo 
weit vergeſſen könnte, eine Berührung mit den zu ewiger 
Stummheit verurteilten ſchwarzweißen Zappelfiguren anzu— 
ſtreben. Inzwiſchen hat ſo mancher Talarträger ſeine Front— 
ſtellung geändert, und den Standhaften wird unwohl zu— 
mute, wenn ſie ihre Scharen muſtern. Drüben ſteht ſchon 
eine Legion von Überläufern. Mit den Theoretikern fing es 
an: Man hörte kinofreundliche Sentenzen von Björn Björn— 
ſon, von Hermann Bahr, Stefan Zweig, Felix Salten, Paul 
Goldmann; Maximilian Harden erklärte die Kinos für wich— 
tiger und nützlicher als zwei Drittel aller Sprechtheater. 
In hellen Haufen folgten die Schauſpieler, unter ihnen Be— 
rühmtheiten, die ſich gewiß nicht einfach auf die Galeere ver— 
kauften, ſondern als ehrliche Koloniſten ein Neuland der 
Kunſt beſiedeln wollten. Die Autorenfilms wuchſen zu un— 
heimlichen Meilenlängen, und wenn die Progreſſion nur noch 
kurze Zeit anhält, ſo werden alle Proteſte des Goethebundes 
endgültig verſpielt haben. Ob er überhaupt noch proteſtiert? 


107 


Ich hege meine Zweifel, denn auf die Dauer will kein Künſt— 
ler bei der Fahne falſcher Propheten verharren. 

Heute iſt man wenigſtens ſo weit, anzuerkennen, daß man 
mit dem bloßen Händeringen gegen den poſitiven Erfolg 
nichts ausrichtet. Hinter dem Geſetz der großen Zahl ſteckt 
allemal ein organiſcher Grund, eine Lebensoffenbarung. Und 
die große Zahl hat ſich in unſerem Falle ſchon bis ins Über— 
dimenſionale gereckt. Die Statiſtik hat ausgerechnet, 
daß allein in Großbritannien wöchentlich acht Millionen Men—⸗ 
ſchen die Kinotheater beſuchen. In der ganzen Welt beſtehen 
zurzeit 60000 Flimmertempel, darunter unzählige in kul— 
turfremden Ortſchaften, in Einöden, die von der Darſtellung 
eines Vorgangs vordem nichts wußten, denen das bewegliche 
Allerlei auf weißer Fläche mit Eindrücken und Erregungen 
zum erſtenmal die ferne Ahnung eines Kunſtgefühls auf— 
dämmern läßt. Aus vielen Städten Deutſchlands liegen Ta— 
bellen vor, die uns beweiſen, daß der Film bei einer Drang— 
ſalierung durch Zenſur, Steuer und Feuilletonfluch weitaus 
mehr metalliſche Nahrung aus den Beuteln der Bewohner 
zieht als die Sprechbühnen. 

Der Standhafte aber will die große Zahl nicht aus einem 
inneren Geſetz heraus beurteilen. Ihm iſt ſie die leidige 
Mehrheit der Schädlinge, der Bazillen, der Spaltpilze: „eine 
Kinoſeuche!“ ruft er reſigniert, falls er ſich nicht dazu er— 
mannt, die Klinke der Geſetzgebung in die Hand zu nehmen. 
Ich kann ihm wenig Hoffnung machen, weder auf ein Er— 
löſchen der Seuche im natürlichen Ablauf, noch auf hy— 
gieniſch durchgreifende Paragraphen. Aber ich möchte ihm 
andere Hoffnungen erwecken, freilich nicht von heut auf 
morgen, vielmehr auf lange Sicht, mit einem Proſpekt ohne 
Aſta Nielſen, ohne ihre berühmten Kollegen vom Filmmarkt. 


108 


‚ah | 
RE ET 8 


Die Annalen des Kinos ſind kurz, und die Zeit iſt lang, 
hundert Jahre ſpielen da keine Rolle. Und in hundert Jah— 
ren — ohne mich auf den Kalender feſtzulegen —, wird 
ſich der Kunſtſchreiber darüber wundern, daß es zu unſerer 

Zeit ſoviel tüchtige, geſcheite Kollegen gegeben hat, die eine 
geſunde Evolution nicht von einer Peſt zu unterſcheiden wuß— 
ten. 

Wir denken in Reihen, verſuchen dies mindeſtens, ſobald 
uns daran liegt, die Denktätigkeit auf Sicherheit einzuſtel—⸗ 
len. Jede künſtleriſche und jede techniſche Linie ſtellt eine 
Reihe vor, deren Entwicklung und Ende vorläufig nicht ab— 
zuſehen iſt; aus dem Vergleich beider ergibt ſich eine Diffe— 
renzenreihe. Die erſten Glieder dieſer Differenzenreihe, für 
Kino und Kunſt ermittelt, liegen vor, und kein ſinniger 
Menſch wird beſtreiten, daß ſie bei aller Mächtigkeit eine ab— 
nehmende Tendenz verraten. Ob dieſe Reihe als Ganzes 
konvergiert oder divergiert, kommt hier nicht in Betracht; 
es handelt ſich nur darum, zu ermitteln, ob die Reihen— 
elemente ſich in endlicher Zeit ſoweit verkleinern, daß die 
Reſtglieder jedes für ſich vernachläſſigt werden dürfen. Tritt 
dieſer Fall ein, ſo würde ſich auf jenem fernen Proſpekt eine 
kinematographiſche Zukunft als durchaus künſtleriſches Er— 
lebnis abbilden. Mangels eines exakten Beweiſes müſſen wir 
uns der Wahrſcheinlichkeit in die Hand geben, und dieſe 
Wahrſcheinlichkeit ſagt uns, daß überall, wo Techniſches über: 
haupt mitſpielt, die Differenzglieder allmählich verſchwin— 
den müſſen. Nie und nirgends war etwas anderes zu beob— 
achten als das Prinzip der Annäherung an ein vorſtell— 
bares Ideal. Ein vereinzeltes Beiſpiel möge das verdeut— 
lichen. Bei der Entwicklung elektriſcher Telegraphie formen 
ſich die Reihenglieder aus der Differenz einer elektriſchen 


109 


Leiſtung und dem vorgeftellten Ideal einer Nachrichtgebung 
über weite Strecken. Als Gauß und Weber ihre erſten glück— 
lichen Verſuche anſtellten, war das vor aller Welt liegende 
Reſultat außerordentlich klein, die Verbindung überſpannte 
eine Wegſtrecke von genau einer Viertelſtunde Fußgänger— 
maß, ſo weit wie vom phyſikaliſchen Kabinett bis zur Stern⸗ 
warte in Göttingen. Ein Zweifler hätte ſagen können: Das 
iſt gar keine Erfindung; ein Sprachrohr, eine Sirene reicht 
weiter! Und doch lagen in jenem knappen Wegemaß von 
wenig mehr als einem Kilometer die Strecken der ganzen 
Welt beſchloſſen, denn es hatte ſich eine Verkleinerung in— 
nerhalb der Differenzenreihe ergeben, von Unendlichgroß 
bis auf Endlich. Man konnte vordem überhaupt nicht elek— 
triſch telegraphieren, mit Gauß und Weber konnte man es. 
Und während der Engſichtige eine klägliche Rechnung begann 
über die Möglichkeit, vielleicht dereinſt zehn Kilometer oder 
gar hundert Kilometer weit Wort und Gedanken verſchicken 
zu können, mußte eine beſſere Vorausſicht ahnen, ja wiſſen, 
daß jede Entfernung verſchwunden war, in demſelben Mo— 
ment, als der Göttinger Draht irgendeine Entfernung ver— 
nichtete. Genau ſo wie ſich der Menſchentraum des Fliegens 
verwirklichte, als Otto Lilienthal zum erſtenmal gegen den 
Wind flog. Ein Verſuch mit untauglichen Mitteln, eine 
Kataſtrophe, und doch die Eröffnung einer weltumfaſſenden 
Möglichkeit, die Peinlichkeit der Erdenſchwere zu überwinden. 

Ich höre den Einwand, daß dieſe Erinnerungen ſich nur 
auf rein Techniſches beziehen, während im Vergleiche Kino — 
Kunſt eigentlich von einer Differenz gar nicht geſprochen 
werden könne, da die Kunſt eben abſolut untechniſch ſei. 
Das ließe ſich hören, wenn der Begleitſatz ebenſo richtig 
wäre, wie er falſch iſt. Denn der Sinn der ganzen Erörterung 


1108 


NE 
rn 7 - 
| 


. 


zielt im letzten Grunde nicht auf das Abſtraktum Kunſt, 
ſondern auf die Mittel, die Kunſt dem Menſchen wahrnehm— 
bar zu machen, und auf die Fähigkeiten, die uns zu Gebote 
ſtehen, um überhaupt die Kunſt mit den Sinnen zu erfaſſen. 

Und hier ſetzt die Neuheit einer Erkenntnis ein, die von 
manchem Vorläufer dunkel ertaſtet, von Henri Bergſon 
bis zur völligen Evidenz herausgearbeitet worden iſt: Der 
Mechanismus unſeres geſamten Denkens iſt kine— 
matographiſchen Weſens! Ihr Prinzip iſt die Unſtetig— 
keit, gleichgültig, ob wir die Wahrnehmung, die geiſtige Auf— 
faſſung oder die Sprache als das Entſcheidende betrachten. 
„Der Kunſtgriff des Kinematographen iſt auch der Kunſt— 
griff unſeres Erkennens. Statt uns dem inneren Weſen der 
Dinge hinzugeben, ſtellen wir uns außerhalb ihrer, um dies 
Werden künſtlich zu rekonſtruieren. Von der vorübergleiten— 
den Wirklichkeit nehmen wir ſozuſagen Momentbilder auf, 
und weil dieſe die Realität charakteriſtiſch zum Ausdruck 
bringen, ſo genügt es uns, ſie längs eines abſtrakten, gleich— 
förmigen, unſichtbaren, auf dem Grunde des Erkenntnis— 
apparates liegenden Werdens aufzureihen, um nachzubilden, 
was das Charakteriſtiſche dieſes Werdens ſelbſt iſt.“ Wer 
ſich die Mühe nimmt, dies durchzudenken, wird erkennen, 
daß von des Eleaten Zenon fliegendem Pfeil bis zu Berg— 
ſons Lehre eine lückenloſe Gedankenkette geht, zweitens aber 
und vornehmlich, daß dieſe Kette nur noch wenig verlängert 
zu werden braucht, um über das reine Erkennen hinaus bis 
zur Kunſterfaſſung zu reichen. Auch für dieſe ſind wir durch 
unſeren Organismus mechaniſch, unſtetig, vorgebildet; un— 
ſere geſamte Fähigkeit, ein Kunſtgebilde zu berühren, zu ers 
fühlen, ja ſogar zu ſchaffen, iſt eine kinematographiſche. Wir 
ſind ſonach berechtigt, unſeren mechaniſchen Anſatz nach dem 


III 


Prinzip der Differenzenreihe aufzuftellen und aus der offen— 
kundigen Verminderung der Unterſchiede auf eine dereinſtige 
Verſchmelzung beider Elemente zu ſchließen. Ich ſelbſt halte 
dieſes Dereinſt für ziemlich naheliegend und den Schritt 
dahin nicht für größer als vom erſten Göttinger Draht zum 
Nervenſyſtem der Weltdrähte, das heut die Menſchheit durch— 
ſpinnt. Soll das Hindernis etwa in der Sprache liegen, in 
der Stummheit der Kinofiguren, im Schnarren des mit 
dem Film gekoppelten Phonographen? Das wäre wieder 
ſo eine „Unmöglichkeit“ nach dem Muſter der Akademiker, 
die anno olim mit der Geſte der Unfehlbarkeit die Unmög— 
lichkeit der Spektralanalyſe, der Telephonie, des unterſee— 
iſchen Kabels und der Flugtechnik bewieſen haben. Das 
Schnarren wird dem ſchönſten Bühnentonfall weichen, der 
Gleichlauf zwiſchen Klang und Gebärde wird in Wahrheit 
den lebenden Menſchen widerſpiegeln und die Illuſion auf 
weißer Fläche vollenden. 

Auf weißer Fläche? Sind damit ſchon wieder die techni— 
ſchen Möglichkeiten erſchöpft? Nichts zwingt uns, die An— 
ordnung im Zweidimenſionalen als das einzige Grundgeſetz 
der Projektion anzuerkennen. Heut noch beruhigt ſich das 
Illuſionsbedürfnis bei der ſcheinbaren Perſpektive auf der 
Fläche. Es wird anſpruchsvoller werden, das Problem der 
Körperlichkeit ſtellen; es wird die Entwicklung der kinemato— 
graphiſchen Tiefbühne fordern. Und da dies eine Aufgabe 
der Mechanik iſt, ſo muß ſie irgendwie gelöſt werden aus 
optiſchen Quellen, ſtereoſkopiſch und ſtereometriſch mit Hilfs— 
mitteln einer ſchnellen und billigen Übertragung eines wirk— 
lichen Bühnenvorgangs auf eine nicht abtaſtbare, ſonſt aber 
der Wirklichkeit völlig gleichwertige Szenerie. 

Der Gleichlauf zwiſchen Ton und Bewegung leiſtet ſchon 


2 


jetzt Erſtaunliches. Eine ſchöne Kunſt hat er freilich noch 
nicht vermittelt, aber das erſte Puppenſpiel von Dr. Johan⸗ 
nes Fauſt war auch noch nicht Goethiſch oder Reinhardtſch. 
Das junge Kinetophon ſpielt alberne Szenen mit den An— 
ſätzen einer Sprechmechanik. Das gereifte wird den Hamlet 
mit ſprachlichem Ausdruck vortragen. Es gibt da nur nach 
Graden abgeſtufte Unterſchiede, wiederum jene Differenzen, 
die keinen Beſtand beanſpruchen können, weil zwei über— 
mächtige Regenten ihren Untergang beſchloſſen haben: die 
Zeit und die Technik. 

Aber wir wollen uns auf kürzere Sicht einſtellen und 
vorerſt nur die muſikaliſche Pantomime und das klaſſiſche 
Ballett, die doch auch zur Kunſt gehören, durchs Kino ver— 
vielfältigt denken. Aufgaben, zu deren Bewältigung die be— 
reitſtehenden Mittel beinahe ausreichend erſcheinen. Damit 
wären die Vorſtufen zur kinetophoniſchen Oper gewonnen, 
die ſicherlich unbeholfen genug einſetzen, aber ebenſo gewiß 
um Jahrzehnte früher ihren Frieden mit der Mechanik machen 
wird, als das Sprechdrama. 

Auf dem Wege dahin liegt eine Abſpaltung, die niemals 
fehlt, wo immer ſich breite Haufen aus gemeinſamen Inter— 
eſſen verſammeln. Es bildet ſich eine vulgäre Unterſchicht 
und eine ariſtokratiſche Oberſchicht. Einmal ſchon haben wir 
dieſe Spaltung im Kinobetrieb erlebt, der nach ganz prole— 
tariſchem Beginn ſchnell genug luxuriöſe Zweige anſetzte. Das 
Theater ſollte durch die äußere Aufmachung eingeholt wer— 
den, durch Paläſte, elegante Logen, impoſante Saaldiener, 
ſymphoniſche Orcheſter und hohe Entrees. Volksküchen mit 
Sevre⸗Porzellan, geſchliffenen Kelchen, friſchen Hummern 
und Pommery. Die zweite Spaltung wird die Volksküche 
zu Recht beſtehen laſſen und ihre Scheidung nach 58 Kunſt⸗ 

Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 


113 


wert des Dargeftellten bewirken. Dann gleitet die Wildweſt— 
dramatik und der ſentimentale Kitſch mit ihren Pampas⸗ 
ritten, geraubten Bräuten und langweiligen Heroismen in 
die Unterſchicht, und die Ariſtokratie beginnt dort, wo aus 
der erſten mechaniſchen Paarung von Ton und Bewegung 
das erſte glaubhafte Buffoduett vor uns entſtehen wird. 
Wer heute ein Knabe iſt, kann es erleben, ehe ihm die Haare 
bleichen; und wenn er zufällig Kunſtſchriftſteller werden 
ſollte, ſo wird er alle erdenklichen Fragen erörtern, bloß 
nicht die, ob ſolche Eindrücke zu den ſchönen Künſten zäh— 
len oder nicht; er wird ſie vielmehr als ein ſelbſtverſtänd— 
liches Kompromiß auf maſchinenhafter Grundlage anſehen, 
das, weit entfernt davon, die Kunſt umzubringen, ſie ins 
Ungemeſſene verbreitert und volkstümlich macht. 

Als gemeinſame Formel aller Zukunftsbetrachtungen er— 
gibt ſich: Das Kino mit all ſeinen fernen Möglichkeiten, 
mit Synchronismus des Tones, erhöhtem Relief der Dar— 
bietung und optiſcher Tiefbühne verhält ſich zum gegenwärti— 
gen Theater wie der Buchdruck zur Literatur. Was wir 
heute im Theater als Volkskunſt ausrufen, iſt doch nur ein 
Reſervat örtlich und wirtſchaftlich Begünſtigter; zur wirk— 
lichen Volkskunſt kann es erſt durch den ungeheuren Multi 
plikator der Maſchine werden. Die Elektra, die Phädra und 
der Wilhelm Tell haben nicht dadurch gelitten, daß ſie in 
Millionen von Exemplaren durch die Maſchine verbreitet wur— 
den und daß ſie für zwei Nickel aus dem Automaten ge— 
zogen werden können. 

Und ſo wird ein Caruſo der Zukunft gleichzeitig an hun— 
dert verſchiedenen Bühnen zwiſchen Kanada und Neuſeeland 
in hundert wirklichen Vorſtellungen auftreten, eine Indis— 
poſition kann niemals vorkommen, und die Eintrittskarte mit 


114 


und Toren, welche nicht wüßten, daß, wenn die Lichtſpielerei ſich 
- 8* 


beſter Ausficht auf die ganze Aida wird fünfzig Pfennig 


koſten, — falls nicht inzwiſchen durch die Luſtbarkeitsſteuer 
der projizierte Tenor genau ſo unerſchwinglich geworden iſt 
wie der lebendige. 

* 


Die vorſtehende Zukunftsanſage hat mancherlei Erörte— 
rung in der Preſſe hervorgerufen. Als gewichtigſter Gegner 
trat mein verehrter Kollege, der bedeutende Kritiker des Ber— 
liner Tageblatts, Fritz Engel auf den Plan, indem er in 
ſeinem Organ folgende Abwehr veröffentlichte: 


Zukunfts⸗Flimmer 
Ein Brief an Alexander Moszkowski 


Verehrter Herr und Freund! Sie haben an dieſer Stelle einen 
Aufſatz über das Zukunftskino veröffentlicht und einen weiten 
Blick in allerlei Entwicklungsmöglichkeiten vorausgetan. Ihre 
Phantaſie arbeitet noch lebhafter als der beſte Kurbelapparat, der 
ſich ja immer noch an Gegenſtändliches halten muß, und zaubert 
Bildungen herbei, die vorerſt nur Einbildungen ſind, die aber, 
rein äußerlich geſprochen, durchaus Wirklichkeit werden können. 
Wir wiſſen ja alle, daß ſelbſt parodiſtiſch gemeinte Utopien im 
Lauf der Jahre ernſte, techniſche Wahrheit geworden ſind. Beim 
Gott der Technik iſt eben kein Ding unmöglich. 

Aber ich muß widerſprechen, wenn Sie mit möglichen techniſchen 
Vollendungen den Ruf aller derjenigen erſticken wollen, welche 
in der Inſtitution des Kino, des gegenwärtigen und des zukünfti— 
gen, eine Bereicherung der Kunſtſphäre nicht erblicken können. Sie 
haben da, verehrter Freund, ſo ein gewiſſes Lächeln, das uns zu 
verſtehen gibt, wir ſeien zwar brave Leute, aber ernſt zu nehmen 
ſeien wir nicht. Nun ja, man brauche uns nicht gerade totzu⸗ 
ſchlagen, aber es wäre doch hohe Zeit, uns zu ducken. Wir ſeien 
die Don Quixotes, die gegen etwas „Unvermeidliches“ anrennen, 


115 


quantitativ ſo gewaltig entwickelt habe, darin eine „Lebensoffen- 
barung“ ſich zeige, gegen die nichts mehr auszurichten iſt. 

Da bitte ich nun ſehr um die Erlaubnis, ein Tor bleiben zu 
dürfen. Töricht, wie ich mich fühle, bin ich nicht einmal klug ge⸗ 
nug, Ihnen im einzelnen zu beweiſen, wie falſch dieſer Gedanke 
von der „Lebensoffenbarung“ iſt, die man als eine gottgewollte 
Sache in Demut hinnehmen müſſe. Sie verlangen damit, daß 
wir auch den peinlichſten Erſcheinungen des menſchlichen Daſeins, 
wenn ſie nur kompakt genug auftreten, mit der Gleichgültigkeit 
eines Wüſtenphiloſophen zuſchauen ſollen. Sie machen den Kampf 
gegen alle Epidemien überflüſſig, und ich ſehe wirklich nicht ein, 
warum wir noch etwas gegen die Tuberkuloſe tun ſollen, die ja 
leider nach dem „Geſetz der großen Zahl“ unzweifelhaft eine ſolche 
„Lebensoffenbarung“ iſt. 

Aber Sie ſchränken ſich ja ſelbſt ein, indem Sie einen Kampf 
immerhin dann für erlaubt halten, wenn er Ausſicht auf den end» 
lichen Sieg hat. Und nun hören Sie, was einer von den Toren 
ſpricht, die Sie, immer mit jenem Lächeln, verſpotten, indem Sie 
ihnen den Titel „Prieſter der Kunſt“ verleihen. Wir glauben an 
dieſen Sieg. Wir glauben, daß die Technik, die die Kultur und 
alle Bequemlichkeiten des Lebens beherrſcht, der Kunſt nur immer 
reſpektvoll dienen, ſie aber nie tyranniſieren darf. Wir glauben, 
daß je eher Ihre Phantaſie zur Wirklichkeit wird, daß Technik und 
Kunſt um ſo ſchneller ſich wiederum ſcheiden werden. Wir glauben, 
daß all die techniſchen Kniffe, die heutigen und die ſpäteren, er— 
kannt werden als Surrogatmittel, die fie find; daß man fie emp⸗ 
finden wird als Notbehelfe für Farmer an der Grenze des Ur— 
waldes, die den Kultur- und Kunſtzentren fernbleiben müſſen; 
daß ſie ſchließlich die Sehnſucht erwecken, ſie aber nie befriedigen 
werden, nach dem Original: nach der menſchlichen Stimme, die 
noch nicht auf die Schallplatte eingefangen iſt, und nach der von 
lebendigen Menſchen erfüllten dramatiſchen Kunſt, die ewig das 
zarteſte und ſtärkſte Inſtrument ſeeliſcher Wirkung bleiben wird. 
„Wilhelm Tell iſt in Millionen Exemplaren maſchinell verbreitet 
worden“ — ſo heißt es in Ihrem Aufſatz. Und der Effekt? Die 
Erkenntnis, daß das gedruckte Drama ein matter Abglanz iſt. 
Weiterer Effekt: der heiße Wunſch, es dort kennen zu lernen, wos 


116 


hin die von hundertfältigen Konkretheiten erfüllte, nach plaſtiſcher 
Lebensgeſtaltung drängende Kunſt des Dichters es geſtellt hat: 
auf die paar Bretter, die man dramatiſche Bühne nennt. 

Und dieſen Organismus wollen Sie nun, ſchwärmeriſch und 
doch ſchon erfolgſicher, den Fortſchritten der Technik reſtlos anver— 
trauen. Sie nehmen es als ſelbſtverſtändlich an, daß die Licht— 
bühne ſogar auf dem Gebiete des ernſten Dramas noch eine 
weſentliche Zukunft habe. Da Sie die Entwicklung mit ſolcher 
Aufmerkſamkeit verfolgen, nimmt es mich ein wenig wunder, daß 
es Ihnen entgangen iſt, wie ſkeptiſch man bereits in den nächſten 
Intereſſentenkreiſen darüber denkt. Zumal mit jenen „Autoren- 
films“, von denen ſo viel und ſo hoffnungsvoll die Rede war, iſt 
es nicht gut geworden. „Prieſter der Kunſt“ hatten — töricht und 
weltfremd, wie fie find — ſofort darauf hingewieſen, daß die Ge- 
ſetze des dramatiſchen Schaffens, wenn man es nur im geringſten 
im höheren Sinne begreift, niemals in das Prokuſtesbett des 
Films zu ſpannen ſind. Einige unſerer Poeten haben das mit— 
empfunden, andere nicht, und fie haben wirklich geglaubt, die Lein 
wand „veredeln“ zu können. Von dieſen ſind nun die meiſten ſchon 
mit langen Geſichtern umgekehrt. Wenn ſie noch für den Film 
arbeiten, ſo tun ſie es annonym. Die Epoche, da ihre „Namen“ 
hoch bezahlt wurden und da ſie ihr künſtleriſches Gewiſſen mit dem 
großgedruckten Ruhm der Litfaßſäule einſchläferten, iſt ihrem Ende 
nahe. Und wenn ſie ſelbſt auch noch wollten — die Filmdirektoren 
wollen nicht mehr. Es war ein ſchlechtes Geſchäft, denn der dicke 
Suppenkaſpar Publikum hat die veredelte Bouillon nicht eſſen 
wollen. Und das Lichtſpiel ift und bleibt nun einmal ein fauf- 
männiſches Unternehmen. Techniſchen Urſprungs, hat es von 
Hauſe aus wie alle Technik Geld machen wollen, und ſeine 
Schöpfer haben den Teufel an Kunſt gedacht. Auch unſer heutiges 
Theater möchte gern reich werden; das iſt gewiß. Aber der Urquell 
aller Kunſtgebärdung, außer eben der Kino-„Kunſt“, ſtrömt doch 
noch immer aus idealen Bedürfniſſen. Es iſt die Pflicht jener 
weltfremden Prieſter, die Herrſchaften vom Theater von Zeit zu 
Zeit daran zu erinnern. 

Und nun erwartet Alexander Moszkowski das Heil der drama— 
tiſchen Filmkunſt vom Glück der Technik. Man werde aus der 


117 


Flächenprojektion zur dreidimenſionalen gelangen und die Stim- 
men der Schauſpieler mit abſoluter Treue auf die Walze bringen, 
und man werde ſchließlich plaſtiſches Bild und Reproduktion der 
Stimme zu ſo geſchloſſener und einheitlicher Wirkung führen, daß 
die volle Illuſion der heutigen Bühne erzeugt wird. Ich traue 
der Technik alles zu und will das einmal glauben. Ich will glau- 
ben, daß die Sache durchaus klappt; daß die Schauſpieler, die 
die Walze beſprochen haben, die aber nachher noch beſonders 
kinematographiſch aufgenommen werden, den Mund genau ſo be— 
wegen, wie die Sprechmaſchine hinter den Kuliſſen es verlangt; 
daß die Akuſtik, die in jedem Saale ihre eigenen Bedingungen 
hat, von Fall zu Fall mechaniſch geregelt werden kann. 

Dann wird alſo, ſprechfilmenderweiſe, Hamlet gegeben. Sie, 
Freund und Gegner, träumen ohne Umſchweife davon. Heute 
abend: „Hamlet“ von William Shakeſpeare. Ich fühl', wie ich 
ſchaudere, und mir geht's wie Horatio, da er den Geiſt erblickt: 
„Es macht mich ſtarr vor Furcht und Staunen.“ Den eiſigen Tod 
ſehe ich dort, wo ich Leben zu ſehen gewohnt war Ich ſehe ſtarre 
Puppen, die mir voll Beweglichkeit vorlügen, daß ſie nicht ſtarr 
ſind, und ich ſehe ſie da, wo ich Menſchen ſich hatte bewegen 
ſehen. Gott, wie unmodern, daß ich ſolche Unterſchiede mache. 
Wie töricht, daß ich mich erinnere und vergleiche. Wie berührte 
mich einſt die Stimme des Prinzen im Innerſten, weil er ſie 
eben in dieſem Augenblick ſelbſt aus ſeinen Tiefen herausholte! 
Wie fühlte ich ſeine Wärme und neidete ihm den guten Platz, 
wenn er ſich an Opheliens ſüßen Leib anſchmiegte! Wie tat mir 
ſelbſt der alte Polonius leid, da er gleich einer Ratte abgeſtochen 
wurde; ich hatte ihn ja eben noch als einen Atmenden geſehen. 
Welch eine Albernheit, daß ich mich daran erinnere, wie reizvoll 
und wahrhaft künſtleriſch es ehedem war, daß jede Theaterauf— 
führung, auch die ſorgfältigſt vobereitete, ſtets etwas Improvi⸗ 
ſiertes hatte, abhängig vom Raume, vom jeweiligen Publikum 
und von dem immer neuen Streben der Schauſpieler. Wie ſchoͤn 
und ſpannend, weil ein Bild des Lebens ſelbſt, waren dieſe Irri— 
tationen des Augenblicks! 

Jetzt aber, o Zeitgenoſſe, o Zukunftsgenoſſe, jetzt geht alles am 
Schnürchen. Du bewunderſt vielleicht nicht mehr Hamlet, aber 


118 


du bewunderſt die Mafchinerie, die ihn hervorbringt. Du haft 


aus der Sprechkiſte Hamlets Monolog gehört und ſagſt: „Nein, 
dieſe Technik!“ Und Apollo ſelbſt, der nur ein Olympier war und 
noch kein Dr.⸗Ing., geht hin und vertauſcht ſeine alte Leier gegen 
ein noch gut erhaltenes Grammophon. 

Dies und Ähnliches fiel mir aufs Herz, als ich Ihren Aufſatz las. 


* 


Adhue sub judice lis est. Und bis zur wirklichen Ent— 
ſcheidung in langer Zeit wird es von der Stimmung des ein— 
zelnen abhängen, ob er ſich von der momentanen Körper— 
lichkeit des Schauſpielers mehr für die Kunſt verſpricht 
oder von dem Kunſtgebilde an ſich, ob er die Einmaligkeit, 
das Improviſierte höher wertet als die von Ort und Zeit 
unabhängige Wirkung, die das Impromptu opfert, um ſich 
der Dauer zu verſichern. 

Im Grunde dreht ſich der Streit um die Aufrechterhaltung 
von Vorbehalten und Privilegien, die ja für den Genießer 
ihre hohe Bedeutung haben, aber gegen das Optimum der 
Maſſe zurücktreten müſſen, im Sozialen wie im Künſtle⸗ 
riſchen. Der vornehme Römer, der die Schwere des Alltags 
auf feine Sklaven abwälzte, tauchte tiefer in die Lebens— 
eſſenz als der Bürger von heute, der ſich mit der Geſinde— 
ordnung umherſchlägt, Marken klebt und das Herrenbewußt— 


fein nicht mehr kennen lernt. Trotzdem empfinden wir dieſen 


Abſtieg vom Lebensgipfel als einen Aufſtieg von einer nie- 
deren Lebensordnung zu einer höheren. Ja, wir können uns 
nirgends mehr einen Kulturfortſchritt vorſtellen ohne Be— 
ſeitigung ſolcher Gipfel und ohne Nivellierung, die durch 
ſich ſelbſt zu einer Erhöhung der geſamten Lebensfläche führt. 

Im Kunſtleben wiederholt ſich dieſe Erſcheinung ganz ge⸗ 


119 


nau. Der Genießer als ſolcher will keine abgeguckten Kunft- 
werke, will nicht die Maſſe, die an der Darbietung teil— 
nimmt, beanſprucht die Stegreifblüte als etwas für ihn als 
lein Gehöriges. Er befiehlt Separatvorſtellungen und er— 
reicht damit gewiß eine Kunſtſchwelgerei, die der ſpäter nach— 
ſtrömenden Menge verſagt bleibt. In dieſer Behauptung des 
Herrenſtandpunkts offenbarte ſich das Kunſtbekenntnis des 
Königs Ludwig II. von Bayern. Darin liegt Größe, Schön— 
heit, adlige Eigenart, aber ein Übelſtand iſt dabei: es läßt 
ſich der Kunſtwirklichkeit gegenüber nur als eine Fürſten— 
laune von kurzer Dauer durchführen. 

Der Schwelger von heute ſchielt immer noch begehrlich 
nach dem König-Ludwig-Reſervat. Seine Kommandogewalt 
iſt freilich verkürzt, und er muß es dulden, daß die Kunſt— 
ſtrahlen nicht nur ſeine Loge, ſondern ein ganzes Parkett 
voller Menſchen, viele Parketts und viele volle Häuſer er— 
reichen. Damit hat er ſich abgefunden. Denn noch hat er 
das Improviſierte und die unmittelbar wirkende Körper— 
lichkeit für ſich gerettet. 

Bloß für ſich gerettet? ach nein! er hat ſie Millionen 
vorenthalten und dieſen nicht nur die letzte und höchſte 
Schwelgerei, ſondern das Kunſtwerk ſelbſt. Soll es über die 
Tauſende hinweg die Millionen erreichen — und dieſe For— 
derung iſt unabweisbar — ſo muß es eben den Weg der 
mechaniſchen Vervielfältigung einſchlagen. Den Wenigen 
wird dabei nicht einmal ein Opfer an Genuß zugemutet, fon- 
dern nur der Verzicht auf Ausſchließlichkeit. Denn die We— 
nigen werden nach wie vor Erſtaufführungen beſuchen, und 
jedes Stegreif in Bewegung, Mimik und Ton bleibt ihnen 
ungeſchmälert. Sie werden ſich nur damit abzufinden ha— 
ben, daß der Reflex der Darſtellung aus unzähligen Glanz— 


120 


flächen in alle Welt geht, daß die Tafel für Unzählige gedeckt 
wird, die heute noch hungern. 

Fritz Engels poetiſche Anſprüche bleiben alſo in aller Zu— 
kunft gewahrt, und feine Befürchtungen finden im Techni— 
ſchen keine Stütze. Wer ſelber im guten Sprechtheater einen 
guten Platz inne hat, wird auch weiterhin dem Dänenprinzen 
den guten Platz an Opheliens ſüßem Leib neiden dürfen. Aber 
während er ſich dieſen Entzückungen hingibt, mag ihm die 
Erkenntnis zuflüſtern: dieſer ſüße Leib Opheliens iſt für dich 
eine optiſche Tatſache, in deiner eigenen Körperlichkeit be— 
gründet und hervorgerufen durch ein winziges Bildchen auf 
deiner Retina. Du ſelbſt kinematographierſt mit Auge, Hirn 
und Nerven, wenn du den Leib betrachteſt und aus vielen Ver—⸗ 
ſchiebungen jenes Bildchens ſeine Süßigkeit abziehſt. Siehſt 
du ihn durch ein Opernglas, fo hängt der Mädchenleib ver- 
kehrt und verkleinert in der Luft und wird erſt durch einen 
höchſt umſtändlichen Prozeß im Okular deiner Wahrneh— 
mung zugeführt. Setze dich ſchräg gegen die Bühne und 
ſchalte einen Planſpiegel ins Geſichtfeld ein, ſo wird ſich der 
Eindruck immer noch nicht ändern, und du wirſt dich im 
äſthetiſchen Genuß der warmen Körperlichkeit fühlen. Sie 
ſelbſt, die Ophelia, korreſpondiert mit dir immer nur op— 
tiſch, durch einen verwickelten Mechanismus, der letzten 
Endes nichts anderes bewirkt als gewiſſe molekulare Anord— 
nungen in deinem eigenen Empfangsapparat. Gelingt es 
der Technik, dieſe Anordnungen auf noch größeren Umwegen 
und Entfernungen zu bewirken, ſo bleibt dieſe Körperlichkeit 
beſtehen, ſelbſt wenn die reale Ophelia in Berlin geſpielt 
hat und dir ihre Erſcheinung zehn Jahre ſpäter nach einem 
Alpendorf zuſendet. Illuſion iſt alles in der Kunſt, fie ſpie— 
gelt dir in Nähe und Ferne eine Körperlichkeit vor, die du 


21 


ſelbſt durch die Technik der Organe in dir konſtruierſt. Als 
das Kino feine Laufbahn begann, wurde ihm jede Kunſt— 
möglichkeit abgeſtritten. Heute ſieht es auf dem Kampf⸗ 
felde ſchon anders aus, und in die Fanfaren der Gegner mi— 
ſchen ſich die Töne der Verzichtleiſtung. In dem Feldgeſchrei 
„der Autorenfilm verſagt“ liegt bereits das Zugeſtändnis, 
daß man die modernen Filmautoren gar nicht brauchen wird, 
ſondern nur noch Autoren. Ganz einverſtanden. Wenn durch 
vorgeſchrittene Technik und neuangepaßte Illuſion erſt aus 
den „ſtarren Puppen“ lebendige redende Menſchen geworden 
ſind, dann wird es ſich zeigen, daß die Bühnenautoren ſeit 
Sophokles Zeiten ſchon immer für den Film geſchrieben ha— 
ben. Und wenn dann irgendein Filmdrama nichts taugt, 
ſo wird es am Drama liegen, nicht am Film. Nehmen wir 
aber als Vorausſetzung die vollendete Mechanik, den wirk— 
lichen Dichter und den trefflichen Darſteller, dann ver- 
ſchwindet der Filmbegriff überhaupt, und an ſeine Stelle 
tritt das weithin ſtrahl-tönende Kunſtwerk in einer Nach⸗ 
welt, die dem Mimen Kränze flicht. 


522 


277 
8 1 n : 
Sata . 


Klavier und Maſchine 


In meiner Studie über „die Kunſt in tauſend Jahren“ 
habe ich die Frage nach der zeitlichen Begrenzung der Künſte 
aufgeworfen und mit den mir verfügbaren Mitteln zu beant— 
worten verſucht. In der Löſung des Problems gelangte ich 
zu dem Ergebnis, daß die Kunſt im Daſein der Menſchheit 
von Anfang an nur zu endlichen Funktionen berufen ſei. 
Seitdem ſind Aufforderungen an mich ergangen, die Wahr— 
ſcheinlichkeitsſfkala für das Erlöſchen der Künſte genauer zu 
beſtimmen. 

Daß die tauſend Jahre der Überſchrift nur eine bequeme 
Sprachformel darſtellen, iſt ohne weiteres einleuchtend. 
Tauſend Jahre ſind eine Ewigkeit im Verhältnis zum ein— 
zelnen Menſchenleben und eine Minute in der kosmiſchen Ent— 
wicklung. Zweifellos werden Dichtkunſt, Bildhauerei und 
muſikaliſche Kompoſition zu höherem Alter gelangen. Aber 
ich bin der Meinung, daß einzelne Beſonderheiten der Kunſt 
auch dieſe tauſend Jahre nicht überleben werden. Und ich will 
hier mit der neuen Ketzerei hervortreten, daß wir den Mund 
gar nicht mit Jahrtauſenden vollzunehmen brauchen, um 
das Ausſterben einer beſtimmten Kunſtklaſſe, nämlich des 
Pianismus, vorauszuſagen. Hier wird es ſich höchſtens nur 
noch um Jahrhunderte handeln. 

Ich möchte mich hierüber weder mit den Pianiſten von 


123 


Fach noch mit den Konzertagenten oder Konſervatoriums— 
leitern unterhalten. Dieſe werden geneigt ſein, von Arion ab 
über den erſten Spinettpinker hinweg bis zu den Klavier— 
matadoren unſerer Tage eine aufſteigende Kurve zu erblik— 
ken, die notwendigerweiſe ad astra führen muß. Sie wer⸗ 
den die Statiſtik der Klavierkonzerte aufmarſchieren laſſen, 
deren Zahlenwucht die Bedenken eines einzelnen Zweiflers 
einfach niederreitet. Und vermutlich werden ſie wenig Luſt 
bezeigen, mir eine Vorausſetzung zuzugeben, auf die ich vor— 
nehmlich meine verwegene Anſicht aufbaue, nämlich die: daß 
der Pianiſt von Anbeginn in der Entwicklung der tonkünſtle— 
riſchen Gedanken einen Fremdkörper bedeutet. 

Nehmen wir einmal vorläufig die Kompoſition, ſo wie 
ſie ſich in der Klaviermuſik darſtellt, als einen ewigen Wert 
an. Ihr gegenüber ſteht der Empfangende, der Hörer, der 
dieſen Wert in ſich aufnehmen, ſeinen Reiz genießen ſoll. 
Das ideale Verhältnis wäre der unmittelbare Kontakt, das 
Überfließen des Reizes in den empfangenden Organismus, 
ſo wie der Wanderer den Wald und die Sonne, der Jüngling 
die Geliebte genießt, ohne Zwiſchenhändler und Dolmet— 
ſcher. Auf der einen Seite ſteht der Weltgeiſt in einer ſinn— 
lichen Offenbarung, auf der anderen ein Menſch, deſſen Ner— 
venbahnen ſich dieſer Verkündung öffnen. Und theoretiſch, 
wenn auch in Form eines Wunders, ließe ſich auch für die 
Muſik eine ſolche Unmittelbarkeit ausdenken: eine Beetho— 
venſche Sonate, ein Chopinſches Nocturne müßten dem leib— 
lichen Ohre erklingen, wie ſie urſprünglich dem inneren Gehör 
der Erzeuger entquollen. Das wäre die Vollendung. 

Aber zwiſchen dem Beethoven oder Chopin und dem Hörer 
ſteht nun in jedem Falle ein Agent, der die beiden Pole an— 
einanderbringt. Ohne dieſen Menſchen und ſeine umſtänd— 


124 


N 


* 


liche, mühevolle, im Grunde ſehr peinliche Gymnaſtik wür⸗ 
den ſich die beiden Pole, die einander ſuchen, nicht vereini— 
gen, der Funke würde zwiſchen ihnen nicht überſpringen kön— 
nen. Einem Organ, das die Natur zum Greifen beſtimmte, 
hat er das Klavierſpielen abgetrotzt, eine Technik eingepflanzt, 
die in jedem, auch im beſten Falle als das Prinzip der über— 
wundenen Schwierigkeiten eine mechaniſche Geltung bean— 
ſprucht. Dieſer Menſch vermittelt alſo, das heißt, er erregt 
die Täuſchung, daß jener Beethoven oder Chopin zunächſt 
gar nicht die Objektivation einer künſtleriſchen Idee gefun— 
den und dargeſtellt, ſondern vor allem den Vorwand erſonnen 
hat, ihn mit feinen äquilibriſtiſchen und wagehalſigen Lei— 
ſtungen auf das Podium zu befördern. 

Aus allen Poren ſchwitzt ihm die mechaniſche Arbeitsver— 
gangenheit. Wir mögen von der pianiſtiſchen Darbietung 
entzückt und überwältigt ſein, wir mögen ihm zujubeln, ihn 
herausrufen und zu Wiederholungen nötigen, — je beifalls— 
freudiger wir uns gebärden, deſto deutlicher beſtätigen wir 
die Tatſache, daß er jene Idealfühlung nicht fördert, ſondern 
ſtört; daß er eine ſelbſtherrliche Inſtanz darſtellt, von der die 
Kompoſition als ſolche nichts weiß; daß ſich auf dieſer mit 
klammernden Organen ein Paraſit feſtgewurzelt hat, der 
die Kräfte und Säfte des Werkes für eigene Zwecke in An— 
ſpruch nimmt und aufſaugt. 

Aber der kompoſitoriſche Geiſt hat von Natur aus einen 
anderen Willen, und früher oder ſpäter wird er ihn durch— 
ſetzen. Ihm iſt es nicht darum zu tun, die techniſche Her— 
vorbringung zu betonen, ſondern ſie verſchwinden zu laſſen. 
Er will das unmittelbare Überfließen in das Empfangsorgan, 
und wenn er dies bis zur Stunde noch nicht ermöglichte, ſo 
deutet er doch den Weg an, auf dem er es dereinſt ermöglichen 


125 


wird. Schon find am Reformtempel der Kunſt die neuen 
Theſen angeſchlagen, und deren oberſte Sätze lauten: Der 
pianiſtiſche Menſch muß und wird ausgeſchaltet werden; an 
die Stelle des akrobatiſchen Vermittlers ſoll die Maſchine 
treten, die eben, weil ſie ſeelenlos iſt, ſich zur allergehor— 
ſamſten Vollſtreckerin des kompoſitoriſchen Willens eignet. 

Wie dieſe Maſchine der Zukunft heißen wird, das wiſſen 
wir nicht, braucht uns auch nicht zu kümmern. Auf gegen— 
wärtiger Stufe der Möglichkeit heißt fie: das Pianola “). 

Ich ſehe das Entſetzen in den Mienen vieler Leſer. Da 
tritt einer auf, der vollkommen das Göttliche in der Men— 
ſchendarſtellung überſieht und der allen Ernſtes behauptet, 
dieſes Göttliche könnte durch eine maſchinenhafte Anlage 
überwunden werden. Das iſt in der Tat viel Ketzerei in einem 
Satze. Aber wir werden uns zu erinnern haben, daß noch 
niemals eine kunſtphiloſophiſche Erkenntnis, noch niemals 
ein Reformationsgedanke aufgetaucht iſt, die nicht im erſten 
Anlauf einen ketzerhaften Anſtrich gezeigt hätten. 

Exempla docent. Wir wollen uns zunächſt einmal in 
benachbarten Gebieten umſehen, um zu prüfen, welche Rolle 
dem Mechaniſch-Seelenloſen im Bereich des Künſtleriſchen 
und Reingeiſtigen zufällt. 


*) Die Betrachtungen dieſes Artikels gelten bis zu einem ge— 
wiſſen Grade auch für die anderen Konftruftionen, die das Prinzip 
des Pianolas, alſo die Unterdrückung der techniſchen Schwierig— 
keit, verfolgen. An dem Zuge meiner Ausführungen, die nur dieſes 
Prinzip als Zukunftswerk behandeln, wird nichts geändert, wenn 
ſtatt des Wortes Pianola eine andere Artbezeichnung einge— 
ſetzt wird. Der von mir aufgeſtellte Generalnenner iſt aber, am 
Gange der Entwicklung gemeſſen, der einzig mögliche, da das 
Pianola als Verwirklichung eines techniſchen Gedankens vor— 
bildlich aufgetreten iſt. 


126 


Du trittſt vor ein Gemälde, das als Kunſtgebilde zum Be⸗ 

ſchauer dieſelbe Beziehung hat wie die muſikaliſche Kompo⸗ 
ſition zum Hörer. Genau genommen müßte ſich alſo auch 
hier ein Vermittler dazwiſchen ſtellen, ein Menſch, der dir 
das Bild ſozuſagen „vorſpielt“. Hiervon weiß aber dieſe 
Kunſt nichts. Sie läßt die Schwingung — das Subſtrat 
aller Kunſt — direkt in dich, auf deine Retina überſtrömen. 
Als Vermittler dienen lediglich der im Licht ſchwingende ſee— 
lenloſe Ather der Luft und die ſeelenloſe Linſe deines Auges, 
welche in ihrer Vereinigung als das Pianola der Malkunſt 
angeſprochen werden können. Du ſelbſt, als der Schauende, 
haſt dieſes von der Natur vorgeſehene Pianola zu regiſtrie— 
ren, und du kannſt den Gedanken gar nicht zu Ende denken, 


daß hier als Vermittler noch irgendein ſeelenvolles Drittes 


ſich zwiſchen dich und das Kunſtwerk drängen könnte. 

Ja, im Felde der Muſik ſelbſt finden wir Anſätze dieſer 
Erkenntnis. Als Richard Wagner mit der Forderung des 
verdeckten Orcheſters hervortrat, führte er faſt dieſelben Mo— 
tive ins Treffen, die uns als Beweisſtützen dienen ſollen. 
Er verlangte wörtlich „die Beſeitigung der ſtets ſich auf— 
drängenden Sichtbarkeit des techniſchen Apparates der Ton— 
hervorbringung“. Die Häufung geigender und blaſender 
Mittelsperſonen, vor allem aber den eigentlichen Interpreten, 
den Kapellmeiſter in feinen gymnaſtiſchen Übungen, emp⸗ 
fand er als Fremdkörper. Und läge es im Bereich der Möge 
lichkeit, die Kapelle durch ein ideales Orcheſtrion zu erſetzen, 
jo hätte Richard Wagner keinen Augenblick gezögert, den gan⸗ 
zen ſeelenvollen Komplex muſizierender Zwiſchenglieder ſamt 
ihren Dirigenten von Bülow bis Mottl radikal abzuſchaffen 
und durch die Maſchine zu erſetzen. Er hat ſich damit be— 
gnügt, die Störung zu verdecken. Auf unſeren Fall über⸗ 


2 


= 


tragen, würde dies der Mitwirkung eines „verdeckten Kla— 
vierſpielers“ gleichkommen. Wir gehen noch einen Schritt 
weiter und greifen in die Zukunft, indem wir den Pianiſten 
nicht nur verdecken, ſondern in der Verſenkung verſchwinden 
laſſen. 

Denn immer bliebe noch zwiſchen der Schöpfung und dem 
Hörer das Klavier ſelbſt, ein Inſtrument, das mit ſeinen 
Hebeln, befilzten Hämmern, metallenen Fäden und ſeinem 
rieſigen Reſonanzkaſten zunächſt nichts anderes darſtellt als 
einen ſeelenloſen, nach arithmetiſcher Ordnung aufgeftellten 
Katalog der Töne. An und für ſich erſcheint uns das Piano— 
forte wie ein Bergwerk, angefüllt mit Erde, Schlacke und ein— 
geſprengten Silberadern, die erſt losgelöſt, geſchmolzen und 
zur Kunſtgeſtalt geformt werden müſſen; oder wie ein Mar— 
morbruch, der in ſeinem toten, unterſchiedsloſen Geſtein all 
die bildlichen Herrlichkeiten trägt, die erſt — hier wie dort 
wörtlich genommen — herausgehauen werden ſollen. Wäre 
es möglich, das Klavier mit der Urſchöpfung ſo in direkte Be— 
rührung zu bringen, daß der Urheber ſich ſelbſt zum Er— 
klingen brächte, ſo wäre das Vortragsproblem gelöſt. Zu 
dieſem Ziel findet ſich leider in der natürlichen und künſtle— 
riſchen Schöpfungsgeſchichte kein Weg vorgezeichnet. Es iſt 
beſtimmt in Apollos Rat, daß hier ſtets noch ein Tertius 
oder Tertium mit unerbetener, aber notwendiger Dienſt— 
leiſtung auftritt, ein Pianiſt oder ein Pianola, ein Menſch 
oder eine Maſchine, bei denen ſich trotz aller Grundverſchie— 
denheit ihres Weſens ſchon heute ein Konkurrenzkampf an— 
kündigt. 

Und da ſchwinge ich mich ſofort zu der anſcheinend barbari— 
ſchen Anſage auf, daß die Zukunft dieſe Konkurrenz zugun— 
ſten des Pianolas entſcheiden wird; hierbei ſtelle ich das 


128 


Horoſkop gar nicht auf eine Unabſehbarkeit ein, ſondern, wie 
ſchon angedeutet, auf eine nahe, nach wenigen Generationen 
beſtimmbare Folgezeit. 

Ja, ich gehe noch weiter: Nach der Summe ſeiner Lei— 
ſtungen gemeſſen ſtelle ich das Pianola ſchon heute über ir— 
gendeinen Pianiſten. 

In dieſer Summe ſind inbegriffen: die abſolute techniſche 
Vollendung, die Launenloſigkeit des Inſtruments, ſeine ſtete 
Spielbereitſchaft, ſein unendliches Gedächtnis und ſein un— 
erſchöpflicher, die geſamte Literatur umſpannender Spiel— 
ſchatz. 

Dieſe Eigenſchaften werden wohl kaum beſtritten, ſie ſind 
ſo leicht erweislich, daß ein Widerſpruch ſich nicht hervor— 
wagt. Und da frage ich vor allen Dingen: Iſt es denn wirk⸗ 
lich durchaus erforderlich, eine Maſchine als etwas Totes dem 
lebendigen Darſteller gegenüberzuſetzen? Sollen wir uns 
nicht vielmehr endlich von der Legende losreißen, die das 
Leben nur dem als lebendig Klaſſifizierten zuſchreibt? 

Wer ſich erſt zu der Einſicht durchgerungen hat, daß ein 
Uhrwerk, eine Magnetnadel nicht toter ſind als eine organiſche 
Zelle, der wird auch unſchwer an die Stelle der durch Jahr— 
tauſende geübten Denknotwendigkeit vom grundfäßlichen Le— 
bensunterſchied eine neue ſetzen: und am Ende ſeines Denk— 
weges wird er die Wahrheit finden: eine Maſchine, die über: 
haupt ein Tonwerk reproduziert, iſt ein Lebendiges. 

Wer das Gegenteil annimmt, verläuft ſich unrettbar in 
die Sackgaſſe der Widerſinnigkeiten. Das werde ich ihm be— 
weiſen. In meiner Arbeitsſtube wird ein Pianola in Tätig— 
keit geſetzt, das den erſten Satz der Neunten Symphonie aus— 
führt. Mein Flurnachbar, der von dem mechaniſchen Zu— 
ſammenhang der Dinge keine Ahnung hat, der nur der akuſti— 

Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 9 


129 


ſchen Wirkung gehorcht, ſtürzt ganz aufgeregt zu mir ins 
Zimmer, in der Erwartung, bei mir einen berühmten Piani— 
ſten vorzufinden, und iſt im höchſten Grade betroffen, als 
ich ihm als den Urheber der phänomenalen Leiſtung einen 
ſchwarzpolierten Kaſten vorſtelle. Bald darauf rücke ich das 
Pianola ab, ſetze mich ſelbſt an die Taſten und verſuche die 
erſten Takte der Neunten Symphonie. Mein Nachbar er— 
kennt mich ſofort als das, was ich wirklich bin, nämlich als 
einen Klavierſtümper von Gottes Ungnaden, und bittet mich, 
ſchleunigſt innezuhalten. Wenn aber die angeblich unbeſeelte 
Maſchine künſtleriſch fraglos Beſſeres leiſtet als ich, der le— 
bendige und beſeelte Stümper, ſo iſt damit die ſtarre Denk— 
notwendigkeit bereits unheilbar durchbrochen. Wir haben es 
dann nur mit gradmäßigen Unterſchieden zu tun, und es 
könnte ſich allenfalls fragen, in welche Stufe der Künſtler— 
ſchaft das Pianola einzuſchätzen wäre. Es bliebe die Mög— 
lichkeit offen, daß ein Roſenthal, d' Albert, Buſoni, ein Zus 
kunfts⸗Liſzt jene Transſkription noch vollendeter zur Er— 
ſcheinung zu bringen vermöchten. Das bloße Auftauchen die— 
ſer unvermeidlichen Frage genügt, um dem Pianola ſeinen 
Rang unter den Künſtlern anzuweiſen. 

Die Virtuoſität an ſich würde ſchon hinreichen, um ihm 
dieſen Rang zu gewährleiſten. Beim Menſchen beruht die 
techniſche Höhe auf einer beſonders geſteigerten Anlage des 
Koordinationszentrums im Gehirn, der eine entſprechende 
Anlage im Gliederbau gewöhnlich parallel geht. Nun gibt 
es freilich Dilettanten der Phyſiologie, die da meinen, es 
hänge vom Zufall ab, ob unter ſolcher Vorausſetzung der 
Menſch ein vorzüglicher Aquilibriſt, Trapezturner, Jongleur, 
Radfahrer, Volteſchläger oder ein glänzender Klavierſpieler 
würde; und die nämlichen Dilettanten ſind dann geneigt, alle 


130 


r A ir > Tau 9 8 
n 3 


dieſe Qualitäten auf ein und dieſelbe Stufe zu ſtellen, alſo die 
Klaviervirtuoſität als eine rein und ausſchließlich mechaniſche 
Fertigkeit zu begreifen. Das iſt natürlich für jeden, der die 
Zuſammenhänge und Entwicklungsmöglichkeiten tiefer er— 
faßt, der blanke Unſinn. Das höchſtbeanlagte Koordinations— 
zentrum wäre auf der Taſtatur ratlos verloren, wenn es ſich 
nicht auf ein ſpezifiſch muſikaliſches Talent zu ſtützen ver— 
möchte, beſonders auf das muſikaliſche Gedächtnis, das als 
ſolches von einer allgemeinen tonkünſtleriſchen Beanlagung 
ganz untrennbar erſcheint. Ich würde daher nicht einen Au— 
genblick ſchwanken, irgendeine Perſon, von der mir nichts 
anderes bekannt wäre als ihre Klavierbravour, unter die 
Muſiktalente zu rechnen. 

Nun haben wir aber im Pianola einen Organismus, deſ— 
ſen Virtuoſität ohne weiteres als grenzenlos bezeichnet wer— 
den muß. Sein Koordinationszentrum umfaßt alle Mög— 
lichkeiten zugleich. Jeder korreſpondierende Hammer iſt ſein 
eigener Finger, und jeder dieſer Finger funktioniert in jedem 
kleinſten Zeitteilchen mit nie verſagender Treffſicherheit. Das 
ergibt insgeſamt eine Virtuoſität, mit der ſich keines leben— 
digen Spielers Technik zu meſſen vermag und die ja auch 
ſelbſt bei blaſierten Klavierhörern jedesmal aufs neue die 
Empfindung des Staunens auslöſt. 

Und dieſe grenzenloſe Technik tritt trotzdem beim Pianola 
ſo ſelbſtverſtändlich auf, daß ſie durchaus als ein Element 
der Schönheit erſcheint, ohne jenen fatalen Beigeſchmack der 
menſchlichen Bravour, die ſich ſtets als etwas Unnatürliches 
verrät, als etwas Ertrotztes, im vieljährigen Kampf gegen 
die Widerſpenſtigkeit der Hand Erzwungenes. Was der Kom— 
poniſt im Einzelfalle beabſichtigt hat, die beſtimmte Idee im 
Tonreich, die ſich in dieſem Werke objektiviert, wird um ſo 

9 * 
131 


reiner in die Erſcheinung treten, je mehr die techniſche Arbeit 
verſchwindet, die es zu ſeiner Darſtellung aufbietet. Ich fol— 
gere: das Pianola iſt nicht nur ein Künſtler, ſondern es über— 
ragt ſchon in feinem heutigen Können alle lebenden Klavier: 
menſchen dadurch, daß es ein Maximum der Technik mit 
einem Minimum der Ablenkung von der muſikaliſchen Haupt— 
ſache verbindet. 

Alle die Notbehelfe, die der wirkliche Pianiſt, auch der 
vortrefflichſte, einſchmuggeln muß, die durch das Pedal ver— 
deckten Undeutlichkeiten und Unzulänglichkeiten, das nie zu 
vermeidende Durcheinanderſchütteln der Töne im komplizier— 
ten Figurenwerk, die verwiſchten Grenzlinien im Doppelgriff— 
ſpiel, kurz alle techniſchen Mängel, die wir gefliſ— 
ſentlich oder gewohnheitsmäßig überhören, weil ſie unlöslich 
der menſchlichen Darbietung anhaften — ſie exiſtieren nicht 
für das Pianola. Es iſt der einzige abſolut ehrliche Künſt— 
ler, der einzige, der ſeine Arbeit mit vollkommen reinem Ge— 
wiſſen erledigt. Das Pianola unterſchlägt nicht, beſchönigt 
nicht und hilft ſich niemals mit einer athletiſchen Geſte über 
eine techniſche Lücke hinweg. Sein vollgriffiges Spiel, ſeine 
Oktaven, Terzenläufe und Akkordfolgen ſind die einzigen, die 
volles Gewicht zeigen und jede Goldprobe aushalten. Ach, 
wieviel Elemente gibt es im Menſchenſpiel, die uns nur dar— 
um individuell gefärbt erſcheinen, weil jeder Spieler ſich auf 
ſeine perſönliche Weiſe mit der Unzulänglichkeit auseinan— 
derſetzt! Weil jeder ſein Spezifikum beſitzt, mit dem er ſich 
und die Hörer über den im letzten Grunde unbeſieglichen 
Widerſtand der Materie hinwegtäuſcht! Gewohnheit und 
muſikaliſche Anpaſſung an das Gegebene haben uns dahin 
geführt, in dieſen perſönlichen Färbungen Tugenden zu er— 
blicken. Und ebenſo wird uns die Anpaſſung an das Pianola 


142 


na 


dahin führen, ſolche Tugenden bis auf ihren Fehlergrund . 
zu durchſchauen, alſo auch auf gewiſſe Abtönungen zu ver— 
zichten, ſobald wir ſie als Begleiterſcheinungen menſchlicher 
Schwäche oder als Falſchſpielertricks erkannt haben. 

Und nun wird es an der Zeit ſein, ſich deſſen zu erinnern, 
daß ja ſchließlich auch zum Pianola ein Menſch gehört, der 
die Bälge tritt, der das Pedalwerk regelt und die Modu— 
lationshebel nach ſeinem eigenen Willen lenkt. Außerlich 
betrachtet, könnte er für den Pianiſten dieſes Inſtrumentes 
gelten. Tatſächlich verhält er ſich zum eigentlichen Klavier— 
ſpieler wie der große Hexenmeiſter zum kleinen Zauberlehr— 
ling. 

Seine Arbeit beſteht darin, die ungeheuren muſikaliſchen 
Kräfte austönen zu laſſen, die in der Kombination Klavier 
plus Pianola fertig vor ihm liegen; im Klavier als Chaos, 
beim Durchgang durch das Pianola diſzipliniert, fertig ver— 
arbeitet, nur noch des letzten Impulſes gewärtig. Keine 
techniſche Sorge tritt ihm nahe; alle dieſe Sorgen ſind von 
den Bändern des Pianolas abgefangen worden, deren Sieb 
nichts durchläßt als ſchlackenfreie techniſche Vollkommenheit. 
So kann ſich denn der Pianolameiſter einzig und allein dem 
Vortrag des Stückes widmen. 

Vortrag? Meiſter? — ja, ganz gewiß. Schon heute kön— 
nen Spiel und Spieler dieſe Titel verdienen. In der Hand— 
habung des Metroſtylhebels, in der Regiſtrierung, vor allem 
aber in der Kunſt der Pedalgebung, in der Okonomiſierung 
des Luftſtromes öffnet ſich die ganze Stufenleiter von der 
Unbeholfenheit des Anfängers bis zur Meiſterſchaft; und 
demzufolge eine entſprechende Skala von der trockenen Wie— 
dergabe der Noten bis zum hochmuſikaliſchen Vortrag. Nur 
mit dem Unterſchied vom Urklavier, daß der Fingerpianiſt 


133 


fein halbes Leben der Erlangung der Technik opfern muß, 
während der Pianolaſpieler, entbunden von dieſer Fron, als 
der Spieler höherer Ordnung ſich ſofort am Reingeiſtigen, 
am Vortrag, emporbildet. 

Wir haben es im Grunde mit dem einfachen Anſatz zu tun: 
Der Klavierſpieler verhält ſich zum Klavier wie der Pianola— 
ſpieler zum Pianola. Auch das Klavier iſt eine mechaniſche 
Anlage, da es die fertigen Töne auf Vorrat bereitet. Erſt der 
unter der Wucht der Schwierigkeit ſtöhnende Künſtler ver— 
wandelt die Sauberkeit dieſer Anordnung in eine Unreinheit, 
von der er ſich vergebens durch Maſſendiſziplin der Finger 
zu befreien ſtrebt. Unzähligemal im Laufe ſeiner Studien 
wird es ihm inſtinktiv bewußt, daß dieſe Maſſendiſziplin in 
den letzten Dingen des Klavierismus das entſcheidende Wort 
zu ſprechen hat; daß eine Zeit kommen muß, die mit der 
Forderung der Klarheit und Wahrheit in der Wiedergabe die 
Romantik der Fehler überwindet; daß das Ohr der Zukunft 
jeden Manſch und Planſch als frevelhafte Fälſchung wahr— 
nehmen wird. Der Pianoliſt kann da anfangen, wo der ver— 
zweifelte Pianiſt aufhört. Er ſteht vor der Mechanik über: 
legener Klaſſe, vor der zwiefach rektifizierten Reinheit. Die 
Sklaverei der Erdenſchwere weicht dem Höhenrauſch, die Pro— 
peller arbeiten für ihn, und losgelöſt von der Miſere des 
Muskeldienſtes werden ſeine Finger einzig und allein künſt— 
leriſchen Impulſen zu gehorchen haben. 

Gewiß, ich ſpreche hier im Futur, vom Pianola der Zu— 
kunft und von deſſen Meiſter. 

Ohne weiteres ſei zugegeben, daß hier zwiſchen dem Er— 
reichten und dem Wünſchenswerten noch eine weite Lücke 
klafft. Die Abſchattierung der Tonſtärke iſt im heutigen 
Pianola an gewiſſe Grenzen gebunden, und in der Phraſie— 


134 


rung einer legato zu gebenden Melodie behauptet der Fin⸗ 
gerſpieler noch den Vorrang. Aber es wäre Gouvernanten— 
äſthetik, zu erklären, daß die Großwelt des Klaviers ſein 
ganzes Heil von der poetiſchen Wiedergabe einer im Ather 
ſchwebenden Geſangslinie zu erwarten habe. Was dem Kla— 
vier ſeine überragende Stellung anweiſt, was es neben dem 
Orcheſter und ſelbſt mit Ausſchluß der Orgel zum eigent— 
lichen Kultur⸗ und Literaturträger beſtimmt, iſt die mehr: 
dimenſionale Unendlichkeit feiner Tonkombinationen, inner: 
halb deren die einzelne getragene Kantilene verſchwindet wie 
ein anmutiges Wellengekräuſel am Ufer gegen die Majeſtät 
des Ozeans. Und dieſer Ozean ſteht dem Pianolaſpieler ſchon 
heute offen. Es wird durchaus eine Frage des konſtruktiven 
Fortſchritts bilden, auch jene Reſtaufgaben zu bewältigen, 
und wer ſich den Weg vergegenwärtigt, den die Lebendigkeit 
des Vortrages ſeit dem vorſintflutlichen Drehklavier bis zum 
modernen Pianola durchmeſſen hat, der kann über die der— 
einſtige Löſung dieſer Aufgaben nicht im Zweifel fein. 

Die Seele des Pianola iſt die Notenrolle; denn dieſe 
enthält den erſchöpfenden Ausdruck der Kompoſition, und 
ſo iſt hier das Kunſtwerk ſelbſt zu einem Beſtandteil des 
Inſtrumentes geworden. Die Tonſchöpfung tritt nicht von 
außen heran, ſondern lebt mit dem darſtellenden Mechanis— 
mus ein und dasſelbe Leben. Es erſcheint mir nicht neben 
ſächlich, daß die Noten, wie ſie ſich hier abrollen und durch 
den Atem der Bälge in das Inſtrument ergießen, ſchon in 
ihrer Erſcheinung ein weit zutreffenderes Bild des kompo— 
ſitoriſchen Gedankens geben als die Drucknoten. Die Zwei— 
teilung nach rechter und linker Hand, die doch nur ein Zu⸗ 
geſtändnis an die menſchliche Anatomie darſtellt, iſt der Ein— 
heitlichkeit gewichen. Die Dauer jeder Note, ihr Einſchlag 


135 


in das Tongewebe, kündigt ſich finnfällig an, dem Kunſt⸗ 
verſtand unmittelbar erkennbar, nicht durch eine typographi⸗ 
ſche Chiffre. Geometriſch-analytiſch betrachtet iſt die gedruckte 
Notenſeite ein Gebilde, worin zu einer horizontalen Abſziſſe 
der Zeit die Tonhöhen als ſenkrechte Ordinaten eingetragen 
werden. Dem entſpricht die Anordnung auf dem Klavier 
aber keineswegs, denn auf der Taſtatur verlaufen gerade 
umgekehrt die Tonhöhen in der Horizontalen. Zwiſchen der 
gedruckten und der geſpielten Kompoſition klafft alſo ein 
innerer mathematiſcher Widerſpruch, der in ganzer Stärke 
wahrnehmbar wird, ſobald man das Abrollen des Noten— 
bandes im Pianola verfolgt. Hier verlaufen die Tonhöhen 
genau ſo, wie wir ſie inſtrumental empfinden, in der Wage⸗ 
rechten, während ſich die Zeit ſinngemäß in der Linie des fort— 
ſchreitenden Spiels, alſo ſenkrecht, einordnet. Auch in dieſem 
Punkte offenbart ſich eine Rückkehr zur wirklichen Muſik— 
natur, ein innigerer Anſchluß an die Kompoſition. Und ich 
gehe wohl in der Annahme nicht fehl, daß nach all dieſen 
Beweisgründen meine Anſage von der Überwindung des Pia— 
nismus durch das Pianola der Zukunft nicht mehr ganz ſo 
barbariſch klingen wird wie auf den erſten Anhieb. 

Als ich von der Querſumme der Leiſtungen ſprach, nannte 
ich die Größe der Literatur. Sie allein wäre zureichend, 
um das Pianola allen Inſtrumenten und allen Spielern 
überzuordnen, denn ſie umfaßt tatſächlich die muſikaliſche 
Welt. Mit einem einzigen Pianola und einem auf ſeinen 
Mechanismus eingeübten Spieler iſt die geſamte Botſchaft 
des muſikaliſchen Parnaſſes zu verkünden. Klein und ärm— 
lich erſcheint der Spezialbetrieb jedes Fingerpianiſten gegen 
die Univerſalität eines Pianola, das, ſowie es das Atelier 
ſeines Erzeugers verläßt, bereits die ganze auf Taſten dar— 


136 


ſtellbare Weltliteratur eingeübt hat. Klein und ärmlich er 
ſcheint auch ſo geſehen das Heer ſonſtiger Spielapparate, 
der Mignonklaviere, der Grammophone, kurz aller Kon- 
ſtruktionen, die nur das automatiſch wiederzugeben vermö— 
gen, was ihnen ein Künſtler vorgeſpielt oder vorgeſungen 
hat“). Sie haften ſklaviſch an der Endlichkeit menſchlicher 
Darbietungen, während das Pianola ſeinen Reichtum ohne 
Mittelsperſon aus der Unendlichkeit der Schöpfung herleitet. 
Während Mignon und Grammophon ſich unweigerlich auf 
den beſtimmten Stil ihres Vortragsmuſters feſtlegen, bleibt 
das Pianola nur dem Komponiſten ſelbſt verpflichtet, völlig 
frei indes in Tempowandel und Stärkegraden; alſo mit den 
Kennzeichen der Perſönlichkeit begabt gegenüber den Repro— 
duktionsmaſchinen, die keine Originalklangbilder, ſondern nur 
deren Echo zu geben vermögen. 


*) Ich bin mir deſſen bewußt, daß ich hier aus dem Felde der 
kunſtphiloſophiſchen Zukunft in das der gerichtsnotoriſchen Gegen— 
wart geleite. Eine Reichsgerichtsentſcheidung vom 5. Mai 1909 
enthält folgende Sätze: „In der Reichsgerichtskommiſſion wurde 
ein Pianola vorgeführt, und man überzeugte ſich, daß der Bor; 
trag der Kompoſition mit Hilfe des Pianolas von dem Vortrage 
durch einen in der Technik hervorragend geſchulten Spieler nicht 
oder doch nur von den Kennern der größten Feinheiten unter- 
ſchieden werden kann.“ „. .. Dies gerade iſt auch beim Pianola 
das Charakteriſtiſche. Der Vortragende iſt hier in der Lage, die 
Wiedergabe des Muſikwerkes nach ſeiner perſönlichen Auffaſſung 
in den vom Geſetz hervorgehobenen Richtungen zu beſtimmen. 
Hierdurch wird die Wiedergabe in gewiſſem Maße ſelbſt eine 
perſönliche, eine individuelle. Sie wirkt nach Art eines perſön— 
lichen Vortrages. Beim Grammophon und beim Phonographen 
iſt das unmöglich. Alles Perſönliche iſt bei der Vorführung des 
Phonographen ausgeſchaltet; nur das Mechaniſche iſt in Wirk— 
ſamkeit.“ 


137 


Das Pianola iſt ein Lebendiges trotz feiner im Grunde 
maſchinenhaften Anlage, wie ein modernes Feldheer lebendig 
iſt, obſchon es ſich nicht auf die Individualitäten vorzeitlicher 
Ritter beruft. Es iſt ein übergeordnet Lebendiges im Sinne 
Fechnerſcher Philoſophie, denn es denkt mit der Summe der 
Kompoſitionen, aus denen ſich ſeine Leiſtung aufbaut. Wir⸗ 
kungslos werden die Kaſſandrarufe der frommen Schwär⸗ 
mer verhallen, die ſich die Mechaniſierung der Tonkunſt nur 
als eine Entgötterung der Kunſtwelt vorzuſtellen vormö— 
gen. Auch die Sternenwelt iſt nicht entgöttert worden da— 
durch, daß Kopernikus, Kepler und Newton das Firmament 
unter die Geſetze der Mechanik zwangen. Man muß nur ler⸗ 
nen, das Grundweſen der Mechanik, die nach Geſetzen wal⸗ 
tende Kraft, in ihrem Zuſammenhang mit dem Schönen in 
Natur und Kunſt zu erfaſſen und als etwas Göttliches wahr⸗ 
zunehmen! 


138 


EIER 


Ein verlorenes Paradies 


Richard Wagner ſagt: „Ich kann den Geiſt der Muſik 
nicht anders faſſen als in der Liebe“ — ein Gefühlsſpruch, 
der in feiner Einfachheit und Eindringlichkeit nach Erwei— 
terung ruft, dergeſtalt, daß man das Weſen der geſamten 
Kunſt in der Liebe begreifen möchte. In der Tat kann kein 
Vergleich einleuchtender, in ſich gewiſſer ſein als der einer 
Kunſtbefruchtung mit der Liebesempfängnis. Und es be— 
durfte nur noch des weiteren Anſchluſſes an neuzeitliche ex— 
perimentelle Wiſſenſchaftlichkeit, um auch auf künſtleriſchem 
Felde die Befruchtung nach den Methoden der letzten Phy— 
ſiologie zu vollziehen; das heißt, die Liebesumarmung in 
einen Laboratoriumsakt zu verwandeln und den künſtleriſch 
in Brunſt erzeugten Organismus durch einen in der Retorte 
dargeſtellten Homunkulus zu erſetzen. Das tertium com- 
parationis, die Erzeugung der Frucht, bleibt ja auch dann 
noch beſtehen, und zugleich wird das wichtige ökonomiſche 
Geſetz Oſtwalds: „Spare Energie“, in höchſt erfreulicher 
Weiſe gewahrt. Das ſo gewonnene Weſen atmet, lebt, be— 
wegt ſich, verrichtet organiſche Funktionen, und nur eines 
iſt bis jetzt noch nicht erwieſen, erſcheint mir auch in hohem 
Grade zweifelhaft: ob es ſelbſt ſpäterhin zeugungsfähig 
ſein wird. Denn die Natur läßt ihrer nicht ſpotten, und 
wenn ſie ſich hintergangen, durch einen Mechanismus über— 


139 


rumpelt ſieht, ſo kann es nicht fehlen, daß fie ſich rächen 
wird; nämlich dadurch, daß ſie die Fälſchung ihres Willens 
irgendwie durch eine Falſchheit im Reſultat zum Ausdruck 
bringt. Das ohne Brunſt und Kuß empfangene Kunſtwerk, 
die nach Döderleins Rezept hergeſtellte Symphonie und 
Poeſie, wird körperliche Attribute haben, aber keine klam— 
mernden Organe, eine Vernunft, aber keine Seele, wird 
ſelbſt des Kuſſes unfähig fein und die an ihm geſparte Ener— 
gie durch eigene Energieloſigkeit verraten; und ohne Liebe 
geboren, wird es unfähig ſein, Liebe zu wecken. Während 
aber in bürgerlichen Bezirken der Homunkulus noch als 
größte Seltenheit auftritt und der bürgerliche Standesbeamte 
in Verlegenheit gerät, weil er nicht weiß, wie er die Kurioſi— 
tät eintragen ſoll, ift der kritiſche Standesbeamte ohne wei— 
teres bereit, dem Kunſthomunkel jedes gewünſchte Doku— 
ment auszuſchreiben. Ihm genügt ſeine Exiſtenz in Noten 
und Worten, das Vorſtadium der Liebe oder Nichtliebe küm— 
mert ihn nicht weiter; ebenſowenig ſeine deutlich erkennbare 
Herkunft aus Atelier, Injektion, Flaſche und Spritzmecha— 
nismus. Es tönt, alſo iſt es eine Symphonie. Es hat ir— 
gendwelche rhythmiſche Glieder, alſo iſt es ein Gedicht. Es 
wird ſtandesamtlich eingetragen, kritiſch beglaubigt und be— 
kommt gewöhnlich auch eine Empfehlung mit auf den Weg. 
Fragt ſich bloß, wie die nächſte Generation ausſehen wird. 


* 


Inzwiſchen wollen wir uns mit der gegenwärtigen be— 
ſchäftigen. Da haben es denn verſchiedene Exemplare tat— 
ſächlich bis zu recht anſehnlichen Diplomen gebracht, ja ſo— 
gar bis zur Heiligſprechung. Gnaden und Wunder floſſen 
von ihnen auf die Gemeinde, und wer ſich in Proben und 


140 


reer 1 1 £ 1 
Be) 5 4 
2 


* r > WEL ZEN 


Konzerten fleißig umtat, der konnte, wenn er es gut traf, in 
zwei Tagen dreimal erlöſt werden. Dieſe Kraft entſtrömt 
weſentlich den Endſätzen, deren offenes oder geheimes Pro— 
gramm in der Regel mit dem Erlöſungsgedanken ſpielt. Dar— 
unter tut es ein Neutöner der jüngſten Ara nicht mehr. Er 
identifiziert ſich eo ipso mit der Menſchheit, und nachdem 
er deren titaniſches Ringen in den Vorderſätzen abgehaſpelt 
hat, ſetzt er ſich im letzten breit hin und erlöſt ſie insgeſamt 
durch hohe Triller, Flageoletts und Harfenarpeggien. Das 
einzig Störende an dieſem Spaß iſt nur, daß dieſe letzte him— 
melſtürmende Seligkeit im Prinzip von Beethoven, in der 
Inſtrumentation von Liſzt und Berlioz ſchon wiederholt vor— 
weggenommen wurde. Tut nichts, man macht es immer 
noch einmal, denn Beethoven iſt bloß bis zur Neunten ge— 
kommen, dieſe Herren aber haben Zeit, und da ſie alleſamt 
da anfangen, wo Beethoven aufhörte, ſo kommen ſie natür— 
lich mit ihren erfreulichen Sphärenklängen erheblich weiter 
und können bedeutend gründlicher erlöſen als Beethoven. 
Auch das fauſtiſche Drängen der verzweifelten Heldenſeele 
in den Eingangsſätzen liegt ihnen beſſer als dem großen 
Ludwig, wie ſchon daraus hervorgeht, daß dieſer ſich mit 
einem Orcheſter von fünfzig Perſonen begnügte, was eigent— 
lich höchſt ſpießbürgerlich und gar nicht titaniſch iſt, während 
der neue Symphoniker tauſend Aufführende vorſchreibt, was 
doch der weiten Menſchheitsidee ſchon viel näher kommt. 
Aber der Kernpunkt liegt offenbar darin, daß ſo ein Alt— 
klaſſiker mit greifbaren, plaſtiſchen Themen arbeitet, die ihm 
ungerufen zuſtrömen und ſich unter ſeinen Händen zu klin— 
genden Gebilden aufbauen; faſt ohne ſein Dazutun, wie an— 
gehaucht von einer komponierenden Naturmacht, die ſich zur 
Verwirklichung ihrer platoniſchen Ideen eines beglückten In— 


141 


terpreten bedient. Wo ſoll da eigentlich die rechte Verzmweif- 
lung der Heldenſeele herkommen? woher die prometheiſche 
Qual in der Fülle der Luſtempfindungen, die ſolche nie aus⸗ 
ſetzende Inſpiration gewährt? In dieſer Hinſicht treten die 
Tauſendkünſtler von heute mit ganz anderen Beglaubigungen 
auf. Ihnen frißt wirklich etwas am Herzen, nämlich der 
Komponierdrang um jeden Preis, der unbefriedigte Trieb, 
das heiße Sehnen nach der ſoufflierenden Stimme, die ver— 
gebliche Anrufung des Heiligen Geiſtes. Dumpf unter der 
Schwelle ihres Bewußtſeins wühlt ihnen das Leiden eines 
Widerſtreites, das ſie für fauſtiſch nehmen, das aber in 
Wahrheit der Schmerz des Eunuchen iſt; die Troſtloſigkeit 
des Nichtvollbringenkönnens mit begehrenden Nerven und 
unzulänglichen Organen. Die Schärfe dieſes Peinzuſtandes 
würde ausreichen, um eine Welt mit Weherufen zu erfüllen, 
ſie befähigt nur leider für ſich allein gar nicht für eine 
Symphonie; am allerwenigſten für Beethovens Zehnte, und 
wenn auch auf dem Gerüſt zwanzigtauſend Künſtler ſich an⸗ 
ſtrengten, die Qual des Komponiſten in Schallwellen um: 
zuſetzen. Denn nicht darin liegt das Weſen dieſes Kontraſtes, 
daß der Tondichter einem hochgeſteckten Ziel zufliegt, daß 
er dieſes Ziel ſelbſt mit den mächtigſten Flügelſchlägen nie 
zu erreichen vermag, ſondern darin, daß er kriecht und hinkt, 
während Flügel notwendig wären, um überhaupt die Richt— 
linie ahnen zu laſſen. Mit der Größe des Wollens kontraſtiert 
nicht die Kleinheit der Menſchennatur, ſondern die Kleinheit 
dieſes Gehirns, dem nicht genug einfällt, um ein Lied oder 
eine Etüde zu beſtreiten, und das ſich an die ſymphoniſchen 
Möglichkeiten heranwagt mit der poſitiven Unmöglichkeit, 
ein ausgiebiges Motiv zu erfinden. 

Dieſes Mißverhältnis iſt traurig, aber nicht tragiſch. Und 


142 


die ſymphoniſchen Dramen, die fich hieraus entwickeln, ges 
nügen nur einſeitig der Ariſtoteliſchen Regel der Furcht und 
des Mitleids, nämlich ſo, wie es jener geiſtreiche Spötter 
verſtanden hat, daß ſie Mitleid erregen mit dem, was der 
Autor bereits geſchrieben hat, und Furcht vor dem, was er 
noch ſchreiben wird; wobei allerdings ein Empfänger voraus⸗ 
geſetzt wird, der die Dinge rein muſikaliſch auf ſich wirken 
läßt und entſchloſſen iſt, die Bedürfniſſe des Ohres gegen 
jeden Anſturm des Verworrenen und Langweiligen zu ver— 
teidigen. 

Es ſoll nicht geleugnet werden, daß ſich in dieſem An— 
ſtürmen ein hohes Maß ſtrategiſcher und taktiſcher Fähigkeit 
kundgibt. Wer ſich mit ſeinen kalophonen Mitteln im Rück⸗ 
ſtand ſieht, wird bald genug entdecken, daß ſich die kako— 
phonen Feldtruppen weit raſcher und ausgiebiger mobiliſie— 
ren laſſen und daß der übelklingende Kontrapunkt ein uns 
gleich weiteres Feld beherrſcht als der gutklingende. Hierin 
liegt geradezu das Kennzeichen dieſer Tonſetzerei: man kann 
alles machen, alles komponieren, die ganze Unendlichkeit der 
Tonfolge und Tongruppierung durchmeſſen und braucht ſich 
nicht mehr auf das Mindeſtmaß der Ausleſe zu verpflich— 
ten, das ſich der Kontrolle des Schönheitsſinnes unterwirft. 
Iſt dieſe Kunſt erſt einige Jahrzehnte geübt worden, ſo wun— 
dert ſich das Ohr über nichts mehr. Es erfährt eine organiſche 
Umbildung durch Anpaſſung an die Klangwelt. Die Ver— 
teidigungsorgane, die aus feinen Membranen beſtehend ehe— 
dem das Eindringen des Störenden verhindert haben, ver— 
kümmern und werden ſchließlich abgeworfen, da ſie ſich den 
unaufhörlichen Angriffen gegenüber als unwirkſam erwieſen 
haben. Das Ohr wird Schalltrichter, verzichtet aufs Dif— 
ferenzieren, verlernt die Unterſcheidung von Gut und Böſe, 


143 


erreicht einen Höhegrad an kakophoner Empfänglichkeit und 
fühlt fich am Ende ſogar freier als vordem, inſofern es feine 
Verbindung mit dem Geſchmack, einem unbequemen und pe= 
dantiſchen Aufpaſſer, gelöſt hat. 


— 


Freilich müſſen hier, wie bei allen Vorgängen der Um— 
bildung, die ataviſtiſchen Rückfälle in Rechnung geſtellt wer— 
den. Dieſe Rückſchläge unterliegen einfachen biologiſchen Ge— 
ſetzen, die einen gewiſſen Periodenumlauf bedingen. Mit an— 
deren Worten: in gemeſſenen Zwiſchenräumen, je nach der 
Länge des Kunſtwerkes, nach heutigem Durchſchnitt etwa 
alle zwanzig Minuten, beſinnt ſich das Ohr auf ſeine ur⸗ 
ſprüngliche Veranlagung und verlangt urväterlich nach Wohl- 
klang. Ein Tonſetzer, der dieſe Sachlage verkennt, würde 
üble Erfahrungen machen und auf die Dauer über das Fias- 
co d’estime nicht hinauskommen. Zur Ehre unſerer Zunft 
ſei es geſagt, daß die allermeiſten dieſen Umſtand wohl be= 
rückſichtigen und ſich ſonach ernſtlich bemühen, durchſchnitt— 
lich alle zwanzig Minuten etwas zu erfinden. 

Es iſt ein Akt der Okonomie, der ſich jedesmal auf der 
Stelle belohnt. Im Grunde beruht er auf dem Geſetz des 
Widerſpruchs, das ſchon die Klaſſiker kannten, nur daß hier 
das Wirkungsproblem von der anderen Seite angefaßt und 
gelöſt wird. Ich erinnere an den Cumulus in Beethovens 
Eroika mit ſeiner tremolierenden Sekunde b — as, die als 
vereinzelte Diſſonanz die Kunſtwelt ſo lange in Aufregung 
gehalten hat. Hier ſtand der ſchroffe Übelklang vereinſamt 
und trotzig in einer Welt des Wohlklanges. Heute macht 
man das umgekehrt; man baut eine Welt des Mißklangs und 
verblüfft dann durch eine blitzartig dazwiſchenfahrende Kon— 


144 


ſonanz. Man ſtiftet Dafen in der Wüfte, Und wenn man 
die Mitwanderer genügend verdurftet glaubt, reicht man 
ihnen ſogar den Labetrunk in Form einiger Walzertakte. Das 
wirkt erfriſchend und wird zudem als ein Beweis beſonderer 
Güte und Herablaſſung begrüßt. Der Walzer braucht nicht 
gut zu ſein, auch nicht neu; ein verwäſſertes Wiener Motiv 
von Lanner genügt. In der Operette würde er lediglich eine 
Banalität mehr bedeuten, eine jener Trivialſtellen, wie ſie 
im Sommer zu Dutzenden aus den Schädeln betriebſamer 
Oſterreicher auskriechen, um für den Winter die leeren Stel— 
len zwiſchen den eigentlichen Schlagern auszupolſtern. Aber 
in der kakophonen Symphonie wirkt ſo ein Walzerbrocken 
Wunder. Die Motivierung macht übrigens niemals beſon— 
dere Umſtände; denn da dieſe Symphonien durchgängig von 
Kampf und Erlöſung handeln, ſo wird der ringende Heros 
ab und zu der lockenden Weltfreude genähert. Zur Bio— 
graphie des Fauſt gehört eben das Singen, Fiedeln, Kegel— 
ſchieben, die geputzte Magd und der beizende Tabak einer un— 
fauſtiſchen Umwelt. Dieſer hundertmal komponierte Fauſt 
würde direkt ſeinen Beruf verfehlen, wenn er auf dem weiten 
Wege von den Kontrabäſſen der inneren Zerriſſenheit durch 
die Fagotte der Hexenküche zu den Harfen der himmliſchen 
Freuden nicht einmal bei einer böhmiſchen Kirmeß Station 
machte, wo der Komponiſt ſeinen längſt fälligen Ländler los— 
werden kann. Daß ſie ſämtlich auf die nämliche hübſche 
Idee geraten, kann nur denjenigen verſtimmen, der entweder 
alle derartigen Programme verwirft oder, wenn er ſie zu— 
läßt, von ihnen eine neue Wendung, einen neuen Geſichts— 
punkt erwartet. Zum Glück iſt die Nörgelſucht bei den mei— 
ſten Chorführern der öffentlichen Meinung nicht hervor— 
ſtechend. Es ſtört ſie nicht im geringſten, wenn derſelbe Held 
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 10 
145 


immer wieder über denfelben programmatiſchen Leiſten ge— 
ſchlagen, immer wieder auf dieſelbe Kirchweih ins Vergnügen 
geſchickt wird. Die Sache gilt ihnen unentwegt als „ſehr 
geiſtreich“, der Ländler mag ausſehen, wie er will, er wird 
überall, wo er im geſtaltloſen Nichts als rhythmiſches Etwas 
auftaucht, als höchſt originell gefeiert, und noch viele Auf— 
führungen ſind ihm todſicher. 


* 


Vor vierzig bis fünfzig Jahren hat nämlich unſere geſamte 
Kunſtkritik einen Unglücksfall erlebt, von dem ſie ſich ſo 
recht bis heute nicht erholen konnte. Es mag ja ſein, daß ein 
Erdbeben, ein Zyklon größere Verwüſtungen angerichtet hat, 
nachhaltiger aber iſt noch keine Kataſtrophe geweſen als dieſe, 
die ihre Folgen an einem ganzen Berufsſtande noch nach 
einem halben Jahrhundert aufzeigt. Alſo man hatte eine 
der größten Erſcheinungen der Weltgeſchichte, nämlich das 
Richard Wagnerſche Kunſtwerk, mißverſtanden, den Um— 
ſchlag der Entwickelung verfehlt, im Bunde mit führenden 
Komponiſten und hervorragenden Aſthetikern, die für ſich 
imſtande geweſen wären, die öffentliche Meinung zu beherr— 
ſchen. Aber dieſes Mißverſtändnis war vom Volk nicht ge— 
nehmigt worden: Geh du rechtswärts, laß mich linkswärts 
gehn, — hatte der Volksgeiſt entſchieden, gegen alle Autoritä— 
ten der komponierenden und rezenſierenden Feder mit ſolcher 
Nachdrücklichkeit entſchieden, daß ſein Wille das neue Kunſt— 
geſetz wurde und daß die Gefiederten umlernen mußten. Als 
Rückſtand dieſes weltgeſchichtlichen Vorganges iſt der Kritik 
ein Leitſatz lebendig geblieben: eine ſolche Blamage darf ſich 
in aller Welt niemals wiederholen! Längſt ſind ſie dahin, 
die jene Blamage anrichteten und ihr zum Opfer fielen. Aber 


146 


5 


die Kritik als ſolche, vertreten in den Söhnen und Nachfol— 
gern der Firma, ſpürt heute noch den Schrecken in Form 
des kategoriſchen Imperativs: Nie wieder! Über allen direk— 
ten Tonempfindungen, Reizungen, akuſtiſchen Widerſprüchen 
und äſthetiſchen Zweifeln hat ſich ein oberſtes Denkgeſetz auf— 
gebaut: Immer mitgehen, bis an die Grenzlinie des Schaf— 
fens mitgehen, in jedem Stürmer das Genie wittern, — es 
könnte ein Großer ſein! 

Die Methode iſt unfehlbar: Wenn ich immer gut Wetter 
prophezeie, wird mich kein Sonnenſtrahl widerlegen, und 
wenn ich mit allen Verwegenen gemeinſame Sache mache, 
kann mich kein Übermächtiger zu Boden ſtrecken. Und nun 
hat ſich in ſelbſtverſtändlicher Wechſelwirkung folgender Tat— 
beſtand herausgebildet: die Natur, die ehedem in der Erſchaf— 


fung der Genies äußerſt ſparſam vorging, entfaltet nach 


Gutachten der Kritik ſeit etwa zwei Jahrzehnten eine unge— 
heure Gebelaune; die wie Pilze nach dem Regen aufſprie— 
ßenden Genies orientieren ſich mit Leichtigkeit nach der Wind— 
richtung, ſie überbieten einander in Extravaganzen, da dem 
Extravaganteſten alle Vorteile der Meiſtbegünſtigung zufal— 
len. Das Publikum aber wird vor eine unermeßliche Laſt— 
arbeit geſetzt; es wird dermaßen in Anſpruch genommen, die 
unüberſehbare Fülle der Neugenialen zu begreifen, daß ihm 
kaum noch die Möglichkeit bleibt, ſich der alten Werte zu er— 
innern. Jedes Jahr überſpült eine Welt von Schönheit und 
Reiz mit den überall gleichen Fluten geſtaltlos wogender 
Muſikmaterie. Nur noch wenige Hochbauten, wie etwa der 
Beethovenſche Leuchtturm, halten der Überſchwemmung 
ftand. Aber alle Plantagen ihnen zu Füßen, die Wundergär⸗ 
ten, deren höchſter Zauber vielleicht in ihrer Vergänglich— 
keit ruhte, die beglückenden Gewächſe, die nicht den Wuchs 


10% 


147 


der Zeder, nur den Duft der Roſe, die ſtille Herrlichkeit des 
Veilchens beſaßen, liegen unter der Fläche, erſoffen und 
verſchlammt. Es muß einmal geſagt werden: nicht Neu— 
land wurde gewonnen und urbar gemacht, ſondern Altland 
wurde fortgeriſſen. Und wenn Xenophons Zehntauſend ju— 
beln durften, als ſie dem Meere nahekamen, ſo haben die 
Hunderttauſend von heute Grund zu wehklagen: Thalatta, 
Thalattal, wenn ſie von der monotonen Salzflut eingeholt 
werden. 
* 

Ein Entrinnen gibt es nicht bei dieſem Andrang, dem 
auf kritiſchem Gelände keine Deiche gegenüberſtehen. Dem 
nächſten Geſchlechte wird Mozart, Weber, Schubert eine Le— 
gende ſein, wie der gegenwärtig aufſtrebenden Meyerbeer, 
Mendelsſohn, Rubinſtein und die Meiſter des bel canto be= 
reits ins Legendäre tauchen. 

Aber, ſo höre ich den Einwand, dieſe Schätze mußten und 
müſſen vergehen, um neuen Errungenſchaften Raum zu ge— 
ben; nur auf den Trümmern alter Kunſt kann das Ver— 
ſtändnis und das Entzücken für eine neue gedeihen. Ver— 
ſtändnis? Zugeſtanden, inſofern es als der Trieb aufgefaßt 
wird, ſich in einer uferloſen, chaotiſchen, von kosmiſchem 
Dröhnen erfüllten Muſik zurechtzufinden. Entzücken? Ehr⸗ 
lich geſagt, davon merke ich nicht viel. In dem futuriſtiſchen 
Glaubensbekenntnis hat die Freude ausgeſpielt. Ich ſehe 
eine Überfülle von Konzerten und Opern, mit unzähligen 
tauſenden höchſt aufmerkſamer, bis zur Selbſtqual geduldi— 
ger, lernbegieriger und intereſſierter Hörer; nur daß ſich 
ihr Intereſſe ganz einſeitig nach der Richtung des Begreifens 
verdichtet, nicht nach der des Genießens. Selbſt wenn ich 
richtige Erfolge von einſt und jetzt zugrunde lege — ich bin 


148 


8 


leider alt genug, um vergleichen zu können —, ſo komme 
ich in keiner Sekunde davon los: es iſt ein Unterſchied zwi— 
ſchen dem Fluidum, das durch eine entzückte Hörerſchaft 
von ehedem wogte, und der Welle des gemeinſamen Ein— 
verſtändniſſes von heute. In den Beifall iſt Automatismus 
hineingekommen, und auf den Geſichtern lagert des Ge— 
dankens Bläſſe. Ich ſehe mir ſo einen Beifallsſpender an 
und diagnoſtiziere: Die Sache hat ihm nicht viel gebracht, 
aber er erklärt ein hohes Einkommen an Genuß, um den 
Kredit nicht zu verlieren. Er markiert Vorgeſchrittenheit, 
letzte Kultur, ſtrammes Mitgehen bis ins Extrem, aber es 
iſt nicht eigentlich die Bürde der Begeiſterung, deren er ſich 
entläd, ſondern die Bürde des vier- oder fünfſätzigen ſym— 
phoniſchen Ungeheuers, und wenn ich ganz ſcharf aufpaſſe, 
ſo entdecke ich im Applausgeräuſch gewöhnlich ein Unter— 
motiv, welches beſagt: Gott ſei Dank, daß der Bandwurm 
zu Ende iſt! Im Grunde genommen iſt er ein Eingeſchüch— 
terter, der es ſich als ein moderner Menſch um keinen Preis 
anſehen laſſen darf, wie ſchwer die Suggeſtion der Umwelt 
auf ihm laſtet; infolgedeſſen benutzt er den einzig möglichen 
Ausweg, indem er die Haltung des Beherzten annimmt und 
ſich mit feinem Evoe in die vorderſte Reihe der Bacchanten 
ſchiebt. Die Probe aufs Exempel erhalte ich regelmäßig, 
wenn ich mir ſo einen Begeiſterten privatim vornehme und 
ihn nach ſeinem poſitiven Gewinn befrage. Bitte, ſchlagen 
Sie mir auf dem Klavier eine Stelle an, die Ihnen be— 
ſonders gefiel, ein Thema, eine Modulation, ein Irgendet— 
was, das Sie gefangen nahm und Sie beſchäftigt; Sie kön— 
nen nicht ſpielen? Gut, dann ſingen, ſummen, pfeifen Sie 
es, nur zum Zeichen, daß ein Niederſchlag in Ihnen haften 
blieb. Faſt regelmäßig ſtoße ich auf ein Vakuum. Der Mann 


149 


erklärt eidesſtattlich feine Begeiſterung, aber er hat nichts 
gegenwärtig, das Werk hat ſeinem Gedächtnis nichts ge— 
ſagt. Und da im Denken wie im Fühlen das Gedächtnis den 
letzten Schluß und die eigentliche Kontrolle bildet, ſo er— 
leben wir hier faſt durchgängig jenes unheimliche Rätſel 
einer Folge ohne Grund, einer Wirkung ohne Urſache. Aber 
die nämliche Perſon ertappt ſich unzähligemal auf Remini⸗ 
ſzenzen aus Klaſſikern und Romantikern von Bach bis zu 
Schumann und herab bis zu Offenbach, ja ſein ganzes mu— 
ſikaliſches Bewußtſein, ſoweit es in ihm lebendig iſt und 
nicht unter einer nebelhaften Doktrin begraben liegt, ſetzt 
ſich aus ſolchen Reminiſzenzen zuſammen; wie ganz na= 
türlich, da das Bewußtſein überhaupt mit der Erinnerung, 
der organiſchen Mneme, eine reſtloſe Einheit darſtellt. Dem— 
gegenüber flüchtet nun die Ausrede aller Befragten zu einer 
höchſt verſchmitzten Formel. Sie erklärt nämlich: In dieſer 
Kunſt verliert die Einzelheit ihren Sinn gegenüber dem Gan— 
zen; was man vordem Melodie nannte oder Thema oder 
Motiv, kurz, alles feſt Umriſſene, gleichſam Gegen— 
ſtändliche, das ſind olle Kamellen, die man in die Kinder— 
ſtube verwieſen hat. Wir haben es nur noch mit Geſamt— 
gebilden zu tun, mit Gehörerlebniſſen, die ſymboliſtiſch, 
impreſſioniſtiſch wirken ſollen und in denen ſich die Einzelheit 
naturgemäß verliert. Wir wollen nur noch Farben, aber keine 
Konturen. — Wirklich, wollt ihr? Da ſeid ihr ja recht be— 
ſcheiden geworden! Ihr ſchraubt euch auf den Urzuſtand zu— 
rück, da die Kunſt noch keine bildſame Kraft beſaß und erſt 
anfing zu kriſtalliſieren. Habt ihr je eine ſteinalte Meſſe 
gehört, ein Stück aus der vorſintflutlichen Musica sacra 
oder eine Kompoſition der Chineſen, Aſchantis, Bantuneger? 
Da habt ihr das Zerfließende, Ungeſtützte, Gallertartige in 


150 


den ſchönſten Typen; das Ideal der Nichtabgrenzung, das 
Verſchwimmen der Tonalität, kurzum das reine akuſtiſche 
Erlebnis, das durch keine innere Formbeſtimmtheit geſtört 
wird. Glaubt mir nur, meine Freunde, Impreſſionismus 
kommt her von Imprimieren, das heißt fo wie canis a 
non canendo, nämlich: was ſich auf keine Weiſe dem Ge— 
dächtnis imprimiert, das iſt eine Impreſſion. Daher mag 
es ja auch kommen, daß die richtigen Jakobiner unter den 
Künſtlern immer entſchiedener den Anſchluß an eine ent— 
legene Vorzeit fordern. Ihr Ziel liegt nicht in der Zukunft, 
ſondern in der Diluvialzeit. Was ſie in mehr oder minder 
deutlicher Lehre verkünden: Aufhebung der Tonart, Drit— 
teltöne, Vierteltöne bis herab zu Infiniteſimaltönen, das 
ſind Anſchlüſſe an eine Molluskenzeit der Kunſt, der alle 
Kennzeichen entwickelter Kultur, nämlich die Selbſttätigkeit 
getrennter Organe, die Differenzierung, fehlen. 

Freilich, wer ſich heute mit Entſchiedenheit dieſem Auf— 
löſungsprozeß entgegenwirft, der kann darauf rechnen, in 
den üblen Ruf eines Reaktionärs zu geraten. Nur daß 
im Gange der Geſchichte die Richtungen ihren Sinn ge— 
ändert, ja geradezu vertauſcht haben; die Hervorbringung im 
Bündnis mit der Tageskritik ſtrebt nach rückwärts, wäh— 
rend der vereinzelte Antikritiker dieſe Entwicklung zu den 
Segnungen von Anno Tobak nicht mitmachen will. Tat— 
ſächlich liegen die Dinge heute ſo, daß die Strukturauflöſer 
und Formtöter eine Rückwärtſerei im ſchlimmſten Sinne 
betreiben und daß der Fortſchritt nur noch bei den ſehr weni— 
gen liegt, die ſich dieſer revisio in pejus widerſetzen; bei 
den verſchwindenden Melodikern und Kalophonikern und bei 
den ganz vereinzelten Aſthetikern, die die neueſte Schaffens⸗ 
art bis auf den Grund durchſchauen; wo ſie dann zwei Haupt⸗ 


151 


elemente zu ſehen bekommen: das Unvermögen zur Geſtal⸗ 
tung und den Bluff. Beide ſtehen in engſter Fühlung, denn 
wer wirken will, ohne die urſächlichen Vorbedingungen im 
Kopf und in der Hand zu haben, der muß eben bluffen. Frei⸗ 
lich hat jede Verblüffung einmal ein Ende, allein ich fürchte, 
daß die empfangende Kunſtwelt an dieſem Ende erſt an— 
langen wird, wenn es zu ſpät iſt, das heißt, wenn keine Bau— 
meiſter mehr vorhanden ſind, kräftig genug, um das wieder— 
aufzurichten, was die tondichtenden Übermenſchen eingeriſſen 
haben. 
* 

Zweifellos gab es an der Wegſcheide Entwickelungsmög— 
lichkeiten genug. Da war die Bayreuther Linie, offen für 
einen Meiſter, der ſich zu Richard Wagner verhalten hätte 
wie Wagner zu Gluck. Er iſt nicht erſchienen. An ſeiner 
Stelle tummelten ſich auf ſeiner Weide diejenigen, denen die 
Natur ein ausgiebiges Talent zum Wiederkäuen verlieh und 
überdies eine Ausdauer im Beruf bis zum Kahlfraß. 

Dann gab es die Linie Beethoven-Brahms, ausſichtsrei— 
cher als jene, weil weiter von der Peripherie zweckdienlicher 
Möglichkeiten entfernt. Sie konnte begangen werden von 
einem Meiſter, der an Begabung dem Johannes gar nicht 
überlegen zu ſein brauchte. Nur anders hätte er ſein müſſen; 
wie ja auch der Johannes dem Ludwig nicht überlegen war, 
ſondern nur die Richtung ſeiner Spuren kongenial verſtand. 
Auch dieſer Meiſter iſt nicht gekommen, und wenn er noch 
erſcheinen wollte, ſo müßte er ſich beeilen, ehe der Flugſand 
die Orientierungszeichen völlig überweht hat. 

Außerordentlich verheißungsvoll ſah die Linie Verdis aus, 
wie er ſie als Achtzigjähriger im „Falſtaff“ vorzeichnete. 
Der Greis mit dem Flug des Euphorion bot ein ganz einziges 


152 


U * 1 nn 


Schauſpiel, begeiſternd durch die ihm perſönlich gehörende 
Leiſtung und dabei aufs höchſte verlockend für die Jungen, 
denen er ganz neue, in ihrem Verfolg unabſehbare Ausnüt- 
zung vorhandener Kräfte wies. Hatte er im „Falſtaff“ die 

Ergebnislinie aus Tonenergien gefunden, die eigentlich in 
„Figaros Hochzeit“ und „Meiſterſingern“ beheimatet ſind, 
ſo war am Wendepunkt der neuen Entwickelung alles zu er— 
hoffen. Allein der „Falſtaff“ blieb ein Beiſpielloſes, die 
Jünger hielten nichts von einer Methode, die ein fabelhaftes 
kontrapunktiſches Wiſſen und Können vorausſetzte, ſie flüch— 
teten humorlos in die Niederungen des Lebens, die der Nie— 
derung ihrer Talente entſprach, und erzielten hier durch die 
erweislich wahre Übereinſtimmung beider Flachheiten einen 
hohen Grad von Verismo. 

Und welche Wege ſonſt noch zum Fortſchritt geführt hät— 
ten, zum organiſchen Aufbau, ohne reſtloſe Zertrümmerung 
des Beſtehenden, wie fie der Futurismus fordert? Ignora- 
mus. Das wäre auf die ſpezifiſche Eigenart der großen Män— 
ner angekommen, von denen wir keine Kunde haben, weil 
ſie nicht aufgetreten ſind. Möglich auch, daß ſie vorhanden 
waren, als Schatten über die Szene gehuſcht ſind, mit Kund— 
gebungen, die zu fein waren, um im Sauſen der Modernität 
bemerkt zu werden. Daß ſich unter den Urhebern dieſes Sau— 
ſens ganz hervorragende Könner befinden, verkenne ich 
durchaus nicht; Köpfe von eminentem Orcheſtraldenken, de— 
ren Technik, auf einen anderen Strang geſetzt, zu ſublimen 
Offenbarungen geführt hätte. Ich bin bereit, ihnen meine 
Huldigung zu erweiſen, mit dem Hut in der Hand, aber mit 
dem Vorbehalt: Ihr habt am Ruin der Kunſt mitgearbeitet, 
ihr zumeiſt. Und wenn eine eingeborene Notwendigkeit dazu 
führt, deren Tempel zu veröden, den Genuß aus ihnen hin— 


153 


3 * 


— 


auszujagen, den volltönenden Chorgeſang in eine plärrende 
Litanei zu verwandeln, ſo ſeid ihr die gottgewollten Voll— 
ſtrecker dieſer Notwendigkeit geweſen. 

Den Poſitiviſten, die durchweg und überall an einen Fort— 
ſchritt glauben und alſo auch in der Kunſt mit ihm als mit 
einem Selbſtverſtändlichen rechnen, möchte ich zweierlei ent— 
gegenhalten. Erſtlich die allgemeine Mechaniſierung, die jeden 
menſchlichen Betrieb meiſtert und ja auf dem beſten Wege iſt, 
die Welt zu einer großen Maſchinenhalle zu vervollkommnen. 
Es wäre widerſinnig, anzunehmen, daß die Kunſt allein im— 
ftande fein ſollte, ſich dieſer Mechaniſierung zu widerſetzen; 
dem aufmerkſamen Betrachter zeigt fie vielmehr die ganz aus⸗ 
geſprochene Strebung, ſich ihr in raſendem Tempo anzu— 
paſſen. Die ausübende und ſchaffende Virtuofität, die Verall- 
gemeinerung der Technik, das Pianola, der konzertante Maſ— 
ſenbetrieb und die Genies in Maſſe, die Tauſend-Mann-Or⸗ 
cheſter, die jedem muſikaliſchen Ohr erkennbare Gleichflüſſig— 
keit der Muſikmaterie ſind die äußeren und inneren Merkzei— 
chen dieſes Vorgangs. In dieſer Mechaniſierung ſteckt, wo 
fie auch auftritt, ein gleichmacheriſcher Faktor, der die Unter— 
ſchiede verwiſcht, die hervorragenden Sonderungen unterdrückt 
und die Einzelheiten des Prozeſſes verähnlicht. Im bürger— 
lichen Leben bedeutet dies: Erſparnis an mechaniſcher Men— 
ſchenarbeit, Zeitgewinn, Erhöhung der Daſeinsebene für die 
Unteren, Vertiefung für die Oberen, geſteigerte Bequemlich— 
keit, Schutz vor Überraſchungen. In den lyriſchen Künſten: 
Abplattung der hervorſtechenden Erfindungsmerkmale, Til- 
gung der Zäſuren, Vereinheitlichung der Wellenlängen in 
allen klingenden Gebilden. Und wer, von dem vorgefaßten 
Begriff hypnotiſiert, auch da von Fortſchritt reden will, der 
ſoll auf keinen Widerſpruch ſtoßen: die fortſchreitende Mono— 


154 


et zu 


* = 


tonie und Verlangweiligung des Betriebes ſeien ihm gern zu— 


gegeben. 

Zweitens aber möchte ich auf die innige Beziehung von 
Kunſt und Philoſophie hinweiſen und auf den beſonderen 
Umſtand, daß faſt jede Phaſe der einen in der anderen ein 
erläuterndes Abbild findet, ſo daß man aus der Geſchichte des 
Denkens für die Geſchichte des freien Schaffens mancherlei 
lernen kann. Wer nun da begriffen hat, daß die Lehre Kants 
durch die klaſſiſche Dichtung, zumal durch Schiller, illumi— 
niert wird, wer aus der fünften Symphonie den kategoriſchen 
Imperativ, aus der neunten die tongewordene intellegible 
Welt heraushört, den möchte ich einladen, einen Schritt weis 
ter zu wagen und die nachkantiſche Epoche mit den tranſzen— 
denten Tonübungen der Heiligen vom letzten Tage zu ver— 
gleichen. Er wird dann bemerken, daß die Erkenntnisgeſpen— 
ſter der Fichte-Schelling-Hegel⸗Periode, zumal die Phäno— 
menologie mit ihren ſich im Nebel bewegenden zerfließenden 
Begriffen, mit ihren Identitäten der Nichtidentitäten, Ab— 
ſolutheiten und Anundfürſichkeiten ein ganz getreues Paar: 
ſtück in den allermodernſten Klanggebilden finden. Entſchließt 
man ſich zu dieſer Parallele, ſo kann man den Fortſchritt hü— 
ben und drüben leicht unter einem gemeinſamen Geſichts— 
punkt bringen. Dem Schritt „über Kant hinaus“, den jene 
Vergaſung aller vormals gefeſtigten Denkſubſtanz bedeutet, 
entſpräche der Fortſchritt über Beethoven hinaus. Wer aber 
mit Schopenhauer der Meinung iſt, daß nichts ſo ſehr zum 
Mißruf der Philoſophie beigetragen hat als jene Auflöſung 
der Begriffe und Denkmöglichkeiten, wer im ſpäteren Ver— 
lauf zur Einſicht gekommen iſt, daß die Philoſophie noch 
heute an den Folgen der Hegelmethode wie an einer chroni— 
ſchen Vergiftung zu tragen hat, der wird auch im klanglichen 


135 


Gegenſtück ein Elinifches Bild vor Augen haben. Hier wie 
dort Rückfälle in die Scholaſtik, in die Myſtik, in eine okkulte 
Ausdrucksweiſe, hier wie dort ein mechaniſches Gemenge von 
Kitſch und Perverſität, in jener gefährlichen Miſchung, in 
der ſich Traumviſion von ausgeſprochenem Wahnſinn, Hell— 
ſeherei von Augurentrug kaum noch unterſcheiden läßt. Und 
ſchließlich hier wie dort ein ſnobiſtiſch aufgedonnerter Appa— 
rat, der alle möglichen Ingredienzien zermalmt, verkocht 
und im Auspuff von ſich gibt, bloß die eine nicht, die köſt— 
lichſte und ſeltenſte von allen, die kein ſnobiſtiſches Etikett 
trägt, ſondern ſich ſchlicht und recht „Erfindung“ nennt. 
Das Wort Erfindung iſt in den vorliegenden Ausführun— 
gen oft wiederholt worden und eigentlich viel zu ſelten. Denn 
es umſchließt alle Geheimniſſe aller Probleme, die ſich hier 
darbieten. Es gibt uns den Doppelſchlüſſel ſowohl zum wah— 
ren Paradies der Kunſt wie zur Folterkammer, in der die 
Muſe gequält wird. Soll das Paradies kein auf immer ver— 
lorenes ſein, ſo kann die Wiedereroberung nur auf eine Weiſe 
ſtattfinden: durch die feierliche Inthroniſation eben der Er— 
findung. Die Kunſt ſelbſt kennt keinen anderen Wert, und 
ihre Bouſſole weiſt unveränderlich nur auf ſie. Alle anders— 
genannten Mittel, die das Werk zum Kunſtwerk machen, 
der motiviſche Ausbau, die Stimmführung, die ſchöne Cha— 
rakteriſtik, die Inſtrumentation, die große Linie des Ganzen, 
ſind ſelbſt Erfindungsmomente und, wo ſie ohne die grund— 
legende Erfindung auftreten, Gegenwart markieren, nichts 
als Täuſchung. Wenn ich da leſe — und wie oft muß ich es 
leſen —, dieſes oder jenes Vertonte mache einen ausgezeich— 
neten Eindruck, zeuge von dem eminenten Wollen ſeines 
Schöpfers, verdiene die Palme kraft dieſer oder jener hohen 
Tugenden, und wenn es dann ganz leiſe nachklappert, ver- 


156 


klauſuliert und umſchrieben, daß eigentlich mit der Erfindung 
nicht ſo recht was los ſei, dann weiß ich: hier wird wieder 
Hokuspokus vorgemacht, wieder einmal verſucht, eine Miß— 
geburt zum Adonis umzulügen. Es gibt kein wahres Kunſt— 
werk ohne den göttlichen Funken, das heißt ohne Themen— 
inſpiration, ohne die prima facie einleuchtende überwälti— 
gende Erfindung. Ob dieſe ſich auf höherer oder niederer 
Plattform offenbart, das mag ſpäter die Rangordnung an— 
gehen, da der Menſch ohne Kategorien nicht auskommt und 
auch hier nach oben und unten einteilt. Das Entſcheidende 
bleibt, daß das unterſte Kunſtwerk mit Erfindung immer 
noch höher ſteht als das Kunſtwerk der höchſten Kategorie 
ohne Erfindung. Anders und ſchöner hätte ſich die Klang— 
welt entwickelt, wenn dieſer Grundſatz allenthalben Bekenner 
fände, wenn wir uns nicht genierten, das frohe Gelächter 
einer Offenbachiade über ein ſymphoniſches Gewinſel, ein 
genial hingeworfenes Tanzſtück über eine nach der Spielregel 
erklügelte ſtelzbeinige Fuge, ja ſelbſt einen packenden Gaſſen— 
hauer über ein von guter Geſinnung triefendes Oratorium zu 
ſtellen. Die Tiefenwerte gehören überhaupt zu den größten 
Seltenheiten, und die angeblichen Tiefen, die wir ſo oft mit 
dem Senkblei erforſchen, führen nicht in erzhaltige Schächte, 
ſondern in taubes Geſtein. Ja wir ſtoßen hier oft genug auf 
die fatale Tatſache, daß die Tiefe die einzige Dimenſion iſt, 
über die ſich das Werk auszuweiſen vermag, daß ihm ſomit 
die Körperlichkeit fehlt. Nicht geheimnisvolle Abgründe ſtel— 
len dieſe Tiefen dar, ſondern nur ungemein lange Röhren, 
aus deren unterem Ende der Autor genau ſo reſultatlos her— 
auskriecht, wie er oben erfindungslos hineingekrochen iſt. Um 
dieſe ausſichtsloſe Turnerei aus der Welt zu ſchaffen, gibt es 
nur das eine: wir müſſen wenigſtens ein paar Jahrzehnte 


157 


lang uns auf die arg vernachläffigte und mißachtete Ober: 
fläche zurückbeſinnen, allwo die Schönheit ſich zu allererſt 
zu entfalten hat, in der Melodie, in dem an ſich wertvollen 
Motiv, in Eleganz und Grazie, im Einfall; an der Oberfläche 
und im Vordergrund die Wegzeichen errichten, die Preiſe ver— 
teilen und die Sinne vorerſt für die Genialität ſchärfen, die 
im hellen Tageslicht zu wirken vermag. Unſer Retrorſum 
ſei ein anderes als das der letzten Geſtaltvernichter, die mit 
präraffaelitiſchem Getue in ihre trübe Zukunft einen Schim— 
mer antiker Helligkeit lenken möchten; alſo nicht zurück zu 
Rameau, nicht zurück zu Paleſtrina, ſondern zurück zur Er— 
findung! Keine gültigere Definition iſt je aufgeſtellt wor— 
den als die des erſten Johann Strauß: „Genie iſt, wann 
einem was einfällt!“ Ergänzen wir ſie nicht doktrinär durch 
die Forderung: Dann muß es ſich aber ſofort als Tiefbohrer 
betätigen. Nein, laſſen wir ihm die Kultur der Oberfläche 
und hängen wir ihm keine Minderwertigkeit an, denn es iſt 
krönungswert, weil es Genie iſt. Und wenn durch Jahrzehnte 
die Künſtler, denen etwas einfällt, die Melodiker und Har— 
moniker, die nicht betäuben, ſondern entzücken, wieder das 
Übergewicht in der Wertſchätzung errungen haben, dann mag 
endlich einer kommen, der Säkularmenſch, der, mit dreidi— 
menſionaler Erfindung ausgerüſtet, Höhen und Tiefen durch— 
mißt, der uns die neuen Ewigkeitswerte gibt, der die Freuden 
und Leiden des zwanzigſten Jahrhunderts kompoſitoriſch aus— 
zuſprechen vermag, ohne zu grinſen und ohne zu ſtöhnen. 
Iſt euch ein Großer auf ſo lange Zeit zu wenig, da ihr ge— 
wohnt ſeid, ſie aus den Feſtberichten kohortenweis kennen 
zu lernen? Ach, ich fürchte, mit der Hoffnung auf den einen 
ſind wir ſchon zu ſpät gekommen oder, günſtigſtenfalls, ein 
Jahrhundert zu früh! 


158 


Wo ſitzt die Kultur“)? 
Ein Geſpräch 


A.: „Und wiſſen Sie, was mir neulich paſſiert iſt? Ich 
fahre in einem durchgehenden Abteil zweiter Klaſſe nach 
Frankreich. An der Grenze erſcheint ein franzöſiſcher Beam— 
ter, kontrolliert die Fahrkarten und erklärt: ich müſſe da 
raus oder Supplement nachzahlen. Blödſinn! ſage ich; ich 
habe Fahrtausweis zweiter, und das iſt zweite! er ſolle ſich 
gefälligſt anſchauen, was am Wagen angeſchrieben ſtehe; das 
ſei eine II — wir kommen ins Streiten, und ſchließlich ſehe 
ich ſelbſt nach. Was ſoll ich Ihnen ſagen? Die II war plöß- 
lich mittels eines Klappmatismus in eine I verwandelt. Die 
Leute hatten einfach unſere brave zweite Wagenklaſſe zur 
erſten ernannt. Profitgier natürlich, aber doch zugleich ein 


) Dieſer Aufſatz entſtand, wie man ſchon aus den erſten Zeilen 
erkennt, zur Zeit tiefſten Friedens, als noch kein Wetterleuchten 
das Herannahen des Weltgewitters ankündigte. Die hier ent⸗ 
wickelten Betrachtungen ſetzen alſo einen freundlichen Hintergrund 
voraus und ſtellen dadurch an den hiſtoriſchen Sinn des Leſers 
gewiſſe Anſprüche. Sie bedingen ein abſichtsvolles Zurücktauchen 
in Lebensformen und Anſchauungen, die ſeitdem gewaltſame Er— 
ſchütterungen durchgemacht haben. Der Aufſatz iſt mithin, etwa 
nach dem Maßſtabe eines Leitartikels oder Feuilletons gewertet, 
ſozuſagen „unaktuell“ geworden. Aber das war er ja ſchon, als 
ich ihn ſchrieb, als ich aufzeigen wollte, daß der Begriff „Kultur“ 
anders begrenzt werden darf, als der landläufige Gegenwartwert 


159 


r 


ſchreckliches Armutszeugnis; die Anerkennung deſſen, daß in 
Frankreich der oberſte Komfort gerade ſo weit reicht, wie bei 
uns der mittlere.“ 

B.: „Sie haben natürlich die Ergänzung zur erſten nach— 
gezahlt.“ 

A.: „Gar nicht daran zu denken. Schon aus Trotz nicht. 
Ich wanderte vielmehr in eine franzöſiſche zweite, in eine 
furchtbare Engnis von zehn Perſonen, in eine Pferchanſtalt 
von Menſchen, die zu eingepökelten Sardellen degradiert wa— 
ren. Und jetzt begannen die unabſehbaren, fahrplanmäßigen 
Zugverſpätungen! Laßt die Hoffnung draußen, die ihr ein— 
tretet! Was erzählt man uns da von den Greueln der ſibiri— 
ſchen Gefängniſſe? In den Eiſenbahnwagen romaniſcher Län⸗ 
der — da wohnen die Greuel! Himmelherrgott! und da 
treten immer noch Kulturhiſtoriker, Leitartikler und Feuille— 
toniſten auf, die uns von der Überlegenheit der weſtlichen 
Kultur vorfaſeln!“ 

B.: „Ich würde Ihnen empfehlen, ſich im Wiederholungs— 
falle nicht auf den Moment der Gegenwart einzuſtellen, ſon— 
dern auf die geſchichtliche Vergangenheit. Kultur iſt ein gei— 
gleichen Namens, daß er jenſeits der Anſchauungen liegt, die aus 
den Erlebniſſen der Einzelnen hervorwachſen. Nicht um den 
Gegenſatz von Kultur und Barbarei handelt es ſich hier, ſondern 
um den Zuſammenprall zweier auf Grenzgebieten liegenden Werte, 
die bei oberflächlicher Betrachtung freundnachbarlich verſchwiſtert 
erſcheinen, bei tieferer Prüfung ſchroffe Gegenſätze offenbaren. 
Nur auf dieſe Antitheſe kam es an, während alles, was an Lob 
und Tadel anklingt, höchſtens die Bedeutung einer Hilfskonſtruk— 
tion zum Beweiſe jener Gegenſätzlichkeit beſitzt. Daß hierzu weſent— 
lich Bauſtoffe aus dem 17. und 18. Jahrhundert verwendet 
wurden, zeigt deutlich genug das Ziel der ganzen Erörterung, 


die aus entlegener Vergangenheit zu ferner Zukunft eine Brücke 
ſchlagen möchte. 


160 


A 


ſtiges Fluidum, das uns allerdings anweht, ſobald wir die 
weſtliche Grenze überſchreiten. Wenigſtens mir geht es ſo: 
Die Wagenwände, die mich umſchließen, verflüchtigen ſich 
und geben den Horizont frei; den Tiefblick auf zwei große 
Jahrhunderte, in denen Frankreich Geiſtesarbeit für ganz 
Europa geleiſtet hat. Ja, das ſpüre ich mit allen Schauern 
der Ehrfurcht. Ich reiſe nicht von Pagny nach Epernay, nicht 
von Pontarlier nach Dijon, ſondern ich reiſe in das Land vom 
Port Royal, in das Reich der Enzyklopädiſten, in das Land 
der Pascal, Viéta, Fermat, Descartes, Diderot, d'Alembert, 
Laplace, Lagrange. Das muß man hindurchfühlen durch die 
Kleinlichkeiten der körperlichen Gegenwart. Ich kaufe mir 
auch nicht an der Grenze die neueſte Nummer des Matin 
oder des Figaro, ſondern ich ziehe einen franzöſiſchen Klaſ— 
ſiker aus meinem Handkoffer ...“ 

A.: „Der Ihnen kurz zuvor aus dem viel zu engen Gepäck— 

netz auf den Kopf gefallen iſt.“ 

B.: „Und dann beginne ich zu leſen, und eine Welt von 
Akkorden baut ſich über dem Orgelpunkt der Empfindung: 
hier fließen die Grundquellen der menſchlichen Geiſteskultur. 
Weder die Alexandriniſche Großzeit noch die italieniſche Re— 
naiſſance, noch der deutſche Humanismus reicht da hinan. 
Ich tauche in die Zeiten zurück und atme die Luft, die Des— 
cartes geatmet hat...“ 

A.: „Sie atmen ein Gemiſch von Schweiß, Kohlenſtaub, 
Knoblauch und Kaporalzigaretten.“ 

B.: „. .. Denn ſchließlich gründet ſich alles, was an Er— 
kenntnis, an Kauſalphiloſophie in uns lebt, auf Descartes. 
Aber es iſt natürlich nicht nebenſächlich, wo man lieſt. Der 
örtliche Kontakt entſcheidet. Auf der Strecke Weimar —Jena, 
wo ſogar der Banauſe ſeinen Goethe und Schiller herausholt, 


Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 11 


161 


wirkt er zweifellos nicht ſo überwältigend, als auf einer der 
Zufahrſtraßen, die nach Paris führen. Sie haben es wahr— 
ſcheinlich noch nie probiert, und deshalb rate ich Ihnen: 
Leſen Sie auf ſolcher Eiſenbahnfahrt die ‚Prinzipien‘ des 
Carteſius.“ 

A.: „Ich werde es nicht tun! Ich werde die Prinzipien 
des Carteſius nicht leſen, und zwar aus Prinzip. Zum Leſen 
gehört Licht, und zum Licht gehört ein anderes Eiſenbahn— 
kupee, als ein franzöſiſches. Am Tage ſind die Fenſter ver— 
ſchmiert, wenn die Lampen angeſteckt werden, brennt eine 
Funſel, die im beſten Fall ſoviel leuchtet wie ein ſchwelender 
Kienſpan. Das dritte Wort der franzöſiſchen Intelligenz iſt 
immer „la lumiere!‘ Aber was wird aus der lumiere, 
wenn man fie am nötigſten braucht? ein künſtliches Glüh— 
würmchen. Der ſtrahlende Leuchtturm verwandelt ſich in 
ein Dreier-Nachtlicht. Und da reden Sie mir von Kauſali— 
täten und verweiſen mich auf das berühmte ‚ergo‘ des Des— 
cartes. Wie liegen die kauſalen Zuſammenhänge aber in 
Wirklichkeit? Es iſt finſter, ergo kann ich nicht leſen!“ 

B.: „Wenn man bei Tage reiſt und ſeinen Eckplatz hat, 
ſo geht es ſchon.“ 

A.: „Ich reiſe niemals bei Tage und erwiſche nie einen 
Eckplatz. Ich leugne überhaupt die Eckplätze auf franzöſiſchen 
Bahnen. Man ſitzt immer auf einem Mittelſitz im Mittel 
arreſt. Und ich brauche wohl nicht erſt zu beweiſen, daß man 
in ſolcher Lage überhaupt gar nichts anderes anfangen kann, 
als ſich ärgern.“ 5 

B.: „Die Franzoſen haben das Gegenteil bewieſen. Neh— 
men wir zum Beiſpiel Poncelet. ..“ 

A.: „Wer iſt das?“ 

B.: „Sie belieben Scherzfragen einzuwerfen. Wer all— 


162 


TEE TEN. 


gemeine Kulturdinge erörtert, dem möchte ich doch zunächſt 
die Bekanntſchaft mit Poncelet zutrauen.“ 

A.: „Ich bedaure unendlich, der Herr iſt mir nicht vor— 
geſtellt. Nach Ihren Andeutungen möchte ich indes ſchlie— 
ßen, daß es ein Mann war, der zahlreiche Geduldsproben 
abgelegt hat.“ 

B.: „Stimmt ungefähr. Er verbrachte zwei Jahre ſeines 
Lebens in echtruſſiſcher Gefangenfchaft zu Saratow an der 
Wolga und hatte es dabei weſentlich unbequemer als Sie in 
einem franzöſiſchen Waggon. Von der Außenwelt abgeſchnit— 
ten, ohne Bücher und irgendwelches Anregungsmaterial, im 
Dunkel der Kaſematte entwickelte er aus ſtiller Intuition 
heraus die neue epochale Wiſſenſchaft der projektiviſchen Geo— 
metrie, die ihn unſterblich machen ſollte. Er ärgerte ſich 
nicht, ſondern er forſchte. So benimmt ſich ein Franzoſe in 
beengter Lage.“ 

A.: „Ein glänzendes Rezept! Wenn man ſich ohne Schlaf— 
möglichkeit die Nacht um die Ohren ſchlägt, erfindet man 
eine neue Wiſſenſchaft. Ich ſchwöre Ihnen, daß ich das nie— 
mals tun werde. Am allerwenigſten, wenn ich reiſe und da— 
bei aus einer Peinlichkeit in die andere gerüttelt werde. Dann 
ziehe ich mich wie ein Häufchen Unglück auf das Minimum 
meiner Körperlichkeit zuſammen und ſtöhne. Ein Kultur: 
menſch ſtöhnt eben, wenn es ihm ſchlecht geht.“ 

B.: „Pascal ſtöhnte nicht. In jener hiſtoriſchen Nacht, 
da ſeine Zahnſchmerzen ihren Höhepunkt erreichten, rettete 
er ſich aus aller Qual, indem er die analytiſchen Schwierig— 
keiten der Zykloide beſiegte und die mathematiſchen Geheim— 
niſſe dieſer wichtigen Kurve aufdeckte. Solche Einzelzüge 
gehören zum Weſen der franzöſiſchen Kultur. An ſie ſoll man 
denken, und nicht an das perſönliche Mißbehagen des Augen- 

il 
+03 


blicks, wenn man franzöſiſche Erde befährt. An Varignon 
ſoll man denken!“ 

A.: „Wer iſt denn das ſchon wieder?“ 

B.: „Ich ſtelle feſt, daß es in Ihrer Geiſtigkeit an jeder 
höheren Orientierung fehlt. Sie überantworten ſich einer 
Maſchine, die Sie mit achtzig Kilometer pro Stunde be— 
fördert, und Sie ahnen nicht einmal die einfachſten Geſetze 
irgendeiner Maſchine; was iſt ſie, wem gehorcht ſie?“ 

A.: „Es iſt eine Lokomotive, und ſie gehorcht dem 
Dampf.“ 

B.: „So dürfte ein Bauer reden. Die Kultur ſpricht 
anders; ſie definiert die Maſchine als eine Konſtruktion, die 
das Parallelogramm der Kräfte aus einem Prinzip zur Wir— 
kung ſteigert. Da haben Sie die Lehre des großen Varig— 
non, der das Pech hat, Ihnen unbekannt zu ſein. Ziehen 
Sie die Fäden von Varignon zu d'Alembert, zu Lagrange, zu 


Poinſot, zu Carnot — und hierzu eignet ſich nichts dermaßen, 


wie eine Bahnfahrt in deren franzöſiſcher Heimat —, ſo 
wird in Ihnen die ganze Mechanik lebendig, als ein Bez 
greifen aller Weltvorgänge aus der Bewegung der Atome. 
Und wenn Sie ſich hierzu aufraffen, dann werden Sie nicht 
mehr ſtöhnen, ſondern jubeln, bei jeder Beſchleunigung durch 
Frankreich, dem Urſprungsland der höheren Mechanik.“ 
A.: „Großartig! Und jetzt werde ich Ihnen einmal die 
franzöſiſche Mechanik auseinanderſetzen. Sie beſteht darin, 
daß man in jedem Abteil überall, wo man einen Haken ver— 
mutet, an den man ſeinen Mantel hängen könnte, durch 
einen unnützen Metallknubbel enttäuſcht wird; ſie beſteht 
darin, daß in den Toiletten die Hydraulik entweder gänz— 
lich fehlt oder nicht funktioniert, ſo daß Sie ſelbſt mit einem 
Moſesſtab kein Waſſer hervorzaubern können; ſie beſteht 


164 


darin, daß die Heizvorrichtung nach mechaniſchen Grund— 
ſätzen gebaut iſt, die ſchon zur Zeit des Khalifen Omar in 
Alexandrien überwunden waren; ſie beſteht darin, daß keine 
Schiebetüren vorhanden ſind, ſondern Angeltüren, von denen 
eine einzige genügt, um den ganzen Korridor zu verſperren. 
So, und jetzt ſtelle ich Ihnen anheim, in Ihrem Kolleg über 
Mechanik fortzufahren.“ 

B.: „Ich ſprach vom Begreifen der Weltvorgänge.“ 

A.: „Und ich ſpreche vom Begreifen der Eiſenbahnvor— 
gänge, das iſt der Unterſchied. Setzen Sie den ganzen Wa— 
gen voller Varignons und Pascals, — dieſe Vorgänge wür— 
den ihnen ewig unbegreiflich bleiben. Und aus Ihren Atom— 
bewegungen mache ich mir gar nichts. Ein Atom Seife ſoll 
ſich bewegen, wenn ich im Kabinett am Apparat kurble! 
Und ferner werde ich Ihnen einmal wiſſenſchaftlich kom— 
men: ‚Die Seife iſt der Maßſtab für die Kultur der Staa— 
ten‘ — wiſſen Sie, von wem dieſer Ausſpruch herrührt? 
Von einem der größten Gelehrten aller Zeiten, von Juſtus 
von Liebig.“ 

B.: „Juſtus von Liebig hat noch mehr Zitate geliefert, die 
darauf ſchließen laſſen, daß er in Frankreich und beſonders 
in den Laboratorien bei Gay-Luſſac, Dulong und Thénard 
noch ganz andere Dinge geſucht und gefunden hat als Seife. 
Keiner hat den Poſitivismus und die Exaktheit der fran— 
zöſiſchen Wiſſenſchaft ſo laut gerühmt wie er. Aber Sie 
kommen von der Kleinlichkeit nicht los, Sie projizieren alles 
aufs Innere des Wagens und meſſen die Kultur am 
Waſchraum! Ihre Debattierkniffe kenne ich nachgerade. 
Wenn ich Ihnen jetzt auseinanderſetze, daß die geſamte orga— 
niſche Chemie, die Lehre von den Kohlenſtoffverbindungen, 
ihre mächtigſten Anſtöße von Frankreich empfangen hat, ſo 


165 


werden Sie mir ſofort mit einem Bonmot über franzöſiſche 
Eiſenbahnkohle antworten.“ — 

A.: „Sehr richtig. Sie brauchen bloß in Belfort am 
Zuge einen Metallgriff anzufaſſen, dann haben Sie die Koh: 
lenſtoffverbindung an den Fingern und werden fie bis Lyon 
nicht mehr los.“ 

B.: „Und wenn ich dann etwa auf die Großtaten der 
franzöſiſchen Aſtronomen überleitete, ſagen wir auf das 
Wunder des Leverrier, der aus einer Planetenſtörung heraus 
den Neptun entdeckte, jo würden Sie das Wort ‚Störung‘ 
aufgabeln und für Ihre einſeitigen Zwecke verwerten.“ 

A.: „Sie liefern mir wirklich die Stichworte. Der ganze 
Betrieb, von dem ich rede, ſetzt ſich aus Störungen zu— 
ſammen. Jeder Fahrplan iſt eine organisation desorgani- 
see. Den letzten Zug haben Sie verpaßt, aber der vor— 
letzte hat zwei Stunden Verſpätung, und den können Sie 
erreichen. An keinem Wagen hängt eine Richtungstafel, und 
wenn eine dranhängt, iſt ſie falſch. Und erſt die Störungen 
an einer franzöſiſchen Zollſtation! Sie kennen doch Venti— 
miglia? Da vergehen einem die Planetenentdeckungen; in 
dieſen Störungen hat noch niemand etwas anderes entdeckt 
als ein zweites Inferno von Dante. Sie freilich, mit Ihrer 
kosmiſchen Überlegenheit und mit Ihrer tranſzendenten Ge— 
duld, Sie wären imſtande, mir ſelbſt in den Verzweiflungs— 
ſtunden von Ventimiglia eine Vorleſung über den Kultur: 
wert der franzöſiſchen Revolution und über die Eroberung der 
Menſchenrechte zu halten. Wo ſind dieſe Menſchenrechte, und 
vor allem, wo ſind die Franzoſen, die ſich aufbäumen und 
in der Bahn ihre Menſchenrechte verlangen? Sind das wirk— 
lich die Abkömmlinge der Girondiſten, Ihre Nachbarn im 
Wagen, die alles wie ein Fatum ruhig hinnehmen, was das 


166 


ancien régime einer Bahnverwaltung über fie verhängt? 
Unſereiner flucht doch wenigſtens. Und wenn er endlich zu— 
rückkommt, dann jubelt er an der Grenze: Deutſchland! 
deutſche Wagen mit deutſchen deutlichen Aufſchriften! deutſche 
Bequemlichkeit, Sauberkeit, Geräumigkeit, Pünktlichkeit! 
Fließendes Waſſer, reine Wiſchtücher, blanke Fenſter, geputzte 
Klinken, ſtrahlende Lampen, hilfreiche Beamte, — Menſchen— 
rechte! Ja, mein Freund, man muß von Welſchland nach 
Germanien fahren, um ſich ganz mit dem Gefühl zu ſättigen: 
hier bei uns ſitzt die Kultur!“ 

B.: „Wir ſprechen von verſchiedenen Dingen und reden an— 
einander vorbei. Ich verſuche das Problem in der Tiefe zu er— 
faſſen, Sie haften an der Oberfläche. Die Geiſtesentwicklung 
eines Volkes vollzieht ſich dramatiſch, aber während ich mich 
bemühe, das dramatiſche Gewebe zu erkennen, ſtarren Sie 
auf die Inſzenierung, und zwar ausſchließlich auf die In— 
ſzenierung des letzten Aktes. Sie verwechſeln die Aufma— 
chung, die Dekoration und die Güte Ihres Parkettplatzes 
mit dem, was eigentlich geſpielt wird, was ſeit Jahrhunder— 
ten geſpielt wurde. Im letzten Grunde gilt Ihnen die Welt 
als ein Panorama, das Sie, möglichſt bequem hingeſtreckt, 
genießen wollen. Aber die Welt als Kulturerſcheinung iſt 
nicht nach Bequemlichkeit orientiert. Alle wirklichen Kultur— 
einſchnitte waren Unbequemlichkeiten, gewaltſame Brüche, 
rauhe Eingriffe in die liebgewordene Gewohnheit. Die Offen— 
barungen der franzöſiſchen Großmeiſter haben das Behagen 
weder der Mitlebenden noch der Nachwelt geſteigert; ja, im 
großen und ganzen darf man annehmen, daß es ſich im 
Kreiſe der Kirchenväter und Scholaſtiker angenehmer denken 
und leben ließ als im Kreiſe der Enzyklopädiſten und der Exakt⸗ 
forſcher überhaupt. Nichtsdeſtoweniger ſehnen wir uns nicht 


167 


in jene Atmoſphäre zurück. Wir ſtoßen uns wund an den Eck— 
pfeilern der Kultur, die nicht für das Glück der Perſon gebaut 
ſind, ſondern als Stütze für die Kuppel der Geiſtigkeit.“ 

A.: „Und daran ſoll ich denken, wenn ich Eiſenbahn fahre? 
Nein, lieber Herr, als moderner Menſch bin ich natürlich Rei— 
ſender, und als ſolcher verlange ich, daß mir die Kultur eines 
Landes an der Grenze entgegenſpringt, in den Zug hinein, auf 
den Polſterſitz. Aus all den unentbehrlichen Nichtigkeiten ſoll 
ſie mich anwehen, nicht um mein Inneres zu vertiefen, ſon— 
dern um mein Außenleben zu erhöhen; ihre Arme ſoll ſie mir 
entgegenſtrecken, nicht um mir Bücher um die Ohren zu ſchla— 
gen, ſondern um mich zu liebkoſen. Wenn ich in die Pro— 
vence, an die Riviera, nach Paris oder in die Bretagne reiſe, 
will ich nicht erſt ein Fegefeuer abſolvieren, bevor ich ins 
Paradies gelange. Es ſoll ſchon im Vorhof paradieſiſch aus— 
ſehen, ganz einfach ausgedrückt, es ſoll moderner Komfort 
vorhanden ſein, und Sie werden mir zugeben, daß auch dieſe 
Kulturforderung ihre Berechtigung hat.“ 

B.: „Ich merke, daß Sie auf die Brücke einer Verſtändi— 
gung treten wollen, und ich ſelbſt wäre unkultiviert, wenn ich 
Ihnen dahin nicht folgte. Suchen wir alſo im Parallelo— 
gramm unſerer auseinanderſtrebenden Anſichten die Diago— 
nale und einigen wir uns auf folgende Formel: Kultur und 
Komfort ſind zweierlei, und gerade in Frankreich wird man 
gut tun, beide Begriffe auseinanderzuhalten; dort nahm die 
Kultur ehedem einen ſo breiten Raum ein, daß für den Kom— 
fort nicht viel übrig geblieben iſt.“ 

A.: „Einverſtanden; ich möchte den Satz nur ein bißchen 
anders redigieren: Komfort iſt eine Angelegenheit, für die 
Frankreich das ſchöne Wort und Deutſchland die gute Sache 
beſitzt!“ 


168 


Wie groß ift die Welt? 


Man hat da die ſchönſte Auswahl zwiſchen allen Formaten 
und kann bezüglich der Ausmaße nicht in Verlegenheit kom— 
men. Philoſophie und Sternkunde bieten ein Warenlager, in 
dem alle Größenlagen vertreten ſind. Von der kleinſten an— 
gefangen, die ſo klein iſt, daß man ſie bequem in die Weſten— 
taſche ſtecken kann. 

Eigentlich iſt das eine Null-Welt ohne jede Dimenſion. 
Alles, was ſich uns ſonſt als Sonnenweiten, Siriusfernen, 
Rieſenhaftigkeit der Geſtirnwelt vorſtellt, verſchwindet. 
Nichts bleibt übrig als das Bildchen von alledem, wie es 
ſich auf der Netzhaut unſeres Auges abmalt. Dieſe Lehre 
räumt radikal auf mit dem Univerſum: Der geſehene Raum, 
von unſerem ſichtbaren Leibe angefangen bis hinauf zum 
Sternenhimmel, ſamt allem, was darin ruht und ſich be— 
wegt, iſt gar nichts wirklich Gegenſtändliches außerhalb un 
ſerer Sinne, ſondern nur ein Phänomen innerhalb unſeres 
ſinnlichen Bewußtſeins. So hat es Ueberweg gedacht, ſo 
hat der bedeutende Denker Otto Liebmann den Satz ge— 
formt und auf Betrachtungen gegründet, die aſtronomiſch 
auf Kepler, phyſiologiſch auf Johannes Müller, Nagel 
und Hering zurückgehen. Herbart und Lotze werden an— 
gerufen, um der Großwelt den Garaus zu machen, und 
dieſem Vernichtungswillen gegenüber hält kein Fernrohr, kein 


169 


Spektralwerkzeug ftand. Denn auch diefe Apparate find nur 
Täuſchungen, Phantome, von unſerem Augenbildchen hin— 
ausgezaubert in ein Unbekanntes, das uns von einer Zwangs 
vorſtellung als Außenraum vorgeredet wird. 

Auf anderen Wegen wird ein ähnlich hiſtoriſches Ergebnis 
erzielt. Es gibt eine Philoſophie der Schrumpfung, die 
zunächſt der Welt nichts zuleide tut und ſie ſo groß beſtehen 
läßt, als man nur irgend will. Dann aber fährt ſie mit der 
Frage fort: Was geſchähe, wenn die Welt mit allem Inhalt 
plötzlich auf die Hälfte ihrer früheren Dimenſionen ein— 
ſchrumpfte? Beſäßen wir Menſchen ein Beobachtungsmittel, 
um dieſen Vorgang feſtzuſtellen? Keineswegs! Denn da 
alle unſere Organe, einſchließlich unſerer Maßſtäbe und Meß⸗ 
werkzeuge, dieſe Verjüngung auf ein Halb mitmachen, ſo 
ändert ſich für uns nicht das allermindeſte; das heißt ein 
ſolcher Vorgang könnte ſtattfinden, ohne uns irgendwie zu 
berühren, wir würden nichts merken. Der Mond wäre nach 
wie vor 50000 Meilen von uns entfernt, aber „Halbmeilen“, 
die für uns ganz dieſelbe Bedeutung hätten, wie vordem die 
Ganzmeilen. Spüren wir aber nicht eine Verkürzung auf 
ein Halb, ſo ſpüren wir ſie auch nicht auf ein Zehntel, auf 
ein Tauſendſtel, überhaupt nicht, das Univerſum könnte 
plötzlich oder allmählich auf die Größe eines Stecknadel—⸗ 
kopfes, eines Atomes zuſammenſchrumpfen, ohne daß ſich 
für uns, für unſer Leben und unſere Auffaſſung das Ge— 
ringſte ändern würde. Wir führen fort, nach parallaktiſchen 
Beſtimmungen die ungeheuerlichſten Sternentfernungen her— 
auszurechnen, in voller Unkenntnis der Tatſache, daß ſich 
in Wirklichkeit eine beobachtende Null mit einer Welt-Null 
meſſend beſchäftigt. Das iſt aber eine Möglichkeit, über deren 
Weſen wir nur das eine auszuſagen vermögen: ſie iſt viel 


170 


de Aa 


wahrſcheinlicher als die ererbte Gewißheit, die uns mit feſten 
Strecken und rieſigen Räumen operieren läßt. 

Nun zu den Welten mittleren Formates, für die ich hier 
aus dem reichlich verſorgten Warenlager eine Probe vor— 
legen möchte. Vergleichen wir ſie mit dem ſoeben ange— 
deuteten Zuſtand des abſoluten Schwundes, ſo werden wir 
ſie außerordentlich geräumig finden, wenngleich immer noch 
etwas eng im Verhältnis zu den üblichen Univerſalbegriffen. 
Der geradlinige Durchmeſſer des geſamten Weltraumes be— 
trägt nach dieſer Auffaſſung 40000 Kilometer, alſo genau 
ſoviel wie die Länge unſeres Äquators; die Erde verzichtet 
auf ihre Kugelgeſtalt, wird zur vollendeten Scheibe, zur 
„Totalebene“, kein Himmelskörper, ſondern eine Scheide— 
wand, ein Zwerchfell im endlichen Raum, zugleich deſſen 
untere Hälfte, während ſich alle Geſtirne, der ganze „Him— 
mel“ in der oberen befinden. 

Wir beſchwören hier keinen urzeitlichen oder mittelalter— 
lichen Spuk, verſenken uns nicht in die Grübelei eines Scho— 


laſtikers, ſondern folgen den Spuren eines ſehr gelehrten 


Modernen, des Dr. Ernſt Barthel, der ſeine Weltanſicht 
in einer großen Abhandlung feſtgelegt hat. Der Ort der 
Veröffentlichung, L. Steins Archiv für ſyſtematiſche Phi— 
loſophie (Heft 1 von 1916) erzwingt Beachtung, und der 
Vortrag des Mannes, der uns eine neue Weltorientierung 
geben will, iſt zweifellos auf Scharfſinn geſtimmt. Inner— 
halb des hier aufgeſtellten Rahmens iſt natürlich weder eine 
Angabe noch eine Erörterung ſeiner Beweiſe möglich; um 
ſo weniger, als dieſe mit einer der ſchwierigſten Vorſtellun— 
gen der Ultra-Geometrie, mit dem „gekrümmten Raum“ ar⸗ 
beiten, die ſich einer allgemein verſtändlichen Darſtellung 
nahezu entzieht. Für unſeren Zweck genügt die Feſtſtellung 


174 


Bi. 


des Formates ſelbſt. Wir erfahren, daß heute Strebungen im 
Gange ſind, die der Welt gewiſſe auskömmliche, endliche, 
nicht eben weitgeſpannte Maße zuweiſen. Man kann in 
40000 Kilometern exiſtieren, ohne ſich an ihnen zu berau— 
ſchen, wie man ſich auch an den Sonnenwirkungen erfreuen 
kann, wenn man mit dem denkeriſchen Wagemut des Dr. 
Barthel alle Geſtirne unendlich viel kleiner als die Erdmaſſe 
anſetzt. Im Ernſt geſprochen: Zu Zeiten Galileis wäre jene 
kurioſe Schrift nicht auf den Index gekommen, während ſie 
heute allerdings wie eine Ketzerei gegen die Allmacht der 
Aſtronomie auftritt. 

Sie ſteht aber nicht etwa vereinzelt da. Wir ſind in neueren 
Jahren von ganzen Stimmchören umflutet worden, die das 
Hohelied der Endlichkeit ſingen; alle aſtronomiſchen Strecken 
find ihnen zu weit, alle Bewegungen zu flink, fie wollen letz— 
ten Endes darauf hinaus, irgendwie und irgendwo im angeb— 
lich Unendlichen Abſchlüſſe zu finden. Mißverſtandene Leh— 
ren von Flammarion und Henri Poincars gingen vor— 
auf; ihnen folgten die Mißverſteher Auguſt Strindberg, 
Woodhouſe, eigenſinnige Deutſche von der Gefolgſchaft des 
Johannes Schlaf mit ihren gellenden Schlagworten: 
„Sinnloſe Aſtronomie“, „Wiſſenſchaft, die heute auf den 
Univerſitäten verhökert wird“, „Symphonie des Unſinns“! 
Eine geozentriſche Anſchauung ſollte durchbrechen, noch unter 
Lukrez hinunter, der zwar die Sterne als Kleinweſen erach— 
tete, aber doch den Weltraum nicht verengen wollte. Deut— 
lich umſchriebene Formate gibt es nicht innerhalb dieſer Leh— 
ren. Man kann immer nur ſagen: Kleinwelten, Mittelwel— 
ten, wie ſie ſich denen darſtellen, deren Sinn von den irdi— 
ſchen Maſſen nicht loskommt. Anaxagoras hatte behauptet, 
die Sonne ſei größer als der uns heute ſo vertraute Pelo— 


172 


FR 


* r a ent * 
5 4 


ponnes. Das war in ſeinem Sinne eine Erweiterung des 
Größenbegriffs, in unſerem ein Feſtkleben am alten Diminu— 
tiv. Die Welt des Anaxagoras iſt ein maßloſes Ungeheuer, 
am Verſtand ſeiner Zeitgenoſſen gemeſſen, ein Mikrob für 
uns, die wir die Strecken nach Lichtjahren beurteilen. 

Danach ergibt ſich ein Weltformat, das nur noch im Zah— 
lenſinne Bedeutung hat, das ſich an die Zahl heftet, um über— 
haupt ausſprechbar zu werden. Die Anſchauungsmöglichkeit 
entſchwindet. Wir lernen und glauben, daß die Firfterne 
erſter Größe durchſchnittlich ſiebzehn Lichtjahre von uns ab— 
ſtehen, die Lichtſekunde zu 300 ooo Kilometern, alſo rund 
150000 Milliarden Kilometer; und daß dieſe Unfaßbarkeiten 
wieder verſchwinden gegen die Erſtreckung der Milchſtraße, 
für die wir ſiebentauſend Lichtjahre bewilligen müſſen. Und 
auch damit hätten wir erſt eine Inſel im Univerſum erfaßt, 
nicht dieſes ſelbſt. 

Die Anſchauung ſucht in ihrer Bedrängnis einen Ausweg 
und findet ihn in der Vermutung, daß zwar der Raum un— 
endlich ſein müſſe, nicht aber die Menge und Maſſe der Welt— 
körper. Es gibt einen auf Herſchel zurückgehenden Schein— 
beweis, der dieſe Vermutung mit optiſchen Gründen zur Ge— 
wißheit erheben möchte. Er wirkt auch optiſch ganz über— 
zeugend, rennt aber gegen einen Grundpfeiler der in uns 
eingebauten Logik. Denn alle Ermeßlichkeit iſt Null gegen 
das Unendliche, und all die Lichtjahre bedrängen uns nicht 
ſo ſchmerzlich wie der Zwang, dieſe Ganzgroßwelt wiederum 
auf Null verkümmern zu laſſen. 

Nein, wir ſuchen immer noch nach größeren Formaten für 
die Welt, und wer mit der eigenen Phantaſie nicht aus— 
kommt, der mag die des Voltaire zu Hilfe rufen. 

Der Weiſe von Ferney ſchlägt in mehreren Erzählungen 


173 


das Thema von der Weltgröße an und, wie zu erwarten, 
er gibt ſich dabei nicht mit Kleinigkeiten ab. Ein Engel tritt 
als Lehrmeiſter auf: die Welt mag noch ſo ausgedehnt ſein, 
mit einer einzigen iſt nicht auszukommen; ſetzen wir alſo 
einen hübſchen Multiplikator ein und behaupten wir: im 
Raum ſind hunderttauſend Millionen von Welten vorhanden, 
eine immer ſchöner und beſſer als die andere; oder rückwärts 
gerechnet: eine immer toller als die andere; die uns zunächſt 
liegende, die irdiſche, kommt leider dabei am ſchlechteſten 
weg und wird in Voltaires Betrachtung als das „Tollhaus 
des Univerſums“ bemakelt. 

Gleichviel. Unſere vergleichende Studie ſoll ſich ja nur mit 
den Weltfor maten beſchäftigen, zwiſchen denen fie genü— 
gende Auswahl verſprach. Von einer Abſchätzung nach Vor⸗ 
trefflichkeit und Ungüte hat ſie ſich fernzuhalten. In ihr 
gilt nur das Relative, das jedes Gut und Böſe abwehrt und 
ſelbſt in der Abſchätzung reiner Raumgrößen der letzten Frage 
nach Richtig oder Falſch aus dem Wege geht. 


Die Annäherung 


Man könnte es wie ein Märchen anfangen, „Es war ein: 
mal“, und es kommt auch allerhand Fabelhaftes darin vor. 
Aber ſehr poetiſch wird es darin nicht zugehen. Denn die 
Dinge, die hier eine Annäherung ſuchen, find weder Gemein— 
ſchaften, die ihren Haß vergeſſen wollen, noch Menſchenkin— 
der, die durch eine geheime Sehnſucht zueinander getrieben 
werden, ſondern zwei vergeiſtigte Weſen, zwei Begriffe: die 
Vermutung und die Genauigkeit. 

Alſo es war einmal ein großer Gelehrter, der hieß Micha— 
el Pſellus, der lebte im elften Jahrhundert, galt viel bei 
ſeinen Zeitgenoſſen und wurde von ihnen mit dem Ehren— 
titel „Erſter der Philoſophen“ geſchmückt. Der hatte es ſich 
in den Kopf geſetzt herauszubekommen, wie ſich denn eigent= 
lich der Umring eines Kreiſes zu ſeinem Durchmeſſer ver— 
hielte. Und nachdem er lange überlegt und gerechnet hatte, 
kam er dahinter, das müßte eine Zahl ſein zwiſchen zwei 
und drei, ungefähr zwei und vier Fünftel, oder noch etwas 
darüber. Und die gelehrten Zeitgenoſſen dieſes „Erſten der 
Philoſophen“ waren ſehr erfreut über dieſen Fund, ganz 
überzeugt davon, daß hier Vermutung und Genauigkeit einen 
ſchönen Akt der Annäherung vollzogen hätten. 

Wenn ein halbwegs intelligenter Knabe mit einem runden 
Gegenſtand ſpielt, mit einem Kreiſel oder Tellerchen, und 
einen Faden um die Rundung legt, ſo müßte ihm der Unſinn 


175 


h — 
r 


des großen Pſellus klar werden. Er könnte es vom Faden 
ableſen, daß das Dreifache des Durchmeſſers noch nicht aus— 
reicht, um den Kreiſel oder das Tellerchen ganz zu um— 
ſpannen. 

Es mag fraglich fein, ob Kinder ſolche Experimente anſtel— 
len. Daß die Erwachſenen es vor faſt dreitauſend Jahren 
getan haben, erfahren wir aus dem Erſten Buch der Könige bei 
Beſchreibung des herrlichen Waſchgefäßes, das unter dem 
Namen des ehernen Meeres eine Zierde des Salomoniſchen 
Tempels bildete: „Und er machte das Meer, gegoſſen, zehn 
Ellen von einem Rande bis zum andern, gerundet ringsum, 
. . . und ein Faden von dreißig Ellen umfing es ringsum.“ 
Hier ſprach alſo der Faden: die geſuchte Zahl iſt genau gleich 
drei, und die Prieſter im Tempel Salomos, denen der Be— 
griff der „Annäherung“ noch fremd war, mochten das wohl 
als eine Gewißheit hinnehmen. 

Aber den ſpäteren Talmud-Gelehrten ſtiegen doch Zwei— 
fel auf. Sie unterſuchten wiederum verſchiedene runde Schüſ— 
ſeln mit dem herumgeſpannten Faden und gelangten zu dem 
Ergebnis: man muß, um den Umring zu erhalten, den 
Durchmeſſer von Rand zu Rand dreimal nehmen und ein 
„Audew“, was in ihrer Sprache bedeutete: und ein kleines 
bißchen mehr. Das war weder falſch, noch genau, ſondern 
eben nur annähernd richtig. Und bei den weiteren Annähe— 
rungen der Folgezeit ergaben ſich Wunder. 

Man nennt die geſuchte Größe bekanntlich nach einem For— 
ſcher, der ſie einer weitgehenden Unterſuchung unterwarf, 
die Ludolfſche Zahl oder *. In der Schule lernt man: Eins 
Komma 14159, und dieſer Annäherungsgrad reicht auch 
für die meiſten Erforderniſſe des Lebens wie der Technik. Mit 
jeder weiteren feſtgeſtellten Dezimalſtelle ſchärft ſich die Ge— 


176 


nauigkeit naturgemäß ſehr erheblich; Ludolf van Ceulen be— 
rechnete die Zahl bis zur 35. Dezimale, am Anfang des acht— 
zehnten Jahrhunderts konnte dieſes u das Jubelfeſt der hun— 
dertſten Stelle feiern, ſeit dem Jahre 1844 beſitzen wir es, 
durch den Kopfrechner Daſe, bis auf 200 Stellen genau. 

Was bedeuten dieſe Annäherungen? Zunächſt das eine, 
daß eine abſolute Genauigkeit bei einem ſo einfachen Ge— 
bilde wie der Kreis niemals zu erzielen iſt; dann als zweites 
die Beruhigung darüber, daß wir den möglichen Fehler bis 
zu beliebiger Kleinheit vermindern und unter die Schwelle 
des Bewußtſeins hinabdrücken können. 

Wir nehmen als Prüfungsmaß die winzige Dicke eines 
allerfeinſten Damenhaares und fragen: wie groß darf ein 
Kreisumfang ſein, damit die mögliche Ungenauigkeit der Be— 
rechnung höchſtens ſo groß ausfällt wie dieſe Haarfeinheit? 
Wir operieren mit einem u von nur 15 Stellen und ermit— 
teln: Ein Kreis von der Größe des Erdäquators verträgt 
dieſe Probe, multiplizieren wir deſſen Durchmeſſer mit ſol— 
cher Zahl, ſo wird die mögliche Ungenauigkeit noch lange 
nicht das zarte Quermaß eines Blondhaares erreichen. 

Wirtſchaften wir aber mit der ausgewachſenen Ludolfzahl 
von 100 oder gar von 200 Stellen, ſo können wir ganz ins 
Phantaſtiſche hineinſteigen. Der Kreis kann dann ſo groß 
oder milliardenfach größer ſein als die Milchſtraße, als die 
geſamte ſichtbare Sternenwelt: ſo wird der mögliche Fehler 
unter die Bazillenkleinheit herabſinken und durch kein Mikro— 
ſkop der Welt wahrnehmbar gemacht werden können. 

Aber ein Fehler bleibt trotzdem zurück, nämlich der Unter— 
ſchied zwiſchen dem Errechneten und dem mathematiſch als 
Kreis Vorgeſtellten. Dieſe Annäherung kann niemals bis 
zur völligen Berührung getrieben werden. 

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 12 


177 


Die Naturbetrachtung ſchlägt ähnliche Wege ein, wenn fie 
ſich Zielen nähert, die ſie vorläufig für erreichbar hält, um 
ſpäterhin inne zu werden, daß die ſogenannte Genauigkeit und 
Sicherheit im letzten Grunde nur eine ſehr geſteigerte An— 
näherung bedeutet. 

Wir befinden uns am Ufer eines mäßig großen Binnen— 
ſees; kein Windhauch kräuſelt die Oberfläche, kein Boot 
durchfurcht ſie, der Vergleich mit einem Planſpiegel drängt 
ſich auf, und wir können von dieſer Fläche mit ruhigem Ge— 
wiſſen als von einer vollkommenen Ebene ſprechen. Kein 
Naturgeſetz wird uns Lügen ſtrafen, wenn wir an dieſer 
„Ebene“ feſthalten und ſie den ſonſtigen Erſcheinungen des 
gewöhnlichen Lebens einordnen. 

Aber dieſe Ebene bietet uns nur eine Richtigkeit in erſter 
Annäherung. Eine geſteigerte Aufmerkſamkeit nötigt uns 
ſofort, den Waſſerſpiegel als Teil einer ſchwachgebogenen 
Kugelfläche anzuerkennen. Denn der See gehört zur irdi— 
ſchen Globusfigur und iſt ihrer Krümmung unterworfen. 
In dieſer zweiten Annäherung werden gewiſſe Beobachtungen 
erſt ermöglicht und verſtändlich, die auf Grundlage der erſten 
zu Widerſprüchen führen müßten. 

Dieſe zweite Annäherung könnte ausreichen, wenn unſer 
Planet wirklich eine Kugel wäre. Wir wiſſen aber, daß die 
Erde mit ihrer polaren Abplattung von der Kugelform ab— 
weicht und die Geſtalt eines Rotationsellipſoides zeigt. Auch 
hiervon muß unſer Binnenſee Notiz nehmen, ganz unab— 
hängig von ſeiner Größe oder Kleinheit. Er darf im Flüſ— 
ſigkeitsſpiegel nur wiederholen, was die Allgemeinfigur vor— 
ſchreibt, und ſo ergibt ſich als dritte Annäherung: der See 
wölbt ſich als Teil einer ellipſoidiſchen Fläche. 

Und noch immer ſind wir nicht bei der genaueſten Ge— 


178 


nauigkeit angelangt. Denn wir müſſen weiterhin noch die 
atomiſtiſche Struktur des Waſſers in Betracht ziehen. Unſer 
geiſtiges Auge nimmt heute ſchon vorweg, was dem körper— 
lichen noch entgeht, nämlich eine Atomlagerung an der Ober— 
ſchicht, die den ſtetigen Zuſammenhang der Fläche überhaupt 
aufhebt. Wir wiſſen nicht, was dieſe vierte Annäherung 
uns bieten wird; wir können in ihr nur eine Anſchauungs— 
form mutmaßen, der gegenüber die vorhergehenden, Ebene, 
Kugel, Ellipſoid als Vorläufigkeiten zu gelten haben, als 
kurzgefaßte, ungenaue Bezeichnungen für höchſt verwickelte 
Gebilde. 

Die uns bekannten Naturgeſetze verhalten ſich fortgeſetzter 
Prüfung gegenüber wie jener Seeſpiegel. So wie ſie ermittelt 
wurden und zuerſt in die Lehrbücher übergingen, beanſpruchen 
ſie in der Regel nur den Wert einer erſten Annäherung. 
Bei verſchärfter Prüfung werden weitere Annäherungen er— 
forderlich, das will ſagen: das Geſetz in ſeiner bekannten 
Form hält nicht dicht, zeigt Lücken, durch die gewiſſe Aus— 
nahmen ſchlüpfen können, iſt überhaupt nur Interimsgeſetz, 
vorbehaltlich weiterer Paragraphen, die erſt eine geſteigerte 
Genauigkeit ermöglichen ſollen. 

Solche Geſetze ſtehen vor der verſchärften Frage wie nicht 
ganz taktfeſte Zeugen vor Gericht. Man kann ihnen die Eid— 
fähigkeit nicht abſprechen, denn ſie ſprechen die Wahrheit; 
nur nicht die volle Wahrheit; ſie verſchweigen Einzelheiten, 
nicht in der Abſicht, einen Irrtum hervorzurufen, aber ohne 
die innere Kraft, jeden Irrtum auszuſchließen. Als derartige 
bedingte Geſetze haben ſich zumal die Gasgeſetze erwieſen, 
wie fie von Dalton, Mariotte, Gay-Luſſac formuliert wur— 
den; ferner das Wärmegeſetz von Dulong und Petit, die 
Geſetze der Leitfähigkeiten von Wiedemann-Franz und Lo— 

e 


179 


renz, im weiteren überhaupt die mechaniſchen Geſetze, jo: 
bald raſche Bewegungen kleinſter Maſſen in Frage kommen. 
Es ſind, wie man wohl heute in anderem Zuſammenhange 
ſagt, Mantelgeſetze, mit Mänteln, die in Ewigkeiten zu halten 
ſchienen, deren Nähte aber doch allmählich auseinander— 
platzen. 

Sogar Newtons Gleichungen als Ausdruck der klaſſiſchen 
Schwerkraftslehre haben daran glauben müſſen. Sie ſind 
„erſte Annäherungen“ geworden, ſeitdem der gewaltige For— 
ſcher Albert Einſtein mit ſeiner eigenen Gravitationstheorie 
eine weitere Annäherung gefunden und damit vormals un— 
durchdringliche Rätſel am Himmelsbogen wie durch einen 
Zauber entſchleiert hat. 

Und über das Gebiet der Phyſik hinaus wird der große 
Begriff ſeine große Macht äußern, wenn er in die Gebiete 
des reinen Erkennens, der Ethik und Aſthetik übergreift, wenn 
wir in den gültigen Geſetzen des Denkens und Empfindens 
über das Zunächſt-Wahre vorſchreiten werden zu verborgenen 
Wahrheiten, nach dem Prinzip der Annäherung, welches 
nicht rechthaberiſch umſtößt, ſondern verfeinert, neue Mög— 
lichkeiten erſchließt. Ja ſelbſt das ſicherſte vom Sicheren, die 
Mathematik, wird ſich der Betrachtungsart der Annäherung 
nicht verſchließen dürfen, nicht nur in Zahlen — dieſe Arbeit 
beſorgt ſie ja ſelbſt ſeit Urzeiten — ſondern in ihren grund— 
legenden Lehren. Die Anfänge hierzu liegen vor, weitere 
Wege hat Vaihinger in ſeiner herrlichen „Philoſophie des Als 
Ob“ gewieſen. Dann könnte ſich der Kreis einmal völlig 
ſchließen, anſcheinend in einem fehlerloſen Zirkel, — denn 
was ſollte genauer ſein als das Genaueſte? —, und doch mit 
einem neuen gewaltigen Ausblick auf die Relativität jeder 
Erkenntnis. 


180 


Das Heraklitiſche „Alles fließt“ wäre dann zu ergänzen 
in einem „Alles wankt, ohne zu ſtürzen“. Auf beweglichen 
Unterbauten erſter und zweiter Annäherungen werden dritte 
und vierte errichtet, ohne Sorge um die Tragfähigkeit. Es 
hat ſich gezeigt, man kommt höher, wenn man aufwärts 
baut, als wenn man nur immer an alten Fundamenten 
mauert und in die Breite arbeitet. Und vielleicht läßt ſich auf 
dieſe Weiſe, über alle Zweifel hinweg, einmal ein feſter Punkt 
gewinnen, der Punkt, den der Mechaniker Archimedes er— 
ſehnte, um die Erde, und den die Erkenntnis erſtrebt, um den 
Irrtum aus den Angeln zu heben. 


181 


Der Alpdruck 


Das Wörtchen „vielleicht“ müßte am Anfang und am 
Ende der Betrachtung ſtehen. Iſt dies alles, was wir ſchau— 
dernd und bewundernd hören, ſchauen und fühlen, was uns 
durchbebt und erhebt, vielleicht nur ein Traum? Steckt 
hinter der tauſendmal gebrauchten Sprachwendung „man 
faßt ſich an den Kopf“ vielleicht mehr als eine ſymboliſche 
Bewegung? vielleicht der ernſthafte Verſuch, einen Alpdruck 
abzuſchütteln, der aller Wirklichkeit zum Trotz doch nur 
traumhaft vorhanden wäre? 

Dies Wörtchen „vielleicht“ hieß urſprünglich im Mit⸗ 
telhochdeutſchen ſo viel wie „ſehr leicht“ und bezeichnete einen 
gewiſſen, nicht unbeträchtlichen Grad der Wahrſcheinlichkeit. 
Es verlor den Wahrſcheinlichkeitswert, um nur eine loſe 
Möglichkeit anzudeuten, die der ſchweifende Gedanke für die 
Dauer einer Sekunde berührt. Nicht auf länger. Wir glau= 
ben an die Wirklichkeitswelt, wir halten an der Gegenſtänd— 
lichkeit des wachen Zuſtandes feſt und ſind uns des ſpieleri— 
ſchen Gegenſatzes bewußt, wenn uns trotzdem einmal der Ge— 
danke durchzuckt: vielleicht iſt es doch nur ein Traum? 

Bis uns dann einmal der Eigenſinn überfällt und uns 
nötigt, der flüchtigen Frage halt zu gebieten. Vielleicht ent— 
ſinnen wir uns dabei, daß heute gewiſſe Denkmöglichkeiten 
vorhanden ſind, die bei den Urvätern nicht einmal als hu— 


182 


r 
ſchende Schatten vorhanden waren. Wir denken daran, daß 
| die Schwerkraft in der Natur verſchwinden, daß die Gerad— 
linigkeit des Lichtſtrahls aufhören könnte. Solche „vielleicht“ 
hat es früher nicht gegeben. Aus allen Ecken der neueſten 
Naturwiſſenſchaft ſtrömen uns die Unmöglichkeiten entgegen, 
die plötzlich das Geſicht der Möglichkeit, ja der Wahrſchein— 
lichkeit annehmen. Man darf das Undenkbare nicht mehr ab—⸗ 
lehnen. Das ſcholaſtiſche, ehedem fo widerſinnige: „Credo 
quia absurdum“ hat angefangen, wiſſenſchaftlichen Grad 
zu gewinnen. 

Alſo die ſcheinbar ſo törichte und ſonſt nie ſtandhaltende 
Traumfrage erhält den Geſtellungsbefehl, ſoll gemuſtert und 
unterſucht werden. Zunächſt muß ſie ſich entkleiden, und 
wenn ſie die Gewandung abgeworfen hat, ſteht das nackte 
„Ich“ vor uns, das Bewußtſein der eigenen Perſönlichkeit. 
Weder Ariſtoteles, noch Kant, noch Fichte haben an ihm ge— 
zweifelt. Aber von neueren, ſehr bedeutenden Philoſophen 
iſt dem ſicher begrenzten „Ich“ ſcharf zugeſetzt worden, ſo 
ſcharf, ſo erfolgreich, daß man allen Ernſtes behaupten darf: 
in abſehbarer Zeit wird dieſes „Ich“ als wiſſenſchaftliche 
Beſtimmtheit ausgeſpielt haben. 

Vorläufig exiſtiert es noch, erfreut ſich aller bürgerlichen 
Rechte, wird von ſich ſelbſt anerkannt und ſpinnt ſeine Er— 
innerungen in einem regelmäßigen Wechſel zwiſchen Schlaf 
und Wachen. Solange der Schlaf vorhält, alſo etwa in einem 
Drittel des Lebens — fo ſagen wir im Wachen —, verſagt die 
Kontrolle des richtigen Denkens. Die Hauptbeſtimmungen 
nach Raum, Zeit und Urſächlichkeit ſind aufgehoben. Wo— 
her wiſſen wir das? Weil der Moment des Aufwachens ein— 
tritt, in dem ſich die verlorenen Denkfunktionen wieder pünft- 
lich zur Stelle melden. 


2 
; 
— 
4 


183 


Aber während wir dieſen ſicheren Schluß ziehen, fchließt 
ein Drittel der Menſchheit anders. Die fünfhundert Mil— 
lionen Menſchen, die eben jetzt ſchlafen, ſind, ſofern ſie träu— 
men, vom Gegenteil feſt überzeugt. Jeder von ihnen hat ſein 
eigenes „Ich“, und dieſes träumende Ich zweifelt nicht im 
geringſten an ſeiner Gegenſtändlichkeit, an der Richtigkeit 
ſeiner Raum- und Zeitorientierung, an ſeinen Verknüpfungen 
von Urſache und Wirkungen, kurz an der Wahrheit und Wirk— 
lichkeit ſeiner Erlebniſſe. 

Es iſt durchaus kein waghalſiger Gedanke, anzunehmen, 
daß die phyſiologiſche Natur der Menſchen ſich verändern 
könnte. Stellen wir uns ein ſtetig wachſendes Schlafbedürf— 
nis vor, ſo müſſen wir Menſchen für möglich halten, die 16, 
20, 23 Stunden am Tage ſchlafen. Und bei weiterem Ver— 
folg bis ins Extrem landen wir, ohne in Sinnwidrigkeit zu 
verfallen, bei einer veränderten Welt: auf einen Menſchen, 
der wacht und richtig denkt, kämen zur gleichen Zeit tauſend 
irrende Träumer. Auf dieſem Punkte beginnt die Regel der 
Wahrſcheinlichkeit ein Wörtchen mitzureden: Warum ſoll die 
Meinung des Einen als Kontrollinſtanz ausſchlaggebend ſein 
gegen den Widerſpruch der tauſend? Liegt nicht allzeit das 
Normale, das Gültige bei der großen Anzahl? Als das Ent— 
ſcheidende muß doch die überwiegende Regel angeſprochen 
werden, nicht die vereinzelte Ausnahme. 

Wie immer ſteht der Einwand bereit: auch jene Tauſend 
werden aufwachen und erkennen, daß ſie in Viſionen verſpon— 
nen waren. Erkennen — das heißt eine Überzeugung gewin— 
nen, mit einer Deutlichkeit, die dieſer Minute angehört. Aber 
in der Vorminute, oder in der nächſten Stunde herrſcht eine 
andere Deutlichkeit, und der logiſche Zirkelſchluß iſt fertig: 
wir erkennen dies, weil es wahr iſt, und es iſt wahr, weil 


184 


wir es fo erkennen. Der Rechtsſtreit ift niemals zu ſchlichten; 
denn erſtens iſt der Richterſtuhl unbeſetzt, und zweitens fehlt 
immer die eine Partei, während die andere deklamiert und 
ihren Standpunkt vertritt; bis ſie wiederum verſchwindet und 
die Gegenpartei mit genau derſelben Beredſamkeit das Gegen⸗ 
teil behauptet. Und um die Unmöglichkeit dieſes Prozeſſes 
zu vollenden: beide Parteien ſind innerlich und äußerlich iden— 
tiſch, aber antipodiſch entgegengeſetzt, ſie erblicken ſich nie, ſie 
können immer nur eines: zeugenlos, gegenſtandslos, beweis— 
los gegeneinander in die Luft ſchwören! 

Das Traum⸗Ich iſt feiner Sache ganz ſicher. Sein Krieg 
zeigt dieſelbe Grauſamkeit wie der der Wachenden, ſein Frie— 
den übertrifft vielleicht an Holdſeligkeit jedes Idyll, das wir 
in glücklichen Zeiten jemals erlebten. Ich, der ich jetzt und 
hier ſchreibe, habe mir oft genug im Traum die Frage vorge— 
legt: träumſt du vielleicht? Ja, ich verfuhr noch gründlicher: 
alle Argumente aus Schriften und eigenem wachen Denken 
ſtanden mir zur Verfügung mitſamt allen Erwägungen nach 
Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit, und ſorgſam unterſuchte 
ich — um etwa auf einen beſtimmten Traumfall zu kommen: 
du befindeſt dich hier vor dem Dogenpalaſt in Venedig; 
wäre es nicht denkbar, daß du dich in nächſter Minute in 
deinem Berliner Bettlager entdeckteſt? Und mit der größten 
Beſtimmtheit entſchied ich: Nein! ſo etwas mag im Anſchluß 
an einen Traum paſſieren, aber nicht hier, nicht in der Wirk— 
lichkeit; wie könnte ich ein geträumtes Venedig mit dieſem 
gegenſtändlichen verwechſeln? mit dieſem wirklichen Dogen— 
palaſt? Lächerlich, auch nur eine Sekunde an ſeiner Realität 
und an meinem Aufenthalt vor ihm zu zweifeln. Ja, in der 
verfloſſenen Nacht, als ich im Hotel Garibaldi lag und ſchlief, 
da habe ich geträumt, und in der nächſten Nacht werde ich 


185 


wahrſcheinlich wieder träumen, irgendwelches konfuſe Zeug, 
das von der Klarheit dieſer Gegenwart himmelweit entfernt 
iſt. 

Der Kellner des Café Quadri auf dem Markusplatz 
bringt mir eine Schale Kaffee, eine höchſt poſitive Taſſe mit 
gar nicht fortzuleugnendem Inhalt. Neben mir ſitzt Goethe, 
der mir Bruchſtücke aus ſeiner italieniſchen Reiſe erzählt. 

Blitzartig durchfährt mich ein Zweifel. Lebt denn Goethe 
noch? Eigentlich ſollte er tot ſein. Ach ja, richtig, er iſt ja in 
Weimar geſtorben, und in Weimar iſt er auch tot und be— 
graben. Aber hier in Venedig iſt er lebendig, ſonſt würde er 
ja nicht neben mir ſitzen und Kaffee trinken. 

Merkwürdig bleibt es trotz alledem! Wie kam ich eigent— 
lich mitten im Kriege ins italieniſche Feindesland? Ich finde 
hierfür die ganz glaubhafte Erklärung: einmal iſt ja der Krieg 
ſchon ſeit zehn Jahren vorbei, dann war ja auch der Krieg 
niemals wirklich, ſondern nur geträumt, und ſchließlich ge— 
hört ja Venedig auch gar nicht zu Italien. Ich weiß ja ganz 
genau, wie ich hierher gefahren bin: mit dem Hapagſchiff 
Imperator von Cuxhaven nach Luzern, und dicht daneben 
liegt doch Venedig am Vierwaldſtätter See. In der Traum— 
logik hat das alles ſeine Richtigkeit. 

Es iſt auch ganz in der Ordnung, daß der Markusdom da 
drüben gar nicht ausſieht wie der Markusdom, ſondern wie 
der Bahnhof von Baſel. Das muß ſo ſein und iſt immer ſo 
geweſen. Baedeker macht doch ausdrücklich darauf aufmerk— 
ſam. Die ganze Architektur des Platzes mit den Prokuratien 
zur Seite erhält dadurch erſt ihren ſtilrichtigen Abſchluß. Und 
gleichzeitig liefert mir das Bauwerk den vollkommenen Be— 
weis für die Tatſache des Wachens: Auf dem Ferngleis der 
Markuskirche bin ich ja angekommen, ich habe ja ſogar noch 


186 


W * 


Handgepäck drüben beim Biſchof. Das iſt alſo die volle Wirf- 
lichkeit ohne einen Schimmer von Traumphantaſie. 
Immerhin, um den Beweis ganz ſchlüſſig zu machen, 


bringe ich ſelbſt das Geſpräch auf dieſe Frage: Sagen Sie, 


Herr von Goethe, halten Sie in der Angelegenheit von Schla— 
fen und Wachen eine Täuſchung überhaupt für möglich? Hal- 
ten Sie es für denkbar, daß ich jetzt nur träume, während 
ich mit Ihnen in Venedig dieſe Frage erörtere? 

Goethe zog eine Reihe beſchriebener Blätter aus der Taſche, 
breitete ſie aus und verwies mich auf den Inhalt. Da würde 
ich alles finden, was ich zu erfahren wünſchte. Ich konnte 
aber die Zeilen und die Worte nicht zuſammenbringen. Gleich— 
zeitig begann das Glockenſpiel von San Marco zu läuten 
und ſetzte ſich automatiſch in das Spiel meiner Weckeruhr 
fort. Eine Sekunde ſpäter entdeckte ich mich wirklich auf 
meiner Berliner Bettmatratze. 

Alſo doch geträumt?! und welche Intelligenz bürgt dafür, 
daß nicht wenige Minuten darauf ein neues „Alſo doch“ 
die neue Wirklichkeit durchſchneidet? 

Ich knipſte das Licht an und verſuchte mit müden Augen 
zu leſen. Was da gerade auf dem Nachttiſche lag: es war 
ein Band Calderon, und ich geriet an die Stellen: „Nichts 
Ewiges kann das Glück uns geben, denn flücht'ger Traum 
iſt Menſchenleben, und ſelbſt die Träume ſind ein Traum“, 
— — „da doch auf dieſer Welt, Clotald, nur alle träumen, 
die da leben!“ 

Calderon, Grillparzer und viele andere Dichter bis zu 
Strindberg, Widmann und Gerhart Hauptmann haben die— 
ſen Gedanken in Ernſt und Laune behandelt, mit ihm ge— 
ſpielt, neue intelligible Welten aus ihm gebaut. Ja, man 
kann wohl behaupten, daß keines Dichters Schaffen ihm 


187 


völlig auszuweichen vermochte, denn er begreift in ſich die 
äußerſt letzte aller letzten Fragen. Der Metaphyſiker landet 
ihr gegenüber beim Verzicht. Die Lehre von einer Traum— 
haftigkeit der Wirklichkeitswelt iſt in keiner Weiſe logiſch zu 
widerlegen, ſo formt Mauthner den Verzicht unter der vollen 
Wucht des großen Fragezeichens. Wir ſchließen mit einer 
Waghalſigkeit, die in keinem andern Denkakt ihresgleichen 
findet, aus dem einzigen uns bekannten Falle, aus unſerer 
eigenen Exiſtenz, auf die ganze Welt, und werden immer 
wieder darauf geſtoßen, daß ſelbſt dieſes uns einzig wirklich 
Bekannte in zwei gegenſätzlichen Erſcheinungen auseinander— 
klafft. Das große „Ignorabimus“ des Du Bois-Reymond 
ſteht nirgends ſo drohend aufgerichtet wie in der Frage: 
Träumen wir, oder wachen wir? 

Unſer Anfangswort „Vielleicht“ neigt ſich ihr gegenüber 
ſtark auf die Seite der Sinnloſigkeit, denn kein Wahrſchein— 
lichkeitsgrad, man ſetze ihn beliebig groß oder klein an, will 
auf die Frage paſſen. Ein Philoſoph des achtzehnten Jahr: 
hunderts hat geſagt: was nur wahrſcheinlich richtig iſt, das 
iſt ganz beſtimmt falſch. Wie falſch iſt dann erſt das, was 
ſprachlich auf ein Vielleicht hinausläuft, nämlich die Frage 
ſelbſt. Sie iſt falſch geſtellt, in ſich ſinnlos, ohne daß wir 
die geringſte Möglichkeit beſäßen, ihr aus dem Wege zu 
gehen oder ſie in andere Faſſung zu bringen. Nichts als den 
Ausdruck der Denkverlegenheit bedeutet dieſes Vielleicht. Und 
wenn einer von uns bisweilen in ſchreckhaftem Erſtaunen 
von einem Zweifel übermannt ward: vielleicht träume ich 
nur dieſen Krieg? — ſo konnte er mit derſelben Berechtigung 
von der Traumüberzeugung ausgehen und fragen: Vielleicht 
iſt dieſer Krieg trotz alledem eine Wirklichkeit? 


188 


Die Hemmung und die Forderung 


Ein Boot fährt bei ſtarkem Strom auf dem Rhein von 
Bonn nach Köln. Maſchinenkräfte ſind nicht vorhanden, 
das Fahrzeug läßt ſich treiben. Der Bootsherr verfügt über 
gutes Meßwerkzeug und über ein rechtwinkliges Segel von 
einfachſter Spannungsform. Alleiniger Zweck der Reiſe iſt 
die Feſtſtellung eines Zuſammenhanges, der auf den erſten 
Blick gar nichts Beſonderes zu bieten ſcheint, der ſich indeſſen 
bei ſchärferer Beobachtung als höchſt merkwürdig, man 
könnte ſagen als wunderbar erweiſen wird. 

Der Bootsherr macht die Reiſe dreimal, jedesmal in der 
nämlichen Richtung von Bonn nach Köln. Zuerſt überläßt 
er ſich bei Windſtille ausſchließlich der Triebkraft des Waſ— 
ſers. Beim zweitenmal ſetzt ein mäßiger Südwind ein, der 
das Segel bläht und die Fahrt beſchleunigt. Bei der dritten 
Fahrt legt ſich Nordwind in das Segel und wirkt der Fahrt— 
richtung entgegen, verzögernd. 

Strom und Windſtärke find, abſolut genommen, nach 
Ausweis der Meſſungen dieſelben geblieben, nur daß ſich 
der Wind abwechſelnd in poſitivem und in negativem Sinne 
eingeſetzt hat. Daraus folgt, oder ſagen wir gleich: ſcheint 
zu folgen, daß das Boot mit dem Winde genau ſoviel Ge— 
ſchwindigkeit gewinnt, als es gegen den Wind verliert. Das 
wäre an der Dauer der einzelnen Reiſen mit Sicherheit feſt— 


189 


zuſtellen. Die erſte Fahrt, die ſegelloſe, müßte nach Zeit 
gemeſſen zweifellos den Mittelwert zwiſchen den beiden ans 
deren ergeben. 

Das iſt eigentlich ſo ſelbſtverſtändlich, daß manche gar 
nicht begreifen werden, weshalb es überhaupt zur Erörterung 
geſtellt wird. Und dieſe Manchen werden ſehr erſtaunt ſein, 
zu erfahren, daß es bei aller Selbſtverſtändlichkeit falſch 
iſt. Unſer Bootsherr ſtellt nämlich durch außerordentlich 
ſcharfe Zeitvergleichung feſt: Der Gegenwind wirkt ſtärker 
als der Förderwind; bei ſonſt ganz gleichen Kräfteverhält— 
niſſen überwiegt die Hemmung! 

Die hierbei auftretenden Größenunterſchiede ſind freilich 
ſehr klein. Aber ſelbſt dort, wo ſie ſich der einfachſten Beob— 
achtung entziehen, ſind ſie ſicher vorhanden und der Be— 
rechnung zugänglich. Und ſo winzig ſie auch erſcheinen mö— 
gen, ſo gewaltig iſt die Rolle, die ihnen die neueſte Wiſſen— 
ſchaft im Getriebe des Erkennens zugewieſen hat. In dem 
übergewicht der Hemmung liegt zuerſt ein ſcheinbarer Wider— 
ſinn, der wiederum in ſeinem tiefſten Grunde den Schlüſſel 
zu den größten, vielleicht zu den letzten Geheimniſſen der 
Natur birgt. Schwere Abenteuer des Gedanken- und Sach— 
erperimentes liegen auf dieſem Wege, deſſen Windungen 
ſchließlich zur neuen Relativitätstheorie führen. 

Der Verlockung, dieſen Weg zu beſchreiten, widerſtehen wir 
einſtweilen, um uns lediglich mit dem Prinzip der überwie— 
genden Hemmung zu beſchäftigen. Denn um ein Prinzip 
handelt es ſich hier, nicht um das zufällige Ergebnis einer 
Bootfahrt auf dem Rhein. Die Natur entwickelt hier keine 
beſonderen Launen, ſondern befolgt eine Regel, unbekümmert 
darum, ob dieſe Regel bei erſter Wahrnehmung einleuchte 
oder nicht. Der Beobachter könnte ſeinen Verſuch mehrfach 


190 


a „ eee 
eee 


abändern, z. B. mit Maſchinenkraft die nämliche Strecke 
flußabwärts und flußaufwärts fahren, dann würde die Waſ— 
ſerſtrömung je nach der Richtung helfend oder aufhaltend 
einſetzen. Und ein Kontrollverſuch könnte am Ufergelände 
ſtattfinden, im Auto, mit dem Winde und gegen ihn. Immer 
bleibt die Tatſache beſtehen, daß die Mitwirkung von der 
Gegenwirkung übertroffen wird, daß die Hemmung ſtärker 
ausfällt als die Förderung. 

Dieſes ſeltſame Mißverhältnis bleibt natürlich nicht auf 
Schiff und Auto beſchränkt; es ſetzt ſich vielmehr überall 
durch, wo ein Für und Gegen, ein Hin- und Her-Effekt auf⸗ 
tritt, nicht nur bei Bewegungen, ſondern allgemein. Der 
Kern der Erſcheinung läßt ſich mit bloßer Wortbetrachtung 
nicht recht an die Oberfläche bringen, ſehr bequem aber mit 
einigen Zahlen, die ſich ganz einfach aus einem Vorgang der 
Alltäglichkeit ergeben. Ich entnehme fie mit einer durch die Zeit⸗ 
umſtände gebotenen Sachveränderung einem von Dr. Hans 
Witte aufgeſtellten Beiſpiel in deſſen Werk: Raum und Zeit 
im Lichte der neueren Phyſik. 

Ein Raucher bezieht allwöchentlich 120 Zigaretten, und 
zwar 60 Stück vom Händler A und 60 Stück vom Händler 
B. Der Preis iſt bei beiden Verkäufern der nämliche, 10 
Pfennig für je 5 Zigaretten. Eines Tages ſchlägt A ſeinen 
Preis auf und verabfolgt nur noch 4 Zigaretten für 10 Pfen— 
nig, während B um genau ebenſoviel billiger liefert, näm— 
lich 6 Zigaretten für 1o Pfennig. Für den Raucher gleicht 
ſich dies anſcheinend vollkommen aus, er unterliegt einer 
Hinz und Herwirkung von gleichen Abmeſſungen. 

Aber feine Rechnung ſtimmt nicht. Er hat nach der Preis— 
veränderung an den Händler A für je 60 Stück 1,50 Mark 
zu zahlen, an B für ebenſoviel 1 Mark, zuſammen alſo 


191 


2,50 Mark; während er feinen früheren Bedarf in der Woche 
mit 2,40 Mark zu decken vermochte. 

Das Beiſpiel entbehrt der Feinheit, es verdeutlicht aber 
an einem grobkörnigen Vorgang, daß in dem Hin und Her 
noch etwas anderes zum Ausdruck kommt als der zu aller— 
erſt wahrgenommene Gradunterſchied. Setzt man ſtatt der 
beiden Händler den Hemmungswind und den Förderwind, 
ſo verfeinert und vertieft ſich die Aufgabe ſchon merklich, 
und die Schwierigkeit, den Zuſammenhang zu erkennen, 
wächſt in gleichem Verhältnis. Geht man in der Analogie 
noch weiter, indem man den atmoſphäriſchen Wind durch 
den ſtrömenden Ather, das Schiff durch einen Lichtſtrahl er— 
ſetzt, ſo ergeben ſich die wunderbarſten Probleme, die in 
letzter Ausfolgerung zu einem neuen phyſikaliſchen Weltbild 
führen. 

Der ungleiche Widerſtreit zwiſchen Hemmung und För— 
derung kann aber vielleicht auch in ganz anderen Betrach— 
tungen Bedeutung gewinnen; nämlich außerhalb der meß— 
baren phyſikaliſchen Kräfte im Bereiche der Motive, die un— 
ſer Tun und Streben beeinfluſſen. Nur loſe Andeutungen 
können nach dieſer Richtung gegeben werden, denn wir nä— 
bern uns hier einem unerforſchten Gebiet und find, weit ent— 
fernt von irgendwelcher Gewißheit, auf dämmernde Ahnun⸗ 
gen angewieſen. 

Thomas Buckle bemerkt in feinem berühmten Ziviliſations— 
werk, daß jede große Reform nicht darin beſtanden habe, et— 
was Neues zu tun, ſondern etwas Altes außer Kraft zu 
ſetzen; „die wertvollſten Geſetze ſind die Abſchaffungen frü— 
herer Geſetze geweſen, und die beſten Geſetze, die gegeben 
worden ſind, waren die, welche alte Geſetze aufhoben.“ Buckle 
bringt zum Beweiſe gewiſſe alte Religions-, Korn- und Wu⸗ 


192 


chergefeße, deren Väter mit Motiven in förderndem Sinne 
arbeiteten, da ja andernfalls ihr Paragraphenbau als aus 
genſcheinlich und unbedingt zweckwidrig gar nicht hätte zu= 
ſtande kommen können. Buckle ſieht die Hemmungen und 
erkennt ſie durchweg als überwiegend. Ja, er geht noch wei— 
ter: er nähert ſich bereits jener naturgeſetzlichen Wertung, 
daß ſchon bei anſcheinend ganz gleicher Verteilung die Hem—⸗ 
mung den Ausſchlag gibt. Möglich, ja wahrſcheinlich, daß 
er die Folgerungen übertreibt, wie faſt jeder Erkenner und 
Vorahner eines neuen Prinzipes. Dies zu unterſuchen, würde 
meine Zuſtändigkeit überſchreiten. Ich greife nur Buckles 
Grundmeinung als eine Tatſache heraus und als einen Beleg 
dafür, daß ein bedeutender Kopf geneigt war, den Gegen— 
gründen unter allen Umſtänden ein ſtärkeres Gewicht zuzu— 
ſprechen als den Gründen. 

Leider kann man beide nicht auf der Präziſionswage abwä— 
gen, ebenſowenig wie andere Motive. Könnte man etwa 
Dank und Undank mit der Wage meſſen, ſo würde ſich bei 
Übertragbarkeit des Hemmungsgeſetzes auf ſeeliſche Vor— 
gänge folgendes ergeben: beim Widerſtreit der Beweggründe 
und bei anſcheinend gleichem Kräfteſpiel ſetzt ſich der Undank 
ſinnfälliger durch, dem fördernden Dank fehlt ein Kraft— 
moment, das dem Undank als einer Hemmung zur Verfü— 
gung ſteht; nicht die Verteilung der Anfangsmotive iſt das 
Entſcheidende, ſondern jenes tückiſche mechaniſche Geſetz, das 
aus dem Gleichgewicht der Urſachen noch ein Ungleichgewicht 
der Wirkungen herauszuholen verſteht. 

Befragen wir die Lehrmeiſterin Natur, ſo gibt ſie uns 
eine Antwort, die zwar den Sinn des Geſetzes nicht ent— 
rätſelt, aber ſeine Macht mit beredten Zeichen anerkennt. 
In zahlloſen Mengen verſtreut ſie ihre Keime zur Förde— 

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 13 

193 


rung der Art- und Gattungserhaltung, mit einer maßloſen 
Freigebigkeit, die ihr oft genug von Naturforſchern den Titel 
einer Verſchwenderin eingetragen hat. Sie will damit aus⸗ 
drücken, daß die Hemmung — die Gefahr im Kampf ums 
Daſein — nur dann wettgemacht werden kann, wenn die 
Förderung mit einer alle Begriffe überſteigenden Wucht ein— 
ſetzt. Und da die Natur eine gute Rechnerin iſt, ſo verfährt 
ſie dabei progreſſiviſch, in einer ſprunghaft anſteigenden 
Reihe. Sie verleiht einem einzigen Karpfen eine ſo ungeheure 
Eiermitgift, daß ſchon lange vor der zehnten Geſchlechts— 
folge der Nachwuchs das Gewicht der Erdmaſſe übertreffen 
müßte, ſelbſt wenn zwiſchendurch Trillionen in Gefahren 
zugrunde gingen. Und mit einem Hinweis auf den tatſäch— 
lichen Beſtand erläutert ſie uns, daß ein einfaches, klar zu 
überblickendes Verhältnis zwiſchen Hemmung und Förderung 
nicht beſteht. Nur den Verdacht gilt es zu ſchärfen gegen 
jede mögliche Hemmung, und der Vorſorge jedes erdenkliche 
Größenmaß zu gewähren; es kann niemals hoch genug ge— 
griffen werden und wird erſt dann zweckentſprechend aus— 
fallen, wenn es in erſter Anlage ausſieht wie eine Über— 
treibung. Und aus dem Beiſpiele der Natur, die Hemmun— 
gen ſchuf, um ſie mit allem Aufgebot der Verſchwendung zu 
bekämpfen, läßt ſich vielleicht jene verwickelte Regel in ganz 
einfacher Form ableiten. Es iſt mehr als eine wortſpieleriſche 
Selbſtverſtändlichkeit, wenn man behauptet: Nichts iſt der 
Förderung ſo bedürftig, wie die Förderung. 


194 


Gedanke, Blitz und Chronometer 


Das Fünfzig⸗Jahr⸗Jubiläum, ehedem nicht üblich, ift mit 
geſteigerter Metronomiſierung des Lebens ein anerkanntes 
Recht aller Menſchen geworden, die etwas geleiſtet haben und 
ſich feiern laſſen wollen. Dieſes Menſchenrecht ſoll hier für 
eine Entdeckung in Anſpruch genommen werden, die trotz 
ihrer Größe und Wichtigkeit im Sturm unſerer Tage leicht 
überſehen werden könnte. 

Vor ziemlich genau fünfzig Jahren iſt man nämlich dem 
Gedanken auf die Sprünge gekommen. 

Er hatte ſich bis dahin, ſeit Urbeginn der Welt, mit dem 
Blitz meſſen dürfen, anerkanntermaßen und ſprichwörtlich. 
Da gab es gar nichts zu diskutieren und zu beweiſen. Es war 
von allem, was einleuchtet, das Selbſtverſtändlichſte. Dich- 
ter wie Philoſophen rühmten den Gedanken wegen ſeiner 
Schnelligkeit, und der geſunde Menſchenverſtand gab ſeinen 
Segen dazu. Der Gedanke war das ſchnellſte aller Dinge, 
er hielt, modern geſprochen, den Rekord. Und er muß ſehr 
erſtaunt geweſen ſein, als ihm vor fünfzig Jahren einige 
bedeutende Forſcher mit dem Chronometer in der Hand ein 
recht ſaumſeliges Tempo nachwieſen. 

Wahrſcheinlich wird ſich auch heute noch bei der großen 
Mehrzahl der Leſer ein ſtarker Widerſpruch melden: Was 
ſoll das heißen? das Hoheitsrecht der abſoluten Geſchwindig— 

7 


195 


keit ſoll bei unſerem Gedanken angetaſtet werden? Aber 
der braucht doch überhaupt keine Zeit! eigentlich müßte ſich 
der Blitz noch geſchmeichelt fühlen, wenn man ihn zum Ver— 
gleich heranzieht. Der iſt eine elektriſche Entladung und kann 
auf dem durcheilten Wege gemeſſen werden. Wer aber ſollte 
den Gedanken meſſen? 

Die Antwort lautet ſchlicht und ſachlich: das Experiment. 
Der Gedanke mußte ſich auf den Leidensweg begeben; er 
wurde, wie es in der alten Folterordnung heißt, „peinlich 
befragt“. Und die Männer, die dem wiſſenſchaftlichen In— 
quiſitionsamt vorſtanden, waren, mit Einrechnung der Vor⸗ 
läufer: Beſſel, Pouillet, Helmholtz, Donders, Hirſch, de Jaa⸗ 
ger. Noch vor achtzig Jahren hatte der hochgelobte Mei— 
ſter der Phyſiologie Johannes Müller die Anſicht ver— 
treten: Wir werden wohl niemals die Mittel gewinnen, um 
die Geſchwindigkeit der Nervenwirkung zu ermitteln. Ein 
Menſchenalter darauf war dieſes „Unmöglich“ — mit ſo 
vielen anderen — verſchwunden, die Zeit zwiſchen Nervenreiz 
und Signal war ermittelt, der Gedanke vom Anlaß bis zum 
Ausbruch nach der Uhr kontrolliert. Und es ergab ſich da— 
bei, daß der Gedanke vordem ganz ungeheuerlich überſchätzt 
worden war. Seine unendliche Raſchheit ſchrumpfte auf ein 
ſehr beſcheidenes Maß zuſammen: 30 bis 60 Meter in der 
Sekunde, — das war alles! 

Wie hätten jene Forſcher ihre Funde erſt ausgedeutet, wäre 
ihnen bekannt geweſen, was wir heute durch unſeren Carl 
Ludwig Schleich aus ſeinem „Schaltwerk der Gedanken“ 
erfahren haben: daß das Gehirn ſich ſelbſt unter die Lupe 
zu nehmen vermag, daß die eine Hälfte des Gehirns die an— 
dere in jedem Momente beobachten kann! 

In einem abſchließenden Vortrage führte damals, vor 


2 


196 


einem halben Jahrhundert, der Phyſiologe Profeſſor von 
Wittich ungefähr folgendes aus: die Vorgänge im Gehirn 
zwiſchen Bewußtſein und Wollen unterliegen zwar erheb— 
lichen perſönlichen wie zeitlichen Schwankungen, fie brau— 
chen aber jedenfalls Zeit, und dieſe iſt meßbar. Eine Ka— 
nonenkugel legt in derſelben Zeit, die zwiſchen unſerer Emp— 
findung und der ihr folgenden Willensäußerung verfließt, 
etwa 300 Fuß, ein Adler 20 Fuß, das engliſche Rennpferd 
und die Lokomotive 14 Fuß zurück. Der Gedanke blitzt nicht 
mehr, denn ſelbſt im Höchſtmaß ſeiner Beſchleunigung wird 
er von den Schwingen des Adlers weit überholt. 

Die Schlußkette iſt hier noch nicht vollſtändig; das fehlende 
chronometriſche Zwiſchenglied ergibt ſich aus einer Mitteilung 
von Donders aus derſelben Zeit: Danach iſt der Gedanke 
je nach den mitſpielenden Organen auf drei verſchiedene Zeit— 
maße angewieſen. Sie betragen für die Sinnes werkzeuge: 
Gefühl, Gehör und Geſicht ungefähr je ein ſiebentel, ein 
ſechſtel und ein fünftel Sekunde. 

Übertragen wir dies auf irgendein Beiſpiel aus dem täg⸗ 
lichen Leben. Jemand erhält einen unvermuteten Schlag. 
Augenblicklich durchzuckt ihn ein Gedanke: du mußt dich 
wehren; oder ausbiegen; oder die Flucht ergreifen; oder wi— 
derſchlagen. Aber blitzartig geht dieſes Zucken nicht vor ſich; 
der Gedanke braucht ein ſiebentel Sekunde, um fertig zu 
werden, um die kleine Strecke von der Urſprungsſtelle des 
Reizes bis zur Auslöſung einer Bewegung zu überwinden. 

Ich muß geſtehen, daß ich die Angaben von Donders und 
von Wittich zahlenmäßig nicht ganz in Übereinſtimmung zu 
bringen vermag. Rechnen wir indes dreißig Meter Nerven— 
leitung für die Sekunde, ſo gewinnen wir einen ziemlich 
ſicheren Anhalt zum Vergleich der Geſchwindigkeiten, immer 


197 


vorausgeſetzt, daß wir das, was in den Erregungsleitungen 
vorgeht, ohne weiteres als das Maß für das Tempo des Ge— 
dankens anſetzen dürfen. 

Mit dieſem nicht unerheblichen Vorbehalt würden wir leicht 
feſtſtellen können, wie ſich der Gedanke zur elektriſchen Welle 
verhält. Er müßte feine Geſchwindigkeit verzehnmillion⸗ 
fachen, um mit dem Blitz in Wettbewerb treten zu können. 
Im natürlichen Verlauf der Dinge würde der menſchliche 
Gedanke, wenn auch nicht vom Adler, ſo doch von der 
Schwalbe eingeholt und von jedem Infanteriegeſchoß weit— 
aus übertroffen werden; er ſtünde der Bewegung einer Gar— 
tenſchnecke, ja ſelbſt der Unmerklichkeit im Wachstum eines 
Grashalmes immer noch ſehr viel näher als dem Blitz, den 
er vormals zu überflügeln vermeinte. 

Welch ein Abſchwung, welch jähe Entthronung des Er— 
habenſten im Geiſte, das zu all feinen anderen Vollkommen— 
heiten auch die idealen Siebenmeilenſtiefeln brauchte, und 
dem nun ganz gewöhnliche Fußgängerſohlen zugewieſen wer— 
den! 

Aber iſt es denn auch wirklich der „Gedanke“, der ſich 
dieſe ungeheuerliche Bremſung gefallen laſſen muß? Oder 
treibt hier eine Vertauſchung der Begriffe ihr Unweſen, die 
eine Bedingung des Gedankens, einen molekularen Vorgang 
im Organismus, als den Gedanken ſelbſt anſpricht? 

Niemals war dieſe Frage brennender als heute, wo der 
auf den Augenblick geſtellte Gedanke über weitgeſpannte 
Schickſale unterſcheidet. Wenn wir uns den Feldherrn vor— 
ſtellen, der nach einem empfangenen Sinneseindruck den 
Gedanken formt, oder den Mann am Steuer, deſſen Be— 
wegungsimpulſe in der Hand vom Gedanken regiert werden, 
ſo erſcheint es uns ebenſo kleinlich wie unmöglich, daß hier 


198 


Maße zugrunde liegen ſollen, nach fünftel oder ſiebentel Se— 
kunden. Der Blitz ſoll wieder in ſeine Rechte treten! 

Und das geſchieht. Was die Phyſiologie erforſchte, bleibt 
davon ganz unberührt. Sie maß nur das Meßbare, das 
Zeitintervall zwiſchen dem Reiz und der vollendeten Wahr— 
nehmung. Und wir brauchen nur das Experiment anders 
zu geſtalten, um zu völlig anderen Ergebniſſen zu gelangen. 

Wir denken an zwei Verſuchsperſonen, die über hundert 
Meilen hinweg ein Ferngeſpräch halten. Wo iſt die Bes 
grenzung ihrer Nerven? an ihrer Haut, in ihren Ohren, in 
ihrem Hirn oder Rückenmark? ganz gewiß nicht. Solange 
die Verbindung beſteht, bilden ſie eine Einheit, der Tele— 
phondraht gehört jetzt zu ihrem Nervenſyſtem. Laſſen wir 
es ſelbſt gelten, daß der Hörer den Bruchteil einer Sekunde 
konſumiert, ſo iſt es doch der weit abgelegene Gedanke, der 
den ſeinen hervorruft, und wenn deſſen Echo zum Sprecher 
zurückſtrömt, ſo erlebt dieſer in ſich Gedankenphaſen, deren 
Wandel alle Adler- und Geſchoßflüge weit hinter ſich läßt. 
Denn der Sprecher denkt im Hörer, der Hörer im Sprecher, 
und in die Geſchwindigkeitsberechnung muß ein Nerv von 
hundert Meilen Länge eingeſetzt werden. 

Wir brauchen aber gar nicht zwei Verſuchsperſonen, eine 
einzige genügt vollkommen. Dieſe eine ſoll ihren Gedanken 
in einem ganz beſtimmten Vorſtellungskreis ſchweifen laſſen. 

Ich denke an einen Leuchtturm mit Drehfeuer. Der Kreis, 
den der Lichtbalken beſchreibt, kann ſchon mit heutigen Mit- 
teln bis zu 100 Kilometer Radius ausgedehnt werden. Die 
Technik der Zukunft wird ihn erweitern, ſagen wir bis zu 
1000 Kilometer Durchmeſſer, oder über 3000 Kilometer 
Kreisumfang. Der Scheinwerfer werde von einer Rotier— 
maſchine getrieben, die 200 Umdrehungen in der Sekunde 


f 199 


macht. In diefer Annahme ſteckt kein Widerſinn, nur ein 
techniſches Problem. Iſt es gelöſt, ſo erhalten wir ein Dreh— 
feuer, deſſen leuchtendes Ende mit einer Schnelligkeit von 
600000 Sekunden-Kilometer über die Fläche ſauſt. 

Das iſt „Über-Lichtgeſchwindigkeit“! Nun macht mein 
Gedanke folgenden Weg: er denkt an die Ergebniſſe der 
neueſten Phyſik, nach denen die Über-Lichtgeſchwindigkeit als 
eine Unmöglichkeit erwieſen wird; wohlverſtanden: bei be— 
wegten Körpern. Hier entdeckt er aber plötzlich, daß ſie 
ſehr wohl durch eine Maſchine zur Erſcheinung gebracht wer— 
den kann. Und wenn dieſer ſelbe Gedanke dem leuchtenden 
Strahl⸗Ende nachgeht — und das iſt ihm ein leichtes —, fo er— 
reicht er ſelbſt das Zeitmaß des Vorgeſtellten, alſo mehr als 
die Lichtgeſchwindigkeit, das heißt, er überflügelt nunmehr 
den Blitz und überhaupt alles, was im Weltall unter den 
Begriff der Bewegung fällt. 

Das eine iſt als Gedankenexperiment ebenſo zuläſſig, wie 
das andere als Verſuch in der Arbeitsſtätte des Nerven— 
forſchers, das eine ergibt eine philoſophiſche Richtigkeit, wie 
das andere die phyſiologiſche. Beide Richtigkeiten beſtehen 
widerſpruchslos nebeneinander, weil die Begriffsfaſſung des 
„Gedankens“ in beiden Fällen eine andere iſt. 

Dem Phyſiologen iſt er ein Bewußtwerden nach vorauf— 
gegangenem Reiz, dem Philoſophen ein ſelbſtändiges Spiel 
innerer Kräfte, deſſen Ablauf niemals nach dem Chrono— 
meter beurteilt werden kann. 

So hat alſo der große Johannes Müller mit ſeiner zuvor 
genannten Anſage falſch prophezeit; aber er hätte nur ein 
einziges Wort zu verändern brauchen, um in alle Ewigkeit 
Recht zu behalten; man ſetze in ſeinem Spruch ſtatt „Ner— 
venwirkung“: „Gedankenablauf“, und man erhält die un— 


200 


— 


meßbare, weil unermeßlich große Geſchwindigkeit, die aller 
Zeiten und Räume ſpottet. 

Wie es übrigens ſchon ein gewiſſer Kantianer namens 
Schiller in beträchtlicher Wortſchönheit ausgeſprochen hat, 
nicht der ſchönen Worte wegen, ſondern um das Denken als 
eine Angelegenheit des Weltgeiſtes vom Zwange der Kons 
trolle zu entbinden: 

„Hoch über der Zeit und dem Raume webt 
Lebendig der höchſte Gedanke!“ 


201 


Der unſterbliche Cajus 


Der Sinn des Daſeins und der Sinn des Todes, urewige 
und in unſern Tagen mit beſonderem Nachdruck geübte The⸗ 
men, münden letzten Endes in den allbekannten Schulfall 
der Logik: Alle Menſchen müſſen ſterben; Cajus iſt ein 
Menſch; folglich muß Cajus ſterben. Nichts iſt einleuch- 
tender. Der unbedingt ſterbliche Cajus hat in dieſem Ge— 
dankenſchema — ſonſt nirgends — die Unſterblichkeit er⸗ 
rungen. Aber wie? wäre nicht doch noch ein anderer Cajus 
denkbar, ein wirklich unſterblicher, auf einen erhöhten Sinn 
des Daſeins geſtellter, der ſich jener Formel zu entziehen 
wüßte? Die Frage ſcheint abſurd, iſt aber dennoch einer 
theoretiſchen Behandlung nicht ganz unzugänglich. Und es 
darf uns, um einer ſehr fernen Löſung zuzuſtreben, auf 
einige Umwege nicht ankommen. 

Zunächſt ſoll der logiſche Beſtand jenes Schulſatzes an 
einem klaſſiſchen Beiſpiel erſchüttert werden. Unſer Umweg 
führt uns nach Florenz, wo im Jahre 1639 auf dem Gar: 
tendache des herzoglichen Palaſtes eine Bewäſſerungsanlage 
hergeſtellt werden ſollte. Ein vortreffliches Saugrohr wurde 
angelegt, die Maſchine funktionierte nach allen Regeln der 
Kunſt, und man erwartete das Erfließen des Waſſers mit 
ſelbſtverſtändlicher Beſtimmtheit. Damals hätte ſich zwi— 
ſchen Galilei und feinem genialen Schüler Torricelli fol- 


202 


gende Unterhaltung ereignen können. Denn Meiſter Galilei 
war tatſächlich berufen worden, um in der herzoglichen An— 
lage nach dem Rechten zu ſehen. 

Galilei. Heute wollen wir einmal unterſuchen, inwie— 
weit der Denkzwang über uns Gewalt hat. Nicht wahr, 
lieber Evangeliſta: alle Waſſerſäulen müſſen ſteigen, wenn 
die Luft über ihnen hinweggepumpt wird; alle Wafferfäus 
len ſteigen dem Saugkolben unbedingt nach. Dieſes floren— 
tiner Gebilde iſt eine Waſſerſäule, — folglich? 

Torricelli. Folglich muß ſie ſteigen; folglich muß ſie 
dem Kolben unbedingt nachſteigen. 

Galilei. Mit mathematiſcher Beſtimmtheit, ſollte man 
annehmen. Und dennoch! es gelingt nicht, dieſen Dachgar— 
ten zu bewäſſern. Das Waſſer weigert ſich, heraufzukom— 
men. Hier läßt uns alſo die Logik im Stich. Es liegt doch 
genau wie bei dem berühmten Cajus, der ſterben muß, weil 
alle Menſchen ſterben müſſen. Unſere Florentiner Waſſer— 
ſäule iſt der Cajus: ſie müßte! aber ſie tut es nicht. 

Torricelli. Mit Verlaub, Meiſter: Wenn wir hier vor 
dem Unbegreiflichen ſtehen, ſo erfließt für uns zwar kein 
Waſſer, aber ein neuer Beweis. Nämlich der, daß der Ober— 
ſatz falſch war. Richtig hätte er gelautet: alle bisher beob— 
achteten Waſſerſäulen ſtiegen bei Luftfortnahme bis zu be— 
liebiger Höhe. Dieſe Florentiner Säule wird heute zum er— 
ſtenmal beobachtet. Sie hat alſo keine Veranlaſſung, un- 
ſere, wenn auch noch ſo ſichere Erwartung zu beſtätigen. 
Sie ſtellt den allererſten Ausnahmefall vor; inſofern ſie bei 
zehn Meter Höhe ſtehen bleibt. Wir erkennen hier einen 
Sonderfall und müſſen ſagen: der Oberſatz gilt nur bis zu 
einer gewiſſen Grenze. 

Galilei. Aber, liebſter Torricelli, was wird denn dann 


203 


aus unſerm Cajus? Dann könnte doch auch der einen Son— 
derfall darſtellen? 

Torricelli. Selbſtverſtändlich. Das Sterbenmüſſen gilt 
wie das Steigenmüſſen des Waſſers nur bis zu einer gewiſ— 
ſen, endlichen Grenze. Cajus könnte ewig leben. Nehmen 
wir an, daß bis heute eine Billion Menſchen exiſtiert haben. 
Nehmen wir ferner an, daß unter ihnen ſich nicht ein ein— 
ziger befand, der dem Tode entging: ſo ergibt ſich für Cajus 
eine Todeswahrſcheinlichkeit von einer Billion dividiert durch 
Billion plus eins. Das iſt allerdings ein ſehr hoher Grad 
der Möglichkeit, aber keineswegs eine Gewißheit. Mit an⸗ 
deren Worten: der Oberſatz war falſch, und er war es ſchon 
deshalb, weil wir nach alter akademiſcher Gewohnheit von 
allen Menſchen ſprechen, während doch Leute wie Cajus, die 
doch auch Menſchen ſozuſagen ſind, noch gar nicht unterſucht 
werden konnten. 

Dieſes Geſpräch hat nicht ſtattgefunden, wenigſtens nicht 
in dieſer Form. Da wir es aber einmal konſtruieren, ſo 
denken wir uns einen dritten Teilnehmer hinzu, einen Pro— 
feſſor der Phyſiologie von der Univerſität Bologna, Amts— 
genoſſen jener Phyſiker. Der wird etwa ergänzt haben: 

Torricelli hat unrecht. Daß der einzelne Menſch, den wir 
nach Dozentenſitte Cajus nennen, wirklich ſterben muß, iſt 
nicht nur eine ſehr hohe Wahrſcheinlichkeit, ſondern direkt 
eine Gewißheit. Und hierfür habe ich einen unwiderleglichen 
Beweis. Der Menſch iſt ein Organismus von beſtimmter 
Lebensfähigkeit, die an einen Ablauf in der Zeit gebunden 
bleibt. Nun könnte man allenfalls ſagen, es wäre vielleicht 
möglich, dieſen organiſchen Ablauf zu unterbrechen und ſpä— 
ter wieder einſetzen zu laſſen; ſo wie man eine abgelaufene 
Uhr nach ſehr vielen Jahren wieder in Bewegung zu ſetzen 


204 


vermag. Das wäre aber nur ein Scheineinwand. Denn wenn 
die organiſchen Funktionen erſt einmal reſtlos aufgehört ha— 
ben, ſo können ſie nie wieder in Tätigkeit geſetzt werden. Das 
ſagt uns nicht nur die phyſiologiſche Erfahrung, ſondern 
die Logik ſelbſt, die den Tod ja gar nicht anders definiert, 


als durch das Erlöſchen der organiſchen Funktionen. Wenn 


aber kein einziger Organismus über jene Grenze hinweg er— 
halten werden kann, ſo gilt dies auch vom Menſchen; was 
zu beweiſen war. 

Dieſe Bekundung wird zu Protokoll genommen und einem 
ſpäteren Forſcher vorgelegt. Der könnte nun wiederum fort— 
fahren: 

Der Beweis des alten Profeſſors erſcheint vollkommen 


geſchloſſen, und dennoch hat er ein Loch; er war richtig im 


n 


ſiebzehnten Jahrhundert und wurde falſch im neunzehnten. 
Mit großem Bedacht hat der Herr von Bologna einen dro— 
henden Einwand vorweggenommen, um ihn ſofort zu wider— 
legen: nämlich den der Stillegung organiſcher Funktionen. 
Sie iſt für ihn ganz identiſch mit dem Tode. Wir wiſſen 
aber heute, was er noch nicht wiſſen konnte, daß gewiſſe 
organische Tätigkeiten vollkommen ſtillgelegt und für ir— 
gendwelche ſpätere Wiederauflebung aufgeſpart werden 
können; ſozuſagen in einem unbegrenzt langen Zwiſchentode. 
Wird dies aber auch nur für einen einzigen Organismus klar 
erwieſen, dann öffnet ſich in jenem Beweis eine Lücke, ein 
Ausnahmefall ſchiebt ſich dazwiſchen, und nichts hindert 
Herrn Cajus, mit dem Ausnahmefall ebenfalls durchzu— 
ſchlüpfen, das heißt auf eine mögliche körperliche Unſterb— 
lichkeit Anſpruch zu erheben. 

Dieſer von uns ſo genannte „Zwiſchentod“ iſt keine Fabel, 
ſondern ein erlebtes Ereignis. Er kann beiſpielsweiſe, wie 


205 


er > 


aus den Berichten John Franklins, des Polforſchers, her= 
vorgeht, durch Unterkühlung hervorgerufen werden. Fiſche, 
die aus dem Waſſer an die grönländiſche Luftkälte gebracht 
wurden, erſtarrten zu einer ſo feſten Eismaſſe, daß man ſie 
mit der Art in ſplitternde Stücke zerſchlagen konnte und 
daß ſelbſt ihre Eingeweide bloß einen feſten gefrorenen Klum— 
pen darſtellten. Kein Zweifel, daß das Leben in ihnen voll- 
ſtändig erloſchen war, daß keine Wechſelwirkung von Zelle 
zu Zelle ſtattfand; denn ſolche Wirkung iſt an die Verſchieb— 
barkeit flüſſiger Teile gebunden. Deſſenungeachtet gelang 
es Franklin, einige der gefrorenen Fiſche, die er in unzerſchla— 
genem Zuſtande am Feuer auftaute, wieder lebendig zu 
machen. Ein Karpfen, der ſechsunddreißig Stunden in abſo— 
luter Froſtſtarre gelegen hatte als durchaus kriſtalliniſch 
durchſetztes Gebilde, erholte ſich ſo vollkommen in der 
Schmelze, daß er ſich mit großer Kraft umherwerfen konnte. 
Als Ellis an der Hudſonbay überwinterte, fand er einen 
völlig zuſammengefrorenen Klumpen ſchwarzer Stechfliegen; 
dem Feuer genähert, lebten ſie wieder auf. Er berichtete fer— 
ner, daß man dort häufig an den Seeufern Fröſche findet, 
die genau ſo feſt wie das Eis ſelbſt gefroren ſeien, und ſich 
dennoch bis zu unzweifelhafter Lebensäußerung wieder auf— 
tauen ließen. 

Im Zuge unſerer Betrachtung kann es als nebenſächlich 
gelten, daß einzelne Forſcher dieſen augenfälligen Tatſachen 
gewiſſe Einſchränkungen entgegenſetzen. So ermittelte Hun— 
ter experimentell die Notwendigkeit eines beſtimmten Ge— 
friertempos: der Froſttod muß plötzlich einſetzen, damit ſich 
aus der radikalen Erſtarrung wieder Leben entwickeln könne. 
Es ſei deshalb unmöglich, etwa einen im Polareiſe ganz un— 
verdorben aufbewahrten Elefanten der Vorwelt wieder zu 


206 


lebendigem Daſein aufzutauen. Aber ſelbſt dieſer Zweifler 
kann nicht umhin, den Zwiſchentod als ſolchen für erwieſen 
anzunehmen. Er ſelbſt erwähnt die Beobachtung an Krö— 


ten, alſo an Tieren, deren natürliche Lebensdauer ſich kaum 


über vierzig Jahre erſtreckt; man hat aber Kröten mitten 
in Felſen eingeſchloſſen gefunden, wo ſie Jahrhunderte, 
vielleicht Jahrtauſende eingeſchloſſen geweſen waren, und 
die dann doch, aus ihrem ſteinigen Kerker befreit, lebend 
umherhüpften. 

Die Liſte könnte noch erheblich verlängert werden, wenn 
man die niederften Organismen in den Betrachtungskreis ein⸗ 
bezieht, Weſen, bei denen die abſolute Vertrocknung noch 
nicht den Beginn eines zweiten, dritten Lebens verſperrt. 
Was wir als erwieſen vor uns haben, iſt die Einſchaltung 
eines Zwiſchenzuſtands, der den landläufigen Begriff der 
Lebenseinheit aufhebt. Die Einheit des Individuums bleibt 
trotzdem erhalten. Hier erſchließt ſich mithin die Lücke in der 
gewöhnlichen Auffaſſung vom Ablauf organiſcher Erſcheinun— 
gen und von der ſtatiſtiſch ermittelten Lebensdauer. Iſt der 
Stillſtand auch nur in einem einzigen Fall zuverläſſig er— 
mittelt, fo wird der Schulfall erſchüttert: Alle ſteinhart ges 
frorenen Fiſche find tot; dieſer Karpfen iſt ein ſteinhart ge— 
frorener Fiſch; folglich? — Die Franklinſche Tatſache ver- 


bietet den Schluß. Alle Kröten müſſen vor ihrem fünfzig 


ſten Jahr ſterben; dieſes im Felſen eingeſchloſſene Indi— 
viduum iſt eine Kröte; folglich? — Wiederum fährt die ver- 
einzelte Beobachtung ſtörriſch zwiſchen Ober- und Unterſatz; 
genauer geſprochen: ſie zerſtört die Hauptanſage. Die Kröte 
muß gar nicht ſterben; wenn Jahrhunderte und Jahrtau— 
ſende des Überlebens möglich ſind, warum nicht auch Jahr— 
millionen? Und wenn ſich bei Kröte, Fiſch und Inſekt Aus— 


207 


nahmen einftellen können, warum nicht auch bei Menſchen? 
Der ganze, nunmehr in Zweifel gerückte Vorbeweis bezog 
ſich ja ganz allgemein auf Organismen, nicht auf den Men⸗ 
ſchen als Sonderweſen, und hätte auch gar nicht anders ge⸗ 
führt werden können. Alle Menſchen müſſen — heißt wirk⸗ 
lich nichts anderes als: Alle Organismen müſſen; und das 
ergibt nur eine vorläufige, aber nicht unbedingte Richtig⸗ 
keit innerhalb gewiſſer Erfahrungsgrenzen. 

Cajus hat alſo Ausſichten. Nicht dadurch, daß es ge— 
lingen könnte, ihn mit Überlebenserfolg auf Eis zu legen, 
oder in einen Felſen einzuſchließen. Die Bedingungen, die 
erforderlich wären, um für ihn den Zwiſchentod, den Still 
ſtand der Lebensfunktionen zu erzwingen, und ihm ſpäter 
den Neubeginn des irdiſchen Lebens zu eröffnen, ſind uns 
unbekannt. Sie brauchen auch gar nicht zu exiſtieren. Nur 
der Denkzwang, der ſie für unmöglich erklärt, muß fallen. 
Dieſer Denkzwang iſt jener Eiſesſtarre vergleichbar. Er kann 
aufgetaut werden und für die Fortſetzung in einem neuen 
Denken die Möglichkeit bieten. 

Klingt ſehr abenteuerlich, das weiß ich. Deshalb möchte 
ich mich doch, anſtatt mich ganz ungeſchützt jedem Angriff 
preiszugeben, unter den Fittich einer der größten Autoritäten 
flüchten. Helmholtz, der ſich mit jenem Problem nach— 
drücklich beſchäftigt hat, ſagt: „Ich kann Jemandem, der 
gegen mich behauptet, daß unter Anwendung gewiſſer Mit- 
tel das Leben des Menſchen unbeſtimmt lange erhalten blei- 
ben würde, zwar den äußerſten Grad der Ungläubigkeit ent⸗ 
gegenſetzen, aber keinen abſoluten Widerſpruch.“ Mit 
andern Worten: der unſterbliche Cajus iſt vorſtellbar, und ein 
logiſcher Grund gegen ſeine Erſcheinung in irgendwelcher 
Wirklichkeit iſt nicht vorhanden. 


208 


Das Relativitätsproblem 


Probleme ſind nicht dazu da, um gelöſt, ſondern um er— 
örtert zu werden. In den meiſten Fällen kann der Denkkrüp⸗ 
pel, genannt homo sapiens, ſchon froh ſein, wenn es ihm 
gelingt, das Problem halbwegs anſchaulich zu formulieren. 

Gilt dies von jedem Problem höherer Ordnung, ſo beſon— 
ders von dem größten und ſchwierigſten, das ſich bis heute 
dem Intellekt entgegengeworfen hat. Seit wenigen Jahren 
rüttelt es an den Grundfeſten menſchlichen Denkens; keine 
der organiſierten, eingewurzelten Vorſtellungen hält ihm 
ſtand. Mit einem Gemiſch von Erſtaunen und Verzweiflung 
ſteht das Gehirn vor den Trümmern ſeiner älteſten, beſten 
Beſitztümer. Keine Gedankenrevolution früherer Zeiten, auch 
nicht die Tat des Kopernikus, die Elemententheorie Lavoi— 
ſiers, das Geſetz von der Erhaltung der Kraft, der Darwinis— 
mus, kann ſich ihr an grundſtürzender Gewalt vergleichen. 
Pulveriſiert, in Atome aufgelöſt, erſcheinen plötzlich die ſicher— 
ſten Pfeiler aller Selbſtverſtändlichkeiten, und aus dem ge— 
ſtaltloſen Chaos ſteigt eine neue Denkform empor, unfaßbar 
und dennoch zwingend: das Prinzip der Relativität. 

Mit den alten billigen Einſichten vom „Relativen“ hat 
dieſes Prinzip wenig mehr gemeinſam als den Namen, wenn 
es ſich auch im Kern mit ihnen decken mag. Es greift ſo 
mächtig über ſie hinaus, daß der geläufige Relativitätsbegriff 
in ihm drinſteckt, wie ein einziger Protoplasmakern im wei⸗ 

Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 14 

209 


ten Gewebe, nur noch mikroſkopiſch erkennbar. Die alte Re— 
lativität genügte für philoſophiſche Feierſtunden und vertrug 
ſich am letzten Ende ganz leidlich mit allen phyſikaliſchen 
Denknotwendigkeiten, wie ſie ſich im Laufe der Jahrhunderte 
herausgebildet hatten. Denn dieſe zeigten ausnahmslos einen 
ſchönen Gleichlauf mit dem Intuitiven, Vorausgeahnten, 
waren in den Denkformen alter Wahrheitsſucher längſt vor— 
gebildet, bevor ſie noch phyſikaliſch bewieſen wurden. Von 
dieſer Verträglichkeit iſt die neue Relativität weit entfernt. 
Ihr Anſturm legt Breſche in das Geſetz von der Beſtändig— 
keit der Maſſen, von der Gleichheit des Gleichen, in die Gül- 
tigkeit der Newtonſchen Regeln, ſelbſt in die geometri— 
ſchen Grundanſchauungen. Ja noch mehr. Sie will uns 
zwingen, eine geradezu okkulte Vorſtellung, nämlich die Vier—⸗ 
dimenſionalität, in unſere Einſicht aufzunehmen. Und ſie 
zwingt uns hierzu mit einem Werkzeug, das ſie ſich eben erſt 
aus unſerem geiſtigen Beſitzſtand herausgebrochen hat, mit 
der mathematiſchen Diktatur. Wir ſelbſt werden relativ in 
dieſer Relativität. Wir fühlen uns von einem Circulus vi- 
tiosus umklammert und ſehen keinen Ausweg. Wider— 
ſpruchsvolles müſſen wir als widerſpruchslos anerkennen, 
klar Erwieſenes bezweifeln, wenn nicht als unmöglich ab— 
lehnen. Populär geſprochen: das Gehirn dreht ſich im Kreiſe, 
und zwei entgegengeſetzte Vorſtellungen aneinandergeſpießt 
wie die Figuren in Dantes Hölle, wälzen ſich im infernali— 
ſchen Feuer. Kein Loskommen möglich und keine Vereini— 
gung. Nur eine grenzenloſe Qual, eine Hoffnungsloſigkeit, 
die das einzig Abſolute bleibt in dieſer neuen Welt der Rela— 
tivitäten. 

Ruf und Widerruf liegen hier eng beieinander, gepaart wie 
Schall und Gegenſchall, jedem Anruf antwortet ein wider— 


210 


Fe 2 


ſprechendes Echo. Der Weg geht über die Leichen von Begrif— 
fen neuen blitzenden Einſichten entgegen, die, kaum gewon— 
nen, ſchon wieder als Begriffsleichen zu Boden ſinken. Auch 
die hier vorliegenden Betrachtungen werden ſich von dieſem 
Fluch nicht befreien können. Sie werden tief in die Gänge 
einer ſezeſſioniſtiſchen Philoſophie hineinführen, in denen die 
Anſchaulichkeit verſagt, die Sprachmöglichkeit erlahmt. Ich 
kann dem Leſer, der mir folgen will, auch nicht etwa einen 
Ariadnefaden verſprechen, ja ich möchte mit ihm ausdrücklich 
verabreden, daß der Zuſpruch „Weiter!“ in keinem Punkte 
ein Vorwärts oder ein Rückwärts bedeutet. Denn das Laby— 
rinth, in das wir uns begeben, beſitzt nicht zwei Dimenſionen, 
wie das kretiſche, nicht drei, wie die Analyſis des Raumes, 
ſondern vier. Die Zeit, als Veränderliche, wird ihren An— 
ſpruch anmelden, in die Geometrie unſeres Weges aufgenom— 
men zu werden. Immerhin dürfte mein Begleiter mehrfach 
in eine Art von Parſifal-Stimmung geraten: „Ich ſchreite 
kaum, doch wähn' ich mich ſchon weit,“ und ich werde ihm 
mit Gurnemanz zu antworten haben: „Du ſiehſt, mein 
Sohn, zum Raum wird hier die Zeit!“ 


* 


Eine annähernd exakte Darſtellung des Relativitätsprin⸗ 
zips ohne mathematiſche Hochſpannung iſt zurzeit unmöglich, 
wird vielleicht immer unmöglich bleiben. Es wäre eine Auf— 
gabe, um faßliche Vergleiche heranzuziehen, wie etwa: die 
Weltgeſchichte auf eine bequeme Gedächtnisformel zu brin— 
gen, die Keplerſchen Geſetze aus dem kleinen Einmaleins zu 
beweiſen, den Spinoza als Pantomime aufzuführen oder die 
Neunte Symphonie für eine Soloflöte einzurichten. Allen— 
falls ließen ſich aus der ſtrengen Forſchung einige letzte Dinge 

1 * 
ö 37H 


fo herausſchälen, daß auch dem Fernerftehenden ein däm— 
mernder Proſpekt eröffnet wird; ein verſchwimmender Hori— 
zont, der ihm durch Nebelſchleier hindurch großartige Ahnun— 
gen erweckt. Ich will verſuchen — und bin mir der Unzu— 
länglichkeit des Verſuches bewußt — einige wenige For— 
ſchungslinien loſe nachzuzeichnen, einige Ergebniſſe aus den 
wichtigſten Dokumenten herauszuziehen. Und da der Menſch 
auch intellektuell genommen immer nur einen Hals zu bre— 
chen hat, ſo will ich auch vor der noch größeren Waghalſig— 
keit nicht zurückſchrecken, an dieſe Darſtellung einige erkennt— 
nistheoretiſche Betrachtungen zu knüpfen, für die ich die ver— 
antwortliche Zeichnung einſtweilen allein zu tragen habe. 
Sollte die Frage nach meiner Berechtigung hierfür auftau— 
chen, ſo bleibt mir mangels einer anderen Antwort nur die 
Zuflucht zu der Auskunft: dieſe Frage darf nicht geſtellt wer⸗ 
den. Denn, wie ſchon mehrfach geſagt wurde und noch öfter 
zu wiederholen ſein wird, wir gelangen hier in ein Gebiet 
der Relativitäten, in dem uns überhaupt alle Maßſtäbe, 
alſo auch der des zuſtändigen Beurteilers und berechtigten 
Folgerers verlaſſen müſſen. Für die Berechtigung ſpreche 
einſtweilen nur das eine, daß meines Wiſſens noch keiner 
von den Großen im Reiche der Relativität zum Volke der 
Nichtmathematiker herabgeſtiegen iſt, und daß es folglich 
eines Nichtzünftigen bedarf, um ihre Worte in die Weite zu 
tragen. Der Große bleibt in ſeiner unnahbaren Höhe, weil 
er ganz mit Recht befürchtet, ſeine Lehre könnte in ihrer Pro— 
jektion auf eine Popularfläche Verſchiebungen und Verkrüm—⸗ 
mungen erleiden. Der Nichtzünftige überwindet ſolche Be— 
denklichkeiten, er hofft ſogar, daß der Verluſt an Exaktheit 
ſich mit irgendeinem Gewinn an Einſichten ausgleichen wird. 
Es gibt Brücken der Erkenntnis, die unter dem ſchweren Tritt 


21 2 


des ſtrengen Forſchers zuſammenbrechen müßten, während 


ſie dem leichter dahinſchreitenden zum anderen Ufer verhelfen. 


* 


Der für die Maſſe weithin kenntliche Nimbus, den nur ein 
langer Zeitablauf zu weben vermag, ſtrahlt noch nicht um die 
Genies der neuen Geiſtesrevolutionen, um Hendrik Antoon 
Lorentz, Albert Einſtein, Max Planck, Hermann Minkowski. 
Zudem wählt die Gegenwart ihre Preſtigemenſchen lieber 
unter den Kampfhelden, Politikern und Künſtlern, als 
unter den bedeutenden Phyſikern und Mathematikern. 
Sollte aber dereinſt die Epoche der Aufregungen und 
Erſchütterungen von einem Zeitalter des reinen Intellekts 
abgelöſt werden, dann werden jene Namen mit der nämlichen 
Andacht ausgeſprochen werden, mit denen man heute in 
Stunden ſtiller Beſinnung einen Galilei, Descartes, Huy— 
ghens, Laplace, Gauß oder Helmholtz nennt. Bis zu Ein— 
ſtein, Lorentz und Minkowski vorzudringen iſt vorerſt noch 
ziemlich ſchwierig. Sie haben ihre Schriften vergittert, wie 
ihre Vorgänger die Akademie zu Athen, mit der Warnungs— 
tafel „Medeis Ageometretos eisito...: Kein Nichtmathe⸗ 
matiker ſoll hier hinein!“ Am humanſten, am nachgie— 
bigſten den Bedenken gegenüber, verfährt eigentlich noch 
Henri Poincaré, und unter den Büchern mit ſieben Sie— 
geln, die er ſonſt zu ſchreiben pflegte, iſt ſeine Schrift über 
„Die neue Mechanik“ noch das offenſte. Anſtatt von vorn— 
herein mit dem Geſchütz unheimlicher Differentialgleichun— 
gen vorzurücken, vermenſchlicht er die Aufgabe durch Einfüh— 
rung jenes Beobachters „Lumen“, der uns zuerſt von Camille 
Flammarion vorgeſtellt worden iſt. Mit dieſem Lumen, „wie 
ich ihn ſehe“, wollen wir uns zunächſt ein wenig beſchäftigen. 


2 


Herr Lumen iſt eine ziemlich phantaſtiſche Erſcheinung: ein 
Reiſender, dem eine ganz abſonderliche Bewegungsgeſchwin— 
digkeit zur Verfügung ſteht und der folglich die Ereigniſſe an— 
ders ſieht, als wir an der Scholle haftenden Menſchenkinder. 
Sein Reiſetempo übertrifft das des Lichtſtrahles. Während 
das Licht, das heißt jeder optiſche Vorgang, in jeder Sekunde 
300 ooo Kilometer zurücklegt, zeigt ſein Schnelligkeitsmeſ— 
ſer 400 ooo, er überrennt alſo im erſten Anlaufe das Licht 
und alle Botſchaften, die ſich vom Tatort irgendeines Ereig— 
niſſes in den Weltenraum fortpflanzen “). 


*) Dieſer fabelhaften, aber für die Wiſſenſchaft ſo einträglichen 
Schnellfahrt wird auch im Archiv für ſyſtematiſche Philoſophie 
von 1911 und in dem „Buch der 1000 Wunder“ (Verlag von 
Albert Langen, München) gedacht. Sie bildet den Eingang einer 
Betrachtungsreihe, worin die von Einftein über die ſpezielle hinaus— 
gefolgerte „Allgemeine Relativitätstheorie“ ihr Banner aufgepflanzt 
hat. Unter ihrem Einfluß hat die für abgeſchloſſen gehaltene, 
klaſſiſche Gravitationslehre die ſtaunenswerteſte Erweiterung er— 
fahren. Ein vordem nie für lösbar gehaltenes Rätſel in der Lauf— 
bahn des Merkur entſchleierte ſich vor der überlegenen Betrach— 
tung und Berechnung der Allgemeinen Relativität. An der Welt 
gültigkeit dieſer Lehre iſt ſomit nicht zu zweifeln, ſo ungeheuer— 
liche Denkſchwierigkeiten ſie auch nach anderer Seite heraufbe, 
ſchwört. Wenn irgendwo, ſo wird es ſich hier in einer ferneren 
Zukunft zu erweiſen haben, ob der als unmöglich vorgeſtellte 
„Sprung über den Schatten“ trotz alledem ausführbar ſein kann. 
Vielleicht wird dabei mehr zu überſpringen ſein, als wir heute 
ahnen: Flächen, die eine vormalige Philoſophie mit Licht zu über- 
gießen ſchien und die ſich doch in der künftigen Betrachtung als 
Schattenfelder erweiſen werden! Was ſich vorläufig erſt als eine 
Relativität in Raum und Zeit auf ſtreng phyſikaliſcher Grundlage 
offenbart hat, wird dereinſt in eine Relativität aller Denkformen 
übergreifen und in eine gegen alle Überlieferung zu ertrotzende 
Metaphyſik. Erſt in dieſer kaum vorzufühlenden Lehre können 


214 


Dieſer Ausbund an Eile nimmt feinen Ausgangspunkt auf 
der Erde und verläßt den Planeten am Schluß eines denk— 
würdigen hiſtoriſchen Ereigniſſes, ſagen wir: der Schlacht 
von Sedan. Er erlebt alſo noch in nächſter Nähe die Tat⸗ 
ſachen des 1. Septembers von 1870, er ſieht um halb ſieben 
nachmittags die Übergabe des napoleoniſchen Degens und 
überblickt ein weites, mit Toten und Verwundeten überſätes 
Schlachtfeld. Mit der erſten Sekunde ſeiner Schnellfahrt 
von der Erde hinweg in den Weltenraum hinein überholt er 
alle Lichtſtrahlen, die in der nämlichen Sekunde von Sedan 
ausgegangen ſind, und noch dazu die letzten aus der vorigen 
Sekunde. Nach einer Stunde beſitzt er bereits einen Vor— 
ſprung von 20 Minuten den blutigen Tatſachen gegenüber, 
und ehe der zweite Tag vergangen iſt, wird ſich dieſer Vor— 
ſprung ſo ſtark erweitert haben, daß er nunmehr nicht das 
Ende, ſondern den Anfang der Schlacht wahrnimmt — 
vorausgeſetzt, daß die Güte ſeines Auges oder Teleſkopes 
für dieſe Weitſchau ausreicht, ein ganz nebenſächlicher Vor— 
behalt, der im Rahmen unſerer Erörterung gar keine Rolle 
ſpielt. Denn einem Weltenbummler, den wir mit 400000 
Kilometer pro Sekunde ausſtatten, werden wir unbedenklich 
auch eine entſprechende Scharfſichtigkeit zubilligen. Bei ſo 
weitgegriffenen Prämiſſen darf es auf ein Mehr oder Weni— 
ger nicht ankommen. 

Wir haben alſo feſtgeſtellt, daß Herr Lumen am 1. Sep⸗ 
tember 1870 das Ende und nach etwa zwei Tagen den An— 
fang der Schlacht geſehen hat. Bloß geſehen? Nein, auch 
erlebt. Denn an welchen anderen Daten ſollte er die Tat— 


die Unſtimmigkeiten der Erkenntnis verſchwinden, wie ſchon jetzt 
in der von Einſtein begründeten die Unſtimmigkeit eines Planeten⸗ 
laufes verſchwand, um der Begreiflichkeit Platz zu machen. 


215 


ſachen meſſen, wenn nicht am Augenſchein? Herr Lumen iſt 
kein Hiſtoriker. Wir haben ihn nach unſerem Willen erſchaf— 
fen als einen intelligenten, ſcharfſichtigen und ſchnellbewegten 
Homunkulus, der ſich ſein Urteil durchaus auf Grund ſeiner 
Erfahrungen bilden ſoll, wie wir anderen es auch tun. Und 
Lumens Erfahrungen ſind rein optiſche. Nicht der geringſte 
Zweifel kann in ihm aufſteigen, daß der Aufmarſch der Heere 
zur Schlacht von Sedan ſpäter erfolgt iſt als die Kapitu— 
lation der franzöſiſchen Armee. 

Was aber hat unſer Lumen in der Zwiſchenzeit geſehen? 
Offenbar die Vorgänge in umgekehrter Reihenfolge, 
wie in einem verkehrt abgerollten Kinematographen darge— 
ſtellt; nur daß wir im Vitaſkop den menſchlichen Trick durch⸗ 
ſchauen, weil wir das „wirkliche“ Ereignis kennen, das 
heißt das Ergebnis, wie wir es ſonſt „geſehen“ haben; 
während Lumen den umgekehrten Vorgang als den einzig 
tatſächlichen anerkennen muß, weil er außer dem einmal Ge— 
ſehenen gar keinen anderen Maßſtab beſitzt, an dem er es 
meſſen kann. Seine eigene Bewegung und Wahrnehmung 
ſind ſtetige Funktionen der Zeit; ebenſo ſtetig und lückenlos 
iſt das, was er als Schlachtentwicklung erkennt: das Auf— 
ſtehen der Toten und Verwundeten, ihre Einordnung in die 
Regimenter und Bataillone, die vom Ziel rohreinwärts flie— 
genden Kanonenkugeln, die rückwärts zum Kampfbeginn 
marſchierenden Truppen — und bei Fortſetzung ſeiner Wel— 
tentour der Milchſtraße entgegen: die Schlacht von Wörth 
vor der Kriegserklärung; die Kriegserklärung vor der Em— 
ſer Depeſche; Napoleon im Glanz feines Imperiums zu Pas 
ris lange nach dem Akt ſeiner Gefangennehmung bei Sedan. 

So ſieht er die Dinge, ſo begreift er ſie. Und wenn auch 
ſeine Auffaſſung der geläufigen ſchnurſtracks widerſpricht, 


216 


TER 


in einem Punkte dürfte fie ihr nahekommen, nämlich in der 


alten biologiſchen Verierfrage, ob das Ei früher vorhanden 
war oder die Henne; ſeine Verlegenheit, dieſe Frage nach 
dem Augenſchein zu beantworten, wird mit der unſrigen, 
von einer Interferenz abgeſehen, ſo ziemlich übereinſtimmen. 

Unſer Lumen⸗Verſuch läßt ſich aber auch noch anders an— 
ordnen. Man kann ihn als ruhend vorſtellen und die Erde 
von ihm fortbewegt; man kann als zeitlichen Ausgangs— 
punkt ſtatt des Schluſſes der Schlacht deren Anfang wäh— 
len. Auch die Bewegung ſelbſt läßt ſich verlegen, gerad— 
linig oder gekrümmt, mit einem Anfangspunkt weit von 
uns im Weltenraume. Und ſchließlich ſei auch noch das 
Tempo veränderlich, über die immenſen 400000 Kilometer 
hinaus, und anderſeits abwärts unter die Lichtleiſtung für 
minder dringliche Fälle. Das ergibt eine Menge von Kom— 
binationen, die dem Lumen ſehr verſchiedene Weltbilder lie— 
fern. Eine dieſer Anordnungen würde zur Folge haben, daß 
er immer nur den Anfang der Schlacht erblickt, eine mili— 
täriſche Erſtarrung ohne tätige Auflöſung, tagelang, jahre— 
lang, durch beliebige Zeiten; oder auch die Völkerwanderung 
als eine ewige Ruhe der Völker. Orientiert ſich Lumen nach 
einem ſolchen Proſpekt, ſo ſteht die Zeit für ihn ſtill. Soll 
aber die Allerweltsuhr Sonne dem Lumen als Chronometer 
gelten, ſo läßt ſich auch eine Bewegung konſtruieren, die 
ihm die Sonne ans Firmament nagelt. Auch dieſe Orien— 
tierung ginge ihm alſo verloren, und Lumen könnte alt wer— 
den, ohne daß er mit der Denkform der Zeit, die nur am 


Weiſer einer wahrgenommenen Veränderung Exiſtenz er— 


ERBETEN, 


hält, Bekanntſchaft gemacht hätte. Eine weitere Anordnung 
würde ihm die Entwicklung des Kriegsbildes bei Sedan zwar 
als vorhanden, aber ſehr verlangſamt zeigen; als eine 


21 7 


Schlacht, die ſich, nach unſerem Zeitmaß gerechnet, über 
Jahrtauſende erſtreckt, worin mit Geſchoſſen geſchleudert 
wird, die im Schneckentempo durch die Luft gleiten und 
dem Krieger, nachdem ſie ihn getroffen haben, noch eine 
Gnadenfriſt mehrerer Stunden gewähren, bevor ſie ihn durche 
bohren. Kennt Lumen den „wirklichen“ Hergang, ſo wie 
wir ihn kennen, das heißt auf Grund unſerer Erfahrungen 
genau zu kennen glauben, ſo wird er den Schlüſſel zu all 
dieſen Abſonderlichkeiten ſeiner perſönlichen Erlebniſſe bei 
den Bewegungen ſuchen, denen er ſelbſt oder ein Syſtem von 
Maſſenpunkten ausgeſetzt iſt. Kennt er ihn nicht — und 
dies war unſere Vorausſetzung —, ſo erhält er Anſichten, 
Erlebniſſe, Erfahrungen, die uns fremd ſind, vor allem eine 
von der unſrigen völlig verſchiedene Weltmetromiſierung, die 
bis zum Stillſtand der Zeit, ja, bis zur völligen Umkeh— 
rung der Zeit führen kann. 

Er wird aber auch zu einer ganz anderen Vorſtellung 
von der Kauſalität gelangen, falls ihn ſein Denkapparat 
überhaupt zwingt, Folge mit Grund zu verknüpfen, zwiſchen 
den in der Zeit gelagerten Dingen nicht nur ein Vorher und 
Nachher, ſondern auch einen Erkenntnisgrund zu ſuchen. 
Wenn er erſt alle Schlachten von Sedan und Wörth bis Ma— 
rathon in verkehrter Anordnung erblickte, nie eine Schlacht 
anders ſah als in umgekehrter Reihenfolge, ſo wird ſich 
auch ſeine Denkform hinſichtlich der Kauſalität, relativ zur 
unſeren, umkehren: unſere Urſache wird ſeine Wirkung 
werden, unſere Folge ſein Grund. Sieg und Niederlage 
verwandeln ſich für ihn zur Vorbedingung des Zwiſtes; und 
auf Grund feiner ſtetig eingeübten Erfahrung wird er ohne 
das geringſte Bedenken dazu gelangen, ſein Nacheinander, 
ſeine beim Schwanz aufgezäumte Kauſalität für die er— 


218 


N 


ſchöpfende „Erklärung“ der Geſchehniſſe zu erachten; in 
ſchönſter Übereinſtimmung mit jenem Meiſter, von dem Mar⸗ 
tin Luther ſang: 
Dias iſt der beſte Meiſter Klügle, 
Der das Roß am Hintern zäumen kann 
Und rücklings reitet ſeine Bahn, 


Seiner Sackpfeifen Hall 
Iſt der allerbeſte Schall! 


Aber die Sackpfeife dieſes Lumens bläſt ja falſch! ruft der 
ſichere Mitbürger; das alles ſind ja optiſche Täuſchungen! 
Wir wiſſen ja, wie's geweſen iſt! Natürlich wird der ſichere 
Mitbürger recht behalten — vorläufig; ſeine Weltbetrachtung 
bleibt unerſchüttert — einſtweilen. Denn gewiß, das ſind 
optiſche Täuſchungen, an der Kontrolle unſerer Sinne und 
Werkzeuge, die bekanntlich niemals einer Täuſchung unter— 
liegen, höchſtens in kleinen Zufälligkeiten, aber niemals be— 
kanntlich im großen. Und die Wagniſſe dieſes Lumen in 
Anſehung der Zeit find nichts anderes als grober philoſophi— 
ſcher Unfug, da ſich die Zeit kraft der ihr innewohnenden 
fortlaufenden Tendenz bekanntlich niemals umdrehen läßt. 
Wie ſagte doch der herrliche Dove, der Vater der Meteoro— 
logie? „Wenn wir Profeſſoren unſicher ſind, eröffnen wir 
den Satz immer mit dem Wörtchen bekanntlich.“ 


* 


Aber man braucht ja kein Profeſſor zu ſein, um den Her— 
gang eines Ereigniſſes in der Zeitfolge richtig zu beurteilen. 
Den Extravaganzen Lumens gegenüber lehnt ſich ſchon der 
geſunde Menſchenverſtand auf. Wie wollen wir überhaupt 
mit einem Denkakt vorwärts kommen, wie uns überhaupt 
irgendwelche Anſchauung bilden, wenn wir uns nicht auf das 


219 


Bekannte ſtützen? Wir leben ja in einer Wirklichkeitswelt 
und beſitzen dazu eine Wirklichkeitsphiloſophie, die uns mit 
einem ganzen Arſenal von Beweiſen ausrüſtet. Und dieſe 
Beweiſe? ſie ſind auf die Selbſtverſtändlichkeiten der Logik 
und Mathematik gegründet, auf die Grundſätze, die in ihrer 
Einfachheit und Durchſichtigkeit keines Beweiſes fähig oder 
bedürftig ſind. Sind oder erſcheinen? Das wird wohl auf 
dasſelbe hinauslaufen. Einen Gott können wir nicht fragen, 
und wir fühlen hierzu auch gar kein Bedürfnis, wo es ſich 
um etwas ſo Elementares handelt wie um unſere Zeitanſchau— 
ung. Jener Abenteurer Lumen mußte eben ganz perverſen 
Bedingungen unterworfen werden, ehe er der Täuſchung an— 
heimfiel. Wir anderen werden niemals in ſeine Lage ge— 
raten; wir reiſen nicht mit dem Lichtſtrahl, nicht gegen den 
Lichtſtrahl, ſondern wir halten, mögen wir uns wie immer 
bewegen, eine ſichere Diſtanz zu den Ereigniſſen, deren Ab— 
lauf im Nacheinander wir als etwas Abſolutes erkennen. 
Nur daß hier die aſtronomiſche Wiſſenſchaft mit einer et= 
was unbequemen Bemerkung dazwiſchenfährt. Wir andern, 
wir Abſoluten, reiſen nämlich auch ganz unheimlich. Nicht 
abgetrennt wie jenes Experimentalweſen, ſondern als Be— 
ſtandteile des irdiſchen Syndikates drehen wir uns um die 
Erdachſe, fliegen wir mit 30 Kilometer pro Sekunde um 
die Sonne, machen wir ſchließlich eine Geſellſchaftsreiſe mit, 
die von dieſer gelenkt wird; denn die Sonne bewegt ſich mit 
allen ihren Trabanten in der Richtung zum Sternbild des 
Herkules. Dieſe Geſchwindigkeiten kommen uns nicht zum 
Bewußtſein, aber ſie exiſtieren. In den Relativitäten zu 
irdiſchen Vorgängen ſpielen ſie keine Rolle, aber in unſeren 
Beziehungen zu außerirdiſchen Phänomenen könnten ſie eine 
Wichtigkeit erlangen, auch in Anſehung der Zeitbeurteilung. 


220 


Ob wirr vielleicht gar noch rapider ſauſen als Lumen? Das 


wäre ſchon möglich; denn auch der „Herkules“ ſtellt nur ein 
einſtweiliges Richtungsziel der aſtronomiſchen Welt vor; er 
ſelbſt und die ganze Fixſterninſel, der er zugehören mag, 
fliegen nach unbekannten Zielen, mit ihnen nach weiteren 
unbekannten Punkten im Raume, mit unbekannten Geſchwin⸗ 
digkeiten. 

Es eröffnet ſich mithin neben dem vertrauten „Bekannt⸗ 
lich“ ein gar nicht zu überſehendes „Unbekanntlich“, und 
zwiſchen beiden iſt Platz für jene neue Lehre, die ſich als das 
„Prinzip der Relativität“ nach und nach entſchleiern wird. 
Vorerſt ſind wir ihm durch unſere Betrachtungen nur inſo— 
weit genähert worden, als ein leiſer Zweifel an der Allgemein— 
gültigkeit unſeres Zeitbegriffs aufzuſteigen beginnt; eine noch 
unter der Schwelle lagernde Ahnung, daß der inneren 
Qualität der Zeit ein Abenteuer zuſtoßen könnte, wenn 
ein funktioneller Ausdruck der Zeit, nämlich die Geſchwin— 
digkeit, über alle Anſchaulichkeit hinaus ins Abenteuerliche 
ſich ſteigert. Daß dadurch unſere ganze alte Mechanik, un— 
ſer mathematiſch-phyſikaliſches Begreifen der Weltvorgänge, 
aus den Angeln gehoben wird, iſt freilich auf dieſem Punkte 
noch nicht einzuſehen. 

* 


Jene beſondere, nach unbekanntem Ziel gerichtete Bewe— 
gung ſoll im folgenden zur Unterſcheidung von den aſtrono— 
miſch erkennbaren Bewegungen „die Translation“ ge— 
nannt werden. Muß ſie denn exiſtieren? Ja, ſie muß. Wer 
die Translation überhaupt in Abrede ſtellen wollte, würde 
damit unrettbar einem Widerſinn verfallen. Denn im Ver— 
hältnis zu den unendlich vielen übergeordneten Bewegungen 


221 


ift die Ruhe nur der unendlich unwahrſcheinliche, alſo un⸗ 
mögliche Spezialfall. So ſchließen wir in der Richtung eines 
Denkzwanges, aber wir können uns damit noch nicht be— 
ruhigen. Wir fragen vielmehr: Gibt es denn gar kein Mit⸗ 
tel, um dieſe unbekannte Translation praktiſch, ſinnfällig 
erkennbar zu machen? 

Damit geraten wir an den ſpringenden Punkt: Ein fol- 
ches Mittel iſt wirklich vorhanden, das Experiment, das uns 
die Translation augenfällig zeigen müßte, kann angeſtellt 
werden, aber es verſagt, es liefert ein unbedingt nega— 
tives Ergebnis, beweiſt genau das Gegenteil deſſen, was 
es beweiſen ſollte. Und hier ſteigt zwiſchen dem Experiment 
und der Logik eine geſpenſtiſche Unſtimmigkeit empor, die 
uns eine Zeitlang vor die furchtbare Wahl ſtellt, entweder 
an unſerem Verſtande zu zweifeln oder an der Möglichkeit 
einer durchgreifenden Phyſik. 

Jenes negativ entſcheidende Experiment gründet ſich auf 
folgende Überlegungen: Eine von der Sonne ausgeſandte 
Botſchaft braucht ungefähr acht Minuten, um die Erde zu 
erreichen. Findet nun eine Translation ſtatt, und iſt dieſe 
ſo beſchaffen, daß ſie die Richtung „Erde nach Sonne“ 
verfolgt, ſo fliegen wir dieſer Botſchaft entgegen, müßten 
ſie ſomit ſchneller erreichen als im entgegengeſetzten Fall, 
wenn ſich nämlich die Erde von der Sonne entfernt und dieſe 
ihr im gleichen Abſtande nachfolgt; denn dieſer Vorgang 
würde eine Verzögerung in der Empfangnahme der Bot— 
ſchaft bewirken. Mit anderen Worten: die optiſchen Phäno— 
mene, wie ſie ſich innerhalb des ruhend gedachten Sonnen— 
ſyſtems abſpielen, müßten geſtört werden, wenn zu den uns 
bekannten Bewegungen innerhalb dieſes Syſtems noch eine 
übergeordnete Bewegung, die Translation, hinzutritt. 


222 


Dieſe Beſchleunigungen und Verzögerungen einer Licht— 
botſchaft laſſen fich auf der Erde durch Spiegelvorrichtungen 
nachahmen, und zwar unter Zuhilfenahme von Lichtinter— 
ferenzerſcheinungen mit einem ſo hohen Grade von Genauig— 
keit, daß jede durch die Translation verurſachte Störung 
ſich augenblicklich dem Auge des Forſchers verraten müßte. 
Ein amerikaniſcher Phyſiker, Michelſon, hat eine Verſuchs— 
anordnung erdacht, die jeden Fehler in der Beurteilung des 
Vorgangs nach menſchlichem Ermeſſen ausſchaltet. Derartige 
Fehler müßten bei allen erdenklichen Variationen des Michel- 
ſonſchen Spiegelverſuches abwechſelnd im poſitiven und im 
negativen Sinne auftreten und dadurch einander wechſel— 
ſeitig verraten. Allein nichts Derartiges wird beobachtet. Der 
Verſuch erſcheint in jedem Fall vollkommen geſchloſſen, in 
ſich ausgeglichen, fehlerfrei, und liefert mit unumſtößlicher 
Gewißheit das Ergebnis: Die optiſchen Phänomene bleiben 
ungeſtört, ein Einfluß der Translation auf dieſe Phä⸗ 
nomene findet nicht ſtatt. 

Hieraus ergab ſich für die Forſcher die peinlichſte Zwangs— 
lage, und ihr Gewiſſen wurde in die denkbar grauſamſte Al— 
ternative eingeklemmt. Es galt die Wahl zu treffen zwi— 
ſchen zwei Unfaßbarkeiten: entweder gehorcht die Optik nicht 
den allgemeinen Geſetzen der Mechanik, oder die Translation 
muß allem Denkzwang zum Trotz nachträglich doch noch 
abgelehnt werden. 

Der zweite Ausweg erſchien noch ungangbarer als der erſte. 
Lieber wollte man noch ein vorerſt unheilbares Zerwürfnis 
zwiſchen der Optik und Mechanik vermuten, als ſich der gänz⸗ 
lich abſurden Vorſtellung unterwerfen, ein Teil des Welt—⸗ 
ganzen verharre im Stillſtand. 

Aber dabei konnte es doch nicht bleiben. Denn auch die 


223 


mechanifche Denkweiſe ift ja im naturwiſſenſchaftlichen Men— 
ſchen eingewurzelt, und wenn dieſe ſich plötzlich mit gewiſſen 
optiſchen Tatſachen in unlösbaren Widerſpruch ſetzt, ſo bleibt 
am letzten Ende aller Enden wirklich nichts anderes übrig, als 
ein Geheimnis in eben dieſer mechaniſchen Denkweiſe zu ver— 
muten und alles daranzuſetzen, um dieſem ſchrecklichen Rät— 
ſel auf die Spur zu kommen. 

Und hier meldete ſich als rettender Engel mit hilfreichem 
Drang oder als rettender Satan mit verſteckter Spekulation 
auf die arme Seele das „Relativitätsprinzip“. Das 
Prinzip, das in ſeinen Folgerungen die alte Mechanik um— 
wirft. Es beſagt: Die Weltgeſchehniſſe ſind nur dann zu be— 
greifen, wenn man ſich entſchließt, den Geſchwindigkeitsbe— 
griff und den Zeitbegriff radikal umzugeſtalten. Die Frage 
nach der „wirklichen“ Geſchwindigkeit iſt phyſikaliſch ſinn— 
los und ebenſo die Frage nach der „wirklichen“ Zeit, die 
zur Wahrnehmung einer Lichtbotſchaft erforderlich iſt; beide 
Fragen erwachſen erſt dann zu einer Verſtändlichkeit, wenn 
ſie einander durchdringen, dergeſtalt, „daß eine Zeitangabe in 
der Phyſik erſt dann einen beſtimmten Sinn hat, wenn ſie 
auf den Geſchwindigkeitszuſtand eines beſtimmten Beobach— 
ters bezogen wird.“ 

Noch ſchärfer erſcheint das Prinzip in A. Einſteins klaſ— 
ſiſcher Abhandlung „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“, 
die freilich in den Schwierigkeiten des Ausdrucks, ja, des Ge⸗ 
dankens gemildert, verdünnt, verzuckert werden muß, um 
für einen größeren Kreis als Erkenntnisquelle genießbar zu 
werden. Auch mit dieſem Vorbehalt kann ich beim beſten 
Willen dem Leſer die Kletterei über einen vereiſten Grat nicht 
erſparen. Möge ihn die Hoffnung auf eine Ausſicht aller— 
erſten Ranges mit der nötigen Tapferkeit ſtärken! 


* 
224 


Alſo nicht wortwörtlich nach Einftein, aber annähernd ſinn⸗ 
getreu nach dieſem Bahnbrecher ſei folgendes definiert: 

„Die Geſetze, nach denen ſich die Zuſtände der phyſikali— 
ſchen Syſteme ändern, find unabhängig davon, auf wel— 
ches von zwei zueinander in gleichförmiger Translation be— 
findlichen Syſtemen dieſe Zuſtandsänderung bezogen wird.“ 

„Jeder Lichtſtrahl bewegt ſich im ruhenden; Syſtem mit 
beſtimmter gleichbleibender Geſchwindigkeit, unabhängig 
davon, ob dieſer Lichtſtrahl von einem ruhenden oder beweg— 
ten Körper entſandt wird. Die Geſchwindigkeit drückt ſich 
durch das Verhältnis der Zeitdauer zum Lichtweg aus“, wo⸗ 
bei zur Beſtimmung der Zeitdauer zwei ſynchrone, das heißt 
ideal gleichlaufende Uhren vorausgeſetzt werden. 

In dieſen Poſtulaten, die den Einfluß der Translation 
ausſchalten, dafür aber die abſolute Lichtgeſchwindigkeit als 
ein notwendiges Merkmal jeder Erkenntnis einführen, iſt 
das Ergebnis des Michelſonſchen Spiegelverſuches enthalten; 
und da dieſes Reſultat nur in einem Zerwürfnis mit der alten 
Mechanik als möglich erſcheint, ſo muß dieſes Zerwürfnis 
in der rechneriſchen Ausfolgerung irgendwie zutage treten. 
Es iſt unausbleiblich, daß gewiſſe Anſchauungen, die wir als 
phyſikaliſche Denkform für vollkommen natürlich, ſelbſtver— 
ſtändlich und eigentlich der Erörterung entzogen erachten, auf 
den Kopf geſtellt werden, ſobald wir ſie an dem ſoeben auf— 
geſtellten Relativitätsprinzip meſſen. Und dieſe Wirkung 
ſtellt ſich denn auch beim erſten rechneriſchen Anlauf mit einer 
gar nicht zu überbietenden Heftigkeit ein. 

Es gibt nichts Elementareres als die Streckenmeſſung. 
Stellen wir uns einen ſtarren, dünnen, geradlinigen Stab 
vor, aus unveränderlichem harten Metall, der ſich in der 
Richtung ſeiner eigenen Ausdehnung fortbewegt. Seine 


Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 15 
225 


Länge ſoll von zwei Beobachtern gemeſſen werden. Der eine 
mißt, ſelbſt in Ruhe befindlich, nach dem optiſchen Verfah— 
ren, während der andere die Bewegung mitmacht und die 
Stablänge direkt durch Anlegen eines Maßſtabes ermittelt. 
Beide Beobachter arbeiten nach untrüglichen Methoden, nur 
daß ſich bei dem einen, dem ruhenden, der Einfluß des 
Relativgeſetzes geltend machen muß. f 

Und hier erleben wir die erſte Überraſchung: Für ein und 
denſelben Stab werden zwei verſchiedene Längen feſtge— 
ſtellt! Die Bewegung an ſich hat feine Länge verändert! 
Genauer ausgedrückt: Das Verhalten des ſtarren Stabes 
im bewegten Syſtem vom ruhenden beurteilt, zeigt eine 
Anomalie, die zu allererſt kaum eine andere Deutung ver— 
trägt als die einer geometriſchen Widerſinnigkeit. 

Was geht eigentlich hier vor? iſt die Geometrie umge— 
fallen? ſchießt die Logik Kobolz? Iſt eine feſte Strecke nicht 
mehr identiſch mit ſich ſelbſt? — Im erſten Moment wollen 
wir wohl der Bedrängnis entſchlüpfen, indem wir uns in den 
Ausweg einer „optiſchen Täuſchung“ zu retten verſuchen. 
Aber nein! hier liegt ein rein rechneriſches, mathematiſch 
vollkommen einwandfreies Ergebnis vor; von einer Verſchie— 
bung im Sinne des Falſchſehens kann gar keine Rede ſein, 
die Verſchiebung iſt einzig und allein auf das Konto des 
Relativitätsprinzipes zu ſetzen, und da wir dieſes einſtwei— 
len als unerſchütterlich anzunehmen haben — wir müßten 
denn die Translation als ſolche leugnen —, ſo bleibt nur 
übrig, bis zum Eintritt einer weiteren Erleuchtung an einen 
Hexenſpuk zu glauben, der die Geometrie verwirrt. 


0 
0 
O 


47 
2 


Die leiſe Hoffnung des Verängſtigten, es könne ſich viel— 
leicht nur um einen Gelegenheitsſtreik der Geometrie han— 
deln, ſcheitert bald an noch ſchlimmeren Offenbarungen. Die 
Geometrie verkündet einfach den Generalſtreik, und die ſonſt 
jo arbeitswillige alte Mechanik beteiligt ſich daran auf gan— 
zer Linie. Beide vereinigt begehen nunmehr die ſchwerſten 
Exzeſſe gegen die alte Ordnung der Dinge. 

Denn wenn ſchon eine feſte Strecke ſich ſelbſt aufgibt, 
wenn ſie kürzer wird mit fortſchreitender Bewegung, ſo geht 
es einem feſten Körper noch grotesker: Ein ſtarrer Körper, 
der in ruhendem Zuſtand ausgemeſſen die Figur einer Kugel 
hat, gewinnt in bewegtem Zuſtand — vom ruhenden Syſtem 


aus betrachtet — die Geſtalt eines Rotationsellipſoids, er 


wird nahezu eiförmig. Bei geſteigerter Bewegung ſchrumpft 
ſeine Bewegungsdimenſion immer mehr zuſammen, ſobald 
er die Lichtgeſchwindigkeit erreicht, geht ſeine Körperhaftig— 


keit vollſtändig verloren; er verwandelt ſich in ein flächen— 


haftes Gebilde, in eine unendlich dünne Kreisoblate, fällt 
vollſtändig aus der Stereometrie heraus, wird ſozuſagen 
der Schatten feiner ſelbſt. 

Und wenn dieſe Kugel zum Beiſpiel ein Planet iſt, deſ— 
ſen Translation bis zum Lichttempo anſchwillt, ſo ſauſt er 
fortan in aller Körperloſigkeit durch den Weltenraum als 


ſchattenhafte Kreisſcheibe. Er ſelbſt kann es nicht merken, 


r 


5 


ebenſowenig ſeine Bewohner, die alleſamt plattgedrückt ſind, 
ohne ſich ihrer Plattheit bewußt zu werden. Denn ihre Beob— 
achtungsinſtrumente und ihre Sinneswerkzeuge haben gleich— 
zeitig die nämliche Entformung durchgemacht. Nichts könnte 
ihnen verraten, wie ſehr ſie ſich verändert haben. Ihr Leben 


Hund Treiben würde in ihrer eigenen Beurteilung nicht die 


geringſte Abweichung vom gewohnten Typus aufzeigen, nur 
15 * 


227 


der draußenſtehende Unparteiiſche würde erkennen, daß fie 
ſich ſämtlich in umgekehrte Peter Schlemihle verwandelt 
haben: in Schatten, die ihre Körper verloren. 

Nach dem Zuge dieſer Unterſuchung wird es wohl klar ge— 
worden ſein, daß dieſe fabelhafte Verdünnung nicht etwa 
auf luftige oder ätheriſche Widerſtände zurückzuführen iſt, 
noch weniger auf etwaige Zentrifugalkräfte. Nein, die Be—⸗ 
wegung ſelbſt iſt es, die ſolches Unheil erzeugt, nichts 
außer ihr; die Bewegung verwüſtet die Form. Was wir bis 
vor kurzem unter der Figur eines Körpers verſtanden haben, 
wird ſinnlos vor dem Relativitätsgeſetz. Unter feiner Herr: 
ſchaft wird jede Figur falſch beſchrieben, wenn ſie nur in 
Raumdimenſionen ihren Ausdruck findet. Die Figur wird 
vielmehr zu einer Funktion der Geſchwindigkeit, alſo auch 
der Zeit. 

Und die Zeit, die wir bisher nur als eine Bewußtſeins— 
form im Nacheinander der Ereigniſſe kannten, erhebt ſich 
plötzlich zu einem Machtfaktor in der beſchreibenden Geo— 
metrie: In den Dreibund von Länge, Breite und Höhe tritt 
ſie als vierte Koordinate mit allen Rechten einer formbe— 
ſtimmenden Dimenſion. 


Längſt haben wir alle Anſchaulichkeit hinter uns werfen 
müſſen. In der Euklidiſchen Wiſſenſchaft bleibt ſelbſt bei 
den gefährlichſten Spekulationen, bei den äußerſten Schwie— 
rigkeiten der Flächendurchdringung, noch ein Reſt von An— 
ſchaulichkeit für einen, der ſich im Raum leidlich gut zu 
orientieren verſteht. Aber hier ſitzt plötzlich in der rechnert— 
ſchen Entwicklung ein Dämon in Geſtalt einer veränderlichen 


228 


Zeitgröße, die zugleich Zeit und Raum fein foll, ein Geſpenſt, 
das ſich mit der Lichtkonſtanten verkuppelt, zu Null zus 
ſammenſchrumpft, zu Unendlich auswächſt, das rechneriſche 
Monſtroſitäten hervorzaubert und mit ihnen jeder anſchau— 
lichen Möglichkeit ins Geſicht ſchlägt. 

Und der nämliche Dämon übt ſeine Gewalt, wenn wir 
nunmehr die Maſſe als ſolche in die Relativität einbezie— 
hen; wenn wir eine bewegte Kugel, einen bewegten Pla— 
neten, nicht nach ihrer Form, ſondern nach ihrem materiellen 
Inhalt befragen. Eine Maſſe wird durch die Kraft charakteri— 
ſiert, die erforderlich iſt, um ſie in Bewegung zu ſetzen, auf— 
zuhalten oder aus ihrer Bahn abzulenken. In der alten 
Mechanik wurde die Maſſe durch die Kraft in einfacher Pro— 
portionalität beſchleunigt, in der neuen Mechanik, die ſich 
auf das Relativitätsprinzip gründet, wird die Kraft ſelbſt 
vergewaltigt. Je länger ſie auf den Körper bei ſtarker Be— 
wegung einwirkt, deſto geringer wird ihre beſchleunigende 
Leiſtung. Und da die Maſſe nicht anders zu definieren iſt 
als durch den Widerſtand, den ſie der Kraft bietet, ſo ſpringt 
uns nunmehr eine weitere Unerhörtheit in unſer ſchon ge— 
nügend verdutztes Geſicht. Die Rechnung ergibt klipp und 
klar: 

Die Maſſe eines Körpers wächſt mit erhöhter Geſchwin— 
digkeit; ſie wird unendlich groß, wenn ſie in ihrer Be— 
wegung die Lichtgeſchwindigkeit erreicht. Eine Flintenkugel, 
die dieſe Geſchwindigkeit erzielt, wird dadurch unendlich 
ſchwerer als alle Erden, Sonnen und Siriuſſe zuſammenge— 
nommen. Alle Gewalten der Welt ſind nicht mehr vermö— 
gend, ihr eine Beſchleunigung zu erteilen. 

Wir haben ſomit unſere Vorſtellung von der Konſtanz 
der Materie, von der Beſtändigkeit einer Schwere, eines 


229 


Gewichtes, einer dem Gefühl zugänglichen Körperlichkeit, 
mit Stumpf und Wurzel auszureißen. Wir haben uns der 
neuen Vorſtellung zu unterwerfen, daß eine körperliche Maſſe 
die Identität mit ſich ſelbſt verliert, wenn ſie zu anderen 
Geſchwindigkeiten übergeht. 

Wir müſſen uns aber auch mit einem Widerſpruch ab— 
finden, der alles Vorausgegangene an Extravaganz über— 
bietet: Jener Werwolf der Geſchwindigkeit, der im Rela— 
tivitätsprinzip niſtet, ſchlägt ſeine Krallen zugleich nach 
der Figur und nach der Subſtanz. Mit ein und demſelben 
Griff verdünnt er die Form und verdickt er die Maſſe. Un: 
terſuchen wir die Figur einer Kugel, ſo finden wir bei im— 
menſer Beſchleunigung eine Kreisoblate; unterſuchen wir die 
Materie, ſo ergibt ſich eine über alle Begriffe geſteigerte 
Maſſigkeit. Die Kugel bewegt ſich, und der Verſtand ſteht 
ſtill. Denn was er findet, iſt der Gipfel aller Denk-Abenteuer 
ein jeder Kraft überlegenes Nichts, ein Schatten von uns 
endlicher Schwere! 

Aber rechneriſch, mathematiſch— phyſikaliſch iſt alles in 
ſchönſter Ordnung, und du könnteſt eher mit deinen Fingern 
aus den Alpen das Matterhorn herausbrechen, als irgend— 
ein Beweisglied aus den Gleichungen, in denen ſich jene Er— 
ſtaunlichkeiten ausdrücken. 

In dieſen Gleichungen wird das Denken zukünftiger Ge— 
ſchlechter die allein gültige Orientierung finden. — Falls das 
Relativitätsprinzip lückenlos richtig iſt und in ihm allein 
alle Wahrheit beſchloſſen liegt. 

Aber wie denn? Kann es denn noch eine richtigere Rich— 
tigkeit geben als die mathematiſche? Die Frageſtellung iſt 
bedenklich. Sie rührt an eines der tiefſten Geheimniſſe, das 
ſelbſt als Problem dem Worte kaum zugänglich iſt. Und 


230 


ET 


auch dies Problem ift nicht dazu da, um gelöft, ſondern nur 
um — höchſtens — erörtert zu werden. 

Alſo ich meine — und ich bitte, die Ich-Form zu entſchul⸗ 
digen, da ich kein anderes Mittel weiß, um dieſe Meinung 
vorzutragen —, daß die mathematiſchen Wahrheiten nur be— 
dingungsweiſe die letzten Wahrheiten ſind. Man fängt an, 
ſich von dem Glauben loszumachen, daß die mathematiſchen 
Einſichten auf reinen Denkformen a priori ruhen, man 
läßt zu, daß ihnen vielmehr ein gewiſſer Satz von Erfah— 
rungen zugrunde liegt, ſelbſt den analytiſchen Urteilen von 
Hume und den Verites eternelles von Leibniz. Große 
mathematiſche Geiſter, wie Gauß, Mach, Poincaré, Helm— 
holtz haben dieſe Anſicht vertreten. Und da mir dies ein— 
leuchtet, jo meine ich: die Mathematik kann anfangen un— 
ſchlüſſig zu werden, wo eine Welt von Erfahrungen eine Welt 
von neuen Fragen aufmacht. 

Aus einer erkenntnistheoretiſchen Ecke könnten Motive her— 
vorbrechen, die mit den mathematiſchen Motiven zuſammen 
in eine andere Welt hineinführen, jenſeits von Richtig 
und Falſch. 

* 

Sehen wir uns daraufhin doch einmal das neue Relativi— 
tätsprinzip an. In einer mathematiſch unanfechtbaren Weiſe 
beweiſt es uns, daß die Lichtgeſchwindigkeit die größte aller 
möglichen Geſchwindigkeiten im Univerſum ſein muß. Weil, 
wenn es eine noch größere gäbe, der mit ihr bewegte Körper 
eine über Unendlich geſteigerte Maſſe gewinnen, ſomit zu 
einer Sinnloſigkeit entarten würde. 

Dieſe Sinnloſigkeit wird abgelehnt zugunſten eines Grund— 
geſetzes der neuen Mechanik, welches eben beſagt, daß die 
Lichtgeſchwindigkeit das abſolute Maximum darſtellt. Da 


231 


meldet ſich des Zweiflers Frage: iſt denn die aus dieſem 
Grundgeſetz abgeleitete, mit ihr in der nämlichen Gleichung 
verquickte andere Unmöglichkeit vom unendlich dünnen und 
trotzdem unendlich ſchweren Körper nur um ein Atom be— 
greiflicher, annehmbarer? Und wenn ich die erſte verwer— 
fen ſoll, welcher Erkenntnisgrund kann mich nötigen, die 
zweite anzuerkennen? Und wenn ich die zweite annehme, 
warum nicht auch die erſte, die mich in dieſen furchtbaren 
Zirkulus hineingetrieben hat? Zwei Unmöglichkeiten ſtehen 
hier gegeneinander, und die Waffen der Mechanik verſagen 
gegen beide. Mitten drin ſind wir im Gebiet jenſeits von 
Richtung und Falſch, jeder Verſuch, ſich in ihm zu orientieren, 
auch mit den ſonſt untrüglichen Werkzeugen der Mathematik, 
iſt in dieſem Anlauf nichts als der Sprung über den eigenen 
Schatten, die Jagd nach dem Spiegelbilde hinter dem Spie— 
gel, das Emporziehen der Leiter, auf der man ſteht! 
Dasſelbe Spiel gewahren wir, wenn wir den Anfang der 
Relativitätserkenntnis mit dem Ende vergleichen. Den An— 
fang gewannen wir aus dem Begriff der „Translation“, 
die wir annehmen ſollten und mußten, weil das Gegenteil, 
eine partielle Ruhe im Weltganzen, unausdenkbar erſcheint. 
Und am Ende grinſt uns die Verkündigung an, daß jenes 
Geſchöpf Lumen nicht möglich iſt, daß die Lichtſchnelligkeit 
das Maximum aller Geſchwindigkeiten darſtellt; die ab ſo— 
lute Höchſtgrenze. Alſo eine ſcharfbegrenzte Konſtante als 
ein Abſolutes in einer gänzlich auf das Relative geſtellten 
Lehre, in der alles und jedes auf das Unendliche hindrängt! 
Im Verhältnis zu den Räumen des Weltalls iſt das Licht— 
tempo eine Null; und wenn kein Körper, kein Planet, keine 
Sonne in ihrer kosmiſchen Wanderung dies Tempo, dies 
relative Null, überſchreiten darf, — ja dann ſäße ich ja 


183 


wieder genau auf derſelben Unausdenkbarkeit, die eben durch 
die Annahme einer Translation herausgeſchafft werden ſollte! 
Denn ebenſogut, wie ich mich am Ende mit einem end— 
lichen Maximum befreunden ſoll, könnte ich mich ja im 
Anfang ſchon mit einem geringeren Maximum verſöhnen, 
und wenn ich am Schluß zur Überwindung eines Denkzwan⸗ 
ges getrieben werde, warum nicht ſchon im Anfang? Bes 
täube ich dieſen Denkzwang aber ſchon früher, ſo verwan— 
delt ſich die ganze Translation aus einer Notwendigkeit in 
eine Willkür, und jede ihrer Folgerungen iſt von vornherein 
mit dem Zeichen der Unzuverläſſigkeit behaftet. Alſo auch 
ſo geſehen erſcheint dieſe Kette angeblicher Unumſtößlich— 
keiten als eine mythiſche Schlange, die ſich in den Schwanz 
beißt und mit ihren Giftzähnen vorn ihren Giftſtachel hin— 
ten auffreſſen will. 
* 

Denkzwänge vorn und hinten, doppelte Widerſprüche an 
allen Enden! Doppelt, weil ſie nicht nur aller Erfahrung 
und Anſchaulichkeit widerſprechen — darüber wäre auf Mo— 
mente hinwegzukommen —, ſondern weil jeder zugleich ſeine 
Prämiſſe verhöhnt und ſeiner Folgerung ſpottet. Kann es 
jemals gelingen, die geheime Quelle des tiefſtliegenden Wi— 
derſpruchs aufzudecken? Sollte vielleicht irgendeine Welt— 
gleichung exiſtieren, aus der ſich herausrechnen ließe, daß 
nicht nur alle Beſchleunigungsmöglichkeit, ſondern auch die 
mathematiſche Denkweiſe an Grenzen gebunden iſt? 

Man greife es an wie man wolle, überall gerät der In— 
tellekt an Abgründe, vor denen er zurückſchaudert. Da, wo 
ſich das vierdimenſionale Chaos auftut, iſt es eigentlich noch 
am gemütlichſten. Die Zeit als vierte Koordinate widerſpricht 
zwar jeder anſchaulichen Vorſtellung, läßt ſich nicht begrei— 


233 


Br 


fen, aber doch traumhaft erahnen, wie die Unſterblichkeit, 
wie die Auferſtehung. Auch die alte Mechanik hat mit ihr 
im Sinne einer gewiſſen Vierdimenſionalität gerechnet und 
damit praktiſch beweisbare Ergebniſſe gewonnen. Aber ſchon 
dieſe alte Mechanik hat erfahren, daß das Durchhalten eines 
mechaniſch-mathematiſchen Prinzips bis ins Extrem nicht aus⸗ 
führbar iſt. So ließ ſich das Gravitationsprinzip nicht bis 
zur molekularen Annäherung durchfolgern, weil hier Un— 
endlichkeitswerte auftreten müßten, die der Denkmöglichkeit 
widerſtreiten. Aber die neue, die Relativitätsmechanik, die 
zum großen Teil außerhalb der Erfahrung arbeitet, ſchreckt 
vor ſolchen Unendlichkeitswerten nicht zurück, und verkündet 
ihre tranſzendenten Ergebniſſe mit aller Sicherheit, denn ihre 
Poſition iſt mathematiſch uneinnehmbar. 

Vielleicht aber erkenntnistheoretiſch doch angreifbar. 

Den erſten Sturm wird ſie gewiß abſchlagen. Ja, ich 
zweifle gar nicht daran, daß ſie ihre Stellung auf eine 
weite Zeitſpanne hinaus noch mehr und mehr befeſtigen wird. 
Denn ſie beſitzt außer ihrer mathematiſchen Feſtung noch 
eine Hilfstruppe im freien Felde, die ſich vorläufig mit jedem 
Tage vergrößert. 

Dieſe Truppe, die bisher nur Siege zu verzeichnen hat, 
marſchiert unter der Flagge der Elektronentheorie. Ihre 
Führer, vor allen der Leydener Nobelpreisträger Antoon Lo— 
rentz, ſchworen nicht von Anbeginn zur Relativitätslehre; 
allein mit ihren Leiſtungen gerieten fie in den relativen Wir: 
bel, aus dem es kein Entrinnen gibt. Nur mit flüchtigſtem 
Seitenblick auf die Zuſammenhänge darf hier die Frage ge— 
ſtreift werden, was die beiden Diſziplinen veranlaßte, einan⸗ 
der zu begegnen, ja ineinander aufzugehen. 

Die ſeltſamen Tänze elektriſcher, magnetiſcher Teilchen 


234 


N er 
ee) 


a a Da N 2 


konnten nämlich zwar mit vollkommener Genauigkeit bes 
ſchrieben, allein durchaus nicht mechaniſch begriffen werden. 
Die Aufgabe ihrer Beſchreibung wurde durch die ſogenannten 
Hertz-Maxwellſchen Differentialgleichungen reſtlos gelöſt, 
aber eben dieſe Gleichungen leben in unverſöhnlicher Feind— 
ſchaft zur alten Mechanik. Will man ihnen überhaupt die 
Möglichkeit zur Mechanik öffnen, ſo ſieht man ſich auf den 
einzigen Weg angewieſen, nämlich die alte Tür zu vermau— 
ern und das neue Tor zur Relativität vierdimenſional auf— 
zuſperren. Unternimmt man dies, ſo verwandelt ſich die 
Feindſchaft mit einem Schlage in herzlichſte Sympathie, und 
die Bewegungsphänomene der Elektrizität, des Magnetis— 
mus, weiterhin der Optik, werden verſtändlich — was man 
ebenſo in dieſen geheimnisvollen Gebieten „verſtändlich“ 
zu nennen beliebt. 
Mit dieſem Vermögen, in die Wirrnis der Elektronen eine 
mechaniſche Ordnung hineinzubringen, ſpielt das Relativi— 
tätsprinzip ſeinen allerſchärfſten Trumpf aus. Er erſcheint 
den großen Phyſikern ſo unübertrumpfbar, daß ſie es darauf— 
hin wagen, die ganze Naturwiſſenſchaft auf die eine Karte zu 
ſetzen: Da es nicht möglich iſt, die elektriſchen Phänomene 
altmechaniſch zu erklären, ſo wollen ſie nunmehr die mechani— 
ſchen elektriſch erklären, das heißt alles Weltgeſchehen in 
einen Wirbel von Elektronen auflöſen. Und das iſt nur mög— 
lich, wenn alle Vorgänge in ein reines Vakuum verlegt wer— 
den, wenn dem Träger aller Bewegungen, dem Ather, jede 
materielle Eigenſchaft abgeſprochen wird. 
Wiederum geraten wir hier in einen Zirkelſchluß; denn die 
neue Mechanik erſcheint am Anfang und am Ende der Gedan- 
kenreihe, ſie tritt als Frage auf, um ſich ſelbſt als Antwort 
zu fordern. 


235 


Stern und Kern der eigentlich mechanifchen Naturauffaf- 
ſung iſt das Energieprinzip, das Geſetz von der Erhaltung 
der Kraft, wie es lange vorgeahnt, von Robert Mayer funda- 
mentiert, von Clauſius, Joule und Helmholtz nach allen 
Richtungen ausgebaut wurde. Und wenn die Entdeckung die⸗ 
ſes Prinzips aufs innigſte mit der Frage zuſammenfiel: 
Welche Beziehungen müſſen zwiſchen den Naturkräften be— 
ſtehen, wenn es unmöglich ſein ſoll, ein Perpetuum mobile zu 
bauen? ſo erhebt ſich nunmehr eine Frage, die Planck in die 
Worte faßt: Welche Beziehungen müſſen zwiſchen den Natur⸗ 
kräften beſtehen, wenn es unmöglich ſein ſoll, an dem Licht— 
äther irgendwelche ſtoffliche Eigenſchaften nachzuweiſen? 

Die erſte Frage wird in weiteſtem Sinne durch die allge— 
mein⸗mechaniſche, die zweite durch die neumechaniſche, rela= 
tiviſtiſche Naturauffaſſung beantwortet. Und hierin ſcheint, 
an alter Schullogik gemeſſen, abermals ein höchſt gefähr— 
liches, mit geheimen Trugſchlüſſen hantierendes Doppelſpiel 
ſein Weſen zu treiben. 

Denn die neue Beantwortung der zweiten Frage führt un— 
mittelbar zur Relativitätstheorie, zur neuen Mechanik, zur 
Aufhebung der Maſſenkonſtanz und damit auch zur Aufhe— 
bung der alten Energievorſtellung, da die Maſſe nur energe— 
tiſch begriffen werden kann. Iſt die neue Beantwortung der 
zweiten Frage richtig, ſo ſtellt alſo die frühere Beantwor— 
tung der erſten Frage einen Irrtum dar. Dann liegen in 
deren Bereich drei Möglichkeiten vor: entweder war ihre 
Vorausſetzung falſch, dann gäbe es ein Perpetuum mobile; 
oder die mathematiſch-phyſikaliſche Ausfolgerung war un— 
genau, oder ſchließlich: die Frageſtellung war verfehlt. Da 
nun aber die zweite Frage haarſcharf ſo aufgebaut iſt wie die 
erſte, ſo unterliegt ſie durchaus den nämlichen drei Eventuali— 


236 


täten, von denen jede zu einer Ungenauigkeit führen kann und 
im Grenzfall führen muß. Unſere eigene Vorausſetzung 
lautete in dieſer Gedankenreihe: „Wenn die neue Beantwor⸗ 
tung der zweiten Frage richtig iſt“, — unſer Schluß, „dann 
muß oder kann das Ergebnis falſch ſein.“ Der Widerſpruch 
kann nicht mehr übertroffen werden. Über die Schlange, die 
ſich in den Schwanz beißt, ſind wir hier weit hinaus: dieſe 
Schlange beißt ſich in ihren eigenen Kopf! 

Wir müſſen alles, was an Erkenntnistheoretiſchem in 
uns gegenwärtig lebt, umſtülpen, neuordnen, wenn wir uns 
mit dem Relativitätsprinzip befreunden wollen. Bleibt es 
ſiegreich, ſetzt es ſich im Laufe langer Zeiten als Denkform 
durch, dann erſcheint die Umwandlung erkenntnistheoretiſcher 
Einſichten die unausbleibliche Folge. 

Von dieſen Folgen laſſen ſich einige als grundſtürzend 
ſchon heute vorausſehen, nämlich: 

Es iſt möglich, von falſchen Prämiſſen durch exakte Folge⸗ 
rung zu richtigen Reſultaten zu gelangen. 

Es iſt ebenſo möglich, von richigten Prämiſſen durch 5 
Schlüſſe bei falſchen Reſultaten zu landen. 

Auf praktiſchem Gebiete ſind derartige Fälle bereits in 
vereinzelten Proben vorgebildet. Das Kant-Laplaceſche Welt: 
ſyſtem bietet hierfür ein Beiſpiel. Die Vorausſetzungen 
Kants ſind teilweis als unrichtig längſt erwieſen, ſeine 
Schlüſſe — mit Einſchränkung zu verſtehen —, waren kor— 
rekt, ſein Ergebnis gilt nach heutiger Auffaſſung noch als 
gültig. 

* 

Wird ſich nun das neue Prinzip durchſetzen? Die genia— 
len Wortführer der Sache ſind deſſen in ihrer Beweis— 
führung ganz ſicher, es darf anderſeits nicht verſchwiegen 


237 


werden, daß fie einige leiſe Zweifel hindurchſchimmern laſſen, 
ſobald ſie, was doch gar nicht zu vermeiden iſt, die Frage der 
Anſchaulichkeit ſtreifen. Ja, zuweilen regt ſich bei einigen 
im Gewiſſensgrund eine Eontraftierende Stimme, die nach 
Erlöfung ruft. In ihren phyſikaliſchen Schwüren ſteckt un- 
ter der Schwelle der Hörbarkeit die reservatio mentalis: 
Wir arbeiten mit einer Hypotheſe, zu der uns gewiſſe Not— 
wendigkeiten zwingen, weil wir keine beſſere Hypotheſe be— 
ſitzen. 

Aber jene Schwüre treten heute dennoch mit dem An— 
ſpruch der Beweiskräftigkeit auf. Vor allem ſoll der Ana— 
logieſchluß als durchgreifend anerkannt werden: Der Menſch— 
heit Denken hat ſich fchon einmal vor vierhundert Jahren 
von der Anſchaulichkeit losgerungen, damals, als es galt, 
die Exiſtenz der Antipoden zu begreifen und den Erdplaneten, 
die uns bekannte unendliche Welt menſchlicher Ereigniſſe, 
als eine Winzigkeit im Weltall zu erkennen. Die Gravita— 
tionslehre, das kopernikaniſche Syſtem, die Keplerſchen Ge— 
ſetze haben die antike Anſchaulichkeit ausgerottet und das 
Denken zunächſt mit einer Unbegreiflichkeit überrumpelt, die 
ſich allmählich zu einer neuen, höheren, auf kosmiſche Orien— 
tierung bezogenen Anſchaulichkeit organiſierte. Auf einer er— 
höhten Stufe der Forſchung reicht auch dieſe zweite Anſchau— 
lichkeit nicht mehr aus. Und genau ſo wie vor vierhundert 
Jahren ein ganz neues Denken Platz greifen mußte, ſo ge— 
raten wir heute an die harte Notwendigkeit, uns zu einer 
dritten Anſchaulichkeit zu erziehen. Galileis „eppur si mu- 
ove!“ gewinnt eine neue Bedeutung: Was ſich bewegt und 
in der Bewegung verändert, iſt nicht nur die Erde, ſondern 
der innere Charakter der Zeit. Fürs erſte meutert die 
Gehirngewohnheit mit aller Hartnäckigkeit gegen die gewalt— 


238 


c 


ſame Zumutung. Aber dieſen Prozeß der Denkträgheit ken— 
nen wir ja ſchon aus der Geſchichte. Und wir wiſſen, daß ſie 
mit dem Siege der großen Idee über die ererbte Anſchauung 
enden muß. In unſerem Falle: Aus einer alten und ver— 
alteten Anſchaulichkeit wird eine neue hervorwachſen, die mit 
ihrem unvergleichlich weiter geſpannten Horizont das Prin— 
zip der Relativität als eine Verſtändlichkeit, vielleicht ſogar 
einmal als eine Selbſtverſtändlichkeit umfaſſen wird. 
Aber wiederum könnte der Zweifler ſagen: dieſer Analogie— 
ſchluß hinkt auf beiden Beinen, auf dem einen, weil das 
Gleichnis mit der kopernikaniſchen Lehre nicht ſtimmt, auf 
dem andern, weil der Horizont ſich nicht erweitert, ſondern 
verengt. Das Syſtem des Kopernikus war nicht nur auf 
Erfahrung errichtet, nicht nur vorausgeahnt, vorausgedacht 
von hellen Köpfen des Altertums, ſondern es brauchte nur 
ausgeſprochen zu werden, um ſofort den Schlüſſel zu einer 
Welt ſonſt unerklärlicher Erſcheinungen zu bilden. Wer ſei— 


nen einzigen radikalen Denkakt erfaßt hatte, der ſpürte, daß 


er damit aus einer Welt der Abſurditäten in eine Welt der 
Begreiflichkeiten gedieh. Tauſend Unklarheiten verſchwanden, 
eine kosmiſche Durchſichtigkeit tat ſich auf. Bietet ſich hier 
wirklich die genügende Parallele mit der neuen Lehre, an 
deren Anfang und Ende lauter Denkverzweiflungen ſtehen? 
die das Gehirn in zwei Teile zerſägt, von denen der eine 
mathematiſch befiehlt und der andere erkenntnistheoretiſch 
den Gehorſam verweigert? aus deren gärenden Schoß my— 
ſtiſch verlarvte Ungeheuer aufſteigen? 

Nein, dieſe Parallele verſagt durchaus. Nichts im Rela— 
tivitätsprinzip kündigt ſich dem reinen Erlöſungsbedürfnis 
als befreiende Offenbarung an, als Heilsbotſchaft, alles in 
ihr klingt ihm nach mathematiſcher Scholaſtik. Und es wird 


239 


den Verdacht nicht los, daß es, anſtatt unſeren Standpunkt 
zu erhöhen, uns eigentlich in den Anthropomorphismus zu⸗ 
rückwirft. Das kopernikaniſche Lehrſyſtem, welches den geo— 
zentriſchen Standpunkt als kleinlich erkannt und die helio⸗ 
zentriſche Betrachtung geöffnet hat, befriedigte eine uralte 
Sehnſucht nach der Unendlichkeit; war doch ſchon der erſte 
Sonnenanbeter der erſte Kopernikaner! Die Relativitäts— 
lehre mündet bei der Lichtkonſtanten, bei einer Endlichkeit, 
jenſeits deren die Welt mit bretternen Formeln vernagelt 
wird. Was find denn jene fatalen 300000 Kilometer in der 
Sekunde? Eine auf irdiſche Ausmaße bezogene Verhältnig- 
zahl! Der Erdäquator ſiebenundeinhalbmal genommen. Eine 
Strecke, die jeder Schiffskapitän, jeder Lokomotivführer prak⸗ 
tiſch erleben kann. Und die ſoll eine Begriffsgrenze dar— 
ſtellen, wo es ſich um die letzte Einſicht in das Weltganze 
handelt? Das erinnert doch wirklich an jene talmudiſche 
oder hindoſtaniſche Weisheit, die das Längenmaß ihres per= 
ſönlichen Gottes nach ſoundſo vielen Meilen bezifferte! 
Alles Außermenſchliche, Relative, Tranſzendente der neuen 
Lehre kann nicht darüber hinweghelfen, daß in ihrem Grunde 
ein Menſch ſitzt, ein „Beobachter“, der vom ruhenden Sy— 
ſtem aus das bewegte beurteilen will und ſich hierbei auf 
Lichtſignale, Lichtwahrnehmungen verläßt, der von der Qua— 
lität eines beſtimmten Empfindungsorgans, alſo von ſich 
ſelbſt, nicht loskommt. Aus der kopernikaniſchen Lehre kann 
der Menſch vollkommen herausgehoben werden, ſie bleibt 
trotzdem beſtehen. Das Relativitätsprinzip iſt von der be— 
ſtimmten Beurteilung des beſtimmten Beobachters nicht ab— 
zutrennen; es bleibt verbunden mit einer anthropomorphen 
Grundanſchauung, die das Licht vermenſchlicht; ja, vielleicht 
liegt das Geheimnis all der Ungeheuerlichkeiten, die wir im 


240 


a 
* 7 


Verfolg der Relativität durchzumachen hatten, einzig in dem 
Lichtbegriff ſelbſt, der als das Poſtulat eines Zufallsſinnes 
einfach ſinnlos wird, ſobald man den organiſchen Grund die— 
ſes Sinnes fortdenkt. 

Jenſeits von Richtig und Falſch! zu einer anderen Formel 
iſt nicht zu gelangen. Sie wird das letzte Wort der Ver— 
zweiflung bleiben überall da, wo wir das Gehirn zu Funktio— 
nen zwingen wollen, denen dieſer Zellenklumpen nicht ge— 
wachſen iſt und denen auch das Überhirn künftiger Gene— 
rationen nicht gewachſen ſein wird. Nicht weil es als er— 
ſchließendes Inſtrument nicht zureicht, ſondern weil das zu 
Erſchließende gar nicht exiſtiert. Der Wahrheitsſucher wird 
niemals ein Wahrheitsfinder werden, denn er ſucht etwas 
nicht Vorhandenes. Die Wahrheit, definiert als die Über— 
einſtimmung der Vorſtellung mit der Wirklichkeit, iſt im 
beſten Falle eine anthropomorphe Tautologie, da eine be— 
greifliche Wirklichkeit eo ipso mit der Vorſtellung kongruie— 
rend zuſammenfällt. Wer aber darüber hinaus fragen will, 
fragt ſinnlos. Und trotzdem bleibt es unbeſtreitbar, daß in 
der Welt der Erſcheinungen die Relativitätslehre als Er— 
forſchungsmittel unerhört Großartiges vollbracht hat! Wie 
eine Gottesgewalt kam ſie über den Denkmenſchen, erhellend 
und blendend, verwirrend und erleuchtend, mit Blitzſchlägen, 
die Pforten der Phyſik aufſprengten und Säulen der Er— 
kenntnistheorie an der Wurzel trafen! Vielleicht ſteht fie 
ſo außerhalb aller ererbten und erworbenen Denkgewohn— 

heit, daß ihr gegenüber nicht einmal die Verſtandesformen 
des Glaubens und des Zweifels auftreten dürfen! 
* 


Man geſtatte mir eine Lehre aufzuſtellen, die ich vorläufig 
nur in Form eines Gleichniſſes auszuſprechen vermag: Jede 
Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 16 


241 


Wahrheitsfrage iſt ein Komplex von Konftanten und Une 
bekannten, die ſich in einer Gleichung zuſammenfinden. Die 
Konſtanten der Algebra treten hier als Begriffe und Worte 
auf, die Löſung der Gleichung wäre die Wahrheitsfindung. 

Wird dieſes zugegeben, ſo folgt alles weitere mit unbe— 
dingter Sicherheit. Die Löſung ſtellt ſich dar als ein Aus— 
druck aus eben jenen Konſtanten, aus den Worten und Be— 
griffen gebildet, die in der Gleichung ſteckten; an Stelle der 
Unbekannten eingeſetzt, befriedigt er die Gleichung, liefert 
er die Wahrheitsantwort. 

Nehmen wir einmal den einfachſten Fall: eine lineare 
Gleichung mit einer Unbekannten. Wir wiſſen, daß dieſe eine 
Löſung, und zwar nur eine einzige Löſung zuläßt. Hat alſo 
die Begriffsfrage dieſe einfache Form, ſo werden wir eine 
unzweideutige Wahrheit als Auflöſung herausrechnen, näm— 
lich eine ſolche, deren tautologiſchen Charakter wir unſchwer 
erkennen. 

Bei Gleichungen höheren Grades hört die Eindeutigkeit 
auf. Eine reine quadratiſche Gleichung verträgt zwei Löſun— 
gen, die einander im Zahlenwert gleich, aber im Vorzeichen 
entgegengeſetzt ſind; die Plus-Größe und die zugeordnete 
Minus⸗Größe befriedigen mit derſelben Beſtimmtheit die 
Forderung der Gleichung. Aus dem Algebraiſchen ins Be— 
griffliche übertragen, bedeutet dies: Wenn wir unſerem In— 
tellekt eine einfache Begriffsgleichung von quadratiſcher Na— 
tur aufgeben, ſo erhalten wir zwei Antworten, die einander 
direkt widerſprechen, zwei ſchnurſtracks gegenſätzliche Löſun— 
gen, welche die Gleichung reſtlos befriedigen, mithin zwei 
Wahrheiten, die einander verneinen und nichtsdeſtoweniger 
volle Wahrheiten bedeuten. Und ein großes Welträtſel ent— 
ſchleiert ſich auf einmal vor unſeren Augen. Denn dieſe Auf— 


242 


ra a Ze te 


löſungspaare treten ja in unſerer Philoſophie tatſächlich als 
Antwortpaare im Sinne der Antinomien auf; fie heißen: 
Notwendigkeit und Zufall, freier Wille und Willensunfrei— 
heit, Monismus und Dualismus, Theismus und Atheismus, 
Schöpfung und Urzeugung, Teleologie und Zweckleugnung, 
Ewigkeit und Zeitgrenze, bis zu allen perſönlichen Lehrmei— 
nungen, die ſich kontradiktoriſch um die Begriffe Gott und 
Teufel gruppieren. Und wir erkennen: faſt alle landläufigen 
Fragen der Schulphiloſophie ſind ihrem Weſen nach qua— 
dratiſche Gleichungen, die gleichzeitig eine poſitive und eine 
negative Wurzel liefern; was die Weltweisheit ſeit alters— 
her als eine wahre Crux mit ſich herumgeſchleppt hat, näm— 
lich die Unvereinbarkeit polar entgegengeſetzter Entſcheidun— 
gen, fügt ſich plötzlich als ein algebraiſches Ergebnis zwanglos 
zuſammen; der Zufall erfüllt die Gleichung ebenſo vortreff— 
lich wie die Notwendigkeit, die Freiheit ebenſo reſtlos wie 
die Unfreiheit, jede richtige Löſung fordert ihr Spiegelbild 
mit entgegengeſetztem Vorzeichen als die zweite Löſung einer 
und derſelben fragenden Gleichung. 

Aber auch hier gelangen wir nicht über die Tautologien 
hinaus, nur daß ſie als ſolche etwas ſchwerer zu durch— 
ſchauen ſind. Das Gebiet der Tautologie überhaupt verlaſ— 
ſen wir erſt mit denjenigen Gleichungen, die mit realen 
Größen nicht mehr zu bewältigen ſind und zu imaginären, 
komplexen Löſungen führen. Schon bei gewiſſen quadrati— 
ſchen Gleichungen kann dieſer Fall eintreten, bei allen reinen 
Gleichungen vom dritten Grade aufwärts iſt er unaus— 
bleiblich. Nehmen wir etwa eine Gleichung fünften Gra— 
des, ſo muß ſie zwar nach Cauchy, Gauß und Hermite 
fünf Wurzeln beſitzen, aber dieſe ſind rein algebraiſch nicht 
mehr darſtellbar, nur noch in elliptiſchen Tranſzendenten, 

16 * 
243 


und damit entfällt die Möglichkeit, eine derartige Gleichung 
ins begriffliche Gebiet hinein zu verfolgen. Selbſt wenn 
wir uns anſtatt an unferen eigenen Intellekt, an den Welt: 
geiſt als an den Beherrſcher der Laplaceſchen Weltformel 
wenden dürften, jo müßte er antworten: die Erkenntnisglei⸗ 
chung, die du mir vorlegſt, iſt fünften Grades, hat alſo keine 
aus Worten oder Begriffen darſtellbare Wurzel. Das, was 
du in dieſem Falle ſuchſt, die Wahrheit, iſt nur noch ein 
imaginäres Phantom; die Frage nach dieſer Wahrheit iſt 
in ſich ſelbſt ſinnlos. 

Ich bin tief durchdrungen davon, daß jede Wahrheitsfrage 
höherer Ordnung, jede, die ſchon ihrer Faſſung nach die ein— 
fach tautologiſche Beantwortung abwehrt, im tiefſten Kern 
eine ſolche Begriffsgleichung einſchließt; wenn nicht gar noch 
die weitere Unlösbarkeit hinzutritt, daß in der Fragegleichung 
von Anfang an mehrere Unbekannte ſtecken. Armes Men— 
ſchenhirn! Du ſtellſt da eine Frage auf etwa in der Faſſung 
der Kantiſchen: „Wie find ſynthetiſche Urteile a priori mög— 
lich?“ Und darauf willſt du eine Antwort haben! Die al- 
gebraiſche Löſung einer Gleichung mindeſtens fünften Gra— 
des mit mehreren Variabeln! Appellierten wir zuvor von 
der Mathematik an die Erkenntnistheorie, ſo müſſen wir 
jetzt den Erkenntnistheoretiker an den Mathematiker verwei— 
ſen; der wird ihm einen Beſcheid geben, deſſen Inhalt aus 
der Formelſprache in klares Deutſch überſetzt lauten müßte: 
Das, was du für eine Frage hältſt, iſt eine grammatiſche 
Verkettung von Unfaßbarkeiten mit einem Fragezeichen da— 
hinter; erwarte keine mögliche Antwort auf ein unmögliches 
Etwas, das ſich für eine Frage ausgibt!“ 

) Ohne Algebra, rein erkenntnistheoretiſch, gelangt Fritz 
Mauthner in ſeiner Sprachkritik zu ähnlichen Ergebniſſen, die 


244 


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Und jo geſehen erfcheint auch die Frage, die dem Rela— 
tivitätsprinzip zugrunde liegt, als eine Unauflöslichkeit. Die 
Gleichungen, die von den großen Relativiſten im vierdimen— 
ſionalen Koordinatenſyſtem entwickelt werden — Wunder— 
werke in ihrer Art —, ranken ſich doch nur an der Außen— 
ſeite herum. Im Kern ſteckt eine andere, viel kompliziertere 
Gleichung, die Antwort haben will auf die allgemeinſte 
Frage nach den Zuſammenhängen der Weltgeſchehniſſe. Die 
Wahrheit, die dieſe Frage ſucht, exiſtiert nicht, oder ſie liegt 
jenſeits von Richtig und Falſch, ſie kann ſich nie wahrhaft 
und einleuchtend aus all den Widerſprüchen herausſchälen, 
die wir erſchauernd durchmeſſen haben. Wenn wir ſchon 
im Bann des Denkzwanges die Frage aufwerfen: Was iſt 
Wahrheit? ſo folgen wir wenigſtens dem Beiſpiel des Pi— 
latus, der hinausging, ohne die Antwort abzuwarten. 

„Vorausgeſetzt, daß die Wahrheit ein Weib iſt“ — ſo 
beginnt Friedrich Nietzſche die Vorrede zu ſeinem Jenſeits, 
um darauf den Verdacht zu gründen, daß alle Philoſophen, 
ſofern ſie Dogmatiker waren, ſich ſchlecht auf Weiber ver— 
ſtanden. Mein Verdacht geht weiter. Ich fürchte, daß die 
Wahrheit weder ein Weib, noch ein Mann, noch überhaupt 
irgend etwas iſt außer der Wurzel einer tranſzendenten Glei— 
chung und daß alle Bemühungen der Philoſophen wie der 
Phyſiker hier nichts anderes umwarben als ein reines Va— 
kuum. Bis eine neue Philoſophie, von der wir heute noch 
nichts wiſſen, vielleicht eine Relativitätsphiloſophie, in die— 
ſem Vakuum die Anſätze und Keime begrifflicher Erfaß— 
barkeiten aufſpüren wird. Eine Preisaufgabe, die die Ur— 
enkel der Forſcher von heute beſchäftigen möge! 


er freilich ſchöner und eindringlicher vorträgt, als ich fie darzu— 
ſtellen vermag. 


245 


Die Heimat der Größen 


Es iſt nicht ſo leicht, Namen zu nennen und zu treffen, 
wenn es darauf ankommt, in einem beliebigen Felde die Ewig— 
keitsgrößen zu erfaſſen. Wo die ſcharfe Berechnung fehlt, wo 
der Augenſchein und die Momentempfindung entſcheidet, un= 
terliegen wir ausnahmslos der Täuſchung, die uns eine 
Sonne vorſpiegelt, wo nur ein Meteor verglimmt, und die 
uns ein Pünktchen überſehen läßt, wo tatſächlich eine Sonne 
leuchtet. Oft iſt es verſucht worden, in einem beſtimmten Ge— 
biete die Koryphäen zu kränzen; und faſt immer haben die 
folgenden Jahrzehnte die getroffene Auswahl beanſtandet, 
verworfen, wenn nicht verhöhnt und verlacht. Vor Menſchen— 
altern wurde ein Dichter mit dem Vergleich gefeiert: 


Traun, ein Schiller und ein Goethe, ja ein Opitz wär' von— 
nöten, 
Um den Maßſtab zu bezeichnen für die Größe des Poeten! 


Und dieſen Opitzen begegnen wir durchweg, wo wir alte 
Wertſchätzungen aus unſerem eigenen Geſichtswinkel meſſen. 
Vierzehn Jahre währte der Bau der großen Pariſer Oper, 
und ſo lange hatten die Kommiſſionen und Fachausſchüſſe 
Zeit, ſich die Größen zu überlegen, die für den Prachtbau in 
Skulpturen verewigt werden ſollten, als Matadore der Oper 


246 


überhaupt. Das Reſultat war: kein Weber, kein Wagner, 
kein Verdi; Mozart und Meyerbeer nur als Büſten, Rameau 
und Spontini in Koloſſalfigur, und am Eingang zu den vor— 
nehmſten Plätzen, beſonders auffallend: „Niedermayer“, 
ein Muſiker, deſſen Name längſt ausgetilgt iſt bis auf die 
Chroniſtenſpur, bis auf die verblaßte Erinnerung an einige 
ſehr unbedeutende Opern und ſehr bedeutende Operndurch— 
fälle. 

Ahnliche Opitzereien und Niedermayereien pflegen ſich ein— 
zuſchleichen, wenn Volk gegen Volk in irgendeinem Betracht 
der Kunſt, Wiſſenſchaft und Kultur gewogen werden ſollen. 
Der ſichere Punkt, von dem aus die Gruppierung der Größen 
klar zu überblicken wäre, iſt nicht auffindbar. Aber wenn es 
auch im ganz großen Bereich unmöglich iſt, aus der Enge der 
Vorurteile herauszukommen, perſönliches und nationales 
Falſchſehen zu überwinden, ſo erſcheint wenigſtens für die 
Wiſſenſchaft der Anſatz, der taſtende Verſuch einer Me— 
thode gegeben; die eben als Methode vor der bloßen 
Meinung den Vorzug aufweiſt, das perſönliche Urteil 
auszuſchalten. An die Stelle egozentriſcher und heimat— 
lich betonter Gründe tritt eine Art von Berechnung. Dieſe 
von de Candolle erfundene, von dem Aſtronomen Pik— 
kering ausgebaute Methode fußt auf dem Grundgedanken: 
Es werden aus allen Nationen diejenigen Gelehrten heraus— 
gehoben, die von mindeſtens zwei großen auswärtigen Aka— 
demien als Mitglieder gewählt worden ſind. Unſer Oſtwald 
hat die zuletzt von Pickering gewonnenen Ergebniſſe prozen— 
tual auf die Bevölkerungen berechnet, ſo daß man aus ſeiner 
Tabelle den ſpezifiſchen Wiſſenſchaftswert der einzelnen 
Völker ableſen kann. Danach ergibt ſich: in wiſſenſchaftlicher 

Hinſicht marſchiert heute Sachſen an der Spitze aller Län— 


247 


der, eine ſtatiſtiſche Beſtätigung der volkstümlichen Selbſt⸗ 
einſchätzung „mir Sachſen ſein helle“. Ihm folgen zunächſt 
Norwegen und Baden, Schweden, Holland und Bayern, 
Preußen und England, Dänemark, Württemberg, Frank— 
reich, die Schweiz, Belgien, Italien, Oſterreich, Vereinigte 
Staaten und in weitem Abſtand davon Rußland. Das abſo— 
lute Übergewicht, der wiſſenſchaftliche Schwerpunkt ſozuſa⸗ 
gen, ruht mithin in Deutſchland. 

Die Methode an ſich iſt zweifellos angreifbar, und zwar 
gerade in ihrem objektiven Kern. Ihre auf Diplome und 
Zahlen geſtützte Objektivität verleugnet jede ſubjektive Schät⸗ 
zung, alſo gerade das, was wir an Geiſtigkeit in uns auf⸗ 
bringen, wenn wir uns mit Geiſtesgrößen beſchäftigen. Selbſt 
wenn wir zu Unrecht annehmen wollen, daß die Diplome 
nur nach Verdienſt verteilt werden, daß Cliquenwirtſchaft, 
Begünſtigung und Verſicherung auf Gegenſeitigkeit gar keine 
Rolle ſpielen — die Geſchichte der Akademien beweiſt das 
Gegenteil —, ſo bliebe immer noch die Frage offen, ob ein 
ganz großer Denker, Forſcher und Menſchheitsförderer nicht 
mit dem vielfachen Gewicht des Durchſchnittsdiplomierten 
anzuſetzen wäre. Demgegenüber beruft ſich die Methode auf 
das Geſetz der großen Zahl, auf die Wahrſcheinlichkeit der 
wechſelſeitigen Fehlerkorrektur, ſo daß ſchließlich doch eine 
gewiſſe Zuverläſſigkeit dieſer Statiſtik herauskommen müſſe. 
Das läßt ſich hören, ſelbſt dem Einwand gegenüber, daß in 
dieſer Aufmachung ein ungelöſter Reſt bleibt, ein tiefſter 
Kern, der ſich jeder Berechnung verſchließt; und um ſo eher 
läßt es ſich hören, als in der de Candolle-Pickeringſchen Regel 
doch ein erſter Anſatz vorliegt, der wiſſenſchaftlichen Geſamt— 
leiſtung mit Zahl und Maß beizukommen. Sie erfaßt nicht 
die Gipfel, aber die Hochebene, ſie zeigt mit annähernder 


248 


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Deutlichkeit die Durchſchnittshöhen des Gelehrtenſtandes in 
national geſonderten Gruppen. 

Dieſer fertigen Methode ließe ſich aber vielleicht eine un— 
fertige zur Kontrolle gegenüberſtellen, eine andere, die nach 
der ſubjektiven Seite ſo weit ginge, wie jene erſte mit ihrer 
gleichmacheriſchen Unbeſtechlichkeit nach der objektiven. Man 
müßte ſich von Anfang an auf die andere Seite des Problems 
ſtellen, nicht von den Perſonen und Diplomen, ſondern von 


den Dingen und Erſcheinungen ausgehen, um zu ermitteln, 


welcher Anteil an den großen Errungenſchaften auf die Völker 
entfällt. Eine Aufgabe von enzyklopädiſcher Weite! Kein eins 
zelner könnte ſie löſen, denn jeder einzelne wäre zu klein, und 
noch weniger eine Akademie, denn durch Hineinziehung einer 
gelehrten Körperſchaft würden wir wieder auf Umwegen bei 


den Diplomen landen. Wohl aber könnte der einzelne mit 


dem vollen Bewußtſein der Unzulänglichkeit die Aufgabe vor— 
läufig angreifen und ein für ihn ſelbſt gültiges Ergebnis 
hineinſchreiben in der Hoffnung, daß andere das Experiment 
wiederholen und durch gehäuften Verſuch in Aufrechnung der 
perſönlichen Gleichungen die Fehler allmählich verkleinern. 
Eine ſtattliche Reihe von Vorbehalten wird vorauszuſchik⸗ 
ken ſein. Wir wollen uns verabreden, nur ſolche Errungen— 
ſchaften gelten zu laſſen, die entweder das Denken und Fühlen 
der Menſchheit nachweislich beſtimmt, gerichtet und erweitert 
oder im Sinne der Kultur einen allſeitig anerkannten Fort— 
ſchritt bewirkt haben; Kultur in modernem Sinn verſtanden, 
nach den Bedürfniſſen der Maſſe gewertet, ohne Rückſicht 
auf etwaige Kulturſchäden, die ſich dem einſam wandelnden 
Philoſophen unter der Decke des Fortſchritts entſchleiern. 
Um einigen Halt in einer Zeitbegrenzung zu finden, be 
ſchränken wir die Betrachtung auf die Neuzeit. Bei einem Zu— 


249 


rückgreifen auf entlegenere Epochen würde die Aufgabe ſelbſt 
— Verteilung nach Gegenwartsvölkern — ſinnlos werden. 

Wir müſſen verſuchen, unſer Auge gegen das Genie in ge— 
wiſſer Weiſe einſeitig abzublenden. Bei den Willensgenies, 
den großen Politikern, den Schlachtengewinnern, iſt die Wir— 
kung nicht abtrennbar von zahlloſen anderen Faktoren, die 
ihnen die Tat ermöglichten, von den Spannkräften, die ſie 
vorfanden, von den Punkten, auf die ſie das Schickſal ſtellte, 
vom Zufall. Der gewaltige Eroberer wäre, wie ſchon Fried— 
rich der Große wußte und ſagte, unter anderen Verhältniſſen 
ein gewaltiger Räuber geworden; der große Phyſiker, Erfin— 
der, Philoſoph bleibt unter allen Umſtänden er ſelbſt, ſeine 
Tat wurzelt in nichts anderem als in ſeinem eigenen Gehirn. 
Wenn wir der Schlacht von Lepanto einen entſcheidenden Ein— 
fluß auf die Geſtaltung Europas zuſchreiben, ſo gebührt 
dieſer Ruhm der Schlacht nicht dem Don Juan d' Auſtria, 
der ſie gewann; aber die Darwinſche Theorie gehört dem Dar— 
win und die analytiſche Geometrie dem Descartes. Weiter— 
hin wird beſondere Vorſicht den Meiſtern der Kunſt gegen— 
über zu wahren ſein. Die zwingende Künſtlerſchaft und die 
hohe Rangſtellung des Künſtlers reicht noch nicht aus, um 
unſere Vorausſetzung zu erfüllen. Wir werden vielmehr — 
wenn auch nicht mit der Haftung für Wahrheit, ſo doch mit 
dem Vorſatz der Wahrhaftigkeit — zu prüfen haben, ob der 
Mann in ſeiner Kunſt ein Pfadfinder und Bahnbrecher ge— 
weſen iſt. Die abgetrennten Werke und die Liebe, die wir 
ihnen entgegentragen, bieten uns hier keine Wertſicherheit; 
entſcheidend bleibt vielmehr, daß der Mann nicht nur am 
Ende, ſondern am Anfang einer Entwickelung geſtanden hat. 
Mit vielen herrlichen Künſtlern werden noch zahlreiche andere 
Perſonen von zweifelloſer Genialität aus der Bildtafel fal— 


250 


len, denn wie gejagt, wir gehen nicht von den Namen aus, 
ſondern von den Dingen und Erſcheinungen; und da dieſe, 
dem Problem entſprechend, möglichſt weit abgeſteckt werden 
müſſen, ſo bleiben für die Betrachtung nur die Leuchttürme 
der Erkenntnis und die Eckpfeiler der Kultur beſtehen. 

Mit dieſen Vorbehalten und noch manch anderer reser— 
vatio mentalis wollen wir nunmehr Umſchau halten. 

Kein Erkenntnisgrund erreicht für die Menſchheit an Breite 
und Feſtigkeit ſo gewaltige Maße wie das kopernikaniſche 
Weltſyſtem. In ihm iſt alles Denken der Neuzeit verankert. 
Nicht die anatomiſche Struktur, ſondern die Befreiung aus 
dem Kerker der geozentriſchen Anſchauung hat dem Menſchen 
den aufrechten Gang gegeben, der ihm den Welthorizont er— 
öffnete. Betrachten wir dieſes Syſtem in ſeinen Begrün— 
dungen und Ausſtrahlungen, ſo erſcheint es untrennbar von 
der Gravitationslehre, von den Fallgeſetzen, von den Ein— 
ſichten in die Planetenbewegungen. Und faſſen wir zuſam— 
men, was ſich hier als theoria motus corporum celestium 
bietet, ſo haben wir an die Spitze unſerer Statiſtik vier 
Urhebernamen zu ſetzen: Kopernikus, Newton, Galilei, 
Kepler. 

Ihnen zunächſt ſteht die Reihe der Forſcher, durch welche 
die weiteſten Probleme der Mechanik, der Körperbewegung 
überhaupt, beantwortet wurden. Sie ſind die Baumeiſter 
der Fundamente für die exakte Naturwiſſenſchaft, die Ver— 
wirklicher der archimedeiſchen Forderung: „Gib mir, wor— 
auf ich ſtehe!“ Von ihren Sätzen aus iſt die Erkenntnis— 
welt wirklich bewegt worden, bewegt um die feſten Punkte 
mechaniſcher Prinzipien, die in dem von der Erhaltung der 
lebendigen Kräfte gipfeln. Nennen wir die Koryphäen, wie 
ſie ſich unſerm Blick darbieten: Huyghens, Jakob Bernoulli, 


251 


d' Alembert, Lagrange, Laplace, Hamilton, Carnot, Euler, 
Foucault, Robert Mayer, Clauſius, Joule und Helmholtz. 

Gauß gehört auch in dieſe Reihe und in geringem Ab— 
ſtande von ihm die Praktiker der Himmelskunde: Herſchel, 
Caſſini, Römer, Halley, Lalande, Argelander, Beſſel, Le— 
verrier, Schiaparelli. Allein da in dieſer Aufmachung jede 
Größe nur als Einheit zählt, ſo wollen wir den Gauß 
lieber als princeps der Mathematiker buchen. Und um die 
Doppelzählung für Newton zu vermeiden, ſeien alle Ehren 
der Differentialrechnung auf Leibniz gehäuft, der ja auch 
ohnehin in dieſem Regiſter einen Platz behaupten müßte. 
Die analytiſche Geometrie, die Schweſter der Differential— 
rechnung und mit dieſer verbündet die eigentliche Großmacht 
und erfolgreichſte Wundertäterin im Bereiche des reinen Den— 
kens, findet ihren perſönlichen Exponenten in René Des— 
cartes. Die Nobelgarde der reinen Algebraiſten, Funktio— 
nentheoretiker und Zahlentheoretiker, vertreten durch Fermat, 
Cauchy, Hermite, Legendre, Riemann, Abel, Jacobi, Weiz 
erſtraß, wird in dieſem Zuſammenhange außer Berechnung 
bleiben müſſen, denn wir haben hier nicht das Regiſter der 
Weltberühmtheiten zu entwerfen, ſondern diejenigen heraus— 
zugreifen, deren Leiſtungen die weiteſten Wellenringe ge— 
zogen haben. Und an den Unterſchied zwiſchen Tiefe und 
Weite müſſen wir uns beſtändig erinnern, wenn unſer Pro— 
gramm mit der internationalen Betonung ſeinen Sinn be— 
halten ſoll. Erlangen die Heilswahrheiten der nicht-euklidi⸗ 
ſchen und der vierdimenſionalen Geometrie einmal beſtim— 
menden Einfluß auf das mathematiſche Denken überhaupt, 
dann wird der Statiſtiker der Zukunft die Riemann, Min— 
kowſki, Poincaré als vollwertige Einheiten nachzutragen 
haben. 


252 


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In den exakten Naturwiſſenſchaften gebührt der Vortritt 
den Männern, die als Entdecker und Geſetzesfinder die Er— 
fahrung der Menſchheit bereichert, den Überblick über das 
empiriſch Gegebene erweitert und in der Erſcheinungen Flucht 
die ruhenden Pole als Elemente der Erkenntnis aufgezeigt 
haben. Die klaſſiſchen Mechaniker hatten wir als eine we— 
ſentlich mathematiſch gerichtete Ordnung bereits vorwegge— 
nommen. Von der Plattform jener Univerſalmenſchen ge— 


ſehen, könnten die bahnbrechenden Vertreter der Optik, der 


Elektrizität, der kinetiſchen Gastheorie beinahe als Spezia— 
liſten erſcheinen. Aber in dieſer Welt iſt die Feinmechanik 
von der Großmechanik gar nicht zu trennen. Es iſt Geiſt 
vom Geiſte des Galilei, der ſie alle durchweht, gleichviel, ob 
wir ihnen die Gasgeſetze, die Spektralanalyſe, die Wunder 
der Polariſation oder die elektriſchen Kraftlinien verdanken. 
Jeder wird zur Sonne, wenn wir uns ihm nähern, zum Be— 
herrſcher eines Syſtems. Unmöglich wäre es, ſie homeriſch 
zu beſingen, ſchwierig genug bleibt die Anwendung des ho— 
meriſchen Leitmotives „Andra moi ennepe“. Odyſſeus bei 
Odyſſeus ſteht in dieſer Ruhmesallee der Scharfſinnigen, 
und die Perſpektive, die der einzelne Betrachter gewinnt, 
wird niemals für einen wirklichen Geſamtüberblick ausrei— 
chen. Wagen wir es trotzdem, ohne die Abſicht, eine Rang- 
ordnung einzuhalten, in der Fülle der Geſichte die leuch— 
tendſten zu bezeichnen: 

Als Galileis Nachbar und zeitlich mit ihm verbunden, 
eröffne Torricelli die Reihe. Er und Otto v. Guericke haben 
der Menſchheit zuerſt für das Rätſel des Luftmeeres, in dem 
ſie lebt, den experimentellen Schlüſſel geliefert. Als die erſte 
Pforte erſchloſſen war, öffneten Gay Luſſac, Boyle, Mari 
otte, Dalton und Avogadro die Geheimfächer zur Gastheorie. 


253 


Über die atmoſphäriſchen Engen hinaus führte die Analyſe 
des Lichtes in den ſublimen Forſchungen, die ſich an die Na— 
men Frauenhofer, Kirchhoff und Bunſen, Maxwell, Croo— 
kes, Boltzmann knüpfen, an Young, Fresnel, Bradley, Tyn⸗ 
dall, Malus (Polariſation), an Thompſon, Arago, Biot, 
Snellius; eine lange Liſte, die wir an dieſer Stelle, nicht 
durch Newton, Huyghens, Euler verlängern dürfen, da wir 
Doppelzählungen zu vermeiden haben. 

Im elektriſch-magnetiſchen Felde ſind die Außenforts durch 
Volta, Oerſtedt, Gilbert, Ohm, Weber, Faraday, Ampere, 
Röntgen, Becquerel, Hertz, Nernſt beſetzt. Letzten Endes 
ſind die Fragen der Elektrizität von denen der Optik wie der 
neuen Mechanik überhaupt nicht mehr zu ſondern, ſie ſtrecken 
vielmehr ihre Antennen gemeinſam in jenes rätſelhafte Ge— 
biet des Relativitätsprinzips, das den allerfeinſten und ver- 
wegenſten Geiſtern der Gegenwart zum Tummelplatz dient. 
Wer dieſen im freien Ather vollzogenen Übungen jemals 
mit ſtockendem Atem nahegekommen iſt, der ahnt in ihnen 
unermeſſene Zukunftswerte. Hier, in einer vierdimenſionalen 
Welt, ſchufen und wirken noch heute: Lorentz, Einſtein, 
Planck, Wien. Auf der Verzweigung zwiſchen Phyſik, Phy— 
ſiologie und Erkenntniskritik erheben ſich Du Bois-Reymond, 
Zöllner und Ernſt Mach zu monumentaler Höhe. 

Wer lediglich das Zeitmaß ins Auge faßt, mit dem die 
moderne Naturwiſſenſchaft zur Ausnützung der Naturkräfte 
geführt hat, wird auf einen Einteilungsgrund ſtoßen, der 
die Tat des Lavoiſier an die Wegſchneide zwiſchen Alt und 
Neu ſtellt. Nun läßt ſich aber die Kulturgeſchichte in kei— 
nem Betracht einen haarſcharfen Trennungsſtrich gefallen, 
und wer Lavoiſier ſagt, wird Prieſtley und Scheele dazu 
ſagen müſſen. Jedenfalls gewährt dieſer Einteilungsgrund 


254 


nach chemiſchen Geſichtspunkten den Vorteil, eine Reihe der 
hervorragendſten Errungenſchaften als nahezu im Zeitraum 
eines Jahrhunderts eingeſpannt zu erblicken. In dichter Folge 
ſtehen hier die Großmeiſter des Faches: Davy, Berzelius, 
Liebig, Wöhler, Gerhardt, Ramſay, Berthelot, Moiſſan, 
Berthollet; weiterhin van 't Hoff, Mendelejew, v. Baeyer, 
Fiſcher, Frau Curie und Wilhelm Oſtwald, der ſelbſt ein 
Buch über große Männer geſchrieben hat und zu dieſen längſt 
gehörte, bevor noch der Nobelpreis ihm dieſe Rangſtellung 
urkundlich beſcheinigte. 

Vom benachbarten Flügel unſerer Walhalla leuchtet die 
Figur Charles Darwins als Mittelpunkt einer Gruppe, de— 
ren Arbeitsgebiet die Organismen vom Protoplasma, von 
der Zelle, durch alle Zwiſchenſtufen der Entwickelung bis 
zur höchſtorganiſierten Geſtaltung umfaßt. Wehte uns aus 
den Werkſtätten der Phyſiker und Chemiker eine durch Maß, 
Zahl und mathematiſche Abſtraktion erkältete Luft entgegen, 
ſo gelangen wir hier an Perſönlichkeiten, die uns die Eng— 
berührung unſerer eigenen Körperlichkeit mit dem Weltgan— 
zen gelehrt haben. Mögen dieſe Biologen und Morphologen 
bis in die volle Anthropologie übergreifen oder die unend— 
lichen Wege der durch Strahlungsdruck geſchleuderten Keim— 
ſtäubchen verfolgen, mögen ſie im Schoß der Mutter Erde 
wühlen und uns die Grenzgebiete der belebten und unbeleb— 
ten Natur aufzeigen oder in menſchlichen Kapillargefäßen 
die Geſetze des Heils und Unheils erforſchen, — die Schluß— 
formel dieſes ganzen Kongreſſes bleibt für uns: tua res 
agitur! So geſehen, gehören Schwann, Schleiden, Vir— 
chow, die Meiſter der Zellentheorie, Veſalius, Harvey, Boer— 
have, Leeuwenhoek, Haller, Owen, v. Bär, Claude Bernard 
und Johannes Müller, die Exponenten der modernen Ana— 


255 


tomie und Phyſiologie, Lyell, Wallace, Ofen, Lamarck und 
Haeckel als Werkführer am Bau der Evolutionslehre, in 
denſelben Größenkonzern. Linné, Buffon und Cuvier dür⸗ 
fen hier nicht übergangen werden, wenn wir auch mit ihnen in 
ein gefährliches Gedränge zwiſchen Wahr und Falſch geraten; 
ſie gehören zum hiſtoriſchen Bilde, teilweiſe antithetiſch, aber 
doch unentbehrlich. Auch zwei Dichter grüßen uns aus die— 
fer Gemeinſchaft: Goethe, ein Vorahner Darwinſcher Ge— 
danken, und Chamiſſo, der Entdecker des Generationswech—⸗ 
ſels; ihnen zunächſt drei Geſtalten von kosmiſcher Prägung, 
weit auseinanderliegend und doch durch einen gewiſſen Ein— 
ſchlag ſchweifender Phantaſie verbunden: Fontenelle, Hum⸗ 
boldt, Svante Arrhenius. 

Von Harvey und Boerhave aus gewinnen wir leicht den 
Anſchluß an die Samariter der Menſchheit, deren Stamm— 
baum bis auf Galenus zurückreicht, die wir aber im Nah: 
men dieſer Betrachtung nur bis Paracelſus zurückverfolgen 
dürfen. Unbekümmert um die Selektionsergebniſſe im 
struggle for life und ohne Rückſicht auf die Hinaufpflan⸗ 
zung reichen ſie uns die Hand als praktiſche Helfer im 
Kampf ums Daſein. Unter den Leidensverkürzern und Le— 
bensverlängerern behaupten in Anſehung der von ihnen ge— 
ſchaffenen Methode die ſichtbarſten Plätze: Jenner, Scarpa, 
Hufeland, Liſter, Dieffenbach, Langenbeck, Billroth, Nela— 
ton, Pafteur, Koch, Roux, Behring, Ehrlich. Als Meiſter 
der Anäſtheſierungskunſt kommen Jackſon und Simpſon in 
Betracht, von denen eine Abzweigung auf unſeren Schleich 
führt. Albrecht von Graefe, der Begründer der neuen Au— 
genheilkunde, bildet eine Klaſſe für ſich, vielleicht mit Don— 
ders einen Doppelſtern. Daß Helmholtz auch in dieſes Ge— 
biet hineingeleuchtet hat, ſei nur betont, um ſeine Allgegen— 


256 


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1 


wart bei jeder Lichtoffenbarung als eine unerſchütterliche wiſ—⸗ 


ſenſchaftliche Konſtante feſtzuhalten. Schlage die ewigen Bü— 
cher auf, wo du willſt, überall findeſt du die Botſchaft, die 
von einem Pariſer Gelehrtenkongreß in die Welt zog: „Dieu 
parla, que Helmholtz naquit — et la lumiere est 
faite“! 

Mehr als eine Brücke führt vom Geſtade der Theorie 
zum Uferland der Praxis. Nachdem wir mit flüchtigem Fuß 
die Seufzerbrücke der chirurgiſchen Operationen durchmeſſen 


haben, wenden wir uns zum Rialto, der uns den Markt des 


Lebens öffnet. Was hier die Annalen der Errungenſchaften 
als Fortſchritt, als Unterjochung der Naturkräfte, als Men⸗ 
ſchenglück preiſen, ſtellt ſich im Prinzip als die Übermwin- 
dung von Raum und Zeit dar, dergeſtalt, daß der Raum 
verkleinert, die verfügbare Zeit verlängert und das Lebens— 
tempo trotzdem beſchleunigt wird; ein Widerſpruch in ſich, 
der auf einem univerſalen Denkfehler beruht, auf einer Ge— 
fühlstäuſchung, die uns andauernd ein Plus an erſparter 
Zeit vorſpiegelt, wo tatſächlich ein ſtetig wachſendes Defizit 
nach Deckung ruft. Das Zeitalter des Dampfes, der trei⸗ 
benden Gaſe und der elektriſch-motoriſchen Kräfte, eingeleitet 
durch Papin, Fulton, Watt, Mongolfier, charakteriſiert durch 
Stephenſon, Siemens, Daimler, Lilienthal, Maxim, Wright 
und Ediſon, findet ſeinen Triumph in der Zuſammenpreſſung 
von Räumen und Tätigkeiten auf ein Minimum, wobei dann 
folgerichtig ein Maximum freier Zeit herausgequetſcht wer—⸗ 
den müßte. Je weniger hiervon wahrzunehmen iſt, deſto 
trotziger beharrt der Kulturmenſch auf dem Segen der Ar— 
beitsmaſchinen, der Blitzzüge, der Rekorddampfer, der Flug- 
zeuge leichter und ſchwerer als die Luft, der Telegraphen und 


Telephone mit und ohne Draht, der Automobile mit und ohne 


Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 17 


257 


Zweck. Ergänzen wir alfo die Lifte durch Aufreihung der 
prominenteſten Erfinder: Gauß und Weber, Morſe, Hughes, 
Wheatſtone, Gramme, Hefner-Alteneck, Philipp Reis, Gra⸗ 
ham Bell, Branly, Marconi, Slaby. Durchweg Genies vom 
Range derer, die das Pulver erfunden haben; und ſo müßte 
hier auch der auftreten, der es wirklich erfand, wenn er ſich 
durch klare Zeugniſſe ausweiſen könnte. Da dies bekanntlich 
nicht der Fall iſt und die perſönlichen Urſprünge der Feuer⸗ 
waffen überhaupt im Nebel liegen, ſo wollen wir für die 
ganze Herrlichkeit der organiſierten Mordtechnik lediglich 
den einen in Rechnung ſtellen, deſſen Name nicht nur ein 
Vernichtungs-, ſondern auch ein Friedensſymbol geworden 
iſt: Alfred Nobel. Auf die Poſtamente ihm zur Seite mögen 
ſtatt unſicherer Zerſtörer ſichere Wohltäter ſteigen: Franklin, 
der den Blitz zähmte, Salvino d' Armato, der Erfinder der 
Brillen, Dollond (der Vollender des Fernrohrs), Janſſen 
(Mikroſkop), Drebbel und Reaumur (Thermometer), Beſ— 
ſemer (Stahlinduſtrie), Peter Henlein (Taſchenuhren). 
Scheint einer von ihnen zu klein neben den Gewaltigen des 
Geiſtes, deren Gehirnorganiſation wir bewundern, ſo möge 
uns ein Sinnwort des großen d'Alembert über die Auswahl 
beruhigen: „Warum ſollen wir diejenigen, welche die Spin— 
del, die Hemmungen, die Repetition im Getriebe der Uhr er— 
fanden, nicht ebenſo hoch ſchätzen wie die Männer, welche die 
Algebra zur Höhe entwickelten?“ ſo fragte dieſer Univerſaliſt 
in ſeinem grundlegenden Diskurs zur Enzyklopädie. 

Aber alle dieſe Erfindungen und alle geographiſchen 
Entdeckungen dazu, von Kolumbus, Vasco de Gama, Tas⸗ 
man und Cook, bis zu Livingſtone, Stanley, Brazza, Norden— 
ſkjöld, Sven Hedin, werden aufgewogen durch die eine Fin— 
dertat des Gutenberg. Nähme man den Menſchen alle münd— 


258 


liche Überlieferung, würfe man fie auf den Stand des frühen 
Mittelalters zurück und ließe ihnen nichts als den vorhane 
denen Buchdruck, ſo würde ſich die heutige Kulturwelt in 
wenigen Jahrzehnten wieder aufbauen. Der bedeutſamſte 
Erkenntnisweg führt nicht durchs Ohr, ſondern durchs Auge 
zum Verſtande, und wichtiger als die tönende Sprache bleibt 
die ſtumme der fünfundzwanzig Typen in ihrer eindringlichen 
Beredſamkeit, die auf Beharrung und milliardenfacher Häu— 
fung der wirkenden Elemente beruht. Laplaces Weltgleichung 
als Anſatz für alle Geſchehniſſe im Univerſum muß ein Phan— 
tom bleiben, aber für alles erworbene Wiſſen, für die Uns 
endlichkeit der geiſtigen Differentiale liegt das Integral fertig 
vor in der Summe der Bibliotheken und in der Weltpreſſe. 
Hier, und hier ganz allein, iſt ein Vorgang zwiſchen Men— 
ſchen, der an kosmiſche Ereigniſſe heranreicht: aus Atomen 
ſahen wir eine Welt entſtehen! 

Eine Welt, deren Achſe durch die Pole des Monismus 
und Dualismus leitet. In unzähligen Erſcheinungen aus— 
einanderſtrebend, hat ſie noch ſtets die richtenden Kräfte für 
ihre Flugbahn aus der ſtillen Kammer gewonnen, in der ſin— 
nend der Weiſe den ſchaffenden Geiſt beſchleicht. Wohl hat 
mancher Exakte im Stolz auf blendende Handgreiflichkeiten 
die Metaphyſik und die Philoſophie überhaupt mißachtet; 
von der Brüſtung eines Luxusdampfers des Ozeans geſpot— 
tet, der das Schiff trägt; bis dann wieder unter den Viel— 
zuvielen einer der Vielzuwenigen erſcheint, der den ſtillen Wei— 
ſen neue Altäre baut. 

Im Zuge unſerer Erörterung, die ja nur ein Verzeichnis 
ergeben ſoll, iſt in dieſem Pantheon zwiſchen Göttern und 
Gegengöttern nicht zu unterſcheiden. Materialiſten und Idea⸗ 
liſten, Empiriker und Tranſzendente, Syſtematiker und phi⸗ 

178 
259 


loſophiſche Rhapſoden, ſofern ihr Denken tiefe Furchen im 
Geiſtesleben zog, haben unſere Tabelle zu bevölkern. Und 
ſo mögen ſie hier friedlich aufmarſchieren, die Vorkämpfer 
und Antagoniſten: Bruno, Bacon, Spinoza, Pascal, Hobbes, 
Locke, Hume, Berkeley, Kant, Bayle trotz Spinoza, Hegel 
trotz Schopenhauer, Lamettrie, Holbach und Gaſſendi trotz 
Leibniz und Lotze; jenſeits von Richtig und Falſch, aber dies⸗ 
ſeits von Flach und Profeſſoral buchen wir: Diderot, Con— 
dillac, Shaftesbury, Voltaire, Lange, Nietzſche, Bergſon, 
Fritz Mauthner, den Undiplomierten, den ich unbedenklich den 
Gewaltigen zuzähle, in derſelben Zuverſicht, mit der ich Her 
der, Herbart, Viſcher, Fechner, Wundt, Spencer, Ernſt Mach 
und Vaihinger auf dieſe Tafel ſchreibe. Minder ſicher wäre 
ich bei Auguſt Comte und James, dem Pragmatiſten. Aber 
einen Vielgeſchmähten möchte ich mir nicht entgehen laſſen, 
den großen Rüpel unter den Philoſophen, Eugen Dühring, 
denn mit ſeiner kritiſchen Geſchichte der Prinzipien der Mecha⸗ 
nik gehört er der Ewigkeit an. Noch fehlt der Mann, der die 
Mechanik des hiſtoriſchen Geſchehens mit gleicher Genialität 
zuſammengefaßt hätte. Bis er erſcheint, mögen Montes⸗ 
quieu, Niebuhr, „der Vater der Geſchichte“, Mommſen, Gui⸗ 
zot, Tocqueville, Winckelmann, Taine, Renan, Strauß und 
Buckle die Plätze füllen. Wenn ich ihnen noch Max Nordau 
angliedere, ſo geſchieht dies einfach aus dem Recht der Sub— 
jektivität heraus, das für mein Regiſter durchweg als uner- 
läßliche Vorbedingung ausgemacht war. 

Was im Hochland der Philoſophie Erkenntnis, reine An— 
ſchauung, Ahnung, Fernſicht iſt, verdichtet ſich im Tal der 
Völker zum Verſprechen und zur Agitation. Hier ſtehen die 
Männer, welche Theſen anſchlagen, Programme verkünden, 
die Reformatoren, Humaniſten, Befreier, Aufklärer und die 


260 


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Apoſtel des Glücks für die größtmögliche Anzahl: Luther 
neben Hutten, Petrarca neben Erasmus, — Rouſſeau und 
Mirabeau, Waſhington und Lafayette, Feuerbach, Fichte und 
Saint Simon als Protagoniſten einer durch Proudhon, 
Marx, Laſſalle und Rodbertus gekennzeichneten Szenerie. Um— 
wertung der Werte im Geſellſchaftsweſen, Emanzipation und 
Völkerfrieden ſind die Parolen, nach denen Adam Smith, 
Stuart Mill, Wilberforce, Frederic Paſſy die großen Egois— 
men neu orientieren. 

Und die Künſtler? ſie, die uns über peinliche Erdenſchwere 
hinweg zur intelligibeln Welt heben? Nur mit Zagen gehe 
ich an dieſen Katalog, der mir, wie ich ihn auch entwerfe, 
den Vorwurf eines falſch eingeſtellten Geſichtswinkels ein— 
tragen muß. Gewiß nicht um derentwillen, die genannt wer— 
den ſollen, als wegen der Köſtlichen, die vermöge ihrer Fein- 
heit durch das weitmaſchige Netz dieſes Planes gleiten. Die 
Adler werden drin bleiben und die Nachtigallen entflattern. 
Wie viele ſind nicht zu internationaler Bedeutung gediehen 
in der internationalen Tonkunſt, die ganz auf die Neuzeit ge⸗ 
ſtellt, in knapper Spanne dreier Jahrhunderte an Fülle der 
Genies alles nachgeholt hat, was die Jahrtauſende ihr ver— 
ſagten! Den Parnaß kann man mit ihnen dicht beſiedeln, 
nicht aber dieſe unzarte Liſte, die weniger nach Entzückungen 
fragt als nach fortwirkender Tat, nach Einfluß auf weitere 
Geſtaltungen. Kein Widerſpruch kann ſich erheben, wenn 
Bach, Gluck, Mozart, Beethoven und Richard Wagner hier 
als richtende Prinzipe aufgeſtellt werden. Wohl aber könnte 
die Einrede gelten, wenn ich Meyerbeer und Mendelsſohn 
nenne, dagegen Gounod auslaſſe, wenn ich Johann Strauß 
und Offenbach feſthalte, dagegen Auber, Boieldieu, Lortzing 
übergehe. Die Einrede könnte und müßte gelten, wenn es 


261 


ſich geradewegs um Kritik der Leiſtungen handelte. Aber hier 
befinden wir uns in dem beſonderen Fall, daß wir nur Muſik— 
materien wägen dürfen, alſo nur Empfindungen, die blei— 
ben, unabhängig von den klanglichen Einkleidungen, in denen 
fie zuerſt auftraten. Weber, Schumann, Chopin, Verdi, Roj- 
ſini, Liſzt, Berlioz, Brahms, R. Strauß gehören zu den Er- 
weiterern, zu den Befruchtern, manch einer, dem ich den gött— 
lichen Funken nicht beſtreiten möchte, wie Rubinſtein, Tſchai⸗ 
kowſky, Max Bruch, Saint-Saöns, Bizet, zu den Befruch- 
teten. Man ſuche nicht weiter nach klangvollen Namen. 
Nichts wäre mir leichter, als die ganze Ehrenlegion der be— 
rühmten Meiſter hier antreten zu laſſen, von Paleſtrina bis 
Mascagni. Aber eingekeilt zwiſchen ſubjektivem und objek— 
tivem Zwang, zwiſchen perſönlicher Neigung und einem vor— 
geſteckten Programm, kann ich über jene Minderzahl nicht 
hinaus. 

Und in noch ärgere Bedrängnis gerate ich bei den bildenden 
Künſten. Hier wollen mir ſtreng genommen nur ganz wenige 
einleuchten, in die alle Bedingungen unſerer Statiſtik reſtlos 
aufgehen, von Donatello aus gerechnet: Verrocchio, Mi— 
chelangelo, Raffael, Lionardo, Rembrandt, Valesquez. Jeder 
Atlas der Kunſtgeſchichte kann mich mit den Schwergewichten 
von Bramante, Tizian, Rubens, Frans Hals, Holbein, Dü⸗ 
rer und hundert Modernen auf der Stelle erſchlagen. Ich 
müßte ſtillhalten, denn welcher bildende Künſtler wird es mir 
glauben, daß im Zuge unſerer Betrachtung das Differential, 
das Atom oder die Erfindung der Logarithmen durch Napier 
wichtiger iſt als manche Galerie und Kathedrale? 

Ungleich größere Energien ſtrahlen von der ſchönen Lite— 
ratur aus, und wo ſie ſtrahlen, da finden fie in Millionen 
drucken einen Multiplikator, der ihnen eine unendliche An— 


262 


griffsfläche jedem Bildungsbedürfnis gegenüber verfchafft. 
Um die Wunder der Tribuna zu genießen, muß der Kultur— 
genoſſe nach Florenz pilgern, aber den Fauſt und den Hamlet 
weiß er auswendig, und das Wort iſt ihm in jeder Sekunde 
gegenwärtig. Durch alle Sprachverſchiedenheiten hindurch 
ſchlägt hier das Weltbürgertum des Gedankens, und genau 
wie Kopernikus und Galilei ſind Dante, Boccaccio, Cervan— 
tes, Vega, Calderon, Rabelais, Shakeſpeare, Moliere, Goethe 
und Schiller Weltpropheten geworden; ihnen zunächſt Leſ— 
ſing, Wieland, Byron, Swift, Edgar Poe, Victor Hugo, 
E. T. A. Hoffmann, Heine, Gobineau, Tolſtoi, Ibſen, Zola, 
Doſtojewsky —, um nur diejenigen vom Campo Santo zu 
nennen, die ich ſelbſt als völlig ſichere und fernhin wirkende 
Originalgrößen empfinde. 

Ich ſelbſt. Damit ſei am Schluß wie am Anfang betont, 
daß dieſes Regiſter ſehr viele Löcher hat, haben muß, aber 
vielleicht einige weniger als die Diplomliſte der Decandolle 
und Pickering. Wünſchenswert wäre es, wenn recht viel ab— 
weichende, mit anderen Subjektivurteilen geſättigte Liſten 
aufgeſtellt würden; es müßte ſich dann früher oder ſpäter 
eine Ausgleichsrechnung ergeben, die zwiſchen den Fehlern 
hindurch die Querlinie einer gewiſſen Zuverläſſigkeit erreicht. 

Das Endergebnis meines Kataloges iſt ſchnell hingeſchrie— 
ben. Ich ermittle für Deutſchland reichlich hundert, für 
Frankreich und England rund je ſechzig Einheiten. In wei— 
tem und weiteſtem Abſtande folgen Italien, Niederlande, 
Skandinavien, Rußland, Vereinigte Staaten, Schweiz, Py— 
renäiſche Halbinſel, die zuſammen erſt ungefähr fünfzig 
Punkte ergeben. Die Rechnung wird vielen Nichtdeutſchen 
mißfallen. Aber ſie ſtimmt eigentlich nicht übel zu einigen 
Komplimenten, die uns die Rivalen über die Grenze geſchickt 


263 


haben. Das Wort vom Volk der Dichter und Denker ſoll 
für Germanien gelten, iſt aber in England (von Bulwer) ges 
münzt worden. „Friedrichs Staat, der einzige Staat, der 
einen geiſtreichen Kopf ernſtlich beſchäftigen kann“, ſagt Mi⸗ 
rabeau; „Die germaniſche Raſſe, die höchſtſtehende“, ſagt 
Gobineau; „Die deutſche Literatur die erſte in Europa“, „Die 
Deutſchen, das iſt zweifellos, haben ſeit der Mitte des acht— 
zehnten Jahrhunderts eine größere Anzahl tiefer Denker als 
irgendein anderes Land, ich könnte vielleicht ſagen, als alle 
anderen Länder zuſammengenommen, hervorge— 
bracht“, ſagt Buckle, der in Angelegenheiten der „Zivili— 
ſation“ ziemlich gut beſchlagen war. Für die obige Bilanz iſt 
es jedenfalls nicht unvorteilhaft, daß die Zahl in der Mei 
nung, die Majorität in der Autorität — und in was für einer 
Autorität! — Schutz und Deckung findet. 


264 


Dom hohen Berge 


Zu den Dingen, die in einem Kriege und in feinen Nach— 
wirkungen nicht „geſtreckt“ werden, gehört das Reiſen. 
Berufene Federn haben erörtert, wie die Verengung des 
Reiſehorizontes eine Vertiefung des Reiſezweckes bewirken 
wird, wie wir zahlloſe Herrlichkeiten des Vaterlandes ent⸗ 
decken werden, die wir vordem vernachläſſigten, um den 
Bädekerſternen des Auslands nachzujagen. 

Aber jenſeits ſolcher Betrachtungen liegt eine andere, die 
vom Reiſezweck auf die Reiſenotwendigkeit übergreift und 
über der Behaglichkeit einer Sommerfriſche, über der Se— 
henswürdigkeit von unterwegs ein erhöhtes Ziel wahrnimmt. 
Auf dem Grunde dieſer Betrachtung liegt ein Lebensproblem, 
das an die tiefſten Geheimniſſe der erlebenden und emp- 
findenden Seele rührt. Man kann ihm nur nahekommen, 
wenn man zwei Gedankengänge einſchlägt, deren Ergebniſſe, 
ſcheinbar unabhängig voneinander, dennoch aufeinander 
wirken, wie die Pole einer Batterie. Zwiſchen ihnen wird 
plötzlich mit großer Leuchtkraft ein Funke der Erkenntnis 
überſchlagen. 

Wir ſtellen uns zuerſt eine Gebirgsreiſe vor. Ein Gefühl 
der Romantik klingt in uns auf. Die Höhe, als die dritte 
Dimenſion, tritt in unſere Erfahrung, die ſich ſonſt im 


265 


Dunſtkreis des Alltags ausschließlich als ein Gebilde der 
Fläche entwickelt. Die Bergwelt bricht dieſen Bann. In⸗ 
dem ſie uns die dritte Dimenſion zum Einfühlen, Höhe 
und Tiefe zum Durchkoſten liefert, löſt ſie in uns die eigene 
Körperlichkeit, die danach verlangte, ſich aus planimetriſcher 
Gefangenſchaft zu befreien. Die Welt des Erlebens, die da 
unten ein Bild war, empfängt Relief, erſcheint uns plöß- 
lich wie ein körperhaftes Kunſtwerk, in deſſen Abmeſſun— 
gen wir unſere Leiblichkeit wiedererkennen. Was uns an 
einem großartigen Bauwerk, an einem himmelſtrebenden 
Dom im Innerſten ergreift, iſt, auf die Grundformel ge— 
bracht, die Überwindung der Schwerkraft. Wenn wir ſelbſt 
ſteigen, ſelbſt den Bruch mit der drückenden Verordnung 
der Erdenſchwere vollziehen, durchſtrahlt jene Kunſtempfin⸗ 
dung unſeren ganzen Organismus. Wir blicken auf den 
Flächenmenſchen, wie dieſer auf ſeinen eigenen Schatten. Es 
iſt das kosmiſche Gefühl der vollendeten Raumerfaſſung, 
was wir ſonſt mit dichteriſchen Umſchreibungen als Schön— 
heit der Gebirgswelt, als Ausſicht, Rundblick und Pano— 
rama preiſen. 

In den zweiten Gedankengang biegen wir mit der Frage 
ein, ob wir denn ein Organ beſitzen, das den Raum un— 
mittelbar zu erfaſſen vermag. Die Antwort ſcheint ſich als 
ſelbſtverſtändlich zu ergeben: unſere geſamte Leiblichkeit, in— 
ſonderheit der Taſtſinn, — und das Auge, — jo meint man 
wohl obenhin — ſtellen hierfür die geeigneten Werkzeuge. 
Aber das wäre ein Trugſchluß, der den Raum als ſolchen 
mit dem verwechſelt, was ihn erfüllt. Hier aber, wo es 
ſich wirklich nur um die Dimenſion handelt, verſagen jene 
Sinne vollſtändig, ſie beſitzen nicht die Fähigkeit, den reinen 
Raum wahrzunehmen, und wenn ſie dem Verſtand erzäh— 


266 


len, was fie davon wahrgenommen haben, fo liefern fie ihm 
nur dürftige Überſetzungen, nicht das Original ſelbſt. 

Aber ein anderes Organ — das Ohr — tritt mit einem 
neuen Anſpruch hervor. Es meldet ſich mit der ſeltſamen 
Behauptung, daß es imſtande ſei, den Raum ſinnlich zu er⸗ 
faſſen und ihn dem Menſchen originalgetreu zu übermitteln. 
Wenn du beim Reiſen, beim Steigen ein Luſtgefühl ver— 
ſpürſt, ſo redet das Ohr zur Perſönlichkeit, — wenn du 
dich in den Raum wirfſt und zugleich den Raum als ein 
Durchflutendes in dich aufnimmſt, ſo liegen die Wurzeln 
dieſer Luſt ganz anderswo als du vermuteſt: nicht im Auge, 
das dir kinematographiſche Bilder abrollt, nicht in der Über— 
legung, die dir Kilometer vorrechnet, ſondern im Ohr, als 
dem einzigen Raum⸗-Organ, das dir die Natur verliehen hat. 

Iſt der Raum alſo hörbar? nicht zu erſehen, dafür aber zu 
erhorchen? Wir werden uns wohl entſchließen müſſen, dies 
anzunehmen, ſeitdem einer der ſchwierigſten und ſcharfſinnig— 
ſten Tierverſuche das Labyrinth im Ohr als den wahren 
und einzigen Sitz der Raumempfindung über jeden Zwei— 
fel hinaus aufgezeigt hat. Kein anderes Organ vermag mit 
ähnlicher Leiſtung dem Ohr auf ſeiner Wanderung zu folgen. 
Und da das Ohr auf der Wanderung auch hört, die Welt— 
geräuſche in ſich aufnimmt, ſo ergänzen wir: 

Das Reiſen, inſonderheit das Reiſen zur Höhe, iſt ein 
ſymphoniſches Erlebnis. Jenſeits der durch grobe Meß— 
werkzeuge erkundbaren Klänge gibt es ein kosmiſches Rau— 
ſchen, das ſich der Tiefe des Gehörs ankündigt und von ihm 
als eine Raumvorſtellung verarbeitet wird. Dem Lichte des 
Weltalls verwandt iſt dieſes Weltgetön eine Grundbedingung 
unſeres Daſeins. Und unſer Trieb, den Ort zu wechſeln, uns 
in die Höhe zu ſchwingen, iſt im letzten Grunde nur die 


267 


Sehnſucht nach jenem himmliſchen Konzert, das auf den drei 
Dimenſionen des Raumes ſpielt. 

Goethe hat das gewußt und ſein Wiſſen in Hörbildern und 
Sehklängen niedergelegt: „Die Sonne tönt nach alter 
Weiſe“ — „Welch Getöſe bringt das Licht!“ Was feiner- 
zeit Geheimwiſſen war, könnte dereinſt Weltkunde werden: 
ins Hochgebirge reiſen heißt: dem tönenden Lichte zuſtreben! 
Unabhängig von Laune, Mode und Zerſtreuungsbedürfnis iſt 
es eine Lebensnotwendigkeit, die ſich auf einer gewiſſen Stufe 
der Organiſierung unter allen Umſtänden durchſetzt. 

Sie wird aber dereinſt ihre unbeſiegliche Kraft nicht nur 
an Einzelweſen erproben, ſondern an Gemeinſchaften. Heut 
fragt der banggeſtimmte Reſt der Weltbürgerlichkeit, ob es 
wohl überhaupt noch möglich ſei, die zerſplitterten Scherben 
der Internationalität, der Weltwiſſenſchaft, der Weltkunſt 
wieder zur Einheit zu fügen. Der hohe Berg weiß die tröſt— 
liche Antwort. Nicht für heut, nicht für eine Kriegsdauer, 
aber für die Friedenszukunft. Die Welt, die Internationali⸗ 
tät und der hohe Berg können warten. Er bietet keinen allzu 
breiten Aufenthalt auf feiner bevorzugten Spitze, deſto ſiche— 
rer weiß er, daß ſich auf ihr diejenigen zuſammenfinden wer⸗ 
den, auf die es ankommt. Und bei ihnen wird ein moderner 
Zarathuſtra ſtehen, mit einer modernen Bergrede, — voraus⸗ 
geſetzt, daß auch Philoſophen umlernen können. 

Denn Nietzſches Geſandter durfte ſprechen: „Wer auf die 
höchſten Berge ſteigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und 
Trauer⸗Ernſte.“ Der neue Zarathuſtra wird nicht lachen, 
noch weinen, allenfalls lächeln über die Kurzſichtigen, die 
ſorgenvoll meinen, ein Fluß der Entwickelung ließe ſich mit 
irgendeiner trennenden Schere entzweiſchneiden; jenem Wan⸗ 
derburſchen an Einſicht vergleichbar, der auf dem Reifträger 


268 


u Dear ee 


Bi die Elbquelle mit der hohlen Hand aufhielt und dabei rief: 


Was werden ſich die in Hamburg wundern, wenn dort die 


Eibe ausbleibt! 


Der neue Zarathuſtra wird ſagen: Dem Trieb nach Raum⸗ 
erfaſſung und der Sehnſucht nach dem Klingen des Welt— 
alls gehorchen ſie alle, die hier heraufkommen. Die nach 
alter Weiſe tönende Sonne hat ſie emporgezogen, und die 
Sonne iſt international. 

Dieſer Franzoſe, Engländer, Ruſſe, Italiener wollte nicht 
mehr nach Deutſchland; ſie werden den Weg dahin wiederfin— 
den, nachdem ſie den Weg hier herauf gefunden haben. Eine 
Stimmung beherrſcht ſie hier alle. Gleichgültig iſt es, ob der 
Gipfel Pilatus heißt, oder Gornergrat oder ſonſtwie. We⸗ 
ſentlich, daß er ein Gipfel iſt, der über flächenhaftes Getriebe 
und flächenhaftes Denken hinausragt. 

Von den Firnen und Gletſchern dort drüben löſen ſich 
Wildbäche, die zu Strömen werden, der großen Flut zueilen, 
die wiederum verdampft und dem hohen Berge ihren Wol— 
kengruß ſendet. Und in den ewigen Kreislauf, der keinen 
Anfang kennt und kein Ende, der alle Grenzen auslöſcht, 
fühlt ſich der Hochwanderer unmittelbar eingeſponnen. 

Allem Weltgeſetzlichen fühlt er ſich näher. Er braucht nicht 
den Wortlaut der Keplerſchen Geſetze zu kennen, noch die 
Himmelsmechanik der Kopernikus, Newton, Kant, Laplace 
zu verſtehen; aber er ſpürt, daß ſich hier das Unbegreifliche 
mit dem Begriffenen vermengt; und daß Internationales am 
Werke ſein mußte, um das Begriffene zu ſchaffen, das ſpürt 
er auf dem hohen Berge, wo er dem Weltgeiſt näher iſt als 
in der Tiefe. 

Nietzſches Zarathuſtra durfte ſagen: „Ich bin ein Wan⸗ 
derer und ein Bergſteiger; und was mir nun auch noch als 


269 


Schickſal und Erlebnis komme, — ein Wandern wird darin 
ſein und ein Bergſteigen: man erlebt endlich nur ſich ſel— 
r 

Unſer Höhenmenſch weiß und fühlt es anders. Er ſteigt 
auf den hohen Berg, erſtlich um ſich ſelber, dann aber — und 
dies wird zur Hauptſache —, um in ſich die Menſchheit zu 
erleben! 


Artur Fürſt und Alexander Moszkowski 


Das Buch der 1000 Wunder 


Umſchlag⸗ und Einbandzeichnung von Lucian Bernhard 
20. Auflage. 


Preis geheftet 6 Mark, gebunden 8 Mark 


Voſſiſche Zeitung, Berlin: Ein vielſeitiges, reichhaltiges und amüſantes 
und dabei ein ernſtes Buch. Die Verfaſſer treten völlig unvoreingenommen 
und objektiv an ihr Problem heran. . .. Sie fordern weder Glauden noch 
Skepſis; ſie geben keine Werturteile ab, ſondern ſtellen lediglich feſt auf Grund 
einwandfreier Berichte, deren Kritik ſie den Leſer überlaſſen. So kann ein jeder 
das Buch nach ſeiner Faſſon leſen und ein jeder kann darin die Beſtätigung 
ſeines Glaubens oder ſeiner Zweifel finden. Wer gern Anekdoten, amüſante 
und erſtaunliche Geſchichten erzählt, dem bietet ſich in dieſem Buche eine Fund⸗ 
grube, der gegenüber die berühmteſte Aneldotenſammlung verblaßt. Wer Ideen 
ſucht, der findet ſie hier dutzendweiſe. Wer ſich und andere gerne gruſeln macht, 
kommt ebenſo auf ſeine Rechnung wie einer, der gerne durch anſcheinende, 
aber unwiderlegbare Unmöglichkeiten verblüfft. Aber über dieſe leichte Unter⸗ 
haltungsform hinweg leitet das Buch unmerklich zu einem großen gläubigen 
Staunen, das in der Mücke kein geringeres Wunder ſieht als in der „Raum⸗ 
zeitwelt“ der Relativitätstheorie, und das unmittelbar einführt in das eine 
große Wunder des Lebens. 


Züricher Poſt: Wer die Lektüre dieſer „tauſend Wunder“ begonnen hat, 
kommt nicht mehr davon los; in überaus klarer und anſchaulicher Darſtellung, 
doch immer auch kritiſch beleuchtet, werden uns da die Wunder des Mikrokos⸗ 
mus und Makrokosmus, der phyſiſchen und ſeeliſchen Kräfte vorgeführt. 
Das Buch iſt faſt unerſchöpflich reich an Unterhaltung und Belehrung und 
wird jedem, der es lieſt, ein köſtlicher Beſitz werden. 


Neues Wiener Tagblatt: . . . So erſcheint uns dieſes lehrreiche und 
ſchöne Buch als ein Heldenepos der ganzen Menſchheit und läßt tiefe Sehnſucht 
in uns aufwachen nach jenen Tagen, in denen unſre Kraft und Erfindungsgabe 
nicht mehr auf ſinnloſe Vernichtung, ſondern auf den Ausbau des herrlichen 
Wiſſensbaues gerichtet iſt, der ein Tempel aller Menſchen auf dieſer Erde iſt. ... 
Jedenfalls iſt es ein ſehr intereſſantes Buch, das in vielen kleinen Abſchnitten, 
die äußerſt merkwürdige Dinge mitteilen, eigentlich das Ziel des unter andern 
Sprüchen vorgeſetzten Satzes Leſſings verfolgt: „Der Wunder höchſtes iſt, daß 
uns die wahren, echten Wunder ſo alltäglich werden können, werden ſollen.“ 


Verlag von Albert Langen in München 


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