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= Sprung über den halten
| =: u ungen ka ne
NN
Presented to the
LIBRARY of the
UNIVERSITY OF TORONTO
by
Peter Kaye
Digitized by the Internet Archive
in 2010 with funding from
University of Toronto
http://www.archive.org/details/dersprungberde00mosz
n
er Sprung über den Schatte
Im gleichen Verlag erſchien:
Das Buch der 1000 Wunder
von
A. Fürſt und A. Moszkowski
Zwanzigſte Auflage
Der Sprung über den Schatten
Betrachtungen auf Grenzgebieten
von
Alexander Moszkowski
Albert Langen, München
LIBRARY
Copyright 1917 by Albert Langen, Munich
Druck von Heſſe & Becker in Leipzig
Einbände von E. A. Enders, Leipzig
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Inhalt
Zum Geleit
Die ewige Wiederkunft. 8
Das Geheimnis der großen Zahl
Das Laboratorium des Lukrez
Die entlarvte Natur .
Das Glück in mathematiſcher Beleuchtung
Der Projektilzug i
Zwiſchen Bergſon und dias
Zufunftsfing . \
Klavier und Maſchine
Ein verlorenes Paradies
Wo ſitzt die Kultur
Wie groß iſt die Welt?
Die Annäherung
Der Alpdruck
Die Hemmung und die Förderung 8
Gedanke, Blitz und Chronometer
Der unſterbliche Cajus.
Das Relativitätsproblem
Die Heimat der Größen
Vom hohen Berge
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Zum Geleit
„Wenn Gott in feiner Rechten alle Wahrheit, und in ſei⸗
ner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit,
obſchon mit dem Zuſatze, ſich immer und ewig zu irren,
verſchloſſen hielte, und ſpräche zu mir: Wähle! — ich fiele
ihm mit Demut in ſeine Linke und ſagte: Vater, gib! Die
reine Wahrheit iſt ja doch nur für dich allein!“
In dieſem Wort unſeres Leſſing liegt der Vorſpruch für
jedes Beginnen des Verſtandes, der nach fernen, fliegen—
den Zielen hinſtrebt; den die Unendlichkeit eines Weges nicht
davon abſchreckt, ihn zu beſchreiten. Seine Lockungen ſind
das nie zu erreichende, nie zu vollendende, das Jenſeitige,
das von keinem Diesſeitigen an magnetiſcher Kraft über—
troffen wird.
Für dieſes Streben beſitzen wir ein einfaches, ſeit Urzeit
bekanntes Symbol: Den Sprung über den eigenen
Schatten.
Ob der Denker des Altertums am fliegenden Pfeil hin-
ter das Geheimnis der Bewegung zu kommen ſucht, ob
er das All in das Nichts der Atome auflöſt, ob ein Gali⸗
lei das Buch der Natur in Kreiſen und Dreiecken entſiegeln
will, ja wo immer in der Erſcheinungen Flucht ruhende
Pole geſucht werden, — die Gedankenbewegung iſt und
9
bleibt der Schattenſprung; — ausſichtslos, wenn man auf
ein in feſter Lehre vortragbares Endergebnis rechnet, —
notwendig und verheißungsvoll im Sinne der Anſtrengung
des Gedankens, der es immer wieder mit Luſt unternimmt,
über die Unmöglichkeit hinwegzugelangen.
Man könnte auch andere Bilder und Gleichniſſe heran—
ziehen: Das Emporziehenwollen der Leiter, auf deren
Sproſſe man ſteht, das Verlangen des Gehirnes, ſich ſelbſt
unter die Lupe zu nehmen. Tröſtliche Unmöglichkeiten; tröſt⸗
lich, weil auch aus ihnen ferne blitzende Lichter entgegen—
ſchimmern: hat es doch in unſeren Tagen ein Forſcher, Carl
Ludwig Schleich, ausgeſprochen, daß eine Hälfte des Ge⸗
hirns die andere in jedem Moment zu beobachten imſtande
ſei! Bisweilen will es wirklich ſcheinen, als ob in derartigen
Verſuchen, das Unvollendbare zu vollenden, Anſätze einer
Möglichkeit liegen könnten.
Tatſächlich werden durch ſie Dinge erſchloſſen, die zum
Rauſch hoher Entdeckerfreude berechtigen. Bis wir wahr⸗
nehmen, daß auch hier nur Endlichkeiten gegen Unermeß—
liches ins Treffen geführt werden. Nichts anderes hat ſich
eingeſtellt, als ein neues fliegendes Ziel. Auch die beob—
achtende Gehirnhälfte macht den Sprung über den Schat—
ten, wie ſonſt das Gehirnganze. Es bleibt beim „Als Ob“,
bei Dingen, die auf ewig zur Fiktion, zur Hypotheſe, zur
gedanklichen Unmöglichkeit verurteilt ſind, und die den—
noch zu Herrlichkeiten geführt haben, die den Stolz der
Wiſſenſchaften ausmachen; dafür zeugen, um aus entlegenen
Gebieten nur einige wenige zu nennen: die neueſte Atom—
lehre, die Infiniteſimalrechnung, die Relativitätstheorie.
Das „Ignorabimus“, das einſt Dubois-Reymond in die
Welt hinausſchrie, bleibt der verhaltene Unterton in den
10
Bekenntniſſen aller Forſcher und Denker, die da wiſſen, daß
ſie vorwärtskommen, ohne ſich dem großen Unbekannten
zu nähern. In einer ungeheuren Springprozeſſion bewegen
ſie ſich, die von Beobachtung zu Beobachtung, von Denk—
akt zu Denkakt den Sprung über den Schatten wiederholt,
über den Schatten, der Wiſſen von Nichtwiſſen trennt, über
den eigenen Schatten, der dazwiſchen liegt. Letzten Endes
ſteckt alles in der Zwangsläufigkeit, deren lückenloſe Macht
uns anhält, den Schatten trotz alledem mit liſtigem Anſatz
für überſpringbar zu halten, das Als Ob für Augenblicke
gleichzuſetzen dem: So iſt es! Zwar, über den Schatten
kommen wir dabei nicht hinweg und dem Horizont nicht
näher; aber wir gewahren dabei eine Vielfältigkeit der Ho—
rizonte, die ſich demjenigen verſchließt, der gar nicht ſprin—
gen will.
Wir gelangen aus Ausſichtsſtellen, an beſtimmte Punkte
des Denkweges, die uns ungeachtet der fatalen Schatten—
gefolgſchaft als bemerkenswert erſcheinen. Wir fangen an,
abzumeſſen und entdecken uns auf ſeltſamen Gebieten. Und
auf dieſen Gebieten ſtarren uns, immer im gleichen Hori—
zontabſtand, Probleme entgegen.
Wiederum ſetzt eine Zwangsläufigkeit ein, die uns ver—
bietet, dieſe Probleme einfach mit müdem Verzicht anzu—
blicken, vielmehr uns zwingt, vorübergehend einen Zuſtand
zwiſchen lösbar und unlösbar anzunehmen. Wir geraten in
eine Hochſtimmung des Denkens, die vom Reiz der Be—
wegung ausgeht und in dem Gefühl mündet: Hier iſt es
anders! Der mit Problemen umſtellte Umkreis ſieht an—
ders aus; ja vielleicht ſpielt hier ſogar der leidige Selbſt—
ſchatten eine andere Rolle.
Wir befinden uns auf Grenzgebieten von ſchwer be—
mi
ſtimmbarem Charakter; auf Hochebenen, die das Verdun-
ſten auch des Unkörperlichen begünſtigen. Im Hirn und
in den Nerven entwickeln ſich Zuſtände, die ins Erahnen
hinüberſpielen. Selbſt aus der Logik mit ihrem geſchloſſenen
Aufbau von Folgerungen und Schlüſſen ſcheinen Reſte der
Erdenſchwere zu verſinken. Das innere Auge gewinnt blitz—
artige Zuckungen, als könnte es röntgenſtrahlig in das Außen
dringen. Jener Kreis erſcheint uns wie eine Phantaſiefigur,
die ſich in rieſigem Bogen um das Alltägliche ſchwingt, zwi⸗
ſchen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten hindurch.
Neue Schattenbilder zeichnen ſich ab: Die Schatten der
Probleme, die dem ahnenden Auge erkennbar werden, wie
ſie ſich über die Flächen der Grenzgebiete hinwerfen. Und
die Luſt überfällt uns, an den Grenzlinien dieſer Schatten
hinzuſchreiten. Ohne bildhaften Ausdruck: Wir ſchlagen The⸗
men an, die ſich einer ſyſtematiſchen Behandlung ſonſt ent⸗
ziehen, aber doch zugänglich werden, wenn wir uns nur
entſchließen können, auf meſſerſcharfe Definitionen und Be⸗
weiſe zu verzichten. Nicht wie die in der Höhle eingeſpon—
nenen Menſchen bei Plato wollen wir Schatten betrachten:
auf freier Höhe, in offenen Grenzländern mit verfließenden
Umriſſen ſchauen wir ſie an; aus ihren Linien wollen wir
etwas von der Wahrheitsſonne erahnen, die ihren Eigen—
glanz verbirgt, aber doch durch Schatten verrät.
Wunderbares begibt ſich. Aus Wirbeln widerſtreitender
Denkſtrebungen wagen ſich Einſichten empor, die, obſchon
mit allen Zweifeln durchtränkt, uns mit Seligkeiten be—
ſtürmen; Bergpredigten des Denkens, in denen noch andere
Beweiſe gelten, als die in den Lehrbüchern erhärteten und
erftarrten. Und mit Wonne pflücken wir an den Schatten—
linien gewiſſe Blüten abenteuerlicher Formung, wenn auch
2
der Botaniker mit dem Schulatlas in der Hand daneben
ſteht und uns erklären will: ſolche Blüten gibt's ja gar
nicht!
*
Wäre ich imſtande, das Weſen dieſer Grenzgebiete klar
aufzuzeigen und exakt zu beſchreiben, ſo hielte ich wohl die
Schlüſſel zu einigen letzten Fragen in Händen. Wie die
Dinge liegen, will ich ſchon zufrieden fein, wenn es mir ge—
lingt, meinen Leſern eine Ahnung von der Exiſtenz ſolcher
Gebiete zu vermitteln; eine Ahnung von der Möglichkeit
gewiſſer Denkfelder, die gleichzeitig vielen Diſziplinen an-
gehören und keiner, wo Leben und Kunſt mit Phyſik und
Metaphyſik, mit Mathematiſchem und Erkenntnistheoreti—
ſchem in einem Nebel zuſammenfließen und die Nadel jedes
Kompaſſes, dem du dich anvertrauen möchteſt, wirbelnd im
Kreiſe herumſchwingt.
Aber nicht auf die beſtimmbare Richtung, ſondern auf
die Freiheit der Bewegung kommt es an, und dieſe bleibt
gewährleiſtet: denn dieſes herrenloſe Grenzgebiet iſt größer
als alle Gelände, die von der angebbaren Wiſſenſchaft und
Kunſt feſt beſiedelt ſind. Und es lohnt ſich ſchon, einmal
darauf zu ſpazieren, ſchon um der Geräumigkeit willen, die
es uns eröffnet. Es iſt ein Gebiet für die Intuition, deren
Reize und Macht, lange verkannt, heute mehr und mehr
zur Geltung gelangen.
Freilich fehlt es da auch nicht an Gegenſtimmen, und
unter ihnen gibt es mißtönende. Kritik wird geübt an For⸗
ſchungswegen, die von den Sohlen fremdländiſcher Denker
berührt wurden. Und dabei werden Bereiche in die Be—
trachtung gezogen, die von den Dingen, wie ſie uns hier
13
vorſchweben, weltenweit entfernt liegen. Es erfcheint ges
boten, die Grundverſchiedenheit dieſer Bereiche beſonders zu
betonen, da die vorliegende Schrift uns auch mit ſolchen
Fremdbürtigen in Beziehung ſetzen wird:
Ich betrat die „Grenzgebiete“ zu allererſt in einer Zeit,
die zu innerer Sammlung Muße gewährte, als noch keine
Glocke Schickſalsſtunde läutete, noch keine Fanfare dem
Weltkrieg voraustönte. Wir alle haben ſeitdem ſehr viel um—
gelernt, neue Werte gepflanzt, alte entwurzelt, und ſo mußte
ich auch gewiſſe Anſchauungen nachprüfen, die hier als Lehr—
meinungen vorgetragen und beurteilt werden. Dieſe Anſchau—
ungen ſetzen voraus: den ewigen Kampf der Geiſter, nicht
minder aber auch den von äußeren Fehden unberührten Burg—
frieden innerhalb der Wiſſenſchaft und Kunſt. Ich bekenne
alſo, daß für mein tiefſtes Bewußtſein das alte Ideal des
unverbrüchlichen Zuſammenhanges aller Denkforſchung und
Kunſtgeſtaltung noch fortlebt; ragt hier irgendwo ein poli—
tiſcher Schatten hinein, ſo muß dieſer zu allererſt überſprun—
gen werden. Wer könnte ſein Vaterland lieben, ohne ihm
alle kosmiſchen Fernblicke zu wünſchen? wer wollte ſich von
dem Grundbekenntnis trennen, daß nichts ſo ſicher die Ge—
walt vaterländiſchen Geiſteslebens verbürgt, wie die Weite
ſeiner Horizonte, daß jedes Übergreifen der Verbitterung auf
das Neutralgebiet der Einſicht und der muſiſchen Formung
dieſe Horizonte verengen müßte?
Wenn ich aber außerſtande bin, eine völkiſch abgeteilte
Wiſſenſchaft unter die ſinnvollen Möglichkeiten zu rechnen,
mir eine auf Landesfarben abgetönte Phyſik, Aſtronomie,
Algebra vorzuſtellen, ſo darf ich mich auch nicht dazu ver—
ſtehen, rein kritiſche Erörterungen über fremde Forſcher nach
neugewonnenen politiſchen Erfahrungen nachträglich umzu—
14
färben. Dies gilt beiſpielsweiſe in Anſehung einer Perſön—
lichkeit, von deren Leiſtungen auf dieſen Blättern die Rede
iſt, in der Abhandlung „Zwiſchen Bergſon und Laplace“.
Im Verlauf des Krieges hat es Bergſon über ſich gewonnen,
aus den Hochebenen der Erkenntnis herabzuſteigen in die
Niederungen, wo die Sphärenharmonie verſtummt und der
Lärm regiert. Begäbe ſich mein Buch auf ähnliche Gebiete,
ſo würde ich ihm die zweckdienliche Antwort nicht ſchuldig
bleiben. Aber in dieſer Schrift bin ich lediglich Erkenntnis—
theoretiker und darf mein Urteil über Ergebniſſe der Berg—
ſonſchen Lehre ebenſowenig abändern, wie meine Anſicht von
der Darwinſchen Theorie, den Geſetzen Newtons oder der
Geometrie des Descartes. Möge er ſelbſt ſeine Schwenkung
vor ſeinem Gewiſſen verantworten, er, der doch auch deut—
ſchem Denken ſo viel verdankt, er, der vordem ſelbſt ſo eifrig
am weltbürgerlichen Garn geſponnen hat und — beiläufig
bemerkt — in einem an mich gerichteten Briefe auch meine
eigenen Studien als für ihn wertvolle und neue Blicke ver—
heißend in Ausſicht nahm. Gehört die Verleugnung fortan
etwa zum Weſen des Bergſonismus, ſo bleibe ſie auf ihren
Herd beſchränkt. Ihr Übergreifen auf andere wäre eine Ge—
fahr, ihre Rückwirkung auf früher gewonnene Ergebniſſe ein
philoſophiſcher Widerſinn. Ich habe daher der erwähnten
Abhandlung das Fortbeſtehen auf Grenzgebieten geſtattet,
ohne dem Groll die Befugnis eines Zenſors einzuräumen.
Ich will aber auch mit dem Bekenntnis nicht zurückhalten,
daß dieſes Buch von dem, was mir auf der Feder ſaß und
ſitzt, nur Stichproben gibt; nämlich genau ſoviel, als ſich
mir bis heute einer allgemein volksverſtändlichen Einkleidung
fügen wollte. Das Maß dafür konnte mir nicht verloren
gehen. Ein Teil der Aufſätze erſchien zuerſt vor einem Teil—
15
77
*.
N
nehmerkreis, der mir aus der Entfernung in den Arm ge:
fallen wäre, wenn ich mich in meinen Betrachtungen allzu⸗
ſehr ins Schwierige verloren hätte. So iſt das Ganze, wie
ſchon angedeutet, kein Syſtem geworden, ſondern eine loſe
Folge von Anſagen auf Feldern mit wogenden Schatten und
huſchenden Lichtern.
16
Die ewige Wiederkunft
Wirbeltanz der Atome
Vor einem Menſchenalter war es, in Sils-Maria. Zwi⸗
ſchen Weinen und Jauchzen fühlte ſich Friedrich Nietzſche von
einer neuen Offenbarung entbunden, der bedeutſamſten ſei—
nes Denkerlebens: „Wenn dieſer augenblickliche Zuſtand da
war, dann auch der, der ihn gebar, und deſſen Vorzuſtand
und ſo weiter zurück; daraus ergibt ſich, daß er auch ein
zweites, drittes Mal ſchon da war, ebenſo, daß er ein zwei—
tes, drittes Mal da ſein wird, unzählige Male vorwärts
und rückwärts. Das heißt: es bewegt ſich alles Werden in
der Wiederholung einer beſtimmten Zahl vollkommen glei—
cher Zuſtände.“ Das Unendliche hatte ſich vor ihm auf—
getan. Ewiges und Erfülltes floß für ihn zuſammen. Ge—
löſt lag das Problem vor dem Weitblick des Jauchzenden.
Dasſelbe Problem ſoll hier von einem anderen Standpunkt
aus geſehen und erörtert werden. Wir werden dabei ſchnell
genug in Verflechtungen geraten, die dem einſam Wandern—
den in Graubünden ferner lagen als jede Rückkehr des
Gleichen.
Denn ſchon im erſten Anlauf ſtoßen wir hier an einen
der Grenzfälle, wo der berüchtigte „Satz vom Widerſpruch“
(eine der ſchlimmſten Geißeln in der Folterkammer der
Logik) ſich mit ſich ſelbſt in Widerſpruch ſtellt. An einen
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 2
17
der Punkte, wo das einſetzt, was man das „polare Den—
ken“ nennen darf: nämlich die Spaltung des Denkens in
zwei einander ſchnurſtracks entgegenlaufende Vorſtellungen;
ſo daß wir jede dieſer beiden Vorſtellungen gegenwärtig ha—
ben, mit dem Bewußtſein ihres unüberbrückbaren Abſtandes;
daß wir von beiden beſeſſen ſind, hilflos von der einen in
die andere taumeln und ſozuſagen beide zugleich für die
allein richtigen und für die allein falſchen halten. Ein ſchau—
riger Prozeß, der, wie ich ſchon hier ſagen möchte, ſich über—
all ohne Ausnahme einſtellt, wo wir den Verſuch machen,
über die platte Alltäglichkeit hinaus irgend etwas zu Ende
zu denken, wo wir alſo philoſophieren.
Wir können uns eine Endlichkeit des Raumes ebenſo—
wenig vorſtellen wie eine Unendlichkeit. Stellſt du dir den
Raum als endlich vor, ſo ſpürſt du ſofort, daß du damit
eine unſinnige Grenze ſetzeſt, von der die Vorſtellung nichts
wiſſen will, die unbedingt durchbrochen werden muß. Ver—
ſuchſt du, dir die Unendlichkeit vorzuſtellen, ſo merkſt du
augenblicklich, daß du dabei nur mit einem Allgemeinbe-
griff, mit einem Widerſpruch, mit einem unbegreiflichen
Wort ſpielſt, daß die Vorſtellung als ſolche dich im Stich
läßt; daß ſie nicht weiter reicht als bis ins Ungeheure. Die
Anſtrengung iſt darauf gerichtet (und kann auf nichts an—
deres gerichtet ſein), dieſes Ungeheure zu multiplizieren; mit
Tauſend, mit Million, mit Trillion. In uns entſteht ein
rechneriſcher Vorgang, der ſehr viel Anſtrengung, ſehr viel
Willen, aber gar kein Begreifen einſchließt. Es iſt nur noch
der Widerſpruch gegen die erſte Denkform, die uns zwingt,
aber nichts, was in den Intellekt eingeht. Wir verſchieben
die Grenze mit den endlichen Betätigungen unſeres Verſtan—
des, ſie wird für uns fließend, hinausrückend, vor uns flie—
18
ar a
W 3
hend, ſie verliert ſich irgendwo in einen Nebel, der außer—
halb der Denkmöglichkeit liegt. Am Ende ſtellen wir uns
auch in der Verzweiflung, der Unendlichkeit beizukommen,
einen endlichen Raum vor. Es iſt die Denkpolarität in rein—
ſter Geſtalt. Man kann aus beiden Anſchauungsformen nicht
hinaus, in beide nicht hinein und ſitzt zwiſchen ihnen wie
in der Zwangslage des Prokruſtesbettes. Noch grauſamer
wird dieſe Qual, wenn wir vom unerfüllten zum erfüllten
Raum übergehen, wenn wir etwa verſuchen, uns die Anzahl
der Weltkörper, der Körper überhaupt, vorzuſtellen. Hier hat
die Verzweiflung der Denklage einen unſerer ſchärfſten Den—
ker, Eugen Dühring, direkt zu einer Gewaltmaßregel gegen
den eigenen Intellekt getrieben. Er fordert „das Geſetz der
beſtimmten Anzahl“, was im letzten Grunde nichts anderes
bedeuten kann als die Endlichkeit der Subſtanz. Das iſt
ein Ukas wie etwa der folgende: Es iſt verboten, über eine
Trillion hinauszuzählen. Ein Ukas, der das Denken wie mit
dem Fallbeil abſchneidet und vielleicht ein dogmatiſches oder
pädagogiſches Geſetz gibt, aber keinen erkenntnistheoretiſchen
Wert. Wir anderen wollen an die Trillion immer noch und
immer wieder eine Null hängen und kommen von der Vor—
ſtellung nicht los (die keine Vorſtellung iſt, ſondern nur ein
Denkzwang), daß der unendliche Raum von einer unend—
lichen Körperzahl erfüllt iſt. Wiederum nur aus dem Zwang
des Widerſpruchs: weil jede noch ſo große Körperzahl uns
als eine Null erſcheint gegenüber der Möglichkeit, weil wir
den Gedanken nicht zu faſſen vermögen, daß die körperliche
Natur irgendwo begrenzt ſei, und weil uns, ſobald wir un—
ſere Vorſtellung körperlich betonen, die Annahme der un—
endlichen Stoffmenge immer noch erträglicher ſcheint als das
unendliche Vakuum.
2 *
19
Im Banne dieſes Denkzwanges operieren wir alſo im
dreidimenſionalen Raum mit der unvorſtellbaren Menge der
Körperunendlichkeit, die einfach unendlich wäre, wenn ſie
uns in einer Linie angeordnet erſchiene, zweifach, wenn wir
fie in einer Ebene annehmen würden, und dreifach unend—
lich in der gegenwärtigen Wirklichkeit unſeres Denkens, in
die uns wiederum die Unvorſtellbarkeit eines begrenzten Rau—
mes hinausjagt.
Der polar entgegengeſetzte Denkzwang nötigt uns, jeden
einzelnen Körper unaufhörlich zu zerkleinern, zu zerſchnei—
den, in der Hoffnung, irgendwo eine begriffliche oder ſach—
liche Grenze zu erreichen. Will der Verſtand beim erſten Ver—
fahren unaufhaltſam über ſich hinaus, ſo kriecht er jetzt
ebenſo hartnäckig in ſich hinein: und alsbald zeigt ſich eine
weitere Polarität, da uns bei dieſer Zerkleinerungarbeit die
blanke Null ſo unannehmbar erſcheint wie jede noch ſo kleine
Größe, die noch nicht Null iſt. Beſitzt das von der Gedan—
kenſchneide abgeſplitterte Teilchen noch irgendwelche Aus—
dehnung, ſo liegt kein Grund vor, das Schneiden aufzu—
geben. Man kann weiter zweiteilen, dritteln, ohne je auf—
zuhören. Haben wir es aber tatſächlich bis auf Null her—
untergebracht, ſo prallen wir vor einem Fehler zurück, der
uns am Schluß der Verrichtung angrinſt: denn wir begreifen
nicht, können niemals begreifen, daß ſich aus lauter Nul-
len, ſei es auch aus unendlich vielen Nullen, etwas Greif—
bares aufbauen ſoll.
Die theoretiſche Phyſik hat ſich, um dieſer unheilvollen
Polarität zu entfliehen, zur Annahme einer Vermittlung ent—
ſchloſſen, die in den Grundſätzen der Molekulartheorie und
der Atomlehre feſtgelegt iſt. Der reine Verſtand will auch
das „Atom“, das nach der Wortdefinition „atomos“, Un⸗
20
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9 N
* 8
teilbare, weiterzerſchneiden; der phyſikaliſche Verſtand be—
ruhigt ſich beim ſehr Kleinen, ſobald die Hypotheſe, die
dieſes Winzige umſchließt, ausreicht, um phyſikaliſch und
chemiſch brauchbare Reſultate zu liefern. Die Natur, ſo
wird angenommen, ſetzt dieſem Verfahren irgendwo einen
unbeſieglichen Widerſtand entgegen; in Stoffpunkten, die
zwar keine mathematiſchen Punkte ſind, aber ſich, vermöge
ihrer vollkommenen Gleichartigkeit und abſoluten Härte,
allen weiteren Angriffen entziehen. Wir behalten alſo im
Atom eine Rechnungsgröße übrig, die ſich mit Zahlen aufs
Papier bringen läßt, eine Gegenſtändlichkeit, die zwar une
terhalb aller Vorſtellung liegt, aber doch vor dem Ver—
ſchwinden geſchützt iſt. Wir haben nur nötig, einen Bruch
aufzuſchreiben, in deſſen Zähler ſich ein Milligramm befin—
det und deſſen Nenner aus zweiundzwanzig Ziffern beſteht,
ſo gelangen wir an ein Gewichtchen, das dem Atom des
Waſſerſtoffgaſes entſpricht. Vor der anſchaulichen Vorſtel—
lung verkriecht ſich ſolches Atom bis zur Unauffindbarkeit;
es mag ſich der Größe nach zu einem Tropfen verhalten
wie ein Apfel zum Erdplaneten; immerhin bleibt es eine
endliche Größe, die im Zug ſolcher Betrachtung einen un—
leugbaren Vorteil gewährt. Denn wenn wir nun ſagen: „Die
unendliche Welt der Körper beſteht aus Atomen,“ ſo er—
halten wir zwar eine neue ungeheure Multiplikation, aber
nicht eine neue Unendlichkeit zu den bereits erkannten; es
bleibt vielmehr bei der dreifachen Unendlichkeit, in die ſich
die Wirklichkeit der Atome einzuordnen hat.
Die Atomlehre bietet uns die weitere Erleichterung, daß
ſie uns aus der anſchaulichen Erfahrung nicht ganz ſo un—
erbittlich herausreißt wie die Zwangsvorſtellung des unend—
lichen Raumes ſamt den ſie erfüllenden Körpern. Wenn
2
wir einen Tropfen Säure in taufend Waſſertropfen ver:
dünnen, einen Tropfen des verdünnten Stoffes wiederum
in tauſend Waſſertropfen löſen, ſo gelangen wir ſchon bei
der ſiebenten oder achten Operation an die Grenze, die durch
jene Hypotheſe feſtgehalten wird. Und wenn wir uns auch
das erzielte Ergebnis, das mit dem Bruchteil eines tril—
lionſtel Milligrammes rechnet, nicht vorzuſtellen vermögen,
ſo bleiben wir doch im Rahmen einer gewiſſen Begreiflich—
keit, wir brauchen unſerem Zählſinn nicht ſo Gewalt anzu—
tun wie bei der völlig jenſeitigen und doch völlig unver—
meidlichen Anſchauung des Unendlich-Großen.
Die augenblickliche Lagerung der an Zahl dreifach unend—
lichen Atome bedingt den Zuſtand der Dinge, die gegen—
wärtige Weltlage in allen Einzelheiten. Sie bedingt ihn,
aber ſie erſchöpft ihn noch nicht. Denn die Atome ſind in
Bewegung; und erſt die Summe aller dieſer Bewegungen,
dynamiſch ergriffen in dieſem einen unteilbaren Moment,
ergibt die tatſächliche Weltbedeutung dieſes Augenblickes mit
allen ſeinen mechaniſchen und ſeeliſchen Notwendigkeiten.
Kein Gott rettet uns hier vor der Schwierigkeit, zwei neue
Unendlichkeiten hinzuzudenken; die eine umſchließt die Be—
wegungsrichtung jedes Atoms, die andere die Geſchwindig—
keit oder das Maß der Beſchleunigung für jeden einzelnen
Maſſenpunkt. Wir gelangen alſo zu fünf Unendlichkeiten,
die wir „in Rechnung“ ſtellen müſſen, wenn wir den Zu—
ſtand der Dinge feſthalten und aus ihm einen zukünftigen
erahnen wollen. Das hat ſich nun allerdings Nietzſche mit
ſeiner Träumerei von der ewigen Wiederkehr beträchtlich er—
leichtert; richtiger: ihm iſt gar nicht eingefallen, ſolche Viel—
fältigkeit zur Grundlage der Betrachtung zu machen. Auf
ſeinen Spaziergängen bei Sils-Maria erſchien ihm einfach
2 —
das Weltgebäude als ein Wirbeltanz von Partikelchen, und
er ſchloß mit der ſchönen Zuverſicht des prophetiſchen Dich—
ters, daß die Anfangsfigur dieſes Tanzes wohl irgendeinmal
wieder auftauchen müſſe. Nicht mit einer Silbe geht er
auf die Grundfrage ein: ob die Möglichkeiten der Zeit, ſelbſt
einer unendlichen Zeit, ausreichen, um die gehäuften Un—
endlichkeiten der Atombewegungen reſtlos abzuwickeln.
Eine Promenade im Oberengadin mag angenehmer und
ſtimmungsvoller ſein als ein Quergang durch arithmetiſche
Schwierigkeiten. Um Nietzſches Problem von der Wieder—
kunft des Gleichen wenigſtens als Aufgabe zu erfaſſen, muß
man ſich ſchon entſchließen, die ganze Angelegenheit in das
Licht der Permutationsrechnung zu ſtellen. Es handelt ſich
um ein Rechenexempel von univerſaler Ausdehnung: eine
fünffach unendliche Anordnung von beweglichen Atompunk—
ten und Kräften iſt in Variation begriffen; iſt es denkbar,
möglich oder wahrſcheinlich, daß die Anordnung von heute
in irgendeiner noch ſo fernen Zeit wiederkehrt? Populär
ausgedrückt: Iſt die Zeit mächtig genug, um die Permuta—
tionen zu bezwingen, oder wächſt die Menge der Permutatio—
nen der Zeit über den Kopf? Verſuchen wir, uns die Sache
dadurch klarer zu machen, daß wir von ganz einfachen Bei—
ſpielen zu verwickelteren aufſteigen. Statt der Atome wäh—
len wir handliche Körper, und aus den ungezählten Myriaden
greifen wir eine beſcheidene Anzahl heraus: die drei Elfen—
beinkugeln auf der engbegrenzten Billardfläche. Mitten im
Spiel fragen wir, ob dieſe beſtimmte Stellung der drei Ku—
geln ein beiſpielloſer Einzelfall ſei oder wiederkehren könne.
Hier brauchen wir uns in keine Unendlichkeit zu verirren,
denn das Handlungsgelände iſt begrenzt, die Kugeln berühren
die Unterlage nicht in einem Punkt, ſondern in einem klei⸗
23
nen Kreis, jede Beziehung ift in endlichem Sinn erfaß—
bar; und ſo gelangen wir (einſtweilen noch ohne Rechnung)
zu dem Ergebnis: Ja, dieſe Stellung kann wiederkommen,
wenn der Zufall gut mitſpielt, noch in derſelben Partie, ſonſt
vielleicht erſt nach Wochen und Monaten; wir werden aber
auch den Gedanken nicht abweiſen, daß trotz der Enge des
Problems die beiden Spieler die Wiederkehr dieſer einen
beſtimmten Stellung vielleicht niemals mehr erleben wer—
den.
Dieſes Billard ſoll ſich zu einer Welt auswachſen. An
der Kugelgröße ändern wir nichts; aber wir verbreitern die
grüne Fläche ins Unabſehbare und verlegen die Banden be—
liebig über die Siriusfernen hinaus. Und nun legen wir den
zwei Dämonen, die dieſem intereſſanten Spiel auf geräumi-
ger Unterlage obliegen, wiederum mitten in der Partie die
Frage vor: Kann dieſe Stellung wiederkehren?
Ich erwarte von den Nietzſche-Anhängern ein herzhaftes
Ja. Denn noch ſind wir nicht über das Drei-Körper—
Problem hinaus, noch haften wir an den zwei Ausmaßen
der Ebene; wir erſchöpfen noch nicht einen Tropfen der Mög—
lichkeiten, von denen die „Ewige Wiederkunft“ einen Ozean
darſtellt. Aber ich glaube annehmen zu müſſen, daß dieſes
erwartete „Ja“ ſchon etwas ſchüchterner klingen wird. Denn
hier könnte ſich zum Beiſpiel die Erwägung einſchleichen,
daß das Dreieck der Ausgangsſtellung, das wir mit kurzen
Seiten in Erdnähe annehmen wollen, ſich im Fortgang des
Spiels beſtändig erweitert, ſo daß der Größe der Zeit gar
keine andere Aufgabe zufiele, als die Abſtände der Kugeln
in ihrer Ruhelage beſtändig zu vergrößern. Wir hätten dann
in der Unendlichkeit der Zeit nicht, wie Nietzſche hoffte, das
ſichere Mittel zu einer Herbeiführung der Wiederkehr, ſon—
24
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dern im Gegenteil die zuverläffige Bürgſchaft, daß die drei
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Kugeln niemals wieder in die urſprüngliche Lagerung zu—
rückkehren werden. Gerade die Zeit iſt es, die fie daran ver—
hindert, und zwar um ſo ſicherer, als die drei Abmeſſungen,
Länge, Breite, Zeit, in denen ſich die Mechanik des Spiels
abrollt, nicht das geringſte Intereſſe haben, irgendwann und
irgendwo auf ihre Unendlichkeit zu verzichten. Nietzſches Lö—
ſung verſagt alſo ſchon bei drei Körpern in der Ebene.
Aber einen Einwand könnte der Nietzſche-Bekenner noch
machen: er könnte behaupten, daß neben den ſelbſtverſtänd—
lich auseinandertreibenden Wirkungen jenes Spieles noch
zentripetale Kräfte tätig ſeien; denen müſſe man nur Zeit
genug laſſen, dann würden ſie ſchon einmal die bis in alle
Fernen auseinandergeſprengten Körperchen wieder hübſch in
die erſte Ordnung zuſammenbringen. In dieſem Einwand
lauert die Allerwelthypotheſe der Attraktion. Sie iſt im
Zuge dieſer mechaniſchen Betrachtung ſinnlos, da wir über
die Beziehung der Kräfte von Atom zu Atom nur das Eine
mit Sicherheit wiſſen: daß die Geſetze der Attraktion im
Lehrgebäude der Atomiſtik ihre Gültigkeit verlieren. Trotz
dem wollen wir den Einwand gelten laſſen und uns mit
dieſem Zugeſtändnis rein auf die permutatoriſche Aufgabe
zurückziehen. Sie lautet nun: Iſt es möglich, zwiſchen den
in der Weltmechanik denkbaren Permutationen und der zu
ihrer Erfüllung notwendigen Zeit einen Vergleichsmaßſtab
zu finden?
Die fünffache Unendlichkeit
Hier ſoll nun endlich einmal die wachſende Zahl ihre
Rechte üben. Abermals wählen wir unſere Atome aus der
anſchaulichen Welt: zehn Perſonen eines Stammtiſches, die
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—
ſich vorgenommen haben, jeden nächſten Abend in verän—
derter Reihenfolge zu ſitzen. Wann erleben ſie die Wieder—
kunft des Gleichen? Der alten Tafelordnung? Das kann
ja wohl nicht ſo lange dauern; bei Zehnen iſt die Reihe doch
ſchnell herum. Dennoch: ſie werden ſich gedulden müſſen.
Das Experiment erfordert rund 9900 Jahre. Wenn ſie im
Schwarzen Walfiſch zu Askalon ihre erſte Wirtshausrech—
nung mit Keilſchrift auf Ziegelſtein beglichen hätten, blieben
immer noch ein paar Jahrtauſende übrig; und wenn ſie
heute ihre Permutation beginnen, ſo dämmert eine neue Eis—
zeit über die Erde herauf, bevor ſie die Wiederkunft des
Gleichen erleben. Da haben wir in ganz ſchwachem, ganz
elementarem Anfang die Beziehung zwiſchen Vertauſchung
weniger Elemente und der Zeit. Wir merken ſchon hier, daß
die Elle erheblich länger wird als der Kram; will ſagen: die
Zeit ſtreckt ſich ins Ungeheuerliche, während die Elemente
noch in Verhältniſſen ſtecken, die man an den Fingern ab—
zählt.
Steigern wir ein wenig: bis zu den 32 Schachfiguren,
bis zu den 52 Kartenblättern. Hier geraten wir hart an
die Grenze, wo uns die Arithmetik im Stich läßt. Die
Frage nach den verſchiedenen Stellungen auf dem engen
Schachbrett wäre wohl rechneriſch noch zu beantworten. Fra—
gen wir aber, wie viele verſchiedene Spiele denkbar ſeien
(was, dem Sinne nach, unſerer Atomfrage genauer ent—
ſprechen würde), ſo erhebt ſich bereits das Geſpenſt des
„Ignorabimus“. Vielleicht gibt es Schachſpieler, die da
allenfalls noch eine Endlichkeit vorausſehen; die von mir
Befragten ſind aber der Meinung, daß keine Zeit ausreichen
würde, alle Möglichkeiten des Spiels zu erſchöpfen. Was
ich als die vierte und fünfte Unendlichkeit bezeichnete, wird
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hier durch einen neuen Faktor erſetzt, durch die aus dem
Spielgeſetz abgeleitete Sinnbeziehung der Figuren, die eine
neue Klaſſe von Möglichkeiten außerhalb der Arithmetik
ſchafft. Eine Wiederkunft des Gleichen iſt alſo bei 32 be—
wegten Atomen in ebener Anordnung auf Feldern kaum noch
zu erwarten.
Die Anzahl der möglichen Kartenverteilungen unter vier
Whiſtſpieler iſt ungefähr 50000 Quadrillionen. Größten
Spielfleiß vorausgeſetzt, würden hierzu 30000 Billionen
Jahrtauſende erforderlich ſein. Und dieſe Jahrtauſende
ſchrumpfen zu Minuten zuſammen, wenn man die Aufgabe
erweitert, wenn man den ausdauernden Herren zumutet,
ſich nicht mit den Mannigfaltigkeiten der erſten Verteilung
zu begnügen, ſondern wirklich alle möglichen Whiſtſpiele
zu erledigen. Abermals wächſt die Zeit ins Jenſeitige; und
die 32 Atome liefern nie wieder das gleiche Erlebnis.
Eine der beliebteſten Querfragen altgriechiſcher Philoſophie
hing eng mit unſerem Problem der Permutation zuſammen.
Um die Exiſtenz einer planmäßig ſchaffenden Göttlichkeit zu
beweiſen, ſtellte man die Frage: Iſt es denkbar, daß ein
Gedicht wie die Ilias aus dem Zufall einer Buchſtaben—
begegnung hervorgegangen ſein könnte? Die Lächerlichkeit
der Annahme lag auf der Hand. Und doch ſteckt in dieſer
erſichtlichen Abſurdität noch der Schimmer einer arithmeti—
ſchen Möglichkeit. Ja, wenn Nietzſche als Mathematiker ſo
gewaltig geweſen wäre wie als Phantaſt, ſo hätte er den
Anſatz zu dieſer Berechnung aufſchreiben können. Denn die
Ilias iſt im letzten Grunde wirklich nur das Beiſpiel einer
Permutation, und aus allen möglichen Buchſtabengruppen
muß ſich auch der in Verſe gegliederte Zorn des Achilleus mit
allen hexametriſchen Fortſetzungen als ein Sonderfall her—
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ausrechnen laſſen. Wann diefer Sonderfall eintreten könnte,
wenn die Buchſtaben den Wirbeltanz der Atome mitmach⸗
ten? Nun, die Anfänge ſolcher Geduldſpiele haben die Arith⸗
metiker bereits beſchäftigt. Um von der Buchſtabenfolge
„Revolution Francaise“ auf das Anagramm „Un Corse
la finira“ zu ſtoßen, muß man nur die genügende Zahl
von Variationen zur fünfzehnten Klaſſe bilden; der ſchöne
Hexameter „tot tibi sunt dotes, virgo, quod sidera
coelo“ hat ſogar die Gefälligkeit, in feinen maſſenhaften
Wortpermutationen 3312 Verſetzungen zu geſtatten, die wies
derum einen Hexameter liefern. Und die gar nicht ſeltenen
Wortrhythmen, die, vorwärts und rückwärts geleſen, iden-
tiſch klingen (Beiſpiel: Signa te, signa, temere me tangis
et angis), führen wirklich im Bann unüberſehbarer Per⸗
mutationen zu einer Wiederkunft des Gleichen. So geſehen,
erſcheint alſo die Ilias tatſächlich als ein Anagramm aus
einem Buchſtabenchaos. Wenn man aber dieſes Anagramm
auf die Zeit projiziert, muß man ſich mit Ewigkeitsgeduld
waffnen; jedenfalls hat ſich der Philoſoph von Sils-Maria
die von ihm erträumte Wiederkunft als in raſcherem Tempo
möglich vorgeſtellt.
Aber die Zufalls-Ilias iſt ein Kinderſpiel auch nur gegen
einen Zufallstropfen im Weltmeer. Und hundert Ozeane er—
reichen noch nicht eine der Unendlichkeiten, deren Permutation
in Frage kommt, wenn an die wirkliche Wiederkunft des
Gleichen, im Sinn des Weltgeſchehens, gedacht werden ſoll.
Wir haben uns vergegenwärtigt, daß ſchon aus Winzigkeiten
an Ziffern, ſobald ſie in den Wirbel der Permutation geraten,
Ungeheuer entſtehen, die mit keiner ausdenkbaren Zeit zu
bewältigen ſind. Und nun wollen wir uns der Tatſache er—
innern, daß wir es hier ſchon in der Grundlage der Berech-
28
A
nung, ehe noch die erſte Veränderung vorgenommen wird,
mit einer fünffachen Unendlichkeit an Atomen, Richtungen
und Beſchleunigungen zu tun haben.
Immerhin droht mir noch der Einwand der „ewigen Zeit“.
Damit glaubt der Wiederkünftler einen unbeſiegbaren
Trumpf in der Hand zu haben. Die Zeit, denkt er, iſt
ſchließlich fo lang, daß fie mit allen Unendlichkeiten fertig
werden muß. Das iſt aber genau ſo, als ob ſich die punk—
tierte Unendlichkeit der Linie mit der punktierten Unendlich—
keit des Raumes meſſen wollte. Innerhalb der Unendlich—
keiten herrſcht eine Rangordnung, die ſie noch viel unerbitt—
licher ſcheidet als irgendwelche Vorſchrift für das Große und
Kleine in begrenztem Bereich. So gewiß ſchon die Ebene an
Einheiten unendlichfach mächtiger iſt als die Linie, ſo ge—
wiß erdrücken die fünffachen Unendlichkeiten, die hier erſt
die Grundlage der Operation bilden, jede Zeit, jede Ewigkeit,
die doch nur eine eindimenſionale Unendlichkeit darſtellt. Die
Parallele vom Fußgänger und Siebenmeilenſtiefler bietet uns
nur ein ganz unzulängliches Bild des Unterſchiedes im Zeit—
maß; denn eher vermöchte eine Schnecke den Lichtſtrahl zu
überholen, als der Zeitlauf die Permutation. Stellen wir
uns die Zeit als mit einem Willen begabt vor, ſo will ſie
mit dem Danaidenſieb die bewegte Flüſſigkeit des Univerſums
ausſchöpfen; mit ihrer armſeligen, einfach und geradlinig ge—
ſtreckten Ewigkeit bleibt ſie um Welten hinter ihrer Aufgabe
zurück, und je weiter ſie vorſchreitet, um ſo hoffnungsloſer
entfernt fie ſich von der Löſung des Problems: einen früheren
Zuſtand des Weltbildes herbeizuführen. Wie dieſes Weltbild
ſich darſtellt, heute, jetzt, iſt es ein Einziges, ohne Vor—
läufer, ohne Nachfolger. Nie zuvor war die Konſtellation
der gegenwärtigen gleich oder auch nur ähnlich, in keiner
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Zukunft kann fie ſich wiederholen, und wenn eine Unſterb—
lichkeitlehre ſich auf die „Wiederkunft“ ſtützen will, ſo wirft
ſie ihren Anker ins Bodenloſe ).
Die Idee einer Weltformel, die den Augenblickszuſtand
alles Geſchehens als eine Lagerung bewegter Teilchen auf—
faßt und in einem Syſtem von Differentialgleichungen er⸗
faſſen möchte, iſt von Laplace. Die differentialen Verſchie—
bungen in der Zeit entſprechen unſeren Permutationen. Wäre
es möglich, dieſe nur in mathematiſcher Phantaſie beſtehen—
den Gleichungen zu integrieren, ſo würde ſie auch im Inte—
gralergebnis die Nicht-Wiederkunft als eine beweisbare Si⸗
cherheit ergeben. Und das iſt ein Glück für den Kosmos, für
die Menſchheit. Denn Nietzſches Traum, der ihm ſelbſt als
der Höhepunkt ſeines Denkens, als ein Troſt, eine Hoff—
nung, ein ſublimer Rauſch erſchien, wäre in ſeiner Ver—
wirklichung der Gipfel aller Schrecken, aller Troſtloſigkeit.
Nehmen wir ihn einmal für erfüllbar. Stellen wir uns
blind gegen die Tatſachen, taub gegen den Verſtand, reißen
wir uns mit einem Ruck von unſeren atomiſtiſchen Betrach—
tungen los, treten wir mit Nietzſche auf die Plattform der
Wiederkunft. Was glauben wir dann? Um jede Verſchleie⸗
rung auszuſchließen, gelte uns ſein eigenes Orakel: „Hüten
wir uns, zu glauben, daß das All eine Tendenz habe, gewiſſe
Formen zu erreichen, daß es ſchöner, vollkommener, kom—
plizierter werden ſollte! Das iſt alles Vermenſchung! Anar—
*) Wer in ſolchen Problemen über die Denkſchablone hinaus
will, wird ſich früher oder ſpäter auf Wegen entdecken, die unſer
Fritz Mauthner geöffnet oder gezeigt hat. Für einen Teil dieſer
Sätze fühle ich mich einem Abſchnitt in Mauthners gewaltigem
Wörterbuch der Philoſophie verpflichtet. Beim Artikel „Apokata-
stasis“ fand ich Richtlinien, denen ich anzuſpüren hatte, um zu
den hier vorliegenden Tempovergleichungen zu gelangen.
30
p N NP
re 8
8
Br.
chie, häßlich, Form find ungehörige Begriffe. Für die Me—
chanik gibt es nichts Unvollkommenes. Alles iſt wiederge—
kommen: der Sirius und die Spinne und deine Gedanken in
dieſer Stunde und dieſer dein Gedanke, daß alles wieder—
kommt.“ Alſo das Leben eine Repetieruhr, die Weltſeele
ein Wiederkäuer, das Univerſum ein Kinotheater, das ſeine
Vorſtellung abſchnurrt und, wenn es die letzte Nummer ab—
gerufen hat, wieder den erſten Film auf die Walze ſteckt.
Ich bekenne mich zu der Überzeugung, das Weltbild müſſe,
infolge der Raumüberwindung, einer fortſchreitenden Ver—
langweiligung anheimfallen. Wenn Nietzſche recht behielte,
müßte ich hinzufügen: Für ſo langweilig hätte ich es doch
nicht gehalten! Im Rauſch feiner Eingebung ſtellt er ſich
vor: dieſe Promenade mit ihren theoretiſchen Wonnen werde
ſich erneuen, ſeine Erfinderfreude, ſein Entdeckerruhm, die
gehobene Stimmung dieſes Tages inmitten einer gewaltigen
Natur, die ihm zuruft: Du biſt ewig! Nur dieſe Stimmung
und dieſe Freude? Nein: auch alles Mißbehagen, alle
Gleichgültigkeit, aller Kummer der abgelaufenen Bahn; jeder
Arger der Profeſſur, jede Verſtimmung durch den Verleger,
jeder läſtige Brief, jeder Fehler im Korrekturbogen, jedes
Leibſchneiden und Zahnweh, jeder Flohſtich im Nachtlager
und jedes Hühnerauge. Und ſo im Kleinſten wie im Größ—
ten: unzählige Renaiſſancen und Rückfälle in die Barbarei,
unzählige Reformationen und Dreißigjährige Kriege, alle
Not der Maſſen und alles Elend des Einzelnen in unaufhör—
licher Abhaſpelung.
Mit ungeheuren Räumen dazwiſchen, in denen das Une
bekannte vorgeht, verſteht ſich, in denen ſich alles das er—
eignet, zu dem uns die ſpärlichen Taten der bekannten Welt⸗
geſchichte keinen Vergleich bieten. Denn bevor eine beſtimmte
31
„ er 3
. * * * er. * ae
Atomgruppierung wieder eintritt, müſſen erſt alle möglichen
vorher durchprobiert ſein. Was ſtellen die möglichen vor?
Nichts anderes als ſämtliche Geſchehniſſe, von denen wir
nichts wiſſen, die aber einer möglichen und alſo im Kreis
dieſer Betrachtung unvermeidlichen Anordnung der kleinſten
Teilchen entſprechen; zum Beiſpiel: die Perſer ſiegreich bei
Marathon und Varus im Teutoburger Walde, Cäſar als Er—
oberer von Japan, die Entdeckung des Südpols durch Ko=
lumbus, Pilatus als Papſt in Avignon, Kröſus in Monte
Carlo ſein Geld verſpielend, Semiramis als Suffragette in
London, Lucullus in der Berliner Volksküche, alles Uner—
meßliche, nie Geweſene und Widerſinnige, alles Denkbare
und Undenkbare, über jede Phantaſiegrenze Hinausſchwei⸗
fende, was trotzdem im Wirbeltanz der Atome einmal Wirk⸗
lichkeit werden müßte, bevor Das wirklich werden könnte,
was dieſer Tanz uns als das Bekannte vorgeſtellt hat. Und
er ſelbſt, der große Hellſeher vom Engadin, würde ſich für
dieſe Möglichkeiten der Kombination bedankt haben, die in
ſeinem Gedankengange irgendwann zur Form der Wirklich—
keit gedeihen müſſen: Nietzſche im Duell mit Zarathuſtra,
Nietzſche als Kopiſt beim Heiligen Auguſtinus, am Galgen,
Nietzſche zwölfmal verheiratet. Man müßte einen Streifen
von der Länge der Milchſtraße zur Verfügung haben, um
auch nur in Stichworten einen Teil der blöden Abenteuer
zu notieren, die ſich erfüllen müßten, ehe eine genau logiſche
Wiederkehr zuſtande käme. Unter dieſen Abenteuern würde
ich mich ſelbſt finden, wie ich auf ſeinem Lieblingsſtern, dem
Sirius, ſitze und mir den Kopf zerbreche, um für das
Nietzſche-Archiv einen Beitrag zu ſtiften. Denn die Atome
ſind ſehr ungefällig und laſſen ſich viel eher dazu bewegen,
aus Buchſtabenverſetzung eine identiſche Ilias zu bilden, als
32
dazu, einen identischen Menſchenkörper aufzubauen, der ge
nau ſo lebt und dichtet wie einer, der vor Aonen auf der Erde
wandelte.
Die Dogmatik unterſcheidet zwiſchen Wundern contra
naturam und extra naturam. Die ſoeben leiſe angedeu—
teten find contra. Aber auch die extra naturam ſtehen⸗
den find nur beſtimmte Gruppierungen auf irgendeiner Halte—
ſtelle der Anordnung. Jede Ausgeburt des hellen Wahnſinns
und des verwegenſten Aberglaubens, Fegefeuer, Hölle und
Teufelsſpuk ſind mögliche Kombinationen und als Phäno—
mene in Atombegegnungen denkbar; denn es ſind anſchauliche
Vorſtellungen, der Beſchreibung und Malerei zugänglich wie
jede andere Unwahrſcheinlichkeit, alſo nichts als zwar nie er—
lebtes, aber beſtimmt zu erwartendes Stelldichein der klein—
ſten Teilchen; beſtimmt zu erwarten, weil in dieſem heilloſen
Wirbel erſt jede andere Figur durchgetobt werden muß, ehe
der status quo ante eintreten kann. Wahrhaftig: wenn ich
der Berechnung Nietzſches alles zugeben wollte, was ich ihr
verweigern muß, zu dieſer Lehre möchte ich mich nicht be—
kennen; der Preis der Wiederkunft wäre mit ſolchen unge—
mütlichen Zwiſchenſtadien doch zu teuer erkauft.
Sie würde uns auch zu lange dauern, ſelbſt dann, wenn
ich durch einen radikalen Denkakt die ganze Unendlichkeit ab—
ſchaffte und ſie einfach durch eine unermeßliche Endlichkeit er—
ſetzte. Beide ſind nämlich nur ſchlimme Auswüchſe und Not—
behelfe des Denkens, aus polarem Denkzwang geboren, und
ich ſcheue vor der waghalſigen Annahme nicht zurück, daß
beide Vorſtellungen im Grunde zuſammenfallen, als zahlen
ſpieleriſche Umſchreibungen des ſehr Großen. Das Unendliche
beginnt nämlich erkenntnistheoretiſch gar nicht im Jenſeits,
ſondern diesſeits, an der Grenze der nicht mehr ausſprech—
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 3
33
baren Zahl, mag dieſe Zahl auch noch in mathematiſchen
Zeichen, etwa in hohen Potenzausdrücken, einer Niederſchrift
fähig ſein. Das aber ſteht auf einem anderen Blatt und führt
zu einer anderen Lehre, an deren Ende man die zwar ſchreck—
lichen, aber gut begründeten Sätze finden wird: Das Ziel
aller Erkenntnis, die Wahrheit, iſt eine anthropomorphe Vor—
ſtellung; es iſt nur halbrichtig ausgedrückt, wenn man den
Intellekt als unzureichendes Werkzeug erklärt; denn die
Wahrheit ſelbſt exiſtiert nur im beſchränkten Gebiete der ma—
thematiſchen Identitäten, und jede andere Frage nach der
Wahrheit iſt in ſich ſelbſt ſinnlos.
Zu dieſer erſt in der Andeutung vorhandenen Betrachtung
„Denkzwang und Denkfehler“ möge dieſe Studie über die
Wiederkunft das Präludium bilden. Sie zeigt auf halbwegs
anſchaulicher Grundlage das Walten des polaren Denkens,
alſo zweier Denkvorgänge, die aus gemeinſamer Wurzel ent⸗
quellen, aber mit zwei einander ſchnurſtracks entgegengeſetzten
Unmöglichkeiten aufeinanderprallen. Deshalb ergibt ſich auch
das Reſultat zwieſpältig: als ein negatives, denn die Ewige
Wiederkunft iſt eine Angelegenheit der Unendlichkeit und des—
halb nicht bis zu Ende zu denken; und als ein poſitives,
denn auch in der Form eines Dichtertraumes enthält ſie nicht
eine Hoffnung, ſondern eine Verzweiflung, dieſe Lehre von
der ewigen Wiederkunft, an der nur das Eine etwas taugt,
nämlich: daß ſie falſch iſt.
34
9 A S
r
t er. —
Das Geheimnis der großen Zahl
Vor meinem Fenſter dehnt ſich eine dreißig Meter breite
Straße in der Oſt-Weſt⸗Richtung. Und gerade gegenüber iſt
in der Häuſerreihe eine Lücke, die den Blick nach Norden frei—
gibt. Überſchreite ich die Straße, ſo bewege ich mich auf dem
Berliner Meridian und unternehme den Beginn einer Nord—
polarreiſe: auf dem jenſeitigen Fußſteg bin ich dem Nordpol
der Erde näher, als zuvor auf dem diesſeitigen.
Man wird dieſe Annäherung als verſchwindend klein be—
zeichnen; und im Verhältnis zu irdiſchen Reiſemaßen bleibt
ſie wirklich unter der Schwelle der Merkbarkeit. Sie wächſt
aber in einer anderen Betrachtung. Denn mit demſelben
Wege habe ich mich auch dem Polarſtern genähert; und es
unterliegt keinem Zweifel, daß der Grad der erſten An—
näherung, der an den Nordpol, um viele, viele millionen—
mal ſtärker ausfällt als der zweite. Faſſe ich alſo bei mei—
nem kurzen Marſch quer über die Straße dieſes Verhältnis
ins Auge, bin ich mir der Relativität dieſer Unterſchiede be—
wußt, ſo kann ich ſagen: Nach der Überwindung der Stra—
ßenbreite bin ich dem Nordpol beträchtlich nähergerückt.
Und mit einiger Phantaſie dürfte ich im nämlichen Gedanken—
zug hinzufügen: Wenn jetzt zufällig ein Nordlicht erſtrahlt,
ſo kann ich es beſſer drüben als hüben beobachten. Ich
bin dem Licht weſentlich nähergekommen. Ahnlich ſind die
Wege überhaupt, die wir mit dem Fernblick auf ein Licht
35
oder eine Erkenntnis beſchreiten. Wer unausgeſetzt die Kürze
des Schrittes mit der Weite des Zieles in Vergleich ſtellt,
muß dem Verzicht anheimfallen. Den aber, der dieſe Rela—
tivität zeitweilig im Bewußtſein ſpürt, mag die Eigenbe—
wegung ſelbſt mit Zuverſicht ſtärken; ſogar mit der großen
Ladung von Zuverſicht, die man zu einem Flug ins Ganz-
Große, Unmeßbare, Unendliche nötig hat. Und zu einem
ſolchen Weitflug wollen wir uns nun rüſten. Sie ſoll uns
auf gewiſſen Umwegen einem Rätſel näherführen, das wir
zwar nicht ergründen und löſen werden, das uns aber
wenigſtens in ſeiner Frageſtellung etwas verſöhnlicher an—
blicken ſoll als das Grundproblem in ſeiner grauſamen Ur—
geſtalt.
*
Was immer menſchlichen Geiſt bewegt hat und aus ihm
entſproß, findet ſeinen tatſächlichen Ausdruck in Büchern.
Und ſo gelte uns das Buch als die Darſtellung alles Den—
kens, Empfindens, Könnens und Wiſſens. Setzen wir die
Zahl ſeiner typographiſchen Stellen, hoch gegriffen, mit
einer Million feſt, ſo ergeben alle erdenklichen Permutationen
und Variationen innerhalb dieſer typographiſchen Anordnung
ſämtliche Bücher, die jemals geſchrieben und gedruckt wur—
den, und dazu noch ſämtliche, die in aller Zukunft gedruckt
werden können. Vorausſetzung bleibt nur, daß keine Um—
ſetzung übergangen werde und daß ſich keine wiederhole.
Denken wir uns dieſes in Wirklichkeit unmögliche, in Ge—
danken aber leicht faßbare Verfahren reſtlos durchgeführt,
ſo erhalten wir lauter Bücher, die ſich irgendworin unter—
ſcheiden, und wäre es auch nur in einem Buchſtaben, einer
Interpunktion, einem Spatium. Zugleich aber erkennen wir,
daß die ſo gewonnene Bücherei abſolut lückenlos ſein muß,
36
a
pe
a
daß kein Buch, einerlei welches Inhalts, in ihr fehlen kann.
Denn die Summe ſämtlicher Unterſcheidungen in der Viel—
fältigkeit aller druckmöglichen Anordnungen ergibt eben den
Inbegriff aller jemals möglichen Bücher.
Man könnte alſo auf mechaniſchem Weg, ohne auf eine
Überlieferung oder Vorahnung angewieſen zu ſein, die ge—
ſamte vorhandene und zukünftige Literatur herſtellen. Der
Druckauftrag freilich würde zu erheblichen Umſtänden füh—
ren. Aber ſein Umfang läßt ſich ganz genau berechnen: er
beläuft ſich, wenn wir mit hundert verſchiedenen Drucktypen
rechnen, auf eine Sammlung von Büchern, deren Anzahl
Zehn zur zweimillionſten Potenz beträgt. Iſt innerhalb die—
ſer Reihe nur das eine garantiert, daß jedes Buch einer
beſtimmten, nie mehrfach auftretenden Ausfüllung der Mög—
lichkeiten entſpricht, ſo hat die übernehmende Firma das
Problem gelöſt. Die fertige Lieferung enthält das „Uni—
verſalbuch“, wie es Kurd Laßwitz genannt hat, das Buch
der Bücher, den Inbegriff und die Summe alles Druckbaren.
Dieſes Univerſalbuch entſpricht, mathematiſch geſehen, kei—
ner Unendlichkeit, ſondern ſtellt zunächſt eine ſcharf umſchrie—
bene Endlichkeit vor. Ordnet man die Exemplare nebenein—
ander, ſo erſtrecken ſich die Bücherrücken nicht bis in in—
kinitum, ſondern irgendwo in weiter Ferne iſt Schluß. Wie
lange würde man wohl wandern müſſen, um die Reihe ab—
zuſchreiten? Ein Fußgänger würde es nicht erleben; ebenſo
ausſichtslos wäre der Plan, die Strecke im Schnellzug zu
bewältigen. Auch das Zeitmaß einer Kanonenkugel erweiſt
ſich der Aufgabe gegenüber als ganz unzulänglich; bleibt
alſo nur der Lichtſtrahl, der in ſeiner Leiſtung von dreihun—
derttauſend Kilometern in der Sekunde mit der Fahrt längs
jener Bücherrücken in irgendwelcher Zeit fertig werden könnte.
34
Aber auch die Lichtſekunde, die Lichtminute und die Lichte
ſtunde erſcheinen hier noch als völlig unbrauchbare Rech—
nungsgrößen. Und ſelbſt wenn wir das Lichtjahr als Ein⸗
heit wählen, ſo erhalten wir immer noch eine völlig un—
ausſprechbare, lediglich als Potenzausdruck angebbare Zahl,
die zu üblicher Niederſchrift ein Notizblatt von ungefähr zehn
Kilometern Länge beanſprucht.
Wird dieſes Buch der Bücher nicht als Reihe aufgeſtellt,
ſondern geſchichtet und verpackt, ſo würde ein Hohlraum
vom Durchmeſſer der geſamten ſichtbaren Fixſternwelt nicht
ausreichen, um auch nur einen nennenswerten Bruchteil un⸗
ſeres Bücherſchatzes aufzunehmen. Wie wir es auch an⸗
ſtellen: wir gelangen ſofort an das Unvorſtellbare, Unaus-
ſprechbare, während der Rechner darauf beharrt, die Zahl
der Bücher ganz präzis als 102000000 anzugeben, nicht auf
eins mehr oder weniger; eine begrenzte Zahl, die ſeiner An—
ſicht nach mit dem Unendlichkeitswert nichts zu ſchaffen hat.
An dieſem Punkt meldet ſich unſer Widerſpruch. Denn
der begriffliche Inhalt dieſes nach Zahl und Maß noch end—
lichen Univerſalwerkes iſt für menſchliches Denken nicht mehr
nur unermeßlich, ſondern ſchlechtweg unendlich.
Daß es alle vorhandene Literatur einſchließt, von den ba—
byloniſchen Urſchriften bis zum letzterſchienenen Volkskalen-
der, daß es die Ilias, alle Dramen und Logarithmentafeln,
alle exiſtierenden Romane und Kochbücher, alles bereits für
Schrift und Druck Gedachte als Einzelfälle irgendwo dar—
bietet, würde für dieſe Anſchauung noch nicht genügen. All
das bedeutet nur einen Tropfen im Ozean unſeres vorge—
ſtellten Druckwerkes. Denn dieſes erſchöpft zugleich Sinn
und Inhalt aller überhaupt möglichen Schriften, bis in die
unendliche Zukunft gerechnet, ſämtliche Sinnigkeiten und Un⸗
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ſinnigkeiten, die überhaupt in Druckſchrift ergreifbar find,
und keines Menſchen Gehirn wird auch nur einen Augen—
blick zögern, dieſer Summe den Wert des Unendlichen zu—
zuerkennen. Anders ausgedrückt: an den Verſtand tritt hier
die Forderung, über ſich hinauszudenken, in unvereinbarem
Zwieſpalt zu der mathematiſchen Anſchauungsweiſe, die ihm
dergleichen durchaus nicht zumutet, ſondern ihm mit dem
genauen Potenzausdruck 102000000 eine klar umſchriebene End-
lichkeit vorſpiegelt.
Sollte aber noch der geringſte Zweifel darüber e
daß hier ein grober logiſcher Fehler wirtſchaftet, ſo wird die
nachfolgende Überlegung ihn in aller Schärfe bloßſtellen.
Nicht nur alles begrifflich Ausdenkbare iſt der Niederſchrift
in gewöhnlichen Drucktypen fähig, ſondern auch alles Fünft-
leriſch Empfundene. Für die muſikaliſche Kompoſition zum
Beiſpiel bedeutet die Note nur ein ſehr bequemes, aber nicht
das ausſchließliche Vermittlungsſymbol. Die Note läßt ſich
vielmehr in ihrer Höhe, Dauer, Anordnung und Beziehung
mit Worten beſchreiben, höchſt umſtändlich allerdings, aber
doch eindeutig. Und da unſer Buch der Bücher ſämtliche
Wortformungen erſchöpft, ſo wird ſich in irgendeinem Bande
eine Anordnung vorfinden, die irgendeiner beſtimmten Kom—
poſition entſpricht. Das heißt alſo: in allen Bänden müſſen
alle Tonſtücke vorkommen, die bereits komponiert ſind, und
ſämtliche in aller Zukunft möglichen; das vollſtändige, reſtlos
aufgearbeitete Integral der Muſik; in Bänden, getrennt durch
Siriusweiten von anderen, welche die Weltgeſchichte für alle
Lebeweſen beſchreiben, den geſamten Zeitungsinhalt bis zum
Welterlöſchen umfaſſen, von jedem Ameiſenkrieg ſtrategiſch
genaue Kunde geben und jede fernſte, feinſte Verfaſerung al-
ler überhaupt jemals möglichen Wiſſenſchaft, Technik, jeder
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Wirklichkeit, jeder traumhaften Unmöglichkeit, jeder Mitteil⸗
barkeit auf Blättern verewigen; auf endlichen Blättern, ma—
thematifch genommen, auf unendlichen, in reiner Anſchauung
betrachtet, die mit aller Macht die Vorſtellung einer begrenz—
ten Kunſt, Wiſſenſchaft, Geſchichte abwehrt und ſich mit letz—
ter Anſtrengung aus der Umklammerung einer beſtimmten
Grenze losreißen muß.
Wer hat nun recht? Der Rechner mit ſeinem genauen
Potenzausdruck oder die Anſchauung, die im Zug der ſchwei—
fenden Phantaſie keine Grenze anerkennt? Dieſe Frage findet
keine Antwort, da ſie in eine tranſzendente Unterſuchung mit
einem untranſzendenten, diesſeitigen Begriff dreinfährt. Wir
müſſen von dem treuherzigen Glauben loskommen, in jenem
Grenzgebiet des Denkens etwas wie ein Recht oder Unrecht
zu etablieren. Es handelt ſich auch nicht darum, dieſe Schei—
delinie zu ziehen, ſondern vielmehr um einen gangbaren Aus—
weg aus der philoſophiſchen Angſt, in die uns jener offen—
kundige Zwieſpalt hineingehetzt hat. Und ſo flüchten wir
denn aus dem Zwang zweier unmöglichen Komponenten in
die Reſultante, die zwar vorerſt auch nicht tröſtlicher und
einleuchtender erſcheint, aber doch einen vorläufigen Ruhe—
punkt bietet; wir wollen nämlich ſagen: für menſchliche Denk—
art greift der hochgegriffene mathematiſche Potenzausdruck
über die Endlichkeit hinaus. Zehn zur zweimillionſten Po—
tenz iſt nicht nur ſehr groß, ſondern ohne weiteres unend—
lich. Und wiederum kann der Begriff Unendlich fehlerlos
durch die ſehr große Zahl nicht nur charakteriſiert, ſondern
erſetzt werden. Vertauſchen wir beide Begriffe nach Will—
kür, ſo begehen wir keine Ungenauigkeit, ſondern wir be—
ſeitigen im Gegenteil einen Denkfehler, der uns zu einem
den Intellekt vergewaltigenden Sprung zwingen will.
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Dieſe Lehre iſt waghalſig und gleicht dem draufgängeri—
ſchen Hieb, mit dem der gordiſche Knoten nicht gelöſt, ſondern
zerſpalten wurde. Aber auf dieſem Grenzgebiet findet die
Feinmechanik des langſamen Aufdröſelns keine Arbeitsſtätte.
Wo zwei Unmöglichkeiten aufeinanderſtoßen, bleibt nichts
übrig als ein grundſtürzender Akt, der, ſo unverantwortlich
er auch auf den erſten Anhieb erſcheinen mag, doch in ſeinen
Denkfolgen ſich als der wahre Samariter für das gequälte
Gehirn erweiſen wird.
Solche Quälerei kann ſchon da auftreten, wo wir einen
einfachen Satz der Schullogik bis in ſeine Wurzeln ver—
folgen. Alle Menſchen ſind ſterblich; Cajus iſt ein Menſch:
alſo muß Cajus ſterben. Es iſt nicht eine Vermutung, ſon—
dern eine Gewißheit, die den Cajus als einen unter allen
zum Tode verurteilt, und die Wahrſcheinlichkeit hierfür wird
nicht durch die große Zahl, ſondern durch das Unendlich aus—
gedrückt; wenn wir dem Oberſatz die axiomatiſche Wahrheit
zuerkennen. Tatſächlich gibt aber der Oberſatz nicht eine Vé—
rite éternelle im Sinn Leibnizens, ſondern höchſtens eine
Veérité de fait; das Ergebnis einer langen Erfahrung, die
bisher durch keinen Gegenbeweis geſtört wurde. In zwei—
hundert Generationen und bei einer Menſchenzahl, die in
die Milliarden anſchwoll, aber noch unter der Billion zurück—
blieb, iſt ein Gegenfall nicht bekannt geworden. Wir be—
geben uns alſo in einen Wahrſcheinlichkeitsbeweis, wenn wir
aus dieſer zwar großen, aber begrenzten Anzahl den Schluß
auf einen noch nicht bis zu Ende beobachteten Lebenden ge—
ſtalten. Die biologiſche Notwendigkeit des Sterbens hat mit
dieſem Syllogismus nichts zu tun, denn ſie iſt ja erſt aus
der langen Erfahrungsreihe entfloſſen, alſo ſelbſt ein von
einer gewiſſen Wahrſcheinlichkeit abhängiger Schluß des ſta—
41
tiftifchen Oberſatzes. Mathematiſch korrekt müßte demnach
das Schulbeiſpiel lauten: Alle bisher ermittelten Menſchen—
ſchickſale haben mit dem Tod geendet; Cajus iſt ein Menſch,
folglich beſteht eine große, in Milliarden ausdrückbare Wahr:
ſcheinlichkeit für feine Sterbenotwendigkeit“). Wenn wir
dieſe klarere und wahrere Faſſung zugunſten der reſtloſen
Gewißheit ablehnen, daß Cajus ſterben muß, ſo verraten
wir hierdurch, daß über die ſcheinbar unüberbrückbare Kluft
in unſerer Erkenntnis zwiſchen dem als endlich Feſtſtehen—
den und dem als unendlich Geforderten doch ein geheimer
Meg eriftiert; ein Schleichweg, der ſich der mathematiſchen
Kontrolle und Beſtätigung entzieht. Durch welche Windun⸗
gen dieſer Weg führt, wiſſen wir nicht. Aber was der In⸗
tellekt will, wenn er ſich des Weges bedient, das ſteht nun
feſt. Er will hinüber, hinüber um jeden Preis, ſelbſt um
den der mathematiſchen Richtigkeit. Und ſo urteilt er für
den Spezialfall der Menſchenſterblichkeit: ich erreiche den
wirklichen Unendlichkeitswert mit einer begrenzten Zahl, die
unter der Billion liegt. Es gibt hier keinen in Ziffern zu
beglaubigenden Reſt. Nicht nur die in den Erfahrungsbereich
eingeſchloſſenen Menſchen müſſen ſterben, ſondern alle. Und
der einzig nachweisbare Fehler liegt lediglich bei dem, der
ſich auf einen Unterſchied zwiſchen einer ſolchen Verite de
fait und einer Vérité éternelle verſteift. Mit der großen
Zahl erreiche ich eine ewige Wahrheit.
Wir können ſogar in die Lage geraten, das Vertauſchungs⸗
recht und die Vertauſchungsgrenze in Regionen anzunehmen,
die wir in der Praxis des Lebens gar nicht als unermeßlich
anzuſehen geneigt ſind. Wer hunderttauſend Mark im Be—
*) Der mathematiſche Ausdruck würde lauten: .
die Anzahl aller bisher geſtorbenen Menſchen bedeutet.
worin n
42
ſitz hat, wird ſich mit feinen zehn Millionen Pfennigen ganz
gewiß noch nicht zu den ungeheuer Reichen zählen. Wer
ſich aber auf eine zehnmillionenfache Erfahrung beruft,
lebt im Unendlichen und wird die daraus gezogene Wahr—
ſcheinlichkeit ſo ſicher als die abſolute Gewißheit anſprechen,
daß er den Zweifel daran als hellen Wahnſinn erklärt. Die
von Helmholtz erwähnte Erwartung, daß es in den nächſten
vierundzwanzig Stunden in Berlin einmal Nacht und ein—
mal Tag werden wird, ſtützt ſich auf ein viel engeres Gebiet
von Beobachtungen, als es die allgemeinen Prinzipien der
Mechanik tun. Und doch konnten dieſe allgemeinen Prin—
zipien der Mechanik (durch das Relativitätsprinzip) er⸗
ſchüttert werden, während ſich an die Erwartung des Tag—
und Nachtwechſels ein Bedenken niemals heranwagen darf.
Hier liegt die Beobachtungsreihe ſehr tief, kaum bei der
dritten Million; wir müſſen ſchon weit über Adams Zeit
zurückgehen, um ſelbſt bei dieſer geringen Zahl zu landen.
Aber wenn wir auch nur über die Erfahrung von dreißig
Menſchenaltern verfügten, die den Tag- und Nachtwechſel
höchſtens vierhunderttauſendmal lückenlos beglaubigten, ſo
hätten wir ſchon längſt den Evidenzpunkt gewonnen, unab⸗
hängig von aller aſtrophyſikaliſchen Theorie, die ja in dieſer
Schlußkette nicht als Grund, ſondern als Folge auftritt.
Während wir alſo in der Betrachtung des Univerſalbuches
zu unausſprechlichen Ziffern, beim ſterblichen Cajus immer
noch hoch in die Milliarden hinaufklettern mußten, erhal—
ten wir hier die Vertauſchungsgrenze ſchon in einer ſehr be—
ſcheidenen, um die Million herumpendelnden Zone; eine tril—⸗
lionenfache, eine unendliche Erfahrung würde unſere Erwar—
tung gar nicht mehr ſteigern. Mit der Gewißheit, daß es
in den nächſten vierundzwanzig Stunden Tag und Nacht
43
werden muß, erhebt der Verſtand für diefen beſonderen Fall
eine Zahl von höchſtens ſieben Ziffern zu einem Unend—
lichkeitswert.
Die Kluft zwiſchen den beiden polaren Vorſtellungen End—
lich und Unendlich, von denen die eine niemals genügt, die
andere niemals durchzudenken iſt, zeigt ihre Schrecken viel—
leicht nur in der Tiefe, nicht in der Breite. Wenn ſich
der Verſtand zum Wageſprung entſchließt (und das tut er
immer, ſobald er nur einen Augenblick von der ſtreng ma—
thematiſchen Anſchauung loskommt), was geht ihn da die
Tiefe an? Wie könnte es die Sicherheit ſeines Sprunges
beeinträchtigen, daß ganz unten in unerkennbarer Verſen—
kung ein Monſtrum hauſt, das die ſcholaſtiſche Rechnung mit
eins dividiert durch Null bezeichnet? Nur die Breite ermißt
er; und mit untrüglicher Gewißheit traut er ſich zu, das
andere Ufer zu erſpringen. Dieſe Gewißheit, unzählige Male
gewonnen und zu einer neuen Erkenntnis organiſiert, wird
nichts anderes bedeuten als: der Begriff des Unendlichen iſt
eine täuſchende Zwangsvorſtellung; nie lebt im Wirklich—
keitsdenken etwas Höheres, Tranſzendenteres als die große
Zahl. Und dieſe große Zahl, abgeſtuft nach den Bedürf—
niſſen des Falles, tritt mit ſämtlichen Wirkungen des Unend—
lichkeitswertes auf, iſt das ſouveräne Unendlich für den ge—
gebenen Denkakt.
*
Ich glaube nicht, daß die zugrunde liegende Antinomie je—
mals zu überwinden ſein wird. Aber ihre Schroffheit kann
gemildert werden, wenn man ſich gewöhnt, ein Neutralgebiet
anzuerkennen, worin das Unermeßliche, Unbegrenzte und Un—
endliche einander durchdringen; mit dem Vorbehalt, daß das
44
Unermeßliche arithmetiſch begrenzt fein kann. Hier kommt
es nicht darauf an, daß man zählt, ſondern wie man zählt.
Der arithmetiſche Ausdruck für eine hohe Potenzgröße, für
eine Reihe, ergibt zunächſt noch keinen klaren Begriff, ſtellt
vielmehr nur die in Ziffern niedergelegte Abkürzung für ein
Poſtulat vor. Es wird gefordert, eine Rechnung auszufüh—
ren, die im grauen Nebel des ungeheuer Großen, vielleicht
Unendlichen, jedenfalls nicht mehr Vorſtellbaren, ausläuft.
Aber das Vorſtellbare wechſelt nach der Natur des Falles;
und hier kann es ſich ereignen, daß die arithmetiſche Diktatur
als eine unerträgliche Tyrannei empfunden wird.
Betrachten wir einmal die unendliche Reihe / 1/5 +
1/, + 175 „ die, wie man ſich wohl ausdrücken darf, ſchwach
divergent ſein muß. Sie erreicht als Summe den Unend—
lichkeitswert, wenn auch in einem ſehr langſamen Tempo.
Denn wenn wir ſie in Gruppen von 2, 4, 8, 16 uſw. Glie—
dern abteilen, ſo erkennen wir leicht, daß jede einzelne Gruppe,
angefangen von ( +1/,) größer ausfällt als /½; und da
kein Grund vorliegt, mit dieſer Einteilung jemals aufzuhö—
ren, ſo bleibt allerdings nichts übrig, als das Ergebnis dieſer
Reihe für unendlich groß auszugeben.
Dieſer Zweifelloſigkeit gegenüber regt ſich aber im Unter—
grund unſeres Bewußtſeins ein Widerſtand, wenn wir uns
vorſtellen, welche Operation auszuführen wäre, um auch
nur eine ſehr kleine Zahl von poſitivem Wert zu erreichen.
Geſetzt, ich hätte mir vorgenommen, dieſe Reihe bis zu dem
ganz beſcheidenen Summenergebnis von 64 hinzuſchreiben,
ſo geriete ich damit ſchon ins Unbegrenzte, jenſeits von jeder
Möglichkeit und Vorſtellbarkeit. Die Reihe würde nämlich,
eng geſchrieben, einen Papierſtreifen von 100 Billionen Ki—
lometern erfordern, einen Streifen, mit dem man das ganze
45
r. e
Sonnenſyſtem bis zur Neptunsferne etwa ſiebentauſendmal
einwickeln könnte.
Wir erleben alſo eine Spaltung des Denkens. Der arith⸗
metiſch gehorchende Teil wird vom Divergenzbegriff hypno—
tiſiert, der praktiſch erkennende erklärt jene Reihe für minder:
wertig und in ſehr engen Grenzen eingeſpannt. Ihrer Ten⸗
denz, ſich auch nur über ein höchſt dürftiges Mittelmaß aus⸗
zuwachſen, ſteht eine unbeſiegliche Trägheit entgegen. Statt
irgendwie erkennbar zur Höhe aufzuklimmen, ſchleicht ſie
in einer bis zum Erwürgen gepreßten Spirale um den Berg;
und ihr Verſprechen, die Unendlichkeitsſpitze zu gewinnen,
erſcheint, bürgerlich geſprochen, als eine Flunkerei. Wenn
ein Gelähmter uns anſagen wollte, er werde von der Erde
zum Mond ſpringen, ſo wäre die Wahrſcheinlichkeit der Er—
füllung noch größer als die Ausſicht dieſer Reihe auf wirk—
liche Divergenz.
Derſelbe Rechner, der die Reihe fo hoch einſchätzt, behaup-
tet daneben, daß der einfache Ausdruck 99, in Worten neun
hoch: (neun zur neunten Potenz), nur eine ſehr große Zahl,
aber beileibe keine Unendlichkeit darſtellt. Und hier klafft
der Widerſpruch ſperrangelweit. Denn dieſer Ausdruck ſchnellt
ſofort ſteil an und verliert ſich in einer fabelhaften Be—
ſchleunigung, mit einer wahren Zahlenorgie ins Unfaßbare.
Allerdings kennt der mit Logarithmentafeln arbeitende Ma—
thematiker das Ergebnis. In dekadiſchem Maß aufſchreiben
kann er es nicht, und jedes Sprachmittel verſagt, wenn er
es nennen will. Aber er weiß, daß es aus 369 Millionen und
690000 Ziffern beſteht und daß die hingeſchriebene Zahl
ungefähr von Berlin bis zum Nordkap reichen würde. Und
dieſe Zahlengröße nimmt er für eine Endlichkeit, weil ſeine
Unendlichkeit anders definiert iſt. Ihn darf es nicht an—
46
fechten, daß die Anzahl der Waſſerſtoffatome im Atlantiſchen
Ozean eine Null iſt gegen den Wert dieſer Potenzgröße, eben⸗
ſowenig wie es ihn berührt, daß jene zuvor genannte Bruch—
reihe, millionenfach über die Siriusweite verlängert, noch
keine dreiſtellige Zahl, noch nicht den einzigen Wert der er-
ſten Hundert erreicht. Er vergleicht nicht das Phlegma der
Reihe mit dem exploſivem Temperament der Potenz, er zieht
ſich auf die Definition zurück und beharrt dabei, den Reihen—
wert als unendlich, den Potenzwert als endlich auszurufen;
in völligem Widerſpruch mit allem, was wir aus der Er—
fahrung, aus der Zählübung, aus natürlicher Größenvor—
ſtellung in uns aufbieten können und aufbieten müſſen, wenn
wir das ſehr Große nicht bloß formelhaft umſchreiben, ſon—
dern in irgendwelcher Anſchaulichkeit erfaſſen wollen. Und
dieſer Widerſpruch läßt ſich nicht einfach mit den Verdikten
Wahr und Falſch aus der Welt ſchaffen. Auf dem Grund
dieſer Definition lauert vielmehr eine arithmetiſche Schul—
fuchſerei; ein zugleich Okkultes und Pedantiſches. Wie der
Anſpruch auf kirchliche Unfehlbarkeit nicht mit dogmatiſchen
Mitteln bekämpft werden kann, ſo der auf mathematiſche
Unfehlbarkeit nicht mit rechneriſchen. Hier ſcheiden ſich uns
erbittlich zwei Logiken, wie ſie ſich im Traumland, im Wun⸗
der⸗ und Märchengebiet trennen. Der Hindu-Fabuliſt erzählt
ganz gelaſſen von einer Schlacht, in der 10000 Sertillionen
Affen gekämpft haben, und hält einen auf der Erde exiſtie—
renden Wald als Schauplatz für ausreichend; in der Hindu—
logik etabliert ſich da nur ein Abenteuer, aber kein Widerſinn;
zwei Endlichkeiten, die ſich vertragen müſſen. Und ſo um⸗
ſpannt auch der Rechenmeiſter die fabelhafte 99% mit einer
endlichen Umhüllung, gegen die feine Speziallogik nichts ein⸗
zuwenden hat. Demgegenüber ſtellt er der Reihe, deren
47
Schneckengang, anfchaulich gemeſſen, fo gut wie nichts be⸗
wältigt, das Zeugnis der Unendlichkeit aus; in einem Do—
kument, das ungefähr ſoviel Wert hat wie der Wechſel auf
Sicht, der einem toten Gläubiger zur Begleichung einer
Schuld in den Sarg gelegt wird. Auch dieſe Reihe muß
ſterben, bevor ſie die mitgegebene Verſchreibung in bare Un—
endlichkeit umſetzt. Wann und wo das geſchieht, entzieht
ſich unſerer Betrachtung. Es genüge, mit einem Beiſpiel
ſchärfſten Kontraſtes auf ein Grenzgebiet gewieſen zu ha—
ben, auf dem ſich die Erkenntnistheorie der Zukunft noch
ſehr kräftig zu tummeln haben wird.
Auf die konkrete Körperwelt übertragen, kann ſich die
hier angedeutete Lehre vielleicht mit einem anderen Prinzip,
dem „Geſetz der beſtimmten Anzahl“, kreuzen oder tan—
gential berühren. Ihrer inneren Frageſtellung nach ſind ſie
jedenfalls miteinander verwandt. Sollte dieſes Geſetz dereinſt
zu der ausdrucksvollen Geſte, mit der Eugen Dühring es
vortrug, die eindrucksvolle Begründung erfahren, ſo wird
es abermals zu einem Begriffszerfall führen. Denn es wird
ſich dann nicht mehr um ein Geſetz handeln, ſondern um
eine wechſelnde Denkform, nicht um eine beſtimmte Anzahl,
ſondern um eine unbeſtimmte, die ins Unermeßliche hin—
aufſteigt, ohne darum unendlich zu werden; oder am Ende
nur um einen begrenzten, diesſeitigen Quotienten aus zwei
Jenſeitigkeiten, von denen die eine im Raum, die andere in
uns liegt. Und fo könnte ſchließlich auf ein Diviſionsexem—
pel mit einem numerus clausus hinauslaufen, was Schil—
ler als tranſzendente Anſchauung verkündet:
Fürchte nicht, ſagte der Meiſter, des Himmels Bogen,
ich ſtelle
Dich unendlich, wie ihn, in die Unendlichkeit hin!
48
Das Laboratorium des Lukrez
Eine ultramikroſkopiſche Phantaſie
Durch eine Landſchaft von ſchwer beſtimmbarem Charak—
ter ſchritt der Wanderer. Daß ſie nicht zu dieſer Wirklich—
keitswelt gehörte, war erſichtlich, denn obſchon mehrere Son—
nen am Himmel ſtanden, lag ſie in geiſterhaftem Dämmer.
Aber in dieſem verſchwimmenden Licht blieben die Bäume
und Felſen als ſcharfumriſſene Körper erkennbar, und der
Wanderer ſelbſt machte nicht den Eindruck eines dahinſeuf—
zenden Schattens, ſondern eines rüſtig ausſchreitenden Men—
ſchen. Er trug die Züge des Eleaten Zenon und hätte mit
ſeinem Denkerkopf ſehr gut in Raffaels Schule von Athen
hineingepaßt. Allein weit entfernt, irgendwelchem klaſſiſchen
Säulenbau zuzuſtreben, machte er vielmehr an einem ſchlich—
ten Landhaus halt und klingelte. Jawohl: klingelte. Und
auf dieſes Zeichen erſchien an der Schwelle der Beſitzer des
Landhauſes, der Römer Lucretius, und lud den Wanderer
zum Nähertreten ein:
„Ich bin zwar augenblicklich beim Experimentieren, allein
nichtsdeſtoweniger — deine Störung, preiswerter Zenon,
iſt mir lieber als die Arbeit. Du triffſt zudem gute Bekannte
aus klaſſiſchen Jahrhunderten: Leucipp, Demokrit und Epikur
ſind auch drin.“
Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 4
49
„Da ſeid ihr alten Atomiſtiker ja glücklich alle beieinan⸗
der,“ ſagte Zenon, indem er dem Wirt folgte. Prüfend
überflog ſein Blick den Raum. Da ſtanden Mikroſkope,
Retorten, Reagenzgläſer, guter Hausrat eines neuzeitlichen
Gelehrten. Der Eintretende ergänzte: „Zu meiner Zeit ſah
es anders aus bei einem Philoſophen.“ Lukrez fing das
Wort auf: „Zu meiner Zeit auch noch; aber es hilft nichts,
man muß ſich moderniſieren. All das gehört ſozuſagen zu
den Materialiſationsphänomenen, in denen uns die Leben⸗
den mit praktiſchem Beiſpiel vorangehen. Die Menſchen be—
ſchwören Geiſter, wir laſſen die Werkzeuge der Menſchen zu
uns kommen. Ich ſehe bereits die Zeit, da wir als Aus⸗
tauſchprofeſſoren in Berlin dozieren werden. Vorläufig bin
ich ganz zufrieden, daß ich mir mit Inſtrumenten aus dem
zwanzigſten Jahrhundert dies Laboratorium einrichten konnte.
Sieh mal dort, Zenon, das blanke Geſtell, woran eben unſer
Epikur hantiert: das neueſte Inſtrument von fabelhafter
Vergrößerungskraft; ein Ultramikroſkop von Zeiß in Jena!“
„Laß mich mal hindurchſchauen, lieber Lukrez!“
„Vorläufig nicht. Wir brauchen es gerade zur Kontrolle
darüber, ob es mit der Größe und Maſſe der Atome ſeine
Richtigkeit hat.“
Epikur drehte den Kopf am Apparat ein wenig zur Seite
und ſagte kurz und ſachlich: „Es ſtimmt!“
Demokrit und Leucipp, mit Rechnungen beſchäftigt, füg—
ten hinzu: „Wie vorauszuſehen war, — es muß ſtimmen!“
Lukrez ſtrahlte: „Ich hatte ja von Anfang an nicht den
geringſten Zweifel; denn im Grunde haben ſich eben nur
die Methoden geändert, nicht die Anſchauungen. Aber es
macht uns doch ſtolz, daß die Prinzipien, für die wir ſchon
vor Jahrtauſenden kämpften, heute jo glänzend ſiegen. Un:
50
fer ganzer Atomismus, den wir aus innerer Intuition ſchöpf⸗
ten, iſt nunmehr klar erweisbar, durch Experiment und Ma⸗
thematik bis zur Evidenz erhoben. Mit einem Wort: Wir
ſtehen vor dem größten Triumph der Wiſſenſchaft, und die⸗
ſer Triumph gehört uns!“
Aber der Wanderer Zenon ſah nicht im geringſten über-
zeugt aus: „A priori möchte ich bemerken, daß ihr etwas
als erwieſen anſprecht, was nicht nur unbeweisbar, ſondern
ſogar unmöglich iſt. Meine Vernunft iſt mein Ultramikro⸗
ſkop, und durch dieſes ſehe ich das genaue Gegenteil der von
euch behaupteten Dinge.“
„Weil du das Material nicht kennſt. Zenon, Vernunft⸗
menſch, ſei vernünftig und informiere dich ſyſtematiſch. Setze
dich in die Ecke da drüben und ſtudiere vor allem erſt die
Schriften, die du dort auf dem Bücherbrett findeſt. Was
weißt du von Dalton, von Avogadro, von Boltzmann?“
„Nichts. Brauche ich auch nicht zu wiſſen.“
„Es iſt aber zur Verſtändigung unbedingt erforderlich.
Alſo lies, Zenon. Du haft doch Zeit, nicht wahr? Als ge⸗
borener Eleat hältſt du es wohl bequem vier Wochen auf
einem Studierſitz aus.“
„Wenn es allein darauf ankäme, vier Monate meinet⸗
wegen.“
„um ſo beſſer. Und wenn du dort fertig biſt, wollen wir
dir die Experimente vorführen. Da ſollſt du dein Wunder
und — modern geſagt — deinen Tag von Damaskus er⸗
leben!“
*
Nach geraumer Zeit erhob ſich Zenon, mit einer gelinden
Verſteifung in den Gliedern, die erſt wich, als er die Länge
des Raumes hundertmal nachdenklich durchmeſſen hatte.
4*
51
Dann blieb er vor dem Ultramikroſkop ſtehen und blickte
hindurch.
„Das find die ſogenannten Browuſchen Bewegungen in
einer milchigen Flüſſigkeit; kannſt du die verfolgen, Zenon?“
fragte Epikur.
„Ich ſehe allerdings ein Chaos wirbelnder Körperchen.
Sie ſchlängeln ſich zu Tauſenden, zucken blitzartig hin und
her, verändern regellos die Richtung wie die Stäubchen im
Sonnenſtrahle. Es find offenbar ſehr kleine Teile der Sub—
ſtanz in geſtörtem Gleichgewicht. Und nun wollt ihr be—
haupten, daß dies die Atome ſeien, die unteilbaren letzten
Dinge der Wirklichkeit?“
Lukrez erläuterte: „Nicht eigentlich die Atome, ſondern
die Moleküle, deren jedes eine endliche Gruppe von Atomen
darſtellt. Die Hauptſache iſt, daß dieſe Moleküle nunmehr
aus der Welt des unendlich Kleinen emportauchen in die
augenfällige Sichtbarkeit. Unſere Ahnung wird hier ſinn—
lich bewahrheitet. Der Schleier, den die Natur ſelbſt vor
den Menſchenblick ſpannte, verbrennt im Strahle des Mikro—
ſkops, und der Urgrund wird offenbar, genau wie wir alten
Atomiſten ihn vorausgeſagt hatten.“
Zenon: „Du verſtehſt dich bereits zu einer Einſchränkung:
das Atom entgeht euch noch, allein das Molekül habt ihr be=
reits leibhaftig erfaßt und könnt es aus der Flüſſigkeit her—
ausfiſchen.“
Lukrez: „Der Ausdruck trifft die Sache. Wir fiſchen
heraus, wenn auch nicht mit der Angel, ſo doch mit dem
Auge. Tatſächlich beſitzen dieſe Dingerchen Haken und Oſen,
als klammernde Organe, die ineinander eingreifen, wie ich
ſelbſt, weit vorausſchauend, im zweiten Buch meines be—
rühmten Werkes de natura rerum verkündete:
52
„Leicht erkennt man daraus, was lieblich die Sinne be—
rühret, f
Müßt' aus glatten beſtehn und rundlichen Körpern des
Urſtoffs,
Während hingegen was bitter und ſtreng den Sinnen zu—
wider,
Mehr ſich verbindet in ſich durch hakenförmige Kör—
per.“
Zenon: „Sage, Lukrez, du willſt alſo wirklich durch dein
Mikroſkop in dieſem Gewimmel Haken und Oſen erkennen?“
Lukrez: „Das war doch nur bildlich geſprochen. Und
ebenſo bildlich war es gemeint, wenn ich behauptete, daß
wir die Moleküle wirklich ſähen. Eigentlich ſind es nicht ſo—
wohl die Moleküle, als vielmehr gewiſſe äußerſt winzige
harzige Teilchen, Emulſionskügelchen, deren Exiſtenz uns
das Vergrößerungsglas verrät. Sie ſind groß genug, um
durch die Stöße der Moleküle in lebhafte Bewegung zu ge—
raten. Das Weitere iſt dann Sache einer äußerſt verwickel—
ten, aber doch treffſicheren Berechnung.“
Zenon: „Mit anderen Worten: das thema probandum
wird ſchon wieder preisgegeben, kaum daß es aufgeſtellt
war. Ihr habt nur eine neue Schwierigkeit konſtruiert und
unterſchiebt ihr eine andere Schwierigkeit in der Hoffnung,
daß aus dem Zuſammenprall beider Schwierigkeiten das
große X, euer fabelhaftes Atom, herausſpringen werde. Ihr
könnt weder das Atom noch das Molekül nachweiſen, ſon—
dern ihr ſchließt aus einem rätſelhaften Kugeltanz auf ein
primum, auf ein primissimum agens nach der Denkſcha—
blone: klein, kleiner, am kleinſten. Als ob das Allerkleinſte,
das ihr erreichen könnt, nicht immer noch ein Fragezeichen
hinter ſich hätte ſo groß wie das ganze Univerſum!“
or
[0%]
Demokrit: „Und doch gibt es keine andere Methode,
um der Wahrheit näher zu kommen; deinem rieſigen Frage—
zeichen droht eine Antwort von gleicher kosmiſcher Größe.
Die Methode beſteht darin, die Wahrheit zu überliſten, wenn
wir ſie nicht auf geradem Wege überwältigen können. Laß
dir das erklären, Zenon: Dieſe Kügelchen, die wir in den
Bannkreis des Lichtes zwingen, ſind tatſächlich die Verräter
der Urſubſtanzen geworden, die wir ſuchten; ſo wie ein ſchau—
kelndes Schiff am Horizont die Meereswellen verrät, die
wir aus jo weiter Entfernung nicht mehr wahrnehmen kön⸗
nen. Oder noch beſſer ſo zu verſtehen: wir zeigen dir durch
das Fernglas den Tanz der Monde um einen Planeten; da
haſt du zunächſt den Eindruck einer grobſinnlichen Erſchei—
nung. Aber hinter ihr verſteckt ſich das Walten des feinſten
Fluidums. Durch eine Kette ſcharfſinnigſter Überlegungen
beweiſen wir dir, daß hier der Tanz das Außerliche iſt, das
Innerliche indes die kleine Lichtſchwingung, von der Millionen
auf den Meter und Billionen auf die Sekunde entfallen.
Solche Ziffern geben das Maß für den Fortſchritt der Er—
kenntnis. Hier nun ſtehen die Lichtſchwingungen in lehr—⸗
hafter Parallele mit den Molekülen. Mit der Zange zu grei-
fen ſind weder die einen noch die anderen. Aber zu errechnen,
graphiſch abzubilden ſind ſie genau. Und wir haben ſie er—
rechnet. Wenn ich „wir“ ſage, fo meine ich damit die Ato⸗
miſten überhaupt. Wir fühlen uns weſenseins mit denen,
die nach uns kamen, mit den Genies: Gaſſendi, Avogadro,
Fechner, Mendjelejew, Becquerel, Curie, Vant' Hoff, Planck,
Perrin, Einſtein, Langevin, deren Forſchungen wir überprüft
haben.“
Epikur: „Mit dem Ergebnis, wie geſagt: es ſtimmt!“
Zenon: „Die Freude ſteht dir gut zu Geſicht, Epikur;
54
du haft offenbar von der Tafel der Erkenntniſſe ein befon-
ders ſaftiges Schlemmerſtück genoſſen.“
Epikur: „Ein pythagoreiſches Stück: Das Weſen der
Dinge iſt die Zahl, das Weſen der Urdinge die gewaltige Po-
tenzenzahl. Exakt geſprochen: Die Zahl der Moleküle in
einem einzigen Liter Gas beträgt dreimal zehn zur zwei
undzwanzigſten Potenz; eine mit dreiundzwanzig arabiſchen
Ziffern zu ſchreibende Zahl, die ſich hoch in die Trilliarden
erſtreckt..“ |
Zenon: „. . . Und von der ihr euch ebenſowenig irgend—
ein Bild machen könnt wie ich. Eure Phantaſie entzündet ſich
an der Billion, an der Trillion, an der Trilliarde; ſie wird
getäuſcht, indem fie an einer vorgeblichen Exaktheit empor⸗
klettert, die in Wirklichkeit nichts anderes iſt als ein Sprache
ungeheuer. Dem Papier, das die Notiz trägt, bedeutet die
klar ausgeſchriebene Potenz einen Triumph, eurem Blick eine
Augenweide, — dem Verſtand iſt die raſſelnde Zahl lediglich
eine Beſchämung, beſtenfalls eine Umſchreibung für ſehr viel,
unvorſtellbar viel, alſo eine Tautologie dafür, daß wir nach
der Zahl nicht um ein Haar klüger ſind als vor ihr.“
Lukrez: „Ich finde, du tuſt der Zahl unrecht. Zum min⸗
deſten hat ſie etwas Berauſchendes, ſie öffnet Weiten und
Horizonte, in die man vorher noch nicht geblickt hat. In
ihrer Unvorſtellbarkeit ruht ihr geheimer Reiz, und wie wir
zuerſt die Natur überliſteten, ſo beſchleichen wir nunmehr die
Zahl, um ihren Reiz ſinnlich zu erfaſſen; wie ein Verlieb—
ter das Haupthaar ſeines Mädchens durch die Finger lau—
fen läßt als eine Vielheit, deren numeriſcher Zauber ſich
ihm in einer Entzückung offenbart. Wir ſtellen uns zum
Beiſpiel vor, jener Liter ſei leer, ein vollkommenes Vaku⸗
um. Durch eine feine Stichöffnung in der Wand laſſen wir
55
die Luft in das Innere ftreichen mit dem Auftrag, pro Se:
kunde zehn Millionen Moleküle in das Innere zu befördern.
Wie lange meinſt du wohl, Zenon, brauchte die Luft, um den
Liter wiederum bis zum urſprünglichen Gasdruck zu fül—
len?“
Zenon: „Ich bin überzeugt davon, das wird ſehr lange
währen. Wenn ich dir einen beſonderen Gefallen damit er—
weiſe, ſage ich: ein Menſchenalter.“
Lukrez: „Weit gefehlt! Hundert Millionen Jahre
würde das dauern, nicht einen Tag weniger! Auch das iſt
unvorſtellbar, aber es liefert doch eine anſchauliche Ahnung.“
Zenon: „Mein Experiment wäre einfacher. Ich erteile
der Luft den Auftrag, etliche Trillionen Moleküle pro Se—
kunde durch die Stichöffnung zu ſchaufeln, und ſiehe da, ſie
leiſtet das Kunſtſtück in wenigen Minuten. So oder ſo:
Die Trillionen wirſt du nicht los, willſt ſie ja auch gar nicht
loswerden. Im Gegenteil, ſie machen dich glücklich. Und
noch glücklicher wärſt du, wenn du noch etliche Nullen an—
heften und dich bis in die Quadrillionen verſteigen könnteſt.“
Lukrez: „Du haſt es getroffen, Zenon, und ich kann dir
die erfreuliche Mitteilung machen, daß es des Wunſches nicht
mehr bedarf, da bereits die Erfüllung vorliegt. Wenn wir
nämlich vom Urgrund zum Ururgrund vorſchreiten, alſo vom
Molekül zum Atom, ſo ermitteln wir die Maſſe des Waſſer—
ſtoffatoms als eine Größe, die ungefähr dem quadrillionſten
Teil eines Grammes entſpricht.“
Zenon: „Nimm meine herzlichſte Gratulation entgegen!
Warum ſollte ich dir deine Zahlenorgien mißgönnen? Du
betreibſt ſie in deiner Weiſe ſo aufrichtig wie jene Romanen,
die ihre berittenen Truppen vervielfältigen, indem ſie nicht
56
die Reiter, ſondern die Gliedmaßen zählen und einen Kriegs:
haufen nicht auf hundert Mann, ſondern auf ſechshundert
Beine beziffern, Soldatene und Pferdebeine impoſant zu⸗
ſammengezählt. Freilich ſind dieſe Romanen Stümper gegen
dich, und ihre Einheiten, methodologiſch genommen, Kinder—
ſpielereien gegen deine. Ich gebe ohne weiteres zu, daß eure
Diviſoren und Multiplikatoren erſchütternd auf mich wir—
ken.“
Lukrez: „Ironie, Heftigkeit und Irrtum ſind uns eine
gewohnte Trias. In Wahrheit überrumpelt die Größe un—
ſerer Zahlen nicht ſowohl die Vorſtellungskraft, als viel—
mehr einen alten Denkfehler, nämlich den, daß von der Quan⸗
tität keine Denkbrücke zur Qualität führe. Was ſich äußer-
lich als eine Zahlenſchwelgerei darſtellt, umſchließt im Kern
eine höchſtbezifferte Wahrſcheinlichkeit, und in dieſer hohen
Wahrſcheinlichkeit erkennen wir das arithmetiſche Geſicht der
Wahrheit. Wir ſchließen tatſächlich von der Maſſe auf die
Eigenſchaft, und mit der wachſenden Zahl verengert ſich die
Fehlergrenze auch für das qualitative Erfaſſen.“
Zenon: „Vermöge eines Prinzipes, das euch immer wie—
der verlockt, einen Denkfehler zu eliminieren, indem ihr einen
zweiten, noch unerkannten, rechnungsmäßig einſchmuggelt,
und ſo fort, ohne aufzuhören.“
Lukrez: „Es hört auf. Die Fehler tilgen ſich gegenſeitig,
und aus dem regressus wird ein progressus in inf initum.
Wir ziehen die Maſchen eng und enger, bis aller Zweifel ge—
fangen iſt und die abſolute Sicherheit hindurchfiltriert. Und
ſelbſt wo wir hypothetiſche Gerüſte errichten, entwickeln ſich
hinter ihnen die herrlichſten der Ewigkeit trotzenden Faſſaden.
Nimm das Atom für eine Hypotheſe, das Atomgewicht, das
Verhältnis der Moleküle wiederum als Hypotheſen, jo bre—
N
chen wir fie als Hilfskonſtruktionen eines Tages ab und
zeigen dir den Wunderbau des periodiſchen Syſtems der Ele—
mente, der allen Erfahrungen ſtandhält. Mehr als das: Von
der Zinne dieſes Syſtems, wie es Mendjelejew entwickelt hat,
beherrſchen wir die Zukunft der Wiſſenſchaft. Die Atome
können wir nicht ſehen, aber ihre Eigenſchaften vorausſagen
in Elementen, die noch kein Forſcher dargeſtellt hat, das
können wir! Die ſpätere Erfahrung muß genau das liefern,
was die frühere Induktion als zwingend und notwendig vor=
gebaut hatte. Und ſie liefert es wirklich. Es iſt ſo, als ob
die Wirklichkeit auf den Befehl des Atompropheten wartete.
Der Stein der Weiſen iſt längſt überholt. Er hätte beſten⸗
falls etwas dargeſtellt, was man ſchon kannte, das Gold.
Wir beſchließen theoretiſch Metalle, wie das Thallium, Skan⸗
dium, Germanium, wir verkünden vor der Exiſtenz irgend⸗
einer Probe alle Qualitäten, und ſpäter kommt die Wirk⸗
lichkeit nachgehinkt und bringt die vorausbeſchloſſenen Ele—
mente Thallium, Skandium, Germanium. Wo in aller Me⸗
taphyſik haſt du ähnliches erlebt? Wo haſt du erlebt, daß
der Theoretiker erfand, was der Praktiker nachher entdeckte?
Aus einer ſcheinbaren Unmöglichkeit heraus, aus dem Atom,
erwachſen hier kriſtalliſch alle Unerſchütterlichkeiten der Fol-
gezeiten. Vor unſeren Atomrechnungen kapituliert die Na—
tur ſelbſt.“
Zenon: „Wenn dir an meinem Staunen gelegen iſt —
habeas! Du entwickelſt mir Phaethonflüge, denen gegenüber
ich bekennen muß: ihr fliegt oben, ich ſtehe unten. Ich müßte
nicht aus Elea, ſondern aus Böotien ſein, wenn ich leugnen
wollte, daß aller Glanz der Erſcheinung ſich an eure Be—
wegung heftet, während tiefer Schatten meinen Standpunkt
bedeckt. Nur daß ich ſicherer unten ſtehe, als ihr oben fliegt;
58
und daß eine einzige große Erfahrung euch wie der Blitz—
ſchlag des Zeus aus allen Himmeln ſchleudern kann. Einſt⸗
weilen fahrt ihr ja noch am Himmelsbogen, verblüfft über
euer eigenes Gelingen, und ihr glaubt den Weg zu meiſtern,
weil eure Sonnenroſſe noch galoppieren. Aber das unheil—
volle Geſpenſt, das euch bereits die Zügel aus der Hand
gewunden hat, das ſeht und ahnt ihr nicht. Es iſt das Ge—
ſpenſt des Widerſpruchs. In allen euren Verkündigungen
ſteckt die Theſe und die Antitheſe, das Ding an ſich und
deſſen Gegenteil: nämlich das Atom, atomos, das unteilbare
Letzte, daß ihr trotzdem wieder teilen müßt, um zu ſeinen
Eigenſchaften vorzudringen. Ein Punkt hat keine Eigenſchaf—
ten. In dem Moment, da ihr von Qualitäten, von dinglichen
Beziehungen, von Wirkungen redet, zerſpaltet ihr den Punkt
im Körper, während die ganze Beweisführung darauf ange—
legt war, den Körper in Punkte zu zerlegen; zwei Opera—
tionen, von denen jede für ſich nur mit Spitzfindigkeit durch—
zudenken, die aber in ihrer Vereinigung eine blanke Sinn—
loſigkeit ergeben. Und der Logos wird ſich rächen an denen,
welche die Logik vergewaltigen.“
Demokrit: „Dazu hätte er ſchon reichlich Zeit gehabt
von meiner erſten Anſage bis zu Gaſſendi, von Gaſſendi bis
zu Fechner, von Fechner bis zu Ramſay. Aber was hat er
getan? Er hat immer nur beſtätigt, der ſcheinbaren Antino—
mie immer neue Stützen geliefert. Auf wieviel verſchiedenen
Wegen ſind wir dem Atom zu Leibe gegangen, um jedes—
mal auf dieſelbe Größenordnung zu ſtoßen! Gänzlich un—
abhängig, durchaus getrennt in Raum, Zeit und Motivation,
kamen die Zeugniſſe von den Bromnfchen Bewegungen, von
der Spektralanalyſe, von der Opaleſzenz, von der Elektrizi⸗
tät, vom Radium und Helium, von der Energieſtrahlung,
59
und alle Zeugniffe trafen in ein und derſelben Trilliardenhöhe
zuſammen.“
Leucipp: „Dreizehn verſchiedene Methoden wurden be—
ſchritten, und dreizehnmal mit derſelben Evidenz ſprang die—
ſelbe überwältigende Zahl heraus: die Avogadro-Konſtante,
die über Größe und Gewicht der Moleküle Aufſchluß gibt“).
So ward die Wahrſcheinlichkeit zur Gewißheit erhöht. Die
logiſche Prognoſe, daß Cajus ſterben muß, weil alle Men—
ſchen vor ihm ſtarben, iſt eine lockere Konjektur gegen die
Sicherheit dieſer Avogadrozahl.“
Lukrez: „Und in ihrer unfaßbaren Größe ruht zugleich
ihre Majeſtät. Was dem von brüllenden Ziffern erſchreckten
Gemüte als Phantasma erſcheint, iſt nur der Ausdruck ihrer
ſouveränen Macht und Geltung. Die Zahl in ihrer wuchtigen
Größe entſpricht der Weite der Schatzkammer, die das Ge—
heimnis der Subſtanz umſchließt; das Molekül auf der
Grenze zwiſchen Körper und Nichts gibt den Maßſtab für
die Feinheit unſerer Konſtruktionen. Ihre Verſchmelzung
legt uns zur Eröffnung jener Schatzkammer den Schlüſſel
in die Hand. Wir berechnen die innere Struktur der Sub—
*) Zum Vergleich ſeien empfohlen: Jean Perrin: „Die Atome“
(deutſche Ausgabe von Lottermoſer im Verlage von Steinkopf,
Dresden und Leipzig). — A. von Antropoff: „Die chemiſchen
Elemente und Atome im Lichte alter und neuer Forſchung“ (Vor⸗
träge aus der Baltiſchen Literariſchen Geſellſchaft, Riga). —
Ferner: Van't Hoff: „Die Lagerung der Atome im Raume“ (Verlag
Vieweg, Braunſchweig). — K. Laßwitz: „Atomiſtik und Kritizismus“
(ebenda). — Fritz Mauthner: „Artikel Atom im Wörterbuch der
Philoſophie“ (Georg Müller). H. Vaihinger: „Die Atomiſtik als
Fiktion“, in dem Werk „Die Philoſophie des Als Ob“. — Fechner:
„Atomenlehre.“ — Emanuel Lasker: „Atomſtudien“ in „Das Be—
greifen der Welt.“
60
ſtanzen weit über jede Leiſtungsfähigkeit des Mikroſkopes
hinweg; wir zerfällen die Elemente und laſſen eines aus dem
anderen hervorgehen; wir ermitteln ſubſtantielle, atomiſti—
ſche Kernpunkte in den Energien; wir zerſtören die alte Me—
chanik und bauen eine neue Kauſalerkenntnis über dem Re—
lativitätsprinzip; wir zwingen die Zeit in die Dimenſionen
des Raumes; grundſtürzend und grundlegend gehen wir vor,
wir Atomiſten.“
Zenon: „Und merkwürdig genug, trotz aller dieſer An—
ſtrengungen ſpart ihr dabei noch Energie. Die ſchichtet ihr
empor zu ungeheuren Stapeln, die faßt ihr in Sammelbecken,
aus denen ihr die Welt ſpeiſt. Nur daß die Rechnung nicht
ſtimmt. Denn das letzte Ziel bleibt unweigerlich ein tech—
niſches Werk mit der letzten Ausſicht auf einen neuen Ge—
ſchwindigkeitsrekord, den ihr für einen Glücksrekord nehmt.
Indem ihr Subſtanz und Kraft in Elektronen zerrechnet,
mit der Abſicht, die Natur zu überliſten, werdet ihr nicht
gewahr, daß dabei eo ipso die gegenteilige Wirkung ein—
tritt: die Natur überliſtet euch! Sie ſchiebt euch Trillionen
von Rechenpfennigen zu, und ihr bucht ſie als bare Münze.
Immer wieder reitet ihr euer Paradepferd, die Konſtanz der
Energie, und überſeht dabei, daß auch Menſchheitsglück eine
Energie iſt, die nicht gleichzeitig erhöht, verbreitert und ver—
tieft werden kann.“
Epikur: „Ein Sophisma, Zeno! In dieſem Zuſammen—
hange dürfteſt du nicht von Glück, ſondern müßteſt von
Kultur ſprechen.“
Zenon: „Und wenn ich nach eurem Rezept die Kultur
analyſiere und nicht auf Glücksmoleküle ſtoße, wozu dann
die ganze Arbeit? Aber halten wir uns für den Augenblick
nicht an Werte, ſondern an Worte, reden wir von der Kultur:
61
eG
1
Iſt der Lebende, weil er drahtlos telegraphiert, kultivierter,
als es mein Lehrer Parmenides war? kultivierter als Pla⸗
to? kultivierter als du ſelbſt, Epikur, der du in deinem Gar⸗
ten zu Athen ſoviel Strahlen der Einſicht und Luſt in einem
Brennpunkt zu fangen wußteſt?“
Epikur: „Heut weiß ich dennoch, was mir damals im
epikureiſchen Garten fehlte: die Kunſt, Erkenntniſſe in
Schöpfungen zu verwandeln. Das war der Neuzeit vorbe—
halten; indem ſie erkennt, bewältigt ſie, ſchafft ſie. Ich ahnte
im Atomismus nur die fernen Linien der Forſchung, nicht
deren Werke, die den Menſchen zum Herrn der Energien
macht.“
Zenon: „Und wiederum ſage ich dir: Es ſtimmt nicht!
In unzähligen Fällen ging das Werk vorauf, die Theorie
folgte: Heron von Alexandrien konſtruierte die erſte Dampf—
maſchine, ohne von dem Bombardement der Gasmoleküle
gegen die umſchließenden Wände eine Ahnung zu haben. Der
Kompaß, die Elektriſiermaſchine wurden erfunden, als der
Begriff des magnetiſchen Feldes, der Kraftlinie, des elektri—
ſchen Potentials noch nicht exiſtierten. Die ſelbſttätige
Dampfſteuerung war das Werk eines britiſchen Kindes, das
ſich mit dieſer Erfindung nur die Langeweile vom Halſe
ſchaffen, aber nicht den Weg von der Erkenntnis zur Energie—
bewältigung finden wollte. Der Erbauer des erſten Fern—
rohrs wußte nichts von Billionenſchwingungen des Licht—
äthers, die galvaniſchen Werke erwuchſen nicht als Blüte aus
erkannten Geſetzen, ſondern aus einem doppelten Zufall un—
ter Aſſiſtenz toter Fröſche. Im Grunde kommt es aber auch
nicht darauf an, in welche Praxis die Erkenntniſſe münden,
ſondern ob ſie uns dem Weltgeiſt näherbringen. Das eben
leugne ich gegenüber der atomiſtiſchen Kleinarbeit, die im
62
Exakten nur wiederholt, was uns im Groben die Danaiden
ſchon vorgemacht haben. Als ich vorhin in deinen Büchern
blätterte, Lukrez, ſtieß ich auf den Atomiſten Thompſon und
auf fein Wort: Die Annahme der Atome kann keine Eigen⸗
ſchaft der Körper erklären, die man nicht vorher den Ato—
men ſelbſt beigelegt hat. Eure Feinmechanik durchläuft
alſo einen circulus vitiosus. Jedes Atom repetiert die Uns
erklärlichkeit der ganzen Welt, jede hohe Zahl potenziert deren
Rätſel, jede Helligkeit interferiert mit anderer Helligkeit und
erzeugt eine Finſternis. Zugegeben, daß ihr die Oberfläche
des poſitiven Wiſſens vergrößert, ſo wächſt damit nur die
Oberfläche des Unbekannten, denn beide berühren ſich und
ſind identiſch. Wie ich ſchon in Elea verkündete und Pascal
nach mir ſehr treffend weiterſagte.“
Damit verließ Zenon das Laboratorium und wanderte hin⸗
aus in die asphodeliſche Wieſe, wo zahlloſe Taumoleküle
in den Gräſern iriſierten. Und er empfand ſie deutlich als
zahllos, hielt es aber für unerheblich feſtzuſtellen, ob es
ſich um Tauſende oder um Trillionen handelte.
63
Die entlarvte Natur
Ein Forſcher bereitet zu beſonderem Zweck einen Aufguß
über gewiſſen Pflanzenfaſern. Nach etlichen Tagen entwickelt
ſich in der Flüſſigkeit ein munter bewegtes, nur in ſtarker
Vergrößerung erkennbares Völkchen von Infuſorien. Sie
ſcheinen im allgemeinen mit ihrem Daſein zufrieden, nur ein
beſonders geſcheites Wimpertierchen nimmt ſich eine Kritik
heraus und teilt ſie ſeinen Artgenoſſen mit: in dem Tropfen
ſei es zu eng, die Nahrungsverhältniſſe ließen zu wünſchen
übrig, ja ihr eigener Bau mit Häutchen, Wimpern und Gei—
ßeln ſei eigentlich als verfehlt zu betrachten. Und rückſchlie—
ßend auf die Entſtehungsurſache kommt der winzige Kritiker
zu der Folgerung: da ſeien gewiß grobe Fehler vorgefallen;
und er ſelbſt, der zwerghafte Wimperträger, hätte das alles
viel beſſer gemacht.
Der Vorgang iſt unmöglich. Auch das klügſte Infuſions—
tierchen findet keinen Gedankenweg von ſich zu dem Forſcher,
der den Aufguß bereitete, zu den Abſichten, die ihn leiteten,
zu den Entwicklungstatſachen, mit denen er rechnete. Das
denkende und kritiſierende Infuſorium iſt ein Unding. Oder
doch nicht?? wäre es vielleicht nur ein verkleinertes Ab—
bild des Forſchers ſelbſt, der jene Phantaſie belächelt und
nachher in ſeiner Vorleſung genau die nämlichen Denkwege
einſchlägt?
64
| Ja, dieſer Forſcher begibt ſich in den Hörſaal und erörtert
dab
dort die Abſichten der Natur. Er vergleicht ſie mit ſeinen
eigenen und entdeckt Fehler in dem Schöpfungsplan, beſon⸗
ders im Aufbau der Organismen. Er weiſt nach, wo ſie
fehlgegriffen und wie man das und jenes hätte beſſer, folge
richtiger, zweckentſprechender machen können. Das von ihm
gern gebrauchte Wort „Allmeiſterin“ erhält einen ironiſchen
Nebenton. Denn dieſe Allmeiſterin hat Vorſchriften des Ge—
ſchehens aufgeſtellt, Naturgeſetze, die unter der Sonde des
Menſchenverſtandes ſozuſagen ſittliche Schwächen verraten.
Der Dozent geht noch weiter: er ſpricht geradezu von Uns
tugenden der Natur und weiſt deren Vorhandenſein mit er—
ſtaunlichem Scharfſinn nach.
Er kann ſich dabei auf berühmte Vorgänger berufen, wenn
man nämlich den Wortlaut der Großen gelten läßt, die mit
der Natur nicht einverſtanden waren und ſich mit ihr ſcharf
auseinanderſetzten. An ihrer Spitze ſteht der Gewaltigſten
einer, vielleicht der größte in der Zuſammenfaſſung natur—
wiſſenſchaftlicher und philoſophiſcher Erkenntnis: Hermann
Helmholtz. Ob er es genau ſo anthropomorphiſch, ver—
menſchlichend, meinte, wie er es ſagte, bleibe einſtweilen au=
ßer Betracht. Aber geſagt hat er es, und ſein Wort bean—
ſprucht den Wert eines geſchichtlichen Urteilsſpruchs.
Er erging gegen die Natur als Verfertigerin des menſch—
lichen Auges. Helmholtz leugnete nicht gewiſſe bewunde—
rungswürdige Eigenſchaften dieſes Organs, aber heftig be—
mängelte er den Umſtand, daß bezüglich der Hornhaut und
Kriſtallinſe keine richtige Zentrierung ſtattfindet. Und er er⸗
klärte: brächte mir ein Mechaniker ein Inſtrument ſo vol—
ler Fehler und unnötiger Erſchwerungen, ſo würde ich ihm
die Tür weiſen! Alſo ein Rüffel in ſtärkſter Form.
Moszkowski, Der Sprung Über den Schatten 5
65
Hiernach hat alſo die Natur entweder nicht genügend Optik
ſtudiert, oder ſie hat das Studierte nicht recht begriffen, oder
ſie verfuhr mit unzureichender Geſchicklichkeit; falls nicht
noch ärgere Sünden im Spiele ſind. Denn ſchließlich hat
doch die Mechanikerin Natur als Vorausſetzung ihrer Arbeit
die ganze Weltmechanik geſchaffen, und dieſe ſtützt ſich auf
einen Satz, den Galilei 1638 entdeckt hat: auf das „Träg—
heitsgeſetz“. Wie ſchlau! Sie verordnet als durchgrei—
fendes Leitmotiv eine Untugend und nimmt ſie für ihre ei—
genen Geſtaltungen in Anſpruch. Jenes Geſetz, — auch das
iſt geſagt worden, — bedeutet nichts anderes als den Deck—
mantel für jede flüchtige Arbeit in der Weltwerkſtatt: Die
Natur iſt träge, ſie ſcheut die Arbeit, ſie gibt ſich nicht genug
Mühe bei ihren Herſtellungen.
Das angeblich verſtümperte Auge ſoll nur einen beſonders
ſinnfälligen Beweis darbieten. Aber auch andere Organe lie—
fern den Anlaß zu trübſeligen Wahrnehmungen. Vor al—
lem: die Natur überprüft nicht, was ſie einmal gemacht hat,
ſie erneuert nicht das Erneuerungsbedürftige, verbeſſert keine
Schäden. Wegen dieſes Verhaltens hat ihr Metſchnikow
vom Pafteur-Inftitut, Mitſchöpfer der organifchen Immuni—
tätslehre, tüchtig die Leviten geleſen:
Wenn man alten Hausrat übernimmt, ſo findet man unter
noch brauchbaren auch unnütze und ſogar gefährliche Stücke;
z. B. wir benützen elektriſches Licht und erben eine Lichtputz—
ſchere. Der Menſch hat Organe geerbt, die ſolchen Möbeln
gleichen. „Der Blinddarm iſt die Lichtputzſchere.“ Die
Natur will nicht einſehen, daß ſie uns damit nur eine böſe
Laſt aufpackt. Sie erſchafft immer wieder, aus bloßer über—
lebter Routine, das völlig zweckloſe und ſtörende Organ, das
wir, wenn es nur irgend geht, herausſchneiden und fort—
66
werfen ſollten. Ebenſo liegt es beim Dickdarm. Da dieſer
nicht nur zu nichts dient, ſondern täglich ungefähr 120 Bil-
lionen Bakterien ernährt, wird er als Mikrobenſchützer zum
Herd vieler ernſter Krankheiten.
Sogar den Magen hielt Metſchnikow für das Ergebnis
einer Pfuſcherarbeit, wenigſtens inſofern, als auch in ihm
die Trägheit und abgeſtandene Routine fortwirke. „Die Na—
tur will nicht einſehen ...“ ſagte der Gelehrte und überließ
es ſeinen Hörern, die Folgerung auf Unklugheit oder böſen
Willen zu ziehen; vielleicht auf beides. Der Profeſſor als
Staatsanwalt betont die Tatſchuld und läßt die Ausrede auf
das Trägheitsgeſetz höchſtens als mildernden Umſtand gel—
ten. Die Natur hätte eben einſehen müſſen, was ihm,
dem hellſichtigen Metſchnikow, ſo klar vor Augen lag.
Zweifellos hatte die Natur im Anbeginn die Wahl zwiſchen
verſchiedenen Arbeitsmethoden. Deren Ergebnis, die wirk—
liche Welt, iſt nach Leibniz die beſte unter allen möglichen;
Schopenhauer ergänzt: aber immer noch ſchlechter als gar
keine. Der uns zeitlich näherſtehende Forſcher verfährt radi—
kaler. Er greift beſtimmte Organe heraus und erklärt: der
wirkliche Dünn- und Dickdarm iſt ſogar ſchon der ſchlechteſte
unter allen möglichen Därmen.
Und da öffnet ſich obendrein noch eine höchſt bedenkliche
Gegenrechnung. Sie entſpringt dem Bewußtſein von den
fehlenden Organen. Wie? die Natur hat uns hinausge—
ſtellt in ihr Erſchaffenes, um deſſen Botſchaften zu verneh—
men, und ſie verſagte uns hierfür die notwendigſten Mit—
tel und Organe? In unendlichen Schwingungen umgibt uns
dieſe elektro⸗magnetiſche Welt, und wir können fie nur auf
mühevollſten Umwegen errechnen, erahnen, in unkenntlichen
Verkleidungen den mangelhaften Sinnen zuführen, aber nie=
5 5
en
mals in ihrer Urform ſpüren! Unſer auf Optik eingeftelltes
Auge iſt ein blindes Werkzeug im Verhältnis zu dem elek⸗
triſchen Auge, das uns die Natur verweigerte, unſer Ohr
iſt taub, unſer Taſtſinn ſtumpf in dieſer elektriſchen Unend—
lichkeit; in ihr ſollen wir uns zurechtfinden wie ein in den
Himalaja verſchlagener Wanderer, der als Wegweiſer ein
Handbuch vom Thüringer Gebirge mitbekommen hat. Welche
unzweckmäßige Knauſerei! Niederen Tieren, wie dem Zit⸗
terrochen, dem Nilwels, ja ſogar dem lebloſen Magneteiſen
ward dieſer Sinn zur Orientierung verliehen; und der Menſch
braucht den ungeheuren Weg von den altägyptiſchen Weiſen
bis zu Guericke und Volta, um ſich nur einen kümmerlichen
Stecken zur tölpelnden Vorwärtstaſtung zurechtzuſchnitzen!
Alſo käme auch der Geiz auf die Liſte der Naturſünden,
und dicht darunter die ſinnloſe Verſchwendung, in Keimen,
in Räumen, in ungenützten Kräften. Beide zuſammen er⸗
geben eine bis zur Spitze getriebene, in allen logiſchen Zick—
zackſprüngen taumelnde Inkonſequenz der Natur, die man
ja auch ſchon aus ihrem ureigenen Geſetze ableiten kann. Sie
erfand die kürzeſte Linie, angeblich als Regel für die Voll-
ziehung größter Aufgaben mit dem kleinſten Kraftaufwand
und wurde dafür von Fermat, Maupertuis, Euler irrtüm⸗
licherweiſe belobt; und daneben erfand ſie die längſte Linie,
das Prinzip des größten Umweges, in der Züchtung aller
Organismen. Denn wenn nach der Selektionslehre immer
nur das paſſendſte Weſen übrig bleibt, und wenn dabei
keine einzige Entwicklung ihren Abſchluß fand, ſo beweiſt das
doch nur, daß bisher noch kein einziges Exemplar richtig in
die Welt gepaßt hat, daß der Natur bisher alles ohne Aus-
nahme mißglückt iſt. Ob Art, ob Einzelweſen, ob Organ,
gleichviel; die Natur hantiert an ihnen mit Geiz, Verſchwen⸗
68
T
5 dung, Grauſamkeit, Trägheit und Überſtürzung, zeigt immer
an einem Prinzip, daß das andere nicht ſtandhält. Millionen
von Jahren hat ſie verbraucht, um aus einem Pigmentfleck
ihr Paradeſtück, das Auge, zu entwickeln; ein Fehlerwerk,
das Helmholtz' Mechaniker in ernſte Unannehmlichkeiten
mit ſeinem Auftraggeber verwickelt hätte.
Das Regiſter mit ſeinen Bekräftigungen könnte über hun—
dert Seiten weit fortgeführt werden. Aber wer ein Buch
daraus machen will, vergeſſe nicht, das letzte Kapitel an den
Eingang anzuknüpfen: an das Aufgußtierchen, das ſich über
den Aufguß beklagt. Denn über den Zirkelſchluß gelangen wir
nicht hinaus. Sind die Werke verfehlt, ſo iſt es auch der Ver⸗
nunftmaßſtab, den wir in uns vorfinden, und jene erſcheinen
ſo, weil wir ſie mit einem irreführenden Werkzeug meſſen.
Es bleibt der Sprung über den eigenen Schatten, wenn der
Forſcher im Unbegreiflichen Vollkommenheiten oder Mängel
ſucht; nichts anderes iſt da zu erſpringen, als die Unvoll—
kommenheit des Forſchenden. Keiner zuvor und Keiner nach
her hat das ſo kurz und ſchlagend ausgeſprochen wie Goethe
mit ſeinem weltumſpannenden Satze: „Der Menſch begreift
niemals, wie anthropomorphiſch er iſt!“
69
Das Glück in mathematiſcher
Beleuchtung
„Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück iſt im⸗
mer da!“ — Bei aller Wertſchätzung Goetheſcher Lebens—
weisheit kam mir dieſer Befehl in jener Stunde ziemlich läp⸗
piſch vor. Denn ich hatte ſoeben wieder einmal gründlich am
Glück vorbeioperiert, wie das ſo in Monte Carlo ehedem zu
meinen Lebensgewohnheiten gehörte. Das Glück iſt immer
da — zweifellos! Es liegt immer auf einer Farbe und auf
einer Nummer, und es läßt ſich auch ergreifen, wenn man
gerade richtig herauskommt. Aber gelernt kann das nicht
werden, nicht mit Ausdauer, Talent und Fleiß, von keinem
Manne wenigſtens, denn dieſes Gelernthaben bleibt das vor—
behaltene Recht einer Frau, der Madame la Banque, in deren
Aktivpoſten ſich meine Einſätze mit ſchöner Regelmäßigkeit
in Dividenden verwandelten.
Vor dem Cafe de Paris ſaß ich einſt in der warmen Winter:
ſonne und dachte der letzten Serien, die für mich ſo ſeriös
verlaufen ſollten. Es ſitzen dort wenige, die nicht an Glück
und Unglück denken. „Höchſtes Glück der Erdenkinder iſt
nur die Perſönlichkeit!“ Wieder ſo eine liebe Goetheſentenz,
mit der in Monte Carlo nicht das leiſeſte anzufangen iſt.
Alſo an meiner Perſönlichkeit ſoll ich mich in dieſer Stunde
70
der Zerſchmetterung erfreuen, an meiner pechbehafteten, im⸗
mer daneben ratenden, total ausgebeutelten Perſönlichkeit.
Und gleich im Superlativ als am „höchſten“ Glück! Wäh⸗
rend dieſes ſich doch ganz klar auf der verdammten Nummer
32 etabliert hatte, die im Laufe einer Stunde achtmal heraus—
gekommen war. Hätte da nur meine Perſönlichkeit drauf—
geſeſſen! Nein, definitiv, davon hat Goethe nichts verſtan—
den, eher ſchon der Schubertſche Wandersmann: „Da wo du
nicht bift, auf dem numéro en plein, wo du nicht ſetzt,
da iſt das Glück!
Am nämlichen Tiſch nahm ein älterer Herr Platz, der mit
ſeiner gänzlich unmodiſchen Kleidung nicht recht in dieſen
Lebenskreis zu paſſen ſchien. Mein Name iſt Bernoulli, ſagte
er, und da Sie mich als gebildeter Menſch vermutlich ſo—
gleich fragen werden, ob ich mit der berühmten Gelehrten—
familie gleichen Namens zuſammenhänge, ſo ergänze ich:
Daniel Bernoulli, geboren 1700, der glänzendſte Vertreter
der Bernoulliſchen Dynaſtie, ſozuſagen der gefeiertſte Mathe—
matiker meiner Zeit, zehnmal mit dem Preis der Pariſer
Akademie gekrönt.
Ich hätte nun eigentlich über dieſen Anachronismus ſtau—
nen müſſen. Allein man wundert ſich nicht an der Riviera.
Das Abenteuerliche iſt ja hier die Regel. Eine lückenloſe Folge
von zweiundzwanzig Rouges erſcheint im erſten Anblick un—
wahrſcheinlicher als das Auftauchen eines Menſchen aus dem
achtzehnten Jahrhundert. Wer, wie ich, eine ſolche unmög—
liche Serie leibhaftig erlebt hat, der behält keinen Sinn für
andere Überraſchungen übrig. Ich wunderte mich alſo nicht
im geringſten, ſondern fragte einfach: Spielen Sie?
Gewiß ſpiele ich, antwortete Bernoulli. Ich ſpiele mit
dem Einſatz mathematiſcher Methoden und gewinne dabei
71
Überzeugungen, die ſich von denen der Mitwelt ſehr erheblich
unterſcheiden. Ich berechne das menſchliche Glück und füge
hinzu, daß alle Glückswertungen außer der meinigen falſch
ſind und an einem bösartigen Denkfehler leiden.
Ach, Herr Bernoulli, entgegnete ich, ich weiß, worauf
Sie hinaus wollen und möchte Sie bitten, ſich nicht zu be—
mühen. Alle dieſe Wahrſcheinlichkeitsrechnungen ſind für
mich olle Kamellen. Sie werden mir beweiſen wollen, daß
kein Syſtem ſtandhält, daß die Bank durch das Zero der
Roulette und durch das Refait des Prente et Quarante ein
Übergewicht beſitzt, das ſich mit dem Zwang der großen
Zahl unter allen Umſtänden durchſetzt. Das ſind papierene
Weisheiten, die theoretiſch feſtſtehen mögen, aber vor der
Praxis ihren Sinn verlieren. Ich zum Beiſpiel kann jeder
Wahrſcheinlichkeit zuwider überhaupt niemals irgend etwas
gewinnen. Und durch keinen Beweis können Sie die Mög-
lichkeit aus der Welt ſchaffen, daß ein Glückspilz mit einer
Patrone von fünf Franes die vierzig Millionen der Bank in
die Luft ſprengt. Er braucht nur ſoviel Glück zu entwickeln
wie ich Pech, dann ſtößt er ſich auch nicht mehr an der Grenze
des Maximums; denn Zufall iſt alles.
Bernoulli: Wir reden aneinander vorbei. Sie berühren
da Dinge, die in das Gebiet der unwahrſcheinlichen Wahr—
ſcheinlichkeiten fallen, während meine Theorie prinzipiell ganz
anders gerichtet iſt und das Glück an der Wurzel erfaßt.
Stellen Sie ſich einmal vor, das Zero wäre gar nicht vor=
handen; dann würden Sie und die Bank nach Allerwelts—
meinung unter gleichen Chancen ſpielen. Sie ſind ferner da—
von überzeugt, daß Sie und jeder Mitſpieler im Anfangs—
punkt, ehe noch eine Entſcheidung gefallen iſt, von den Wech—
ſelfällen am grünen Tiſch in gleicher Weiſe begnadet oder
72
Sal Pe ae
verurteilt werden können. Da eben liegt der Kardinalfehler,
den ich ſchon vor 180 Jahren beſeitigt habe und der doch
noch immer in allen Köpfen ſpukt. Nach meiner Theorie
ſtellt der Vermögenszuwachs, obſchon er für den Einzelfall
berechenbar iſt, niemals etwas Abſolutes vor. Er muß viel⸗
mehr jedesmal als ein Abhängigkeitswert des bereits vor⸗
handenen Stammvermögens betrachtet werden; und zwar
als eine abnehmende Funktion, umgekehrt proportional
dem vorher vorhandenen Vermögen. Was Sie und mit
Ihnen alle aufgeklärten Haſardmenſchen herausrechnen, iſt
nichts anderes als die „mathematiſche Hoffnung“, der ich
einen anderen, weit fruchtbareren Begriff entgegenſtelle:
„die moraliſche Hoffnung“.
Ich: Endlich einmal etwas Moraliſches in Monte Carlo!
Bernoulli: Über die Güte des Ausdrucks läßt ſich ſtrei⸗
ten. Aber er iſt ſo in die ſtrenge Literatur übergegangen, und
deshalb wollen wir ihn beibehalten. Die moraliſche Hoff:
nung alſo umſpannt nicht den ziffernmäßigen Ausdruck des
möglichen Glücksfalls, ſondern den wirklichen Glückswert, den
er juſt in dieſem Augenblick und juſt für dieſen Spieler dar⸗
ſtellt. Sie faßt einzig und allein den wirklichen Vorteil
ins Auge. Was heißt das: 12000 Franes Gewinn? Ein
Vermögen für Sie, eine ſehr fühlbare Gefühlsſteigerung,
wenn Ihre Kaſſe vorher nur 100 Franes wert war; eine
Gleichgültigkeit für Herrn Vanderbilt, der neben Ihnen ſteht
und genau ſo pointiert wie Sie. Und nun kommt das Er⸗
ſtaunliche: dieſe umgekehrte Proportionalität, auf der die
moraliſche Hoffnung ruht, iſt ebenſo der rechneriſchen Be—
handlung zugänglich wie die niedrige mathematiſche Hoff—
nung, von der die pöbelhaft elementare Wahrſcheinlichkeit
einzig Notiz nimmt. Nur daß wir dabei, wie Sie ſchon ahnen
73
mögen, zu ganz anderen und ſehr überrafchenden Ergebniſſen
gelangen werden.
Ich: Einen Einwand, Herr Bernoulli! Ich kann mir
Fälle denken, in denen der Vorteil, das Vergnügen am Zu:
wachs, kurz das, was Sie das Moraliſche im Spielzufall
nennen, von ganz anderen Faktoren abhängt als vom Grund⸗
vermögen. Erſtlich iſt das Stammkapital eines Spielers nur
ſchwer zu definieren. Wenn ich mit 100 Franes im Porte⸗
monnaie den Spielſaal betrete und habe dabei 50 000 Franes
als Guthaben im Kredit Lyonnais — mit welchem Kapital
ſpiele ich da eigentlich? Auf welche Summe bin ich als Ge—
fühlsmenſch abgeſtimmt? Oder zerfalle ich da in zwei Per—
ſönlichkeiten, die eine umgekehrte Proportionalität an ſich
ſelber erleben werden? Und ferner: könnte ich nicht, ſelbſt
wenn ich die 100 Franes reſtlos verliere, aus der bloßen
Senſation des Spiels mehr Glücksempfindung, alſo Vor⸗
teil ziehen als wenn ich zu Hauſe in Berlin ein Verleger—
honorar empfange, das ich mir ohne Riſiko, aber vielleicht
auch ohne prickelnde Aufregung erſchrieben habe?
Bernoulli: Sie verwirren die Aufgabe, und Sie brau—
chen Sie nur noch etwas weiter zu verwirren, um die Un—
haltbarkeit Ihres Standpunktes zu begreifen. Nehmen wir
einmal einen Unterſuchungsgefangenen, der, nach der Münze
meiner Zeit gerechnet, 1990 Dukaten beſitzt. Mit 2000 Du—
katen könnte er einen Beamten beſtechen, der ihm die Frei—
heit verſchafft, vielleicht den Galgen erſpart. An dieſem Plus
von 10 Dukaten hängt alſo ſeine ganze Exiſtenz, während die
nämlichen 10 Dukaten für einen weit ärmeren Zeitgenoſſen,
der etwa den vierten Teil beſitzt, nur eine ſchätzbare Annehm—
lichkeit darſtellen, aber durchaus nicht die letzte Rettung. Oder
ein Beiſpiel, das Ihnen näher liegt. Sie ſelbſt haben einmal,
74
wie ich erfuhr, ein Theaterſtück über folgendes Problem ver:
faßt: Ein reicher Geizhals ſoll in den Genuß einer Millionen—
erbſchaft unter der Bedingung treten, daß er vorher ſein
- eigenes Vermögen im Laufe eines Jahres vergeudet. Hier
ſind die Verhältniſſe, der Wert und damit alle Proportionali—
tät geradezu auf den Kopf geſtellt; denn innerhalb des be—
ſtimmten Zeitabſchnittes verwandelt ſich jeder Geldverluſt
in einen Vorteil, während jeder Zuwachs eine fatale Ver—
ſchlechterung der Lage bewirken müßte. Das ſind Ausnahme—
fälle, die man erſinnen und konſtruieren kann, um ein an
ſich klares Lebensprinzip künſtlich zu verſchleiern. Will man
es wiſſenſchaftlich erfaſſen, ſo muß man es im Gegenteil
von jeder willkürlichen Konſtruktionslaune reinigen, damit
es in ungezwungener Natürlichkeit hervortritt. Schält man
es aber ſo heraus, ſo kann kein Zweifel beſtehen, daß der
wirkliche Wert eines Gewinnes, der perſönliche Vorteil, nur
dann ſich erreichen läßt, wenn man deſſen ſtrenge Abhängig—
keit vom Grundvermögen in Anſatz bringt. Und hier führt die
Rechnung nicht auf die einfache Skala, wie man ſie vom
Tableau einer Roulette ableſen kann, ſondern auf eine loga—
rithmiſche Beziehung, welche die Wertverhältniſſe gründ—
lich verſchiebt. Ich will Sie mit einem einfachen Reſultat
bekannt machen, ohne Sie über die logarithmiſchen Unbe—
quemlichkeiten zu führen, die als Barrikaden auf meinem
Forſchungswege lagen. Es ſollen alſo zwei Spieler unter
ganz gleichen Chancen gegeneinander operieren; denken Sie
ſich einen Würfelbecher oder eine Roulette ohne Zero als Ent—
ſcheidungsinſtrument. Jeder Spieler beſitzt 100 Dukaten,
von denen er die Hälfte dem Glückszufall anvertraut. Dann
beſteht ſein Beſitz vor der Entſcheidung aus zwei Werten:
aus den ihm ſicher verbleibenden 50 Goldſtücken und aus der
75
4
Hoffnung auf weitere 100. Dieſe „Hoffnung“ iſt aber,
nach meiner etwas komplizierten und ſchwierigen Regel be—
rechnet, gar nicht 100, ſondern nur 87 Dukaten wert. So
daß alſo jeder der beiden Spieler von vornherein einen
Verluſt von 13 Dukaten erleidet durch die bloße Tatſache,
daß er den Zufall herausfordert und dabei wähnt, daß ſei⸗
nem Riſiko von 50 Dukaten das vollgültige Aquivalent ge⸗
genüber ſteht. Dieſes Aquivalent ſteht eben in moraliſcher Ab⸗
hängigkeit von der Tatſache, daß er im Verluſtfalle
ſein halbes Vermögen eingebüßt haben wird. Geſetzt,
jeder der beiden Spieler beſäße vor dem nämlichen
Einſatz 200 Dukaten, fo erhöht ſich hier der Wert der Ge—
winnhoffnung, weil ihm ein Fehlſchlag nur noch den vierten
Teil ſeines Stammkapitals dahinraffen würde. Allein ein
Nachteil von 6 Dukaten bliebe immer noch beſtehen, niemals
würde der moraliſche Gewinnwert die ſcheinbar ſo unzwei—
deutige ziffernmäßige Grenze erreichen, und hieraus ergibt
ſich, daß zwei Perſonen, mögen ſie beide dürftig bemittelt
oder Kröſuſſe ſein, in jedem Fall unklug handeln, wenn
ſie ſich zu einem Spiel gegeneinander unter völlig gleichen
Chancen verabreden. Aber die Partner haben einander nichts
vorzuwerfen: Die Dummheit rechts, die Dummheit links,
das Glücksſpiel in der Mitten!
Ich: Da hätten wir alſo zu Ihrer moraliſchen noch eine
Klugheits- und Torheitsmathematik, ſozuſagen eine prozen—
tuale Einteilung der Spielervernunft. Aber ich muß Ihnen
ſagen, Herr Bernoulli, das Moraliſche, das ſich bekanntlich
immer von ſelbſt verſteht, liegt weitab von Ihrem Moral—
begriff; und wenn es im Hirn zwei Zentren gibt, von denen
das eine den elementaren Spieltrieb, das andere Ihre loga—
rithmiſch gewogene Spielklugheit beherrſcht, ſo ſehe ich da
76
A
75 1
vorläufig keine Möglichkeit einer Verſtändigung zwiſchen dies
ſen beiden Zentren.
Bernoulli: Ich eigentlich auch nicht. Denn wenn es
mir auch gelungen iſt, einen alten Denkfehler nachzuweiſen,
ſo bleibt doch von der Aufzeigung bis zur Ausrottung ein
weiter Weg. Im Grunde waltet hier eine pſychiſch-optiſche
Täuſchung, derjenigen vergleichbar, die uns in der Jugend,
bei vorwärts geſtellter Perſpektive, das Leben als ungeheuer
lang, im Alter, bei rückwärts geſtellter, als ſehr kurz vor—
ſpiegelt. So zeigt auch jedes perſönlich erlebte Spielereignis
avant ein ganz anderes Geſicht als après. Nur wäre es
ſehr unklug, das perſönliche Verhalten im Anfang nach der—
jenigen Perſpektive abzumeſſen, einzurichten und zu beurtei—
len, die ſich am Ende, alſo nach der Entſcheidung, darbietet.
Wie auch ein Jüngling ſehr töricht handeln würde, wenn
er ſeinen Exiſtenzplan auf die verkürzende Lebensoptik des
Greiſes einſtellen wollte. Einem ähnlichen Fehler verfallen
aber die Spieler ausnahmslos. Weil ſie ſchon ſo viele Ent—
ſcheidungen erlebt, ſo oft die Perſpektive von der anderen
Seite erprobt haben, trübt ſich ihnen der Blick für die Sach—
lage, die noch unter dem Zeichen der Erwartung ſteht. Viel:
leicht lebt im Unterbewußtſein manches Spielers eine Spur
jener logarithmiſchen Einſicht, vielleicht ſtrebt gar einmal
einer bis zur Erkenntnisquelle ſelbſt“). In meinem Text wird
) Specimen Theoriae novae de Mensura Sortis auctore
Daniele Bernoulli, 1731; herausgegeben von der Petersburger
Akademie der Wiſſenſchaften. Eine erweiterte Ausgabe erſchien 1896
bei Duncker & Humblot in Leipzig unter dem Titel „Verſuch
einer neuen Theorie der Wertbeſtimmung von Glücksfällen“, aus
dem Lateiniſchen überſetzt und mit Erläuterungen verſehen von
Profeſſor Dr. Alfred Pringsheim; mit einer Einleitung von Dr.
Ludwig Fick. Auf dieſe Abhandlung ſeien beſonders diejenigen
77
er dann die logarithmiſche Kurve finden, die auf Grund der
ihm vorſchwebenden Gewinne die wirklichen Vorteile in Zeich—
nung ſymboliſiert. Er wird beobachten, daß dieſe Kurve auf
dem Gewinnaſt nur langſam anſteigt, während ſie auf der
Verluſtſeite im ſteilen Gefälle niederſtürzt, daß alſo die mo—
raliſchen Vorteile weit langſamer wachſen als die baren Ge—
winne, wogegen die moraliſchen Verluſte ſich weit rapider
verſchärfen als die entſprechenden Vorteile. Ja, dieſe Kurve
wird ihm ſogar den Begriff einer unendlichen Dummheit
nahebringen, die nämlich nach dem klaren Verlauf der Linie
dann eintritt, wenn jemand ſein ganzes Vermögen auf eine
Karte ſetzt, mag die Gewinnhoffnung auch noch ſo groß ſein.
Ganz ſinnfällig zeigt ſich hier, daß der Klugheitskalkül über
die landläufige Wahrſcheinlichkeitsrechnung weit hinaus—
greift, daß ſie die Daten dieſer Rechnung erſt recht eigentlich
in den Bereich der Intelligenz erhebt. Die Bank von Monte
Carlo überhöht ihre Gewinnausſicht nach dem Grundſatz
eines vorſichtigen Kaufmanns, der gute Geſchäfte machen
will. Aber ſelbſt beim Gleichgewicht aller Chancen müßte
man für ſämtliche Spieler — in der Vorausrechnung —
einen Verluſt im Sinne der moraliſchen Hoffnung heraus—
rechnen, denn meine Kurve lehrt: die Klugheitsgrenze wird
erſt dann erreicht, wenn der erhoffte Gewinn in barem Wert
ausgedrückt größer iſt, und zwar durchſchnittlich auffal—
lend größer als der Einſatz.
verwieſen, denen an einer exakten Beweisführung für die aben—
teuerlich klingenden Behauptungen in der Dukatenrechnung ge—
legen iſt. Durch die ebenſo tiefgründigen wie eleganten Erläu—
terungen des berühmten Münchener Mathematikers Pringsheim
iſt das Werk wiſſenſchaftlich noch weiter vertieft, künſtleriſch er—
höht worden.
78
Damit erhob ſich Bernoulli, um ſeitwärts zu wandeln
und in der Richtung der bergwärts anſteigenden Palmen⸗
allee zu verdämmern.
Mir blieb aus dieſer Unterhaltung die Gewißheit, daß
man die Bank von Monte Carlo, wenn auch nicht als eine
moraliſche Anſtalt, ſo doch als eine eminent weiſe Anſtalt zu
betrachten habe. Dann eilte ich zum Telegraphenbureau,
um auf dem Wege des Funkſpruchs ein neues Betriebskapital
in meine Börſe zu beſchleunigen. Denn ich verkehre ſehr gern
mit klugen Leuten, ſelbſt auf die Gefahr hin, in der Loga—
rithmenlinie Bernoullis eine ſchlechte Zenſur zu erhalten.
79
Der Projektilzug
So weit wären wir nun. Das gelöſte Problem liegt in
Form des „fliegenden Zuges“ nach dem Grundriß des In—
genieurs Bachelet vor, und die Mitwelt hat mit gelindem
Erſtaunen darüber quittiert; ſo wie man eben heutzutage von
einem neuen Rekord anerkennend Notiz nimmt. Ein guter
neuer Aktivpoſten im Konto des zwanzigſten Jahrhunderts.
In der Rubrik „ſchnellſte Reiſeverbindungen von und nach
Berlin“, Numero ſoundſo des Reichskursbuches in ſpäterer
Friedensausgabe, wird es für eilige Gemüter etliche tröſt—
liche Veränderungen geben: nach Frankfurt am Main eine
Stunde, nach Paris zwei Stunden, und wenn der Keller:
mannſche Tunnel erſt fertig iſt, nach New Vork vom Früh⸗
ſtück bis zum Mittagbrot. Wirklich höchſt erfreulich für
heute, vorläufig. Der nächſte Erfinder wird's ſchon beſſer
machen.
Woran aber nicht jedermann im erſten Anlauf denkt, iſt
folgendes: es handelt ſich hier nicht mehr um eine bloß
graduelle Steigerung der Reiſegeſchwindigkeit; wir nähern
uns vielmehr einem kritiſchen Punkte, der eine prinzipielle
Neuordnung der Dinge anzeigt. Denn mit den 550 Kilo—
metern pro Stunde erreichen wir nahezu die Geſchwindigkeit
der Projektile. Der fliegende Zug gewinnt ſeine Parallele
nicht mehr aus dem Vergleich mit dem Federzeug der Adler,
80
4
*
* * „
R
| 23 Rauchſchwalben und Brieftauben, ſondern er wird ein Mit⸗
bewerber der Geſchoſſe. Auf die Sekunde berechnet leiſtet
er 152 Meter, wogegen die ſchnellſten Vögel mit ihren 60
Metern geradezu als Flugſtümper erſcheinen. Auch der Kol—
lege Pfeil, der ſich von der Armbruſt losringt und ehedem
den Reſpekt der Dichter herausforderte, iſt längſt überholt.
Die nächſten Vordermänner des fliegenden Zuges ſind
nunmehr der Schall in freier Luft mit 330 Metern und das
Haubitzengeſchoß mit 220 Metern. Kein Zweifel, daß ſchon
die nächſte techniſche Vervollkommnung dieſen geringen Vor:
ſprung überwinden wird. Damit aber treten neue Möglich—
keiten auf den Plan, eröffnen ſich neue Ausblicke, denen
gegenüber der Maßſtab des Kursbuches völlig verſagt. Da
dürfte eine kosmiſche Betrachtungsweiſe angebrachter er—
ſcheinen.
*
Nehmen wir alſo den Begriff: Menſch — Projektil als
verwirklicht. Die Phantaſie braucht ſich hierzu nicht mehr
anzuſtrengen, denn wir befinden uns ſchon heute hart an
dieſer Weſensgleichheit, und wenn Bachelet ſenior 550 Kir
lometer herausbrachte, ſo wird ein Bachelet junior den feh—
lenden Reſt beſtimmt hinzuerfinden. Da ergeben ſich zu—
nächſt einige Phänomene, die aus dem Rahmen der üblichen
Reiſeerlebniſſe merklich herausfallen.
Alſo erſtens: als Fahrgäſte der Zukunft überholen wir
den Ton. Stellen wir uns vor, ein kapriziöſer Fahrgaſt
habe auf die Plattform des Wagens ein Klavier geſchafft
und ſpielte die Reihenfolge der Töne vom Baß zum Diskant,
jo würde er damit für fein eigenes Ohr eine ſtumme Mus
ſik hervorbringen. Denn die Schallgeſchwindigkeit bleibt hin⸗
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 6
81
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ter ihm zurück, und er felbft fliegt ſeinem Konzert davon.
Erſt wenn ſich das Zugtempo verlangſamt, dringen die aku—
ſtiſchen Sendboten zu ihm, allein — o Wunder! — er hört
nunmehr etwas ganz anderes; ja das genaue Gegenteil deſ—
ſen, was er zu hören vermuten durfte. Denn die zuletzt
ausgeſandten Schallwellen erreichen natürlich ſein Hörorgan
zuerſt; die erſten, räumlich weit zurückliegenden Töne mel-
den ſich als die letzten; ſtatt der aufſteigenden Tonleiter,
die er wirklich geſpielt hat, hört er ſomit zu ſeiner Über—
raſchung die abſteigende Skala vom Diskant zum Baß.
Dieſer Schnellzug wirkt alſo wie ein Phonograph mit ver—
kehrt abgedrehter Schallplatte. Und wenn er, als Luxus-
zug gedacht, zur Unterhaltung der Fahrgäſte wirkliche Mu—
ſik mitnimmt, ſo genießen dieſe von einem gewiſſen Zeit—
punkt an die Vortragsſtücke von rückwärts, was bei man⸗
chen modernen Kompoſitionen eine weſentliche Verſchöne—
rung des Klangcharakters bewirken wird.
Allein es bedarf gar keiner mitgenommenen Inſtrumente,
um den Inſaſſen höchſt auffällige akuſtiſche Wirkungen zu
vermitteln. Es genügt, wenn ſie an einem tönenden Bahn—
hofsſignal oder an einer läutenden Turmglocke vorbeifahren.
Schon unfere heutigen Erfahrungen im gewöhnlichen P-Zug
ſagen uns, daß der Ton bei Annäherung höher wird, bei
Entfernung ſich vertieft, je nachdem wir pro Sekunde eine
vermehrte oder verminderte Schwingungszahl empfangen.
Dieſer Vorgang (den wir den Doppler-Effekt, die Franzoſen
auch das Fizeau-Prinzip nennen) wird für die Gäſte des Zu—
kunftszuges ein vollſtändiges Überſchnappen der Töne da
draußen zur Folge haben. Denn während man heute im
Höchſtfalle eine plötzliche Anderung um eine Terz beobachtet,
wird nunmehr über die Oktaven hinweg eine ſprunghafte
82
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*
Steigerung der Tonhöhe bis über die Grenze der Wahr—
nehmbarkeit eintreten. Der Signalklang erliſcht mit Über⸗
ſchreitung der zehnten Oktave, alſo gerade dann, wenn ſeine
Nähe den Höhepunkt der Tonſtärke verſpricht. Denn der
gehäuften Wellenzahl gegenüber verlegt ſich das Ohr aufs
Streiken.
Der Doppler⸗Effekt wird auch das vom Wagenfenſter aus
betrachtete Landſchaftsbild beeinfluſſen. Denn was die Ton—
höhe für den Klang bedeutet, das wird für das Geſicht durch
die Farbe beſtimmt. Nach der phyſikaliſchen Schulauffaſſung
werden zu ſolchen Farbveränderungen Stern-Geſchwindig⸗
keiten vorausgeſetzt. Neuere Forſchungen auf dem Gebiet der
Atomiſtik machen es indes wahrſcheinlich, daß ſchon Zeit—
maße, die zur Gattung des „fliegenden Zuges“ gehören,
ſpektrale Verſchiebungen erzeugen können. Das gelbe Ahren—
feld bleibt nicht mehr unbedingt gelb, ſondern gewinnt eine
Tönung nach grün bei der Annäherung, nach Orange bei
der Entfernung; der am Horizont auftauchende grüne Baum
ſtrebt eine Sekunde ſpäter nach Blau. Freilich werden zur
Wahrnehmung ſolchen Regenbogenſpiels in der Landſchaft
höchſt empfindliche Augen vorausgeſetzt und dazu wohl auch
Reiſegeſchwindigkeiten, die denn doch noch über die von Herrn
Bachelet erzeugten ganz merklich hinausgehen.
Aber was heute als Wahnvorſtellung erſcheint, kann über—
morgen Wirklichkeit werden, und vom 550-Kilometer-Zug
bis zum Projektilzug iſt tatſächlich nur ein Schritt. Die ein—
fache Verdoppelung des jetzt als zuläſſig erkannten Gang⸗
maßes führt bereits dahin, daß wir mit der Sonne, mit
feſtſtehender Zeit reiſen. Nicht mehr die gehende, ſon—
dern die ſtehende Taſchenuhr gibt dann dem Fahrgaſt die
richtige Ortszeit an. Sofern es die Entwicklung von Land
83
zu Land erlaubt, fährt man mittags um 12 Uhr von Berlin
ab und kommt mittags um 12 Uhr in Paris an, nämlich
zum zwölften Glockenſchlage von Notre-Dame, mit einer
abſoluten Fahrzeit von einer Stunde, mit einer relativen
von 0,0. Und wer ſich über geographiſche Ortszeitdifferenzen
hinwegſetzt, wird dann ruhig behaupten können, daß er
gleichzeitig in Berlin und in Paris geweſen ſei.
In techniſchen Dingen gerät die Prognoſe immer zu kurz.
Alle utopiſchen Schriften von ehedem zeigen uns an, daß
die Phantaſie ihrer Verfaſſer auf Krücken ſchlich, während
die Technik ihnen auf Siebenmeilenſtiefeln davonlief. Wir
verlieren uns ſomit ganz gewiß nicht ins Extravagante, wenn
wir für den Blitzzug der Zukunft eine Progreſſion anſetzen,
die ſich aus den bekannten Anfangsgliedern der von uns er—
lebten Zeiten aufbaut.
Seit zwei Menſchenaltern hat ſich das Fahrtempo ver⸗
zehnfacht. Nehmen wir an, daß die Technik dieſes Verhält-
nis nur noch wenige Jahrzehnte durchhält, ſo errechnen wir
für das einundzwanzigſte Jahrhundert einen Projektilzug,
der überhaupt nichts mehr braucht als ſeine eigene Geſchwin—
digkeit, um ſich von allen Beſchleunigungen durch magneti-
ſche, elektromotoriſche Kräfte unabhängig zu machen. Die—
ſer Zug wird ein Planet; er kreiſt als Trabant um die
Erde, bindet ſich an keine Stationen, kennt nur einen Fahr—
plan: „Reiſe um die Welt in infinitum“ und bietet aller⸗
dings für die Teilnehmer den Übelſtand, daß ſie zeitlebens
nicht ausſteigen können; ſelbſt dann nicht, wenn ein Ge—
birge die Fahrtrichtung kreuzt und einen kataſtrophalen Still
ſtand heraufbeſchwört.
Die ganze Rechnung ſcheint freilich ein Loch zu haben, da
fie den Luftwiderſtand nicht berückſichtigte, der als geſchwo—
84
ener Feind jeder rapiden Bewegung gegen ſolche planetariſche
Reiſe ein entſchiedenes Veto einlegen wird. Und zwar nicht
nur dadurch, daß er allmählich die Geſchwindigkeit aufzehrt,
ſondern ſchon im erſten Anlauf. Da beſinnt ſich die Luft auf
die Elemente der Phyſik, auf Reibung und Kalorik, ſie fährt
mit ihren mechaniſchen Wärmeäquivalenten in den Zug und
verwandelt ihn, ehe er noch das Höchſttempo erreichen kann,
in Aſche und Dampf.
Gelänge es aber, dieſen Pl⸗Zug (Planet⸗Zug) nur für wer
nige Sekunden dem Einfluß der Lufthülle zu entziehen und
ihn tangential zur Erde oder vertikal zu beſchleunigen —
Aufgabe der Technik, mithin lösbar! —, jo würde er über⸗
haupt nicht mehr zur Erde zurückkehren, ſondern endlos in
dem Weltenraum fliegen, um eventuell auf einem anderen
Geſtirn zu landen. Dieſe Jules-Verne⸗Leiſtung mit der Reife
nach dem Monde oder dem Mars iſt nunmehr in theore—
tiſch faßbare Nähe gerückt. Der Pl-Zug, dem wir fie zu:
trauen dürfen, ſteht in einem ganz beſtimmten, durchaus
nicht phantaſtiſchen Verhältnis zu einer ſchon heute vorhan—
denen Gegenſtändlichkeit: er verhält ſich zum Bachelet-Zug,
wie dieſer zu einem Poſtwagen etwa, kann alſo der dritten
Generation als eine Möglichkeit, der vierten als eine Wahr:
ſcheinlichkeit verſprochen werden.
Der Ruf: „weh dir, daß du ein Enkel biſt“, verliert dann
ſeine Geltung endgültig. Der Urahne dieſes Enkels wünſchte
ſich einen Zaubermantel mit etwas Feuerluft darunter und
mußte die Hilfe eines Teufels in Anſpruch nehmen, um
dieſen Ausbund aller Fernwünſche zu befriedigen. Und was
leiſtete dieſer mephiſtopheliſche Zaubermantel? Eroberte er
das ungemeſſene Reich des Athers, erhob er den Mann mit
ſeinem fauſtiſchen Drang in jene Zonen, in denen es kein
85
Oben und kein Unten gibt? Ach nein, er beförderte ihn von
Wittenberg bis Leipzig, und feine Feuerluft war eine At—
trappe; zwei Gäule vor einem Landomnibus hätten das—
ſelbe geleiſtet. Der Enkel iſt anſpruchsvoller. Er hat die
irdiſchen Probleme gezählt und gefunden, daß ſie bis auf
winzige Reſte aufgebraucht ſind. Wohl weiß er, daß alles
techniſches Wirken auf Raumerfaſſung hinausläuft, aber ge—
rade deswegen empfindet er es als geozentriſch und rück—
ſtändig.
Ein noch ſchnelleres Schiff, ein noch wirkſamerer Luft—
propeller, eine alles übertreffende Magnetbahn — was ſtel—
len ſie ihm anderes dar als immer wieder augenblickliche
Höchſtleiſtungen im längſt vertrauten, ach ſo engen Erdkreis?
Darüber will er nun endlich hinaus; ſein Zaubermantel ſoll
ſich nicht mehr mit jenen Jämmerlichkeiten abgeben, gegen
die unſere Luftflüge ſchon meteoriſch erſcheinen. Das Uni—
verſum ſoll er feiner Körperlichkeit erſchließen! Und auf ſei—
nem Papier ſteht es, daß dieſe Aufgabe mit einer Sekunden—
geſchwindigkeit von 11 Kilometern zu löſen iſt, notabene nur
für den einmaligen erſten Antrieb; das weitere beſorgen ihm
die Weltmechanik, die Verminderung der Gravitation im
Quadrat der Entfernung und die auf den Projektilzug an—
wendbaren Keplerſchen Geſetze; wohl ihm, daß er ein Enkel
iſt!
Der Weg geht von den Balliſten und Katapulten zu Krupp
und Armſtrong, vom Teekeſſel des Knaben Watt zur Schnell—
zugslokomotive, vom elektriſchen Verſuchsſpielzeug zur Sie—
mens⸗Bahn. Die Anfänge garantieren für die Folgeglieder,
jedes Unmöglich des Philiſters von heute wird durch das
Wirklich vom Folgejahr überrumpelt. Kenntnisreiche und
jeder Illuſion abgewandte Ingenieure verſichern, daß der
86
„fliegende Zug“, aus dem Modell in die Praxis überſetzt,
tatſächlich die angeſagten 550 Kilometer entwickeln wird.
Der winzige Multiplikator 2 erhöht ihn alsdann zum erſten
Projektilzug, der mit dem Schall, mit der Achſendrehung
der Erde in Wettbewerb tritt und bei weiterer Steigerung in—
nerhalb vorausſehbarer Grenzen der Planetenklaſſe zuſtrebt.
Gewiß werden gar bald wieder die ängſtlichen Zweifler
auftreten mit der Frage, ob denn der Menſch das „aushal⸗
ten“ werde; genau wie anno olim, als die erſten Bahnen
Nürnberg —Fürth und Zehlendorf — Potsdam ein neues
Schnelligkeitsmaß aufſtellten und allerhand ärztliche Autori—
täten mit ihren Sorgenköpfen wackelten. Aber der Menſch
hält in dieſem Betracht gar viel aus: er wird mit der Erde
um die Sonne, mit der Sonne nach dem Sternbild des Her—
kules geſchoſſen, und ſeine Nerven ſpüren es nicht. Er wird
ſogar eine Eiſenbahnkataſtrophe im Projektilzug leichter über-
winden als im Bummelzug; denn die letzten Molekularfor—
ſchungen machen es wahrſcheinlich, daß zwei Körper bei hin—
reichend großer Geſchwindigkeit einander durchdringen kön—
nen, ohne ihre Struktur zu zerſtören. Freilich wird hierzu
ein Preſtiſſimo vorausgeſetzt, das zunächſt noch jenſeits des
Vorſtellbaren liegt.
Es kommt aber nicht darauf an, daß der Zug durch eine
Mauer hindurchfährt, wie der Lichtſtrahl durch hartes Glas,
ja nicht einmal darauf, daß wir ſchneller fahren als vor—
dem, ſondern der Kernpunkt der Sache bleibt das veränderte
Ziel. An die Stelle der Stationshäuſer treten Probleme,
tranſzendente Ausblicke in eine erreichbare Welt, die den Enkel
von dem peinlich zu tragenden Erdenreſt, vom Zwang der
irdiſchen Schwere, befreien ſoll.
87
a
Zwiſchen Bergſon und Laplace
Man iſt ſich klar darüber, daß das neunzehnte Jahrhundert
in dem, was man gemeiniglich Fortſchritt nennt, mehr auf—
zuweiſen hat als irgendein Jahrhundert zuvor; ja, es läßt
ſich darüber reden, ob dieſes neunzehnte nicht mit einem
ſtärkeren Saldo abſchneide als die geſamte Entwicklungs—
zeit des Menſchen von der Steinzeit an bis etwa zu den En—
zyklopädiſten. Grund genug für die Spekulation, um ſchon
heute dem zwanzigſten Jahrhundert ein Aquivalenzzeugnis
abzuverlangen und aus dieſen Anfangsgliedern berechnen zu
wollen, ob das zuletzt eingeſchlagene Schrittmaß ſich über:
haupt noch fortſetzen laſſe. Es ſcheint, daß die Prognofen-
ſteller überwiegend zu einem verneinenden Ergebnis gelan—
gen. Sie erblicken eine gewiſſe Enge in den noch übrig gelaſ—
ſenen Problemen und Möglichkeiten und neigen der Anſicht
zu, daß das zwanzigſte Jahrhundert im Grunde nur noch
Reſte aufzuarbeiten haben wird, nachdem das neunzehnte
ſo viele Utopien aus früheren Zeiten nahezu verwirklicht hat.
Es ſoll hier nicht unterſucht werden, ob dieſes Mißtrauen
im rein Techniſchen, Praktiſchen, ja, in allen Strebungen,
die ſich durch Überwindung der Schwierigkeit kennzeichnen,
irgendwelche Begründung findet; obſchon die Verſuchung
naheliegt, hier als gute Trümpfe das Flugweſen, den Funk
ſpruch, die Entdeckung der Erdpole, das Erwachen Oſtaſiens
88
und ähnliche Kulturzeichen auszuſpielen, die weſentlich in
das erſte Zehntel des jungen Jahrhunderts fallen und für
die reſtlichen zweiundachtzig Prozent ſeiner Spanne immer⸗
hin etliches erhoffen laſſen. Hier ſei vielmehr nur auf drei
Elemente verwieſen, die meines Erachtens unſerem Jahr—
hundert ſchon heute zum mindeſten die Gleichwertigkeit, viel—
leicht ein Übergewicht verleihen, obſchon fie ausſchließlich theo—
retiſcher Natur find, ganz und gar keinen Nutzeffekt aufwei—
fen und im Zuge der Dampf- und Elektrizitätskultur vorläu⸗
fig keine Bedeutung beſitzen. Dafür bezeichnen ſie neue Denk—
etappen, die im Lichte der Zukunft als wirkliche große Sta—
tionen der Menſchheit erſcheinen werden, nur vergleichbar
den Einſichten, die wir dem Kopernikus, dem Descartes und
den Klaſſikern der theoretiſchen Mechanik verdanken. Es
ſind: das Relativitätsprinzip, das Quantentheorem und die
Bergſonſche Philoſophie. Die nachfolgenden Erörterungen
ſollen weſentlich von den neuen erkenntnistheoretiſchen Un—
terſuchungen Bergſons ausgehen, weiterhin nachzuweiſen ſu—
chen, daß zwiſchen jenen drei Elementen ein innerer Zu—
ſammenhang beſteht, und ſchließlich hieraus einen Durch—
blick gewinnen, der uns ein unabſehbar großes Neuland der
Denkmöglichkeiten erſchließen wird.
Zum Studium oder gar zur Kritik der Bergſonſchen Phi—
loſophie, wie ich ſie verſtehe, gibt es keine Methode, keinen
ebenen Weg, auf dem Anfang, Mitte und Ende zu unter—
ſcheiden wären. Und da ich von vornherein von der Aus—
ſichtsloſigkeit überzeugt bin, in dieſe Unterſuchungen fo et
was wie eine Architektonik hineinzubringen, ſo will ich ſo
unſyſtematiſch wie nur möglich verfahren; unſyſtematiſch dem
Werk gegenüber, aber mit der ganz beſtimmten Abſicht,
den Leſer in eine beſtimmte Denkgeſtaltung hineinzugewöh—
89
nen, ihn teilnehmen zu laſſen an den Denkerlebniſſen und
⸗zerwürfniſſen, die ich ſelbſt an Bergſon erfuhr, und fie
ſchließlich auf einen Punkt zu führen, von dem ſich ein Hori—
zont von ungeahnter Tiefe eröffnet; nicht auf einem „kö—
niglichen Wege“, ſondern vielfach durch Geſtrüpp, durch
Irrungen und Wirrungen, durch Dunkelheiten, in denen
uns einzig das Prinzip des „Als ob“, das heißt die Mög⸗
lichkeit, durch Falſches ans Richtige zu gelangen, zu wei—
terem Vorſchreiten ermutigen kann. Sehr bequem wird ſich
alſo die Wanderung nicht geſtalten, weder für den Leſer
noch für mich, da ich, weit entfernt davon, einfach „über“
Bergſon zu ſchreiben, über ihn direkt vorzutragen, vielmehr
ſehr indirekt entwickeln will. Mit dem Philoſophen, der
hereintritt, um zu beweiſen, es müßte ſo ſein, und wenn das
Erſt' und das Zweit' nicht wär', das Dritt' und Viert' wär'
nimmermehr, iſt hier nichts anzufangen; wie überhaupt nicht
mit irgendwelchen nach klaſſiſchem Muſter angelegten Li—
nien, die von Vorausſetzung über Behauptung hinweg einen
Beweis erreichen wollen.
Schon in der Bergſonſchen Lehre an ſich liegen die Dinge
ſo, daß man den Anfang nicht verſtehen kann, ohne die
Mittelglieder zu kennen, und daß man dieſe nicht begreift,
ohne das Ende erfaßt zu haben. Ein ſcheinbarer oder wirk—
licher Circulus vitiosus, aus dem es vorerſt kein Entrinnen
gibt. Hier vollends, wo mit teilweis Nichtbergſonſchen Mit—
teln Bergſonſche Reſultate angeſtrebt werden und umgekehrt
auf Bergſonſchen Wegen Nichtbergſonſche Ergebniſſe, ſcheint
ſich die Wirrnis ins Unabſehbare zu ſteigern. Aber vielleicht
liegt gerade hierin der Anſatz zu einer Vereinfachung.
Ich möchte dies an einem Gleichnis erläutern: Es gibt in
unſeren Alpen Genies der Bergführung, Männer mit ein—
90
geborenem Felſen⸗ und Gletſchergeiſt. Solch ein Genie in
übertragenem Sinne, alſo ein Pfadfinder auf ſchwierigem
Terrain, iſt Bergſon. Geſetzt nun, ich vertraue mich ſeiner
Führung an zur Erforſchung eines von uns beiden noch un—
betretenen Gebietes, ſo wird ſein intuitives Begreifen der
Konfiguration von Schritt zu Schritt die wertvollſten Dienſte
leiſten; er wird Wege ahnen, wo ich keine bemerke, und
Wege vermeiden, die mir gangbar erſcheinen. Und dennoch
werde ich in die Lage kommen, ihn zu korrigieren: wenn
ich nämlich zufällig etwas beſitze, was jenem fehlt, nämlich
eine nach trigonometriſchen Aufnahmen hergeſtellte Karte
des ganzen Geländes. Und wenn wir gemeinſam einen Gipfel
erklommen haben, ſo werde ich viele Details der Ausſicht
genauer beurteilen als er, wenn ich ein Fernrohr benütze,
während ihm der Augenſchein genügt. Womit ich von vorn—
herein alles Genialiſche ihm, dem Führer, alſo dem Bergſon,
zuweiſe, und mir nur einen gewiſſen inſtrumentalen Vor—
teil reſerviere. Es wird zu erweiſen ſein, ob dieſe Inſtru—
mente wirklich exiſtieren und ob ſie im Zuſammenhang mit
der Bergſonſchen Intuition zu wirken vermögen. Einſt—
weilen will ich nur die Andeutung wiederholen, daß hier
vornehmlich Elemente, nicht eigentlich aus der Philoſophie,
ſondern aus der neuen Mechanik einzuſetzen haben, die in
Bergſons Lehre fehlen, einfach deshalb, weil dieſe Lehre für
ihn ſelbſt abgeſchloſſen vorlag, ehe dieſe Elemente exiſtierten.
Daß aber gerade dieſe anſcheinend ſo verſchiedenartigen Pole
genähert werden müſſen, um den erkenntnistheoretiſchen Fun⸗
ken überſpringen zu laſſen, gilt mir als zweifellos. Und um
es rund herauszuſagen: Es iſt eigentlich dieſe Überzeugung al-
lein, die mir hier die Feder führt“).
*) Man vergleiche hierzu Seite 15 des Geleitwortes.
*
eee
* NW .
Wollte ein Dichter die Schrecken eines philoſophiſchen In⸗
ferno entwerfen, ſo müßte er ſeine Arbeit in der Ausmalung
eines Dämons gipfeln laſſen, der in allen Schlünden und
Gründen dieſer Hölle heimiſch iſt. Wo ſich eine philoſophiſche
Not erhöht oder vertieft, wo ſie Kunde gibt von den Ver—
zweiflungen der Denker, ſtets gehorcht ſie den unheimlichen
Befehlen eines Dämons, des eigentlichen Herrn aller Antino—
mien, ſtets iſt es der Zeitbegriff, der die Geiſter verwirrt,
ihnen den Weg zur Wahrheit verſperrt, fie mit Tantalus- und
mit Siſyphusqualen heimſucht. Alle Schwierigkeiten, die
ſich in den Exponenten: Bewegung, Geſchehen, Notwendig⸗
keit äußern, münden in der „Zeit“. Nie wird es gelingen,
ihrer Herr zu werden, das Außerſte, wozu wir gelangen kön⸗
nen, wird ſein, die Stellung des Feindes genau zu erkunden,
ſeine Befeſtigungen nicht einzunehmen, ſondern zu beſchrei—
ben. Es iſt Bergſons unbeſtreitbares Verdienſt, dieſe Beſchrei—
bung in einem bedeutſamen Entwurf geliefert zu haben. Und
wenn wir auch, trotz Bergſon, nicht wiſſen, was ſie iſt, die
Zeit, ſo erfahren wir doch durch Bergſon etwas über die Natur
der Verſchanzungen, hinter denen ſie ihre Ränke gegen das
Erkennen ſpinnt. Und eine neue Antinomie, univerſaler als
alle bisherigen, tut ſich vor uns auf: in der Zeit, die alle Er⸗
kenntniſſe vereitelt, ſich jeder möglichen Richtung des Intel—
lekts entgegenwirft, ſollen wir zugleich den Urheber jedes
Denkprozeſſes, den eigentlichen Schöpfer alles organiſchen
Geſchehens entdecken.
Die Zeitdauer, Ia durée, la duree interieure — äußer⸗
lich identiſch mit unſerem Zeitbegriff, innerlich ſehr verſchie—
den von dem, was uns als eine ſpezifiſche Wahrnehmungs—
qualität des Nacheinander gilt — dieſe Dauer bildet die ei—
gentliche erkenntnistheoretiſche Subſtanz in allen Unterſu—
92
4
N
1
Hy
chungen Bergſons, vornehmlich in feinen Hauptwerken „Les
données immediates de la conscience“, und „Evolution
eréatrice“. Alle Strahlen feiner Betrachtung konvergieren
nach der Dauer. In dieſem Konvergenzpunkt entzündet
ſich tatſächlich eine Flamme von überraſchender Helligkeit.
Man wird in ihr zwiſchen Erleuchtungsſtärke und Blen-
dungseffekt zu unterſcheiden haben, aber man kann nicht an
ihr vorbeiſehen.
Was von der Lehre Bergſons in den Rahmen dieſer Un-
terſuchung zu ſtellen iſt, kann naturgemäß nichts anderes
ſein als ein Torſo, durch ein Verkleinerungsglas geſehen,
eine äußerſt verkürzte Projektion auf die Ebene meiner
Zwecke. Und es muß ſpäteren Ausführungen vorbehalten
bleiben, einzelne Glieder beſonders vorzunehmen. Hier ſoll
uns zunächſt an dieſem merkwürdigen Lehrkörper die Rück—
gratlinie beſchäftigen und die Frage, ob ihre anatomiſche Ge—
ſtaltung auf einen erhöhten Typus der ganzen Figur hin—
weiſt. Denn es handelt ſich in erſter wie in letzter Inſtanz
um den Menſchen als Objekt für den Menſchen als erkennen—
des Subjekt; um den ſcheinbar ganz ausſichtsloſen, hier
aber zum mindeſten mit ganz neuen Mitteln gewagten Ver—
ſuch, die Seele unter die Lupe zu nehmen, und wiederum die—
ſelbe Seele von oben her durch die nämliche Lupe blicken zu
laſſen. Ein optiſcher Vergleich, der auf eine Unmöglichkeit
hinauslaufen würde, wenn uns nicht die Natur ſelbſt zeigte,
daß mit ſolchen Unmöglichkeiten fertig zu werden iſt.
Denn was die Seele hier leiſten ſoll, liegt im Auge bereits
vorgebildet. Das Auge war in ſeiner erſten primitiven An—
lage nichts als ein Pigmentfleck, hervorgerufen durch einen
Lichtſtrahl, alſo ein Eindruck, eine Photographie. Im Laufe
der Evolution hat ſich dieſer Eindruck nicht etwa zu einer
93
größeren, zu einer beſſeren Photographie ausgeſtaltet, ſon—
dern zu einem photographiſchen Apparat mit Linſe und auf—
nahmefähiger Platte. Hier liegt an irgendeiner Stelle ein un—
begreiflicher Sprung vor, vom Objektiven zum Subjektiven,
von dem, was leidet, zu dem, was ſchafft, vom Werdenden
zum Geſtaltenden. Und wenn dies in der Natur möglich
war, wenn ihr das ſich ſelbſt aufnehmende Auge gelingen
konnte, ſo muß auch im Pſychologiſchen die Unbegreiflichkeit
des Sichſelbſterkennens erfüllbar ſein.
Sie iſt nach Bergſon nicht erfüllbar, das heißt, das Un—
begreifliche bleibt für den Intellekt unlöslich, wenn wir die
unzerbrechbare Notwendigkeit, die Kauſalität, die eiſerne Bin—
dung von Urſache und Wirkung, kurz den Schulbegriff des
Determinismus als den einzigen Ordner unſeres Denkens
gelten laſſen. Hier liegt ein Denkzwang vor, den wir viel—
leicht in demſelben Moment überwinden, wo wir einſehen,
daß er an einem entſcheidenden Punkte zu einem offenbaren
Fehlſchuß führt; wo wir erkennen, daß das Grundſtatut des
Determinismus: „Gleiche Urſache — gleiche Wirkung“ un⸗
ter einer beſonderen Belaſtung anfängt brüchig zu werden.
Zu dieſem entſcheidenden Punkte gelangen wir, wenn wir uns
entſchließen, zwiſchen Organiſchem und Anorganiſchem den
Weſensunterſchied nicht nur in phyſikaliſcher, chemiſcher, ſon—
dern auch in mathematiſch-mechaniſcher Hinſicht anzuerken—
nen. Bergſon ſcheidet hier unerbittlich. Weit entfernt davon,
ſich auf die Pſychologie ohne Seele einzulaſſen, wie fie das
Weber-Fechnerſche Prinzip und die über dieſem Prinzip errich—
tete pſychophyſiſche Schule fordert, trennt er alles Erſchaf—
fene in zwei Welten überhaupt: in die anorganiſche, die der
Mechanik zugänglich bleibt, ſich durch Koordinatenſyſteme
abteilen läßt und in ihrer molekularen Struktur auf eine
94
FW
2
Löſung letzter Fragen durch Differentialgleichungen hinweiſt;
und in die Welt der Organismen, von denen jeder einzelne
ein geſchloſſenes Syſtem darſtellt und die Erſcheinungen des
einzig mechaniſch geſchloſſenen Syſtems, nämlich des reſt—
los als Einheit begriffenen Weltalls wiederholt. Es ergibt
ſich ſomit im erſten Anlauf eine petitio prineipii: der Or⸗
ganismus könnte als ein Ablauf berechenbarer Erſcheinun—
gen nur dann aufgefaßt werden, wenn zuvor die Wahrheit
über den Kosmos erforſcht wäre; und dieſe Wahrheit ließe
ſich nur dann erforſchen, wenn ſich zuvor alle Teilanſichten,
die wir aus der Betrachtung willkürlich herausgeſchnürter
Syſteme gewinnen können, zu einem kosmiſchen Geſamtbilde
zuſammenſchlöſſen, was ebenſo ſinnwidrig iſt, wie zu verlan—
gen, daß ſich aus einer Häufung vieler Photographien eine
Körperlichkeit aufbaute. In letzter Inſtanz bleibt alſo ein une
gelöſter Reſt, der genau ſo groß wie das Ganze iſt und nichts
Minderes bedeutet, als die ewige Unlösbarkeit des ganzen
Problems.
Bei dem Verſuch, dieſem Reſt irgendwie beizukommen,
ſpringt in Deutlichkeit nur eine negative Wahrheit heraus,
nämlich nicht eine ſolche, die den Schlüſſel zum Problem lie—
fert, ſondern eine andere, die uns zeigt, daß alle Metaphyſik
dieſen Schlüſſel bisher auf falſchem Wege geſucht hat; inſo—
fern er weder dort liegen kann, wohin uns die Kauſalität,
noch dort, wohin uns die Finalität, die teleologiſche Be—
trachtung etwaiger Zweckurſachen, leitet. Gewiß, das Si⸗
gnalement iſt unvollſtändig, aber es iſt doch ein Signalement,
und eine negative Erkenntnis bleibt wertvoller als eine poſitiv
auftretende, die poſitiv falſch iſt. Wir werden nämlich von
unſerem Meiſter durch eine Fülle bilderreicher Argumente
dahin gedrängt, ein Prinzip anzunehmen, von dem ſich mit
95
Sicherheit nur das eine ausſagen läßt, daß es ſich mit keinem
anderen Prinzip berührt. Zwiſchen Kauſalität und Finali⸗
tät liegend, vielleicht außerhalb beider, entzieht es ſich
der Berechnung, der Vorherſehbarkeit, ja direkt jedem an den
Polen Determinismus — Zweckmäßigkeit geſchulten Denken
und jedem Sprachmittel, das darauf ausgeht, die Dinge ein⸗
deutig zu bezeichnen. Nur in Bildern, Symbolen, Ahnungen
iſt es ergreifbar. Es ſoll zum Ausdruck gebracht werden,
daß noch ein Drittes vorhanden iſt, das wirkt, im Bereich
des Organiſchen das eigentliche Wirkſame darſtellt, ohne daß
im unmittelbaren Vor- und Nacheinander etwas aufträte, das
als Urſache angeſprochen werden könnte. Nicht die Folge des
unmittelbar vorausgehenden Momentes iſt die organiſche Erz
ſcheinung, in letzter Spitze eine Empfindung, ein Gedanke,
ſondern — hier fehlt der Worterſatz für „Folge“ — ſagen
wir alſo: fie iſt ein Integrationsergebnis der geſamten er—
lebten Vorzeit, ein Komplex aus der ganzen Geſchichte dieſes
Organismus, ein Letztes aus einer unendlichen Zeittiefe, das
in die Laplaceſchen Weltformel niemals einzugehen vermag,
ſelbſt wenn wir dieſe Formel für erfüllbar halten.
Der Laplaceſche Gedanke, der die Welt in bewegte Atome,
die Erſcheinungen in Differentialgleichungen auflöſt, der ſtark
genug iſt, den gegenwärtigen Zuſtand in aller Schärfe zu be—
ſchreiben und hieraus jeden künftigen als eine Konſtellation
der kleinſten Teile zu berechnen, geht nicht zurück in die
Geſchichte, in die Vielfältigkeit des Erlebten. Er begnügt ſich
mit dem Moment und den Zeitdifferentialen, die dieſen Mo—
ment umgeben. Für ihn liegt weder das Bedürfnis noch die
Möglichkeit vor, darüber rückwärts hinauszugreifen in die
Vergangenheit, denn mit dem molekularen Erfaſſen des Mo—
mentes erſchöpft es für den Determiniſten eine Welt, die
96
ganze Welt, die Welt der Anorganismen. Allen Bewegungs:
erſcheinungen der Himmelskörper genügt es reſtlos. Wir
brauchen nichts von der unendlichen Vorgeſchichte des Firma—
mentes zu kennen, um jede Folgeerſcheinung mit Sicherheit
anſagen zu können, ſobald nur für ein einziges kleinſtes Zeit—
teilchen die Bewegung in aller Schärfe der Rechnung unter—
worfen wurde. Und hier tritt der ſpringende Punkt hervor.
Jene Formel integriert nur die kosmiſche Differentialglei—
chung, nicht die Geſchichte. Und ſie würde bei ihrem Pro—
gramm verharren, wenn ſie die organiſche Zelle als Ablauf
von Erſcheinungen, alſo als ein Sonnenſyſtem für ſich mit
bewegten Atomplaneten, behandeln wollte. Ihr Ergebnis,
ihre Voranſage müßte richtig ſein, rein für die Lagerung der
Atome, für das Anorganiſche in der Zelle. Sie wird falſch,
wenn aus der mathematiſch beſchriebenen Anordnung die or—
ganiſche Ausdeutung herausgeleſen werden ſoll, falſch, bei
jedem Verſuch einer Interpretation. Gerade das Entſcheiden—
de fehlt ihr, die Integration der Ewigkeitszeit vorher, in
der wir die eigentliche causa efficiens im Organiſchen, Pſy—
chologiſchen erraten, eine Urſache, die in mechaniſchem Sinne
gar keine Urſache iſt, da fie ſich weder dynamiſch noch zeitlich
abgrenzen läßt, da zwiſchen ihr und der Wirkung keine ein—
deutigen Beziehungen beſtehen, da ſie für ihre Endwirkung
überhaupt gar nicht anders beglaubigt iſt als die natura
naturans bei der natura naturata. Und eben für dieſes
dritte Prinzip hat Bergſon feine „durée“ als ein vorläu—
figes Wortzeichen eingeſetzt. Es iſt wie alle mit Begriffs—
leichen umherziehenden Worte durch eine hemmende Vor—
ſtellung beſchwert; denn als ein Dauerndes verneint es ge—
rade die unendliche Variabilität, auf die es hier ankommt.
Aber man wird es anerkennen müſſen, da es uns an den
Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 7
9 0
ſauſenden Webſtuhl der Zeit verſetzt, an den ſelbſttätig we—
benden und wirkenden Apparat, deſſen Muſter ſich niemals
wiederholen, ja niemals wiederholen können. Die ewige
Wiederkehr, die in den großen und experimentell nachbild—
baren Kreisprozeſſen des Unbelebten ihre Rolle ſpielen mag,
fie findet hier keine Stätte. Denn eine organiſche Erſchei—
nung, zumal eine Empfindung, iſt bei ihrer Wiederkehr ſchon
darum eine andere, neue, weil ſie wiederkehrte, weil ſie durch
die Erinnerung an den Vorgang eine neue Färbung und We—
ſensart gewinnt. Und wie die Begriffe Nominalismus —
Realismus, ſubjektiv-objektiv im Lauf der Gedankenentwick⸗
lung ſich gewandelt haben, ſo wird man ſich daran gewöhnen
müſſen, mit der „Dauer“ als mit einer Variabeln zu rech—
nen, „an der nichts dauernd iſt als der Wechſel“.
Zahlreiche und ſchwere Einwände werden ſich im erſten
Anlauf geltend machen. Die rückſichtsloſe Schärfe des
Schnittes, mit der jener Philoſoph die unbelebte Maſſe vom
Leben abſchneidet, entſpricht einer Gedankenoperation, die auf
ein Syſtem zielt, aber nicht der Wirklichkeit. Die Schei—
dung der ſogenannten organiſchen und unorganiſchen Welt
iſt ganz willkürlich, ſagt Du Bois-Reymond in ſeinen „Re—
den“, und dieſe Meinung hat ſich ſeither ſo befeſtigt, daß
das alte Dogma vom neuen Antidogma faſt überholt er—
ſcheint. Soweit der Monismus reicht, wird man es leugnen,
daß die Natur nur in dem Organismus „geſchloſſene Sy—
ſteme“ hervorbringt. Ein Kriſtall im Kleinen, ein Sirius
im Großen werden die Rechte des geſchloſſenen Syſtems
in Anſpruch nehmen, nicht nur in der Struktur, ſondern
darüber hinaus, bis auf die Seele. Wenn ſich Bergſon von
der Fechnerſchen Allbeſeelung abkehrt, ſo oſtentativ, daß wir
in dieſem Werk nicht einmal einen Hauch des Zend-Aveſta
98
*
|
verſpüren, jo erkennen wir in dieſem Widerſtand nur das
eine: daß der alte Dualismus ſeinen Einfluß nicht nur auf
das eigentlich wiſſenſchaftliche Denken erſtreckt, ſondern auch
auf die „Intuition“. Im Grunde genommen verhalten ſich
Fechners und Bergſons Intuition wie Gegenſtand zum Spies
gelbild, inkongruent, gegenſätzlich, mit gegenſätzlichen Vor—
zeichen behaftet, aber doch gleich und ähnlich. Sie können
nicht zur Deckung gebracht werden, aber ſie ergänzen ein—
ander als zwei von entgegengeſetzten Punkten aufgenommene
Spiegelbilder ein und derſelben Wahrheit. Es wäre ein Buch
darüber zu ſchreiben, daß ſich Vaihingers „Als ob“ auch
in dem Widerſtreit dieſer Intuitionen durchſetzt. Bergſons
gewaltige Lehre konnte nur zuſtande kommen, wenn er ver—
fuhr, als ob ſein gewaltiger Trennungsſchnitt der Wirk—
lichkeit entſpräche. Aber am Ende ſeiner Wanderung er—
kennen wir, daß die Doktrin von der ſchöpferiſchen Dauer
auch aufrecht bleibt, wenn jene Scheidewand zwiſchen Orga—
niſch und Anorganiſch fällt, genau ſo, als ob dieſe Wand
niemals ein Daſein gehabt hätte. Denn ſie war nur metho—
dologiſch unentbehrlich und kann, wenn erſt das Lehrgebäude
ſteht, als überflüſſiges Gerüſt abgetragen werden.
Aber ein gefährlicherer Feind ſcheint aus einer anderen
Ecke der Erkenntnistheorie heranzuſtürmen. Im Brennpunkt
des materialiſtiſchen Denkens ſteht der von F. A. Lange ſo
ſcharf formulierte Hauptſatz, daß das Geſetz von der Erhal—
tung der Kraft im Innern des Gehirns keine Ausnahme
erleiden kann, wenn es nicht total ſinnlos werden ſoll; daß
damit das ganze Tun und Treiben der Menſchen, der ein—
zelnen wie der Völker, durchaus ſo vor ſich gehen könnte,
wie es wirklich vor ſich geht, ohne daß übrigens auch nur in
einem einzigen dieſer Individuen irgend etwas wie Gedanke
Te
99
oder Empfindung vor ſich ginge. „Zwei Welten nebenein-
ander ſtelle man ſich vor, beide mit Kreaturen und deren
Handlungen erfüllt: mit dem gleichen Verlauf der Welt—
geſchichte, mit dem gleichen Ausdruck aller Gebärden, dem
gleichen Klang der Stimme, — nur mit dem Unterſchiede,
daß in einer der ganze Mechanismus abliefe wie die Mechanik
eines Automaten, ohne daß irgend etwas dabei empfunden
oder gedacht würde, während die andere „unſere Welt“ iſt;
dann würde die Weltformel für die beiden Welten durch—
aus dieſelbe fein. Sie wäre vom Standpunkt der exak—
ten Forſchung nicht zu unterſcheiden.“
Gäbe es auch hier ein Kompromiß, eine Verſtändigung,
eine Brücke, die von Langes Unumſtößlichkeit zu der intui—
tiven Erfaſſung des Erſcheinungsablaufs führte? Bergſon
wirft die Frage nicht auf, vielleicht weil ſie für ihn uner—
heblich geworden iſt, nachdem er Kauſalismus und Laplaceſche
Formel in Bauſch und Bogen abgeurteilt hat. Vielleicht
aber auch, weil die Frage in ſolcher Schroffheit nur dem—
jenigen erwachſen kann, der ſich an Lange durch ſo intime
Fäden geknüpft fühlt wie Bergſon an Schelling. Und hier
muß ich geſtehen, daß ich keine Seite im Bergſon zu leſen
vermag, ohne daß zwiſchen den Zeilen der Langeſche Haupt—
ſatz mir grinſend abwinkt; bis ich dann wiederum dermaßen
in den Bannkreis der ſchöpferiſchen durée gerate, daß ich das
Walten zweier Antinomien ſpüre, die ſich in ihrer Gegen—
ſätzlichkeit aufeinander einzurichten haben wie die entgegen—
geſetzten Wurzeln einer und derſelben quadratiſchen Glei—
chung. Aber mit einem Gewaltſtreich ließe ſich der Zwie—
ſpalt löſen. Man ſtelle ſich nicht zwei, ſondern unendlich
viele Welten nebeneinander vor. Eine davon ſei die auto—
matiſche, eine die unſerige, alle anderen vom Gegenwarts—
100
1 U re
* EAN
\
punkt gerechnet in allen ſeeliſchen Begleiterſcheinungen un—
bekannte Ausſtrahlungen mit unendlich verſchiedenen Be—
ſchaffenheiten. Da das Pſychologiſche an das Mechaniſche
nicht mathematiſch gefeſſelt iſt, zum mindeſten nicht durch
eindeutige Beziehungen, ſo liegt in dieſer Vorſtellung bei aller
Phantaſtik nichts Widerſinniges; wie denn auch Lange ſelbſt
mit großem Bedacht geſchrieben hat: „. .. genau fo vor ſich
gehen könnte“ und nicht: „... vor ſich gehen müßte“.
Dies vorausgeſetzt, erſchiene jene Brücke zwiſchen den Antino—
mien konſtruktiv nicht mehr unmöglich. Denn unſere Welt
wäre dann virtuell befähigt, in jedem Augenblick in jede
der anderen Welten überzugehen, vollkommen vom Zwange
des Determinismus befreit und trotzdem, körperlich betrach—
tet, der alleingültigen Laplaceſchen Formel reſtlos unterwor—
fen; womit ſich am Ende die Materialiſten ſtrengſter Ob—
ſervanz ebenſo befreunden könnten wie die Bergſoniſten,
denen hier für die Geheimkräfte der „durée“ und des „Elan
vital“ ein immerhin ganz auskömmlicher Wirkungskreis,
nämlich die Unendlichkeit, zugewieſen wird.
Aber der Überwindung des Determinismus ſteht noch ein
anderer Denkzwang entgegen: unſere Vorſtellung von der
Stetigkeit im Ablauf der organiſchen Erſcheinungen und
in allen Außerungen irgendwelcher Energie überhaupt. Wir
alle denken vorläufig infiniteſimal, in jedem Denkakt wieder—
holt ſich der lückenloſe Akt des freien Falles, der Planeten
bewegung, der Lichtſtrahlung, die wir nicht anders zu faſ—
ſen vermögen denn als einheitlichen Zuſammenhang. Die
Kontinuität ſcheint hinter allen Kauſalitäten als Urkauſalität
zu ſtehen, hinter allen Urſachen als Ururſache; wer es da—
her wie Bergſon unternimmt, dieſe Kette zu zerreißen, Zwi—
ſchenglieder hineinzuſchmieden, der wird vor allem darauf
101
ſinnen müſſen, die Stetigkeit im Erſcheinungsabfluß, allem
Vorſtellungszwange zum Trotz, durch die Unwiderleglichkeit
beobachteter Tatſachen zu lockern. Mit zwei Hebeln greift
Bergſon in die Widerſtände: mit der Mutationslehre und
mit dem kinematographiſchen Charakter unſerer Erkenntnis
der Dinge. Hugo de Vries hat es vertreten und experi—
mentell bewieſen, daß die Veränderung der Arten nicht durch
Summierung kleinſter Abänderungen, ſondern durch Mu—
tation ſprungweiſe aus inneren Gründen erfolgt. Plötzlich—
keit an Stelle der Stetigkeit wäre der wahre Sinn der or—
ganiſchen Entwicklung, die ſich hinter der ſcheinbaren Kon—
ſtanz der Arten verſchleiert. Und ebenſo liegt Plötzlichkeit an
Stelle der Stetigkeit unſerer Wahrnehmung zugrunde, vor
der die Natur ihre Dinge abrollt, wie der kinematographiſche
Apparat ſeine Films. Nichts nehmen wir von den vorüber—
gleitenden Erſcheinungen wahr als Momentbilder, als ge—
trennte Atome des Wahrnehmbaren, die wir erſt ſpäter durch
einen künſtlichen Prozeß zu einer wirklich abfließenden Be—
wegung, zum Heraklitiſchen „Panta rhei“ vereinigen.
Prachtvolle Argumente, aber dennoch vergebliche Mühe
der Hauptſache gegenüber. Denn ſtetig blieben hinter allen
Erſcheinungen immer noch die wirkenden Kräfte, die phyſi—
kaliſchen Geſetzmäßigkeiten, die von jenen Auflockerungsver—
ſuchen nicht betroffen werden. Hier fehlt eine dritte Beſchwö—
rungsformel, die nur aus der theoretiſchen Phyſik kommen
kann; und aus dieſer iſt ſie gekommen, vor etwa dreizehn
Jahren, alſo zu einer Zeit, da der Pariſer Denker ſeine grund—
legenden und grundſtürzenden Unterſuchungen längſt abge—
ſchloſſen hatte. Es iſt die Quantenhypotheſe, und ihr
allein kann es vorbehalten ſein, über Bergſon hinaus die
Bergſonſche Lehre zu vollenden.
102
Die Quantenhypothefe*), die heute durchaus nicht mehr
hypothetiſch, vielmehr in ihren Grundlagen völlig geſichert
erſcheint, ſtützt ſich auf das Nernſtſche Wärmetheorem im
Kontakt mit den unvergänglichen Arbeiten Boltzmanns. In
letzter Inſtanz bedeutet die Quantenhypotheſe den wahren
Triumph der Unſtetigkeit. In ihrem Gefolge würde nämlich
der erſchütternde Leitſatz auftreten, daß die Energie der elek—
tromagnetiſchen Wellenſtrahlung, oder daß wenigſtens die
Schwingungsenergie der Elektronen eine atomiſtiſche
Struktur beſitzt, ja, daß die Elementargeſetze ſelbſt,
welche die atomiſtiſchen Kräfte beherrſchen, aufhören, der
ſozuſagen logiſchen Forderung unverbrüchlicher Stetigkeit zu
genügen, vielmehr einen Weſenskern von Diskontinuitäten
enthüllen.
Von hier bis zu dem Radikalſchluß, daß jede Energie ato—
miſtiſch konſtituiert ſei, iſt noch ein weiter Schritt. Aber
vielleicht erſcheint dieſe Verallgemeinerung im Lichte aller
Denkmöglichkeiten nicht waghalſiger, als der Quantenbegriff
überhaupt einem Vertreter der altklaſſiſchen Dynamik er—
ſchienen wäre. Es ſoll ja auch nur mit einer Möglichkeit zu—
künftiger Denkformen gerechnet werden, denen die Intuition
eine Zuflucht bietet. Wird ihnen dereinſt dieſes Aſyl geöff—
net, dann könnte Bergſons Lehre in Wahrheit das werden,
was ſie heute noch nicht iſt oder zu ſein verſchmäht, die Ver⸗
wirklichung der Anſage in Kants „Prolegomena“ als der
künftigen Metaphyſik, „die als Wiſſenſchaft wird auftreten
können“.
Dann wird es auch gegeben fein, in eine Reviſion der „du—
*) Hauptquelle: ein tiefgründiger Vortrag Max Plancks vom
16. Dezember 1911, abgedruckt in den Berichten der Deutſchen
chemiſchen Geſellſchaft, Heft 1 von 1912.
103
rée“ einzutreten. Wenn Bergſon meint, der wahre Sinn der
Zeit könne ſich nicht erſchließen, wenn wir ſie zu einer vierten
Dimenſion des Raumes herabwürdigen, ſo wird ſich über
dieſen Verzicht ein neuer Anſpruch aufbauen: der wahre Sinn
der Zeit kann erſt dann erſchloſſen werden, wenn die Zeit im
Sinne der Einſtein-Minkowskiſchen Relativitätstheorie zur
vierten Dimenſion des Raumes emporgehoben und die
Welt des Geſchehens zu einer Geometrie von vier Dimenſio—
nen geläutert wird. Schlägt unſer Naturerkennen dereinſt
Wurzel im Quanten- und im Relativitätsbegriff, erwächſt
hieraus als eine organiſierte Denkform die völlige Gleich—
wertigkeit von Raum und Zeit, dann mag ein anderer Berg—
ſon kommen, der uns den ſchöpferiſchen Raum mit Ein—
ſchluß aller Zeit vordemonſtriert. Nichts Beſſeres kann ich
dieſem Nachfolger wünſchen als die bewundernswerte Bered—
ſamkeit ſeines Vorgängers, als deſſen intuitives Vermögen,
tiefe Erkenntniſſe in Bildern und Symbolen zu geſtalten.
Denn ſelbſt wenn es gelingt, in ſeiner Lehre den Dualismus
zu beſeitigen, wird über das Symbol nie hinauszukommen
ſein in der Darſtellung alles Erſchaffenen, alles Dauernden
und alles Vergänglichen, das ein Gleichnis iſt und nur in
Gleichniſſen ausgeſprochen werden kann.
104
Zukunftskino
Wenn heute ein Prediger in der Wüſte aufträte, um gegen
Naturkraft und Mechanik zu donnern, ſo würde man ihn für
einen verſpäteten Nachzügler der Inquiſition halten. Man
würde ſich der grauen Zeiten erinnern, da zu Rom das Sy—
ſtem des Kopernikus und die Lehre von den Antipoden auf
dem Index ſtand, gewiſſe Kometen verflucht wurden und
die Idee des Flugzeugs zum Teufelswerk zählte. Wir ſind
moderner geworden. Man entrüſtet ſich nicht mehr gegen
die Mechanik des Himmels und der Erde, aber man hat ſich
einen Rückſtand der Entrüſtung gegen die „Mechaniſierung
der Welt“ aufgeſpart. Ja, es gehört ſogar zum guten Ton,
gegen dieſe Mechaniſierung zu wettern, ſobald ſie Miene
macht, in irgendein Kunſtgebiet überzugreifen. An dieſen
Feldzügen iſt das Sanctum Offieium unſchuldig. Führer
und Generalſtäbler der Kampagne ſind vielmehr die vorge—
ſchrittenen Kritiker, die Hüter der Kunſttempel, und in zahl—
loſen kampffrohen Feuilletons raſſeln die Federn gegen den
Einbruch der Maſchine in den Kunſtbetrieb, gegen Licht—
bildnerei, Grammophon, Pianola und Film.
Im Prinzip aber macht es keinen Unterſchied, ob man
gegen die Mechanik anſtürmt oder gegen die Mechaniſierung.
Die Donquichotterie bleibt dieſelbe. Denn es gibt nichts Sinn—
loſeres als den Kampf gegen das Unvermeidliche. Von Cä—
105
far bis zu Moltke hat kein Feldherr den Kampf anders be-
griffen und definiert als im Hinblick auf den Zweck des
Kampfes: den Sieg. Wo die Möglichkeit des Sieges fehlt,
iſt der Kampf an ſich eine Abſurdität; etwa ſo, wie wenn je—
mand eine Schachpartie ohne Figuren, bloß mit Bitten, Über⸗
redung oder Beſchimpfung des Gegners gewinnen wollte;
oder eine Schlacht auf dem Papier, während der Feind im
Gelände ſeine Maſchinengewehre ſpielen läßt. Der Satz des
großen Friedrich: „Gott iſt immer mit den ſtarken Ba-
taillonen“ behält ſeine Geltung auch im Kunſtweſen. Das
Reſultat allein ſchafft das Recht und die Moral; ihre Gültig⸗
keit erhält die Prägung vom Erfolge. Die Anſage: „Das
Kino ruiniert das Theater“ iſt im letzten Grunde gar nicht
ſehr verſchieden von der Behauptung: Die Schiefe der Eklip⸗
tik verdirbt die Jahreszeit. Beides läßt ſich theoretiſch be—
weiſen. Nur daß wir die Welt von neuem erſchaffen müß—
ten, um ſolche Mißſtände zu korrigieren. Und nur ein ge—
borener Wolkenkuckucksheimer wird ſich auf derartige Erörte—
rung einlaſſen, mit rückwärts gewendeter Utopie und ſitt⸗
licher Entrüſtung gegen die Ekliptik. Wer ſich in der wirk—
lichen Welt zurechtfindet, wird es vorziehen, Tadel und Lob
als unzureichende Gerätſchaften einzupacken und der Mecha—
nik einzig mit dem zu antworten, was auf ſie paßt: mit der
Berechnung.
Von dem Augenblick an, wo das erſte Stroboſkop als ein
Kinderſpielzeug das Heraufziehen einer neuen optiſchen Me—
chaniſierung ankündigte, war das Kinoproblem geſtellt. Daß
es ein Kunſtproblem geworden iſt, war eine harte Notwendig—
keit. Seine Löſung iſt nicht von Gebeten und äſthetiſchen Be—
ſchwörungen zu erwarten, ſondern einzig von der Vorausſicht.
Die Anfangsglieder liegen vor, aus ihnen iſt die weitere
106
Entwicklung ohne Gejammer, aber mit möglichfter Präziſion
zu errechnen. N
Ich kann nicht finden, daß ſich die Prieſter der Kunſt bis—⸗
her als ſonderliche Propheten bewährt hätten. Sie verglichen
faſt durchweg das vorhandene Kino mit dem vorhandenen
Theater, das elende Maſchinchen mit der ruhmvollen Dich—
tung von Sophokles bis Ibſen, waffneten ſich mit Ironie
und Begeiſterung, griffen zu den ewigen Sternen am
Theaterhimmel und verwieſen mit verachtungsvoller Gebärde
die Flimmerkiſte zu den Teufelsrädern und Wackeltöppen der
Rummelplätze. Wer ihnen beginnende Möglichkeiten ent—
gegenhielt, flog auf die Strafbank der Böotier, Banauſen
und Kunſtpiefkes. Und es galt als ausgemacht, daß kein
„Diener am Wort“, insbeſondere kein Dichter ſich je ſo
weit vergeſſen könnte, eine Berührung mit den zu ewiger
Stummheit verurteilten ſchwarzweißen Zappelfiguren anzu—
ſtreben. Inzwiſchen hat ſo mancher Talarträger ſeine Front—
ſtellung geändert, und den Standhaften wird unwohl zu—
mute, wenn ſie ihre Scharen muſtern. Drüben ſteht ſchon
eine Legion von Überläufern. Mit den Theoretikern fing es
an: Man hörte kinofreundliche Sentenzen von Björn Björn—
ſon, von Hermann Bahr, Stefan Zweig, Felix Salten, Paul
Goldmann; Maximilian Harden erklärte die Kinos für wich—
tiger und nützlicher als zwei Drittel aller Sprechtheater.
In hellen Haufen folgten die Schauſpieler, unter ihnen Be—
rühmtheiten, die ſich gewiß nicht einfach auf die Galeere ver—
kauften, ſondern als ehrliche Koloniſten ein Neuland der
Kunſt beſiedeln wollten. Die Autorenfilms wuchſen zu un—
heimlichen Meilenlängen, und wenn die Progreſſion nur noch
kurze Zeit anhält, ſo werden alle Proteſte des Goethebundes
endgültig verſpielt haben. Ob er überhaupt noch proteſtiert?
107
Ich hege meine Zweifel, denn auf die Dauer will kein Künſt—
ler bei der Fahne falſcher Propheten verharren.
Heute iſt man wenigſtens ſo weit, anzuerkennen, daß man
mit dem bloßen Händeringen gegen den poſitiven Erfolg
nichts ausrichtet. Hinter dem Geſetz der großen Zahl ſteckt
allemal ein organiſcher Grund, eine Lebensoffenbarung. Und
die große Zahl hat ſich in unſerem Falle ſchon bis ins Über—
dimenſionale gereckt. Die Statiſtik hat ausgerechnet,
daß allein in Großbritannien wöchentlich acht Millionen Men—⸗
ſchen die Kinotheater beſuchen. In der ganzen Welt beſtehen
zurzeit 60000 Flimmertempel, darunter unzählige in kul—
turfremden Ortſchaften, in Einöden, die von der Darſtellung
eines Vorgangs vordem nichts wußten, denen das bewegliche
Allerlei auf weißer Fläche mit Eindrücken und Erregungen
zum erſtenmal die ferne Ahnung eines Kunſtgefühls auf—
dämmern läßt. Aus vielen Städten Deutſchlands liegen Ta—
bellen vor, die uns beweiſen, daß der Film bei einer Drang—
ſalierung durch Zenſur, Steuer und Feuilletonfluch weitaus
mehr metalliſche Nahrung aus den Beuteln der Bewohner
zieht als die Sprechbühnen.
Der Standhafte aber will die große Zahl nicht aus einem
inneren Geſetz heraus beurteilen. Ihm iſt ſie die leidige
Mehrheit der Schädlinge, der Bazillen, der Spaltpilze: „eine
Kinoſeuche!“ ruft er reſigniert, falls er ſich nicht dazu er—
mannt, die Klinke der Geſetzgebung in die Hand zu nehmen.
Ich kann ihm wenig Hoffnung machen, weder auf ein Er—
löſchen der Seuche im natürlichen Ablauf, noch auf hy—
gieniſch durchgreifende Paragraphen. Aber ich möchte ihm
andere Hoffnungen erwecken, freilich nicht von heut auf
morgen, vielmehr auf lange Sicht, mit einem Proſpekt ohne
Aſta Nielſen, ohne ihre berühmten Kollegen vom Filmmarkt.
108
‚ah |
RE ET 8
Die Annalen des Kinos ſind kurz, und die Zeit iſt lang,
hundert Jahre ſpielen da keine Rolle. Und in hundert Jah—
ren — ohne mich auf den Kalender feſtzulegen —, wird
ſich der Kunſtſchreiber darüber wundern, daß es zu unſerer
Zeit ſoviel tüchtige, geſcheite Kollegen gegeben hat, die eine
geſunde Evolution nicht von einer Peſt zu unterſcheiden wuß—
ten.
Wir denken in Reihen, verſuchen dies mindeſtens, ſobald
uns daran liegt, die Denktätigkeit auf Sicherheit einzuſtel—⸗
len. Jede künſtleriſche und jede techniſche Linie ſtellt eine
Reihe vor, deren Entwicklung und Ende vorläufig nicht ab—
zuſehen iſt; aus dem Vergleich beider ergibt ſich eine Diffe—
renzenreihe. Die erſten Glieder dieſer Differenzenreihe, für
Kino und Kunſt ermittelt, liegen vor, und kein ſinniger
Menſch wird beſtreiten, daß ſie bei aller Mächtigkeit eine ab—
nehmende Tendenz verraten. Ob dieſe Reihe als Ganzes
konvergiert oder divergiert, kommt hier nicht in Betracht;
es handelt ſich nur darum, zu ermitteln, ob die Reihen—
elemente ſich in endlicher Zeit ſoweit verkleinern, daß die
Reſtglieder jedes für ſich vernachläſſigt werden dürfen. Tritt
dieſer Fall ein, ſo würde ſich auf jenem fernen Proſpekt eine
kinematographiſche Zukunft als durchaus künſtleriſches Er—
lebnis abbilden. Mangels eines exakten Beweiſes müſſen wir
uns der Wahrſcheinlichkeit in die Hand geben, und dieſe
Wahrſcheinlichkeit ſagt uns, daß überall, wo Techniſches über:
haupt mitſpielt, die Differenzglieder allmählich verſchwin—
den müſſen. Nie und nirgends war etwas anderes zu beob—
achten als das Prinzip der Annäherung an ein vorſtell—
bares Ideal. Ein vereinzeltes Beiſpiel möge das verdeut—
lichen. Bei der Entwicklung elektriſcher Telegraphie formen
ſich die Reihenglieder aus der Differenz einer elektriſchen
109
Leiſtung und dem vorgeftellten Ideal einer Nachrichtgebung
über weite Strecken. Als Gauß und Weber ihre erſten glück—
lichen Verſuche anſtellten, war das vor aller Welt liegende
Reſultat außerordentlich klein, die Verbindung überſpannte
eine Wegſtrecke von genau einer Viertelſtunde Fußgänger—
maß, ſo weit wie vom phyſikaliſchen Kabinett bis zur Stern⸗
warte in Göttingen. Ein Zweifler hätte ſagen können: Das
iſt gar keine Erfindung; ein Sprachrohr, eine Sirene reicht
weiter! Und doch lagen in jenem knappen Wegemaß von
wenig mehr als einem Kilometer die Strecken der ganzen
Welt beſchloſſen, denn es hatte ſich eine Verkleinerung in—
nerhalb der Differenzenreihe ergeben, von Unendlichgroß
bis auf Endlich. Man konnte vordem überhaupt nicht elek—
triſch telegraphieren, mit Gauß und Weber konnte man es.
Und während der Engſichtige eine klägliche Rechnung begann
über die Möglichkeit, vielleicht dereinſt zehn Kilometer oder
gar hundert Kilometer weit Wort und Gedanken verſchicken
zu können, mußte eine beſſere Vorausſicht ahnen, ja wiſſen,
daß jede Entfernung verſchwunden war, in demſelben Mo—
ment, als der Göttinger Draht irgendeine Entfernung ver—
nichtete. Genau ſo wie ſich der Menſchentraum des Fliegens
verwirklichte, als Otto Lilienthal zum erſtenmal gegen den
Wind flog. Ein Verſuch mit untauglichen Mitteln, eine
Kataſtrophe, und doch die Eröffnung einer weltumfaſſenden
Möglichkeit, die Peinlichkeit der Erdenſchwere zu überwinden.
Ich höre den Einwand, daß dieſe Erinnerungen ſich nur
auf rein Techniſches beziehen, während im Vergleiche Kino —
Kunſt eigentlich von einer Differenz gar nicht geſprochen
werden könne, da die Kunſt eben abſolut untechniſch ſei.
Das ließe ſich hören, wenn der Begleitſatz ebenſo richtig
wäre, wie er falſch iſt. Denn der Sinn der ganzen Erörterung
1108
NE
rn 7 -
|
.
zielt im letzten Grunde nicht auf das Abſtraktum Kunſt,
ſondern auf die Mittel, die Kunſt dem Menſchen wahrnehm—
bar zu machen, und auf die Fähigkeiten, die uns zu Gebote
ſtehen, um überhaupt die Kunſt mit den Sinnen zu erfaſſen.
Und hier ſetzt die Neuheit einer Erkenntnis ein, die von
manchem Vorläufer dunkel ertaſtet, von Henri Bergſon
bis zur völligen Evidenz herausgearbeitet worden iſt: Der
Mechanismus unſeres geſamten Denkens iſt kine—
matographiſchen Weſens! Ihr Prinzip iſt die Unſtetig—
keit, gleichgültig, ob wir die Wahrnehmung, die geiſtige Auf—
faſſung oder die Sprache als das Entſcheidende betrachten.
„Der Kunſtgriff des Kinematographen iſt auch der Kunſt—
griff unſeres Erkennens. Statt uns dem inneren Weſen der
Dinge hinzugeben, ſtellen wir uns außerhalb ihrer, um dies
Werden künſtlich zu rekonſtruieren. Von der vorübergleiten—
den Wirklichkeit nehmen wir ſozuſagen Momentbilder auf,
und weil dieſe die Realität charakteriſtiſch zum Ausdruck
bringen, ſo genügt es uns, ſie längs eines abſtrakten, gleich—
förmigen, unſichtbaren, auf dem Grunde des Erkenntnis—
apparates liegenden Werdens aufzureihen, um nachzubilden,
was das Charakteriſtiſche dieſes Werdens ſelbſt iſt.“ Wer
ſich die Mühe nimmt, dies durchzudenken, wird erkennen,
daß von des Eleaten Zenon fliegendem Pfeil bis zu Berg—
ſons Lehre eine lückenloſe Gedankenkette geht, zweitens aber
und vornehmlich, daß dieſe Kette nur noch wenig verlängert
zu werden braucht, um über das reine Erkennen hinaus bis
zur Kunſterfaſſung zu reichen. Auch für dieſe ſind wir durch
unſeren Organismus mechaniſch, unſtetig, vorgebildet; un—
ſere geſamte Fähigkeit, ein Kunſtgebilde zu berühren, zu ers
fühlen, ja ſogar zu ſchaffen, iſt eine kinematographiſche. Wir
ſind ſonach berechtigt, unſeren mechaniſchen Anſatz nach dem
III
Prinzip der Differenzenreihe aufzuftellen und aus der offen—
kundigen Verminderung der Unterſchiede auf eine dereinſtige
Verſchmelzung beider Elemente zu ſchließen. Ich ſelbſt halte
dieſes Dereinſt für ziemlich naheliegend und den Schritt
dahin nicht für größer als vom erſten Göttinger Draht zum
Nervenſyſtem der Weltdrähte, das heut die Menſchheit durch—
ſpinnt. Soll das Hindernis etwa in der Sprache liegen, in
der Stummheit der Kinofiguren, im Schnarren des mit
dem Film gekoppelten Phonographen? Das wäre wieder
ſo eine „Unmöglichkeit“ nach dem Muſter der Akademiker,
die anno olim mit der Geſte der Unfehlbarkeit die Unmög—
lichkeit der Spektralanalyſe, der Telephonie, des unterſee—
iſchen Kabels und der Flugtechnik bewieſen haben. Das
Schnarren wird dem ſchönſten Bühnentonfall weichen, der
Gleichlauf zwiſchen Klang und Gebärde wird in Wahrheit
den lebenden Menſchen widerſpiegeln und die Illuſion auf
weißer Fläche vollenden.
Auf weißer Fläche? Sind damit ſchon wieder die techni—
ſchen Möglichkeiten erſchöpft? Nichts zwingt uns, die An—
ordnung im Zweidimenſionalen als das einzige Grundgeſetz
der Projektion anzuerkennen. Heut noch beruhigt ſich das
Illuſionsbedürfnis bei der ſcheinbaren Perſpektive auf der
Fläche. Es wird anſpruchsvoller werden, das Problem der
Körperlichkeit ſtellen; es wird die Entwicklung der kinemato—
graphiſchen Tiefbühne fordern. Und da dies eine Aufgabe
der Mechanik iſt, ſo muß ſie irgendwie gelöſt werden aus
optiſchen Quellen, ſtereoſkopiſch und ſtereometriſch mit Hilfs—
mitteln einer ſchnellen und billigen Übertragung eines wirk—
lichen Bühnenvorgangs auf eine nicht abtaſtbare, ſonſt aber
der Wirklichkeit völlig gleichwertige Szenerie.
Der Gleichlauf zwiſchen Ton und Bewegung leiſtet ſchon
2
jetzt Erſtaunliches. Eine ſchöne Kunſt hat er freilich noch
nicht vermittelt, aber das erſte Puppenſpiel von Dr. Johan⸗
nes Fauſt war auch noch nicht Goethiſch oder Reinhardtſch.
Das junge Kinetophon ſpielt alberne Szenen mit den An—
ſätzen einer Sprechmechanik. Das gereifte wird den Hamlet
mit ſprachlichem Ausdruck vortragen. Es gibt da nur nach
Graden abgeſtufte Unterſchiede, wiederum jene Differenzen,
die keinen Beſtand beanſpruchen können, weil zwei über—
mächtige Regenten ihren Untergang beſchloſſen haben: die
Zeit und die Technik.
Aber wir wollen uns auf kürzere Sicht einſtellen und
vorerſt nur die muſikaliſche Pantomime und das klaſſiſche
Ballett, die doch auch zur Kunſt gehören, durchs Kino ver—
vielfältigt denken. Aufgaben, zu deren Bewältigung die be—
reitſtehenden Mittel beinahe ausreichend erſcheinen. Damit
wären die Vorſtufen zur kinetophoniſchen Oper gewonnen,
die ſicherlich unbeholfen genug einſetzen, aber ebenſo gewiß
um Jahrzehnte früher ihren Frieden mit der Mechanik machen
wird, als das Sprechdrama.
Auf dem Wege dahin liegt eine Abſpaltung, die niemals
fehlt, wo immer ſich breite Haufen aus gemeinſamen Inter—
eſſen verſammeln. Es bildet ſich eine vulgäre Unterſchicht
und eine ariſtokratiſche Oberſchicht. Einmal ſchon haben wir
dieſe Spaltung im Kinobetrieb erlebt, der nach ganz prole—
tariſchem Beginn ſchnell genug luxuriöſe Zweige anſetzte. Das
Theater ſollte durch die äußere Aufmachung eingeholt wer—
den, durch Paläſte, elegante Logen, impoſante Saaldiener,
ſymphoniſche Orcheſter und hohe Entrees. Volksküchen mit
Sevre⸗Porzellan, geſchliffenen Kelchen, friſchen Hummern
und Pommery. Die zweite Spaltung wird die Volksküche
zu Recht beſtehen laſſen und ihre Scheidung nach 58 Kunſt⸗
Moszkowski, Der Sprung über den Schatten
113
wert des Dargeftellten bewirken. Dann gleitet die Wildweſt—
dramatik und der ſentimentale Kitſch mit ihren Pampas⸗
ritten, geraubten Bräuten und langweiligen Heroismen in
die Unterſchicht, und die Ariſtokratie beginnt dort, wo aus
der erſten mechaniſchen Paarung von Ton und Bewegung
das erſte glaubhafte Buffoduett vor uns entſtehen wird.
Wer heute ein Knabe iſt, kann es erleben, ehe ihm die Haare
bleichen; und wenn er zufällig Kunſtſchriftſteller werden
ſollte, ſo wird er alle erdenklichen Fragen erörtern, bloß
nicht die, ob ſolche Eindrücke zu den ſchönen Künſten zäh—
len oder nicht; er wird ſie vielmehr als ein ſelbſtverſtänd—
liches Kompromiß auf maſchinenhafter Grundlage anſehen,
das, weit entfernt davon, die Kunſt umzubringen, ſie ins
Ungemeſſene verbreitert und volkstümlich macht.
Als gemeinſame Formel aller Zukunftsbetrachtungen er—
gibt ſich: Das Kino mit all ſeinen fernen Möglichkeiten,
mit Synchronismus des Tones, erhöhtem Relief der Dar—
bietung und optiſcher Tiefbühne verhält ſich zum gegenwärti—
gen Theater wie der Buchdruck zur Literatur. Was wir
heute im Theater als Volkskunſt ausrufen, iſt doch nur ein
Reſervat örtlich und wirtſchaftlich Begünſtigter; zur wirk—
lichen Volkskunſt kann es erſt durch den ungeheuren Multi
plikator der Maſchine werden. Die Elektra, die Phädra und
der Wilhelm Tell haben nicht dadurch gelitten, daß ſie in
Millionen von Exemplaren durch die Maſchine verbreitet wur—
den und daß ſie für zwei Nickel aus dem Automaten ge—
zogen werden können.
Und ſo wird ein Caruſo der Zukunft gleichzeitig an hun—
dert verſchiedenen Bühnen zwiſchen Kanada und Neuſeeland
in hundert wirklichen Vorſtellungen auftreten, eine Indis—
poſition kann niemals vorkommen, und die Eintrittskarte mit
114
und Toren, welche nicht wüßten, daß, wenn die Lichtſpielerei ſich
- 8*
beſter Ausficht auf die ganze Aida wird fünfzig Pfennig
koſten, — falls nicht inzwiſchen durch die Luſtbarkeitsſteuer
der projizierte Tenor genau ſo unerſchwinglich geworden iſt
wie der lebendige.
*
Die vorſtehende Zukunftsanſage hat mancherlei Erörte—
rung in der Preſſe hervorgerufen. Als gewichtigſter Gegner
trat mein verehrter Kollege, der bedeutende Kritiker des Ber—
liner Tageblatts, Fritz Engel auf den Plan, indem er in
ſeinem Organ folgende Abwehr veröffentlichte:
Zukunfts⸗Flimmer
Ein Brief an Alexander Moszkowski
Verehrter Herr und Freund! Sie haben an dieſer Stelle einen
Aufſatz über das Zukunftskino veröffentlicht und einen weiten
Blick in allerlei Entwicklungsmöglichkeiten vorausgetan. Ihre
Phantaſie arbeitet noch lebhafter als der beſte Kurbelapparat, der
ſich ja immer noch an Gegenſtändliches halten muß, und zaubert
Bildungen herbei, die vorerſt nur Einbildungen ſind, die aber,
rein äußerlich geſprochen, durchaus Wirklichkeit werden können.
Wir wiſſen ja alle, daß ſelbſt parodiſtiſch gemeinte Utopien im
Lauf der Jahre ernſte, techniſche Wahrheit geworden ſind. Beim
Gott der Technik iſt eben kein Ding unmöglich.
Aber ich muß widerſprechen, wenn Sie mit möglichen techniſchen
Vollendungen den Ruf aller derjenigen erſticken wollen, welche
in der Inſtitution des Kino, des gegenwärtigen und des zukünfti—
gen, eine Bereicherung der Kunſtſphäre nicht erblicken können. Sie
haben da, verehrter Freund, ſo ein gewiſſes Lächeln, das uns zu
verſtehen gibt, wir ſeien zwar brave Leute, aber ernſt zu nehmen
ſeien wir nicht. Nun ja, man brauche uns nicht gerade totzu⸗
ſchlagen, aber es wäre doch hohe Zeit, uns zu ducken. Wir ſeien
die Don Quixotes, die gegen etwas „Unvermeidliches“ anrennen,
115
quantitativ ſo gewaltig entwickelt habe, darin eine „Lebensoffen-
barung“ ſich zeige, gegen die nichts mehr auszurichten iſt.
Da bitte ich nun ſehr um die Erlaubnis, ein Tor bleiben zu
dürfen. Töricht, wie ich mich fühle, bin ich nicht einmal klug ge⸗
nug, Ihnen im einzelnen zu beweiſen, wie falſch dieſer Gedanke
von der „Lebensoffenbarung“ iſt, die man als eine gottgewollte
Sache in Demut hinnehmen müſſe. Sie verlangen damit, daß
wir auch den peinlichſten Erſcheinungen des menſchlichen Daſeins,
wenn ſie nur kompakt genug auftreten, mit der Gleichgültigkeit
eines Wüſtenphiloſophen zuſchauen ſollen. Sie machen den Kampf
gegen alle Epidemien überflüſſig, und ich ſehe wirklich nicht ein,
warum wir noch etwas gegen die Tuberkuloſe tun ſollen, die ja
leider nach dem „Geſetz der großen Zahl“ unzweifelhaft eine ſolche
„Lebensoffenbarung“ iſt.
Aber Sie ſchränken ſich ja ſelbſt ein, indem Sie einen Kampf
immerhin dann für erlaubt halten, wenn er Ausſicht auf den end»
lichen Sieg hat. Und nun hören Sie, was einer von den Toren
ſpricht, die Sie, immer mit jenem Lächeln, verſpotten, indem Sie
ihnen den Titel „Prieſter der Kunſt“ verleihen. Wir glauben an
dieſen Sieg. Wir glauben, daß die Technik, die die Kultur und
alle Bequemlichkeiten des Lebens beherrſcht, der Kunſt nur immer
reſpektvoll dienen, ſie aber nie tyranniſieren darf. Wir glauben,
daß je eher Ihre Phantaſie zur Wirklichkeit wird, daß Technik und
Kunſt um ſo ſchneller ſich wiederum ſcheiden werden. Wir glauben,
daß all die techniſchen Kniffe, die heutigen und die ſpäteren, er—
kannt werden als Surrogatmittel, die fie find; daß man fie emp⸗
finden wird als Notbehelfe für Farmer an der Grenze des Ur—
waldes, die den Kultur- und Kunſtzentren fernbleiben müſſen;
daß ſie ſchließlich die Sehnſucht erwecken, ſie aber nie befriedigen
werden, nach dem Original: nach der menſchlichen Stimme, die
noch nicht auf die Schallplatte eingefangen iſt, und nach der von
lebendigen Menſchen erfüllten dramatiſchen Kunſt, die ewig das
zarteſte und ſtärkſte Inſtrument ſeeliſcher Wirkung bleiben wird.
„Wilhelm Tell iſt in Millionen Exemplaren maſchinell verbreitet
worden“ — ſo heißt es in Ihrem Aufſatz. Und der Effekt? Die
Erkenntnis, daß das gedruckte Drama ein matter Abglanz iſt.
Weiterer Effekt: der heiße Wunſch, es dort kennen zu lernen, wos
116
hin die von hundertfältigen Konkretheiten erfüllte, nach plaſtiſcher
Lebensgeſtaltung drängende Kunſt des Dichters es geſtellt hat:
auf die paar Bretter, die man dramatiſche Bühne nennt.
Und dieſen Organismus wollen Sie nun, ſchwärmeriſch und
doch ſchon erfolgſicher, den Fortſchritten der Technik reſtlos anver—
trauen. Sie nehmen es als ſelbſtverſtändlich an, daß die Licht—
bühne ſogar auf dem Gebiete des ernſten Dramas noch eine
weſentliche Zukunft habe. Da Sie die Entwicklung mit ſolcher
Aufmerkſamkeit verfolgen, nimmt es mich ein wenig wunder, daß
es Ihnen entgangen iſt, wie ſkeptiſch man bereits in den nächſten
Intereſſentenkreiſen darüber denkt. Zumal mit jenen „Autoren-
films“, von denen ſo viel und ſo hoffnungsvoll die Rede war, iſt
es nicht gut geworden. „Prieſter der Kunſt“ hatten — töricht und
weltfremd, wie fie find — ſofort darauf hingewieſen, daß die Ge-
ſetze des dramatiſchen Schaffens, wenn man es nur im geringſten
im höheren Sinne begreift, niemals in das Prokuſtesbett des
Films zu ſpannen ſind. Einige unſerer Poeten haben das mit—
empfunden, andere nicht, und fie haben wirklich geglaubt, die Lein
wand „veredeln“ zu können. Von dieſen ſind nun die meiſten ſchon
mit langen Geſichtern umgekehrt. Wenn ſie noch für den Film
arbeiten, ſo tun ſie es annonym. Die Epoche, da ihre „Namen“
hoch bezahlt wurden und da ſie ihr künſtleriſches Gewiſſen mit dem
großgedruckten Ruhm der Litfaßſäule einſchläferten, iſt ihrem Ende
nahe. Und wenn ſie ſelbſt auch noch wollten — die Filmdirektoren
wollen nicht mehr. Es war ein ſchlechtes Geſchäft, denn der dicke
Suppenkaſpar Publikum hat die veredelte Bouillon nicht eſſen
wollen. Und das Lichtſpiel ift und bleibt nun einmal ein fauf-
männiſches Unternehmen. Techniſchen Urſprungs, hat es von
Hauſe aus wie alle Technik Geld machen wollen, und ſeine
Schöpfer haben den Teufel an Kunſt gedacht. Auch unſer heutiges
Theater möchte gern reich werden; das iſt gewiß. Aber der Urquell
aller Kunſtgebärdung, außer eben der Kino-„Kunſt“, ſtrömt doch
noch immer aus idealen Bedürfniſſen. Es iſt die Pflicht jener
weltfremden Prieſter, die Herrſchaften vom Theater von Zeit zu
Zeit daran zu erinnern.
Und nun erwartet Alexander Moszkowski das Heil der drama—
tiſchen Filmkunſt vom Glück der Technik. Man werde aus der
117
Flächenprojektion zur dreidimenſionalen gelangen und die Stim-
men der Schauſpieler mit abſoluter Treue auf die Walze bringen,
und man werde ſchließlich plaſtiſches Bild und Reproduktion der
Stimme zu ſo geſchloſſener und einheitlicher Wirkung führen, daß
die volle Illuſion der heutigen Bühne erzeugt wird. Ich traue
der Technik alles zu und will das einmal glauben. Ich will glau-
ben, daß die Sache durchaus klappt; daß die Schauſpieler, die
die Walze beſprochen haben, die aber nachher noch beſonders
kinematographiſch aufgenommen werden, den Mund genau ſo be—
wegen, wie die Sprechmaſchine hinter den Kuliſſen es verlangt;
daß die Akuſtik, die in jedem Saale ihre eigenen Bedingungen
hat, von Fall zu Fall mechaniſch geregelt werden kann.
Dann wird alſo, ſprechfilmenderweiſe, Hamlet gegeben. Sie,
Freund und Gegner, träumen ohne Umſchweife davon. Heute
abend: „Hamlet“ von William Shakeſpeare. Ich fühl', wie ich
ſchaudere, und mir geht's wie Horatio, da er den Geiſt erblickt:
„Es macht mich ſtarr vor Furcht und Staunen.“ Den eiſigen Tod
ſehe ich dort, wo ich Leben zu ſehen gewohnt war Ich ſehe ſtarre
Puppen, die mir voll Beweglichkeit vorlügen, daß ſie nicht ſtarr
ſind, und ich ſehe ſie da, wo ich Menſchen ſich hatte bewegen
ſehen. Gott, wie unmodern, daß ich ſolche Unterſchiede mache.
Wie töricht, daß ich mich erinnere und vergleiche. Wie berührte
mich einſt die Stimme des Prinzen im Innerſten, weil er ſie
eben in dieſem Augenblick ſelbſt aus ſeinen Tiefen herausholte!
Wie fühlte ich ſeine Wärme und neidete ihm den guten Platz,
wenn er ſich an Opheliens ſüßen Leib anſchmiegte! Wie tat mir
ſelbſt der alte Polonius leid, da er gleich einer Ratte abgeſtochen
wurde; ich hatte ihn ja eben noch als einen Atmenden geſehen.
Welch eine Albernheit, daß ich mich daran erinnere, wie reizvoll
und wahrhaft künſtleriſch es ehedem war, daß jede Theaterauf—
führung, auch die ſorgfältigſt vobereitete, ſtets etwas Improvi⸗
ſiertes hatte, abhängig vom Raume, vom jeweiligen Publikum
und von dem immer neuen Streben der Schauſpieler. Wie ſchoͤn
und ſpannend, weil ein Bild des Lebens ſelbſt, waren dieſe Irri—
tationen des Augenblicks!
Jetzt aber, o Zeitgenoſſe, o Zukunftsgenoſſe, jetzt geht alles am
Schnürchen. Du bewunderſt vielleicht nicht mehr Hamlet, aber
118
du bewunderſt die Mafchinerie, die ihn hervorbringt. Du haft
aus der Sprechkiſte Hamlets Monolog gehört und ſagſt: „Nein,
dieſe Technik!“ Und Apollo ſelbſt, der nur ein Olympier war und
noch kein Dr.⸗Ing., geht hin und vertauſcht ſeine alte Leier gegen
ein noch gut erhaltenes Grammophon.
Dies und Ähnliches fiel mir aufs Herz, als ich Ihren Aufſatz las.
*
Adhue sub judice lis est. Und bis zur wirklichen Ent—
ſcheidung in langer Zeit wird es von der Stimmung des ein—
zelnen abhängen, ob er ſich von der momentanen Körper—
lichkeit des Schauſpielers mehr für die Kunſt verſpricht
oder von dem Kunſtgebilde an ſich, ob er die Einmaligkeit,
das Improviſierte höher wertet als die von Ort und Zeit
unabhängige Wirkung, die das Impromptu opfert, um ſich
der Dauer zu verſichern.
Im Grunde dreht ſich der Streit um die Aufrechterhaltung
von Vorbehalten und Privilegien, die ja für den Genießer
ihre hohe Bedeutung haben, aber gegen das Optimum der
Maſſe zurücktreten müſſen, im Sozialen wie im Künſtle⸗
riſchen. Der vornehme Römer, der die Schwere des Alltags
auf feine Sklaven abwälzte, tauchte tiefer in die Lebens—
eſſenz als der Bürger von heute, der ſich mit der Geſinde—
ordnung umherſchlägt, Marken klebt und das Herrenbewußt—
fein nicht mehr kennen lernt. Trotzdem empfinden wir dieſen
Abſtieg vom Lebensgipfel als einen Aufſtieg von einer nie-
deren Lebensordnung zu einer höheren. Ja, wir können uns
nirgends mehr einen Kulturfortſchritt vorſtellen ohne Be—
ſeitigung ſolcher Gipfel und ohne Nivellierung, die durch
ſich ſelbſt zu einer Erhöhung der geſamten Lebensfläche führt.
Im Kunſtleben wiederholt ſich dieſe Erſcheinung ganz ge⸗
119
nau. Der Genießer als ſolcher will keine abgeguckten Kunft-
werke, will nicht die Maſſe, die an der Darbietung teil—
nimmt, beanſprucht die Stegreifblüte als etwas für ihn als
lein Gehöriges. Er befiehlt Separatvorſtellungen und er—
reicht damit gewiß eine Kunſtſchwelgerei, die der ſpäter nach—
ſtrömenden Menge verſagt bleibt. In dieſer Behauptung des
Herrenſtandpunkts offenbarte ſich das Kunſtbekenntnis des
Königs Ludwig II. von Bayern. Darin liegt Größe, Schön—
heit, adlige Eigenart, aber ein Übelſtand iſt dabei: es läßt
ſich der Kunſtwirklichkeit gegenüber nur als eine Fürſten—
laune von kurzer Dauer durchführen.
Der Schwelger von heute ſchielt immer noch begehrlich
nach dem König-Ludwig-Reſervat. Seine Kommandogewalt
iſt freilich verkürzt, und er muß es dulden, daß die Kunſt—
ſtrahlen nicht nur ſeine Loge, ſondern ein ganzes Parkett
voller Menſchen, viele Parketts und viele volle Häuſer er—
reichen. Damit hat er ſich abgefunden. Denn noch hat er
das Improviſierte und die unmittelbar wirkende Körper—
lichkeit für ſich gerettet.
Bloß für ſich gerettet? ach nein! er hat ſie Millionen
vorenthalten und dieſen nicht nur die letzte und höchſte
Schwelgerei, ſondern das Kunſtwerk ſelbſt. Soll es über die
Tauſende hinweg die Millionen erreichen — und dieſe For—
derung iſt unabweisbar — ſo muß es eben den Weg der
mechaniſchen Vervielfältigung einſchlagen. Den Wenigen
wird dabei nicht einmal ein Opfer an Genuß zugemutet, fon-
dern nur der Verzicht auf Ausſchließlichkeit. Denn die We—
nigen werden nach wie vor Erſtaufführungen beſuchen, und
jedes Stegreif in Bewegung, Mimik und Ton bleibt ihnen
ungeſchmälert. Sie werden ſich nur damit abzufinden ha—
ben, daß der Reflex der Darſtellung aus unzähligen Glanz—
120
flächen in alle Welt geht, daß die Tafel für Unzählige gedeckt
wird, die heute noch hungern.
Fritz Engels poetiſche Anſprüche bleiben alſo in aller Zu—
kunft gewahrt, und feine Befürchtungen finden im Techni—
ſchen keine Stütze. Wer ſelber im guten Sprechtheater einen
guten Platz inne hat, wird auch weiterhin dem Dänenprinzen
den guten Platz an Opheliens ſüßem Leib neiden dürfen. Aber
während er ſich dieſen Entzückungen hingibt, mag ihm die
Erkenntnis zuflüſtern: dieſer ſüße Leib Opheliens iſt für dich
eine optiſche Tatſache, in deiner eigenen Körperlichkeit be—
gründet und hervorgerufen durch ein winziges Bildchen auf
deiner Retina. Du ſelbſt kinematographierſt mit Auge, Hirn
und Nerven, wenn du den Leib betrachteſt und aus vielen Ver—⸗
ſchiebungen jenes Bildchens ſeine Süßigkeit abziehſt. Siehſt
du ihn durch ein Opernglas, fo hängt der Mädchenleib ver-
kehrt und verkleinert in der Luft und wird erſt durch einen
höchſt umſtändlichen Prozeß im Okular deiner Wahrneh—
mung zugeführt. Setze dich ſchräg gegen die Bühne und
ſchalte einen Planſpiegel ins Geſichtfeld ein, ſo wird ſich der
Eindruck immer noch nicht ändern, und du wirſt dich im
äſthetiſchen Genuß der warmen Körperlichkeit fühlen. Sie
ſelbſt, die Ophelia, korreſpondiert mit dir immer nur op—
tiſch, durch einen verwickelten Mechanismus, der letzten
Endes nichts anderes bewirkt als gewiſſe molekulare Anord—
nungen in deinem eigenen Empfangsapparat. Gelingt es
der Technik, dieſe Anordnungen auf noch größeren Umwegen
und Entfernungen zu bewirken, ſo bleibt dieſe Körperlichkeit
beſtehen, ſelbſt wenn die reale Ophelia in Berlin geſpielt
hat und dir ihre Erſcheinung zehn Jahre ſpäter nach einem
Alpendorf zuſendet. Illuſion iſt alles in der Kunſt, fie ſpie—
gelt dir in Nähe und Ferne eine Körperlichkeit vor, die du
21
ſelbſt durch die Technik der Organe in dir konſtruierſt. Als
das Kino feine Laufbahn begann, wurde ihm jede Kunſt—
möglichkeit abgeſtritten. Heute ſieht es auf dem Kampf⸗
felde ſchon anders aus, und in die Fanfaren der Gegner mi—
ſchen ſich die Töne der Verzichtleiſtung. In dem Feldgeſchrei
„der Autorenfilm verſagt“ liegt bereits das Zugeſtändnis,
daß man die modernen Filmautoren gar nicht brauchen wird,
ſondern nur noch Autoren. Ganz einverſtanden. Wenn durch
vorgeſchrittene Technik und neuangepaßte Illuſion erſt aus
den „ſtarren Puppen“ lebendige redende Menſchen geworden
ſind, dann wird es ſich zeigen, daß die Bühnenautoren ſeit
Sophokles Zeiten ſchon immer für den Film geſchrieben ha—
ben. Und wenn dann irgendein Filmdrama nichts taugt,
ſo wird es am Drama liegen, nicht am Film. Nehmen wir
aber als Vorausſetzung die vollendete Mechanik, den wirk—
lichen Dichter und den trefflichen Darſteller, dann ver-
ſchwindet der Filmbegriff überhaupt, und an ſeine Stelle
tritt das weithin ſtrahl-tönende Kunſtwerk in einer Nach⸗
welt, die dem Mimen Kränze flicht.
522
277
8 1 n :
Sata .
Klavier und Maſchine
In meiner Studie über „die Kunſt in tauſend Jahren“
habe ich die Frage nach der zeitlichen Begrenzung der Künſte
aufgeworfen und mit den mir verfügbaren Mitteln zu beant—
worten verſucht. In der Löſung des Problems gelangte ich
zu dem Ergebnis, daß die Kunſt im Daſein der Menſchheit
von Anfang an nur zu endlichen Funktionen berufen ſei.
Seitdem ſind Aufforderungen an mich ergangen, die Wahr—
ſcheinlichkeitsſfkala für das Erlöſchen der Künſte genauer zu
beſtimmen.
Daß die tauſend Jahre der Überſchrift nur eine bequeme
Sprachformel darſtellen, iſt ohne weiteres einleuchtend.
Tauſend Jahre ſind eine Ewigkeit im Verhältnis zum ein—
zelnen Menſchenleben und eine Minute in der kosmiſchen Ent—
wicklung. Zweifellos werden Dichtkunſt, Bildhauerei und
muſikaliſche Kompoſition zu höherem Alter gelangen. Aber
ich bin der Meinung, daß einzelne Beſonderheiten der Kunſt
auch dieſe tauſend Jahre nicht überleben werden. Und ich will
hier mit der neuen Ketzerei hervortreten, daß wir den Mund
gar nicht mit Jahrtauſenden vollzunehmen brauchen, um
das Ausſterben einer beſtimmten Kunſtklaſſe, nämlich des
Pianismus, vorauszuſagen. Hier wird es ſich höchſtens nur
noch um Jahrhunderte handeln.
Ich möchte mich hierüber weder mit den Pianiſten von
123
Fach noch mit den Konzertagenten oder Konſervatoriums—
leitern unterhalten. Dieſe werden geneigt ſein, von Arion ab
über den erſten Spinettpinker hinweg bis zu den Klavier—
matadoren unſerer Tage eine aufſteigende Kurve zu erblik—
ken, die notwendigerweiſe ad astra führen muß. Sie wer⸗
den die Statiſtik der Klavierkonzerte aufmarſchieren laſſen,
deren Zahlenwucht die Bedenken eines einzelnen Zweiflers
einfach niederreitet. Und vermutlich werden ſie wenig Luſt
bezeigen, mir eine Vorausſetzung zuzugeben, auf die ich vor—
nehmlich meine verwegene Anſicht aufbaue, nämlich die: daß
der Pianiſt von Anbeginn in der Entwicklung der tonkünſtle—
riſchen Gedanken einen Fremdkörper bedeutet.
Nehmen wir einmal vorläufig die Kompoſition, ſo wie
ſie ſich in der Klaviermuſik darſtellt, als einen ewigen Wert
an. Ihr gegenüber ſteht der Empfangende, der Hörer, der
dieſen Wert in ſich aufnehmen, ſeinen Reiz genießen ſoll.
Das ideale Verhältnis wäre der unmittelbare Kontakt, das
Überfließen des Reizes in den empfangenden Organismus,
ſo wie der Wanderer den Wald und die Sonne, der Jüngling
die Geliebte genießt, ohne Zwiſchenhändler und Dolmet—
ſcher. Auf der einen Seite ſteht der Weltgeiſt in einer ſinn—
lichen Offenbarung, auf der anderen ein Menſch, deſſen Ner—
venbahnen ſich dieſer Verkündung öffnen. Und theoretiſch,
wenn auch in Form eines Wunders, ließe ſich auch für die
Muſik eine ſolche Unmittelbarkeit ausdenken: eine Beetho—
venſche Sonate, ein Chopinſches Nocturne müßten dem leib—
lichen Ohre erklingen, wie ſie urſprünglich dem inneren Gehör
der Erzeuger entquollen. Das wäre die Vollendung.
Aber zwiſchen dem Beethoven oder Chopin und dem Hörer
ſteht nun in jedem Falle ein Agent, der die beiden Pole an—
einanderbringt. Ohne dieſen Menſchen und ſeine umſtänd—
124
N
*
liche, mühevolle, im Grunde ſehr peinliche Gymnaſtik wür⸗
den ſich die beiden Pole, die einander ſuchen, nicht vereini—
gen, der Funke würde zwiſchen ihnen nicht überſpringen kön—
nen. Einem Organ, das die Natur zum Greifen beſtimmte,
hat er das Klavierſpielen abgetrotzt, eine Technik eingepflanzt,
die in jedem, auch im beſten Falle als das Prinzip der über—
wundenen Schwierigkeiten eine mechaniſche Geltung bean—
ſprucht. Dieſer Menſch vermittelt alſo, das heißt, er erregt
die Täuſchung, daß jener Beethoven oder Chopin zunächſt
gar nicht die Objektivation einer künſtleriſchen Idee gefun—
den und dargeſtellt, ſondern vor allem den Vorwand erſonnen
hat, ihn mit feinen äquilibriſtiſchen und wagehalſigen Lei—
ſtungen auf das Podium zu befördern.
Aus allen Poren ſchwitzt ihm die mechaniſche Arbeitsver—
gangenheit. Wir mögen von der pianiſtiſchen Darbietung
entzückt und überwältigt ſein, wir mögen ihm zujubeln, ihn
herausrufen und zu Wiederholungen nötigen, — je beifalls—
freudiger wir uns gebärden, deſto deutlicher beſtätigen wir
die Tatſache, daß er jene Idealfühlung nicht fördert, ſondern
ſtört; daß er eine ſelbſtherrliche Inſtanz darſtellt, von der die
Kompoſition als ſolche nichts weiß; daß ſich auf dieſer mit
klammernden Organen ein Paraſit feſtgewurzelt hat, der
die Kräfte und Säfte des Werkes für eigene Zwecke in An—
ſpruch nimmt und aufſaugt.
Aber der kompoſitoriſche Geiſt hat von Natur aus einen
anderen Willen, und früher oder ſpäter wird er ihn durch—
ſetzen. Ihm iſt es nicht darum zu tun, die techniſche Her—
vorbringung zu betonen, ſondern ſie verſchwinden zu laſſen.
Er will das unmittelbare Überfließen in das Empfangsorgan,
und wenn er dies bis zur Stunde noch nicht ermöglichte, ſo
deutet er doch den Weg an, auf dem er es dereinſt ermöglichen
125
wird. Schon find am Reformtempel der Kunſt die neuen
Theſen angeſchlagen, und deren oberſte Sätze lauten: Der
pianiſtiſche Menſch muß und wird ausgeſchaltet werden; an
die Stelle des akrobatiſchen Vermittlers ſoll die Maſchine
treten, die eben, weil ſie ſeelenlos iſt, ſich zur allergehor—
ſamſten Vollſtreckerin des kompoſitoriſchen Willens eignet.
Wie dieſe Maſchine der Zukunft heißen wird, das wiſſen
wir nicht, braucht uns auch nicht zu kümmern. Auf gegen—
wärtiger Stufe der Möglichkeit heißt fie: das Pianola “).
Ich ſehe das Entſetzen in den Mienen vieler Leſer. Da
tritt einer auf, der vollkommen das Göttliche in der Men—
ſchendarſtellung überſieht und der allen Ernſtes behauptet,
dieſes Göttliche könnte durch eine maſchinenhafte Anlage
überwunden werden. Das iſt in der Tat viel Ketzerei in einem
Satze. Aber wir werden uns zu erinnern haben, daß noch
niemals eine kunſtphiloſophiſche Erkenntnis, noch niemals
ein Reformationsgedanke aufgetaucht iſt, die nicht im erſten
Anlauf einen ketzerhaften Anſtrich gezeigt hätten.
Exempla docent. Wir wollen uns zunächſt einmal in
benachbarten Gebieten umſehen, um zu prüfen, welche Rolle
dem Mechaniſch-Seelenloſen im Bereich des Künſtleriſchen
und Reingeiſtigen zufällt.
*) Die Betrachtungen dieſes Artikels gelten bis zu einem ge—
wiſſen Grade auch für die anderen Konftruftionen, die das Prinzip
des Pianolas, alſo die Unterdrückung der techniſchen Schwierig—
keit, verfolgen. An dem Zuge meiner Ausführungen, die nur dieſes
Prinzip als Zukunftswerk behandeln, wird nichts geändert, wenn
ſtatt des Wortes Pianola eine andere Artbezeichnung einge—
ſetzt wird. Der von mir aufgeſtellte Generalnenner iſt aber, am
Gange der Entwicklung gemeſſen, der einzig mögliche, da das
Pianola als Verwirklichung eines techniſchen Gedankens vor—
bildlich aufgetreten iſt.
126
Du trittſt vor ein Gemälde, das als Kunſtgebilde zum Be⸗
ſchauer dieſelbe Beziehung hat wie die muſikaliſche Kompo⸗
ſition zum Hörer. Genau genommen müßte ſich alſo auch
hier ein Vermittler dazwiſchen ſtellen, ein Menſch, der dir
das Bild ſozuſagen „vorſpielt“. Hiervon weiß aber dieſe
Kunſt nichts. Sie läßt die Schwingung — das Subſtrat
aller Kunſt — direkt in dich, auf deine Retina überſtrömen.
Als Vermittler dienen lediglich der im Licht ſchwingende ſee—
lenloſe Ather der Luft und die ſeelenloſe Linſe deines Auges,
welche in ihrer Vereinigung als das Pianola der Malkunſt
angeſprochen werden können. Du ſelbſt, als der Schauende,
haſt dieſes von der Natur vorgeſehene Pianola zu regiſtrie—
ren, und du kannſt den Gedanken gar nicht zu Ende denken,
daß hier als Vermittler noch irgendein ſeelenvolles Drittes
ſich zwiſchen dich und das Kunſtwerk drängen könnte.
Ja, im Felde der Muſik ſelbſt finden wir Anſätze dieſer
Erkenntnis. Als Richard Wagner mit der Forderung des
verdeckten Orcheſters hervortrat, führte er faſt dieſelben Mo—
tive ins Treffen, die uns als Beweisſtützen dienen ſollen.
Er verlangte wörtlich „die Beſeitigung der ſtets ſich auf—
drängenden Sichtbarkeit des techniſchen Apparates der Ton—
hervorbringung“. Die Häufung geigender und blaſender
Mittelsperſonen, vor allem aber den eigentlichen Interpreten,
den Kapellmeiſter in feinen gymnaſtiſchen Übungen, emp⸗
fand er als Fremdkörper. Und läge es im Bereich der Möge
lichkeit, die Kapelle durch ein ideales Orcheſtrion zu erſetzen,
jo hätte Richard Wagner keinen Augenblick gezögert, den gan⸗
zen ſeelenvollen Komplex muſizierender Zwiſchenglieder ſamt
ihren Dirigenten von Bülow bis Mottl radikal abzuſchaffen
und durch die Maſchine zu erſetzen. Er hat ſich damit be—
gnügt, die Störung zu verdecken. Auf unſeren Fall über⸗
2
=
tragen, würde dies der Mitwirkung eines „verdeckten Kla—
vierſpielers“ gleichkommen. Wir gehen noch einen Schritt
weiter und greifen in die Zukunft, indem wir den Pianiſten
nicht nur verdecken, ſondern in der Verſenkung verſchwinden
laſſen.
Denn immer bliebe noch zwiſchen der Schöpfung und dem
Hörer das Klavier ſelbſt, ein Inſtrument, das mit ſeinen
Hebeln, befilzten Hämmern, metallenen Fäden und ſeinem
rieſigen Reſonanzkaſten zunächſt nichts anderes darſtellt als
einen ſeelenloſen, nach arithmetiſcher Ordnung aufgeftellten
Katalog der Töne. An und für ſich erſcheint uns das Piano—
forte wie ein Bergwerk, angefüllt mit Erde, Schlacke und ein—
geſprengten Silberadern, die erſt losgelöſt, geſchmolzen und
zur Kunſtgeſtalt geformt werden müſſen; oder wie ein Mar—
morbruch, der in ſeinem toten, unterſchiedsloſen Geſtein all
die bildlichen Herrlichkeiten trägt, die erſt — hier wie dort
wörtlich genommen — herausgehauen werden ſollen. Wäre
es möglich, das Klavier mit der Urſchöpfung ſo in direkte Be—
rührung zu bringen, daß der Urheber ſich ſelbſt zum Er—
klingen brächte, ſo wäre das Vortragsproblem gelöſt. Zu
dieſem Ziel findet ſich leider in der natürlichen und künſtle—
riſchen Schöpfungsgeſchichte kein Weg vorgezeichnet. Es iſt
beſtimmt in Apollos Rat, daß hier ſtets noch ein Tertius
oder Tertium mit unerbetener, aber notwendiger Dienſt—
leiſtung auftritt, ein Pianiſt oder ein Pianola, ein Menſch
oder eine Maſchine, bei denen ſich trotz aller Grundverſchie—
denheit ihres Weſens ſchon heute ein Konkurrenzkampf an—
kündigt.
Und da ſchwinge ich mich ſofort zu der anſcheinend barbari—
ſchen Anſage auf, daß die Zukunft dieſe Konkurrenz zugun—
ſten des Pianolas entſcheiden wird; hierbei ſtelle ich das
128
Horoſkop gar nicht auf eine Unabſehbarkeit ein, ſondern, wie
ſchon angedeutet, auf eine nahe, nach wenigen Generationen
beſtimmbare Folgezeit.
Ja, ich gehe noch weiter: Nach der Summe ſeiner Lei—
ſtungen gemeſſen ſtelle ich das Pianola ſchon heute über ir—
gendeinen Pianiſten.
In dieſer Summe ſind inbegriffen: die abſolute techniſche
Vollendung, die Launenloſigkeit des Inſtruments, ſeine ſtete
Spielbereitſchaft, ſein unendliches Gedächtnis und ſein un—
erſchöpflicher, die geſamte Literatur umſpannender Spiel—
ſchatz.
Dieſe Eigenſchaften werden wohl kaum beſtritten, ſie ſind
ſo leicht erweislich, daß ein Widerſpruch ſich nicht hervor—
wagt. Und da frage ich vor allen Dingen: Iſt es denn wirk⸗
lich durchaus erforderlich, eine Maſchine als etwas Totes dem
lebendigen Darſteller gegenüberzuſetzen? Sollen wir uns
nicht vielmehr endlich von der Legende losreißen, die das
Leben nur dem als lebendig Klaſſifizierten zuſchreibt?
Wer ſich erſt zu der Einſicht durchgerungen hat, daß ein
Uhrwerk, eine Magnetnadel nicht toter ſind als eine organiſche
Zelle, der wird auch unſchwer an die Stelle der durch Jahr—
tauſende geübten Denknotwendigkeit vom grundfäßlichen Le—
bensunterſchied eine neue ſetzen: und am Ende ſeines Denk—
weges wird er die Wahrheit finden: eine Maſchine, die über:
haupt ein Tonwerk reproduziert, iſt ein Lebendiges.
Wer das Gegenteil annimmt, verläuft ſich unrettbar in
die Sackgaſſe der Widerſinnigkeiten. Das werde ich ihm be—
weiſen. In meiner Arbeitsſtube wird ein Pianola in Tätig—
keit geſetzt, das den erſten Satz der Neunten Symphonie aus—
führt. Mein Flurnachbar, der von dem mechaniſchen Zu—
ſammenhang der Dinge keine Ahnung hat, der nur der akuſti—
Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 9
129
ſchen Wirkung gehorcht, ſtürzt ganz aufgeregt zu mir ins
Zimmer, in der Erwartung, bei mir einen berühmten Piani—
ſten vorzufinden, und iſt im höchſten Grade betroffen, als
ich ihm als den Urheber der phänomenalen Leiſtung einen
ſchwarzpolierten Kaſten vorſtelle. Bald darauf rücke ich das
Pianola ab, ſetze mich ſelbſt an die Taſten und verſuche die
erſten Takte der Neunten Symphonie. Mein Nachbar er—
kennt mich ſofort als das, was ich wirklich bin, nämlich als
einen Klavierſtümper von Gottes Ungnaden, und bittet mich,
ſchleunigſt innezuhalten. Wenn aber die angeblich unbeſeelte
Maſchine künſtleriſch fraglos Beſſeres leiſtet als ich, der le—
bendige und beſeelte Stümper, ſo iſt damit die ſtarre Denk—
notwendigkeit bereits unheilbar durchbrochen. Wir haben es
dann nur mit gradmäßigen Unterſchieden zu tun, und es
könnte ſich allenfalls fragen, in welche Stufe der Künſtler—
ſchaft das Pianola einzuſchätzen wäre. Es bliebe die Mög—
lichkeit offen, daß ein Roſenthal, d' Albert, Buſoni, ein Zus
kunfts⸗Liſzt jene Transſkription noch vollendeter zur Er—
ſcheinung zu bringen vermöchten. Das bloße Auftauchen die—
ſer unvermeidlichen Frage genügt, um dem Pianola ſeinen
Rang unter den Künſtlern anzuweiſen.
Die Virtuoſität an ſich würde ſchon hinreichen, um ihm
dieſen Rang zu gewährleiſten. Beim Menſchen beruht die
techniſche Höhe auf einer beſonders geſteigerten Anlage des
Koordinationszentrums im Gehirn, der eine entſprechende
Anlage im Gliederbau gewöhnlich parallel geht. Nun gibt
es freilich Dilettanten der Phyſiologie, die da meinen, es
hänge vom Zufall ab, ob unter ſolcher Vorausſetzung der
Menſch ein vorzüglicher Aquilibriſt, Trapezturner, Jongleur,
Radfahrer, Volteſchläger oder ein glänzender Klavierſpieler
würde; und die nämlichen Dilettanten ſind dann geneigt, alle
130
r A ir > Tau 9 8
n 3
dieſe Qualitäten auf ein und dieſelbe Stufe zu ſtellen, alſo die
Klaviervirtuoſität als eine rein und ausſchließlich mechaniſche
Fertigkeit zu begreifen. Das iſt natürlich für jeden, der die
Zuſammenhänge und Entwicklungsmöglichkeiten tiefer er—
faßt, der blanke Unſinn. Das höchſtbeanlagte Koordinations—
zentrum wäre auf der Taſtatur ratlos verloren, wenn es ſich
nicht auf ein ſpezifiſch muſikaliſches Talent zu ſtützen ver—
möchte, beſonders auf das muſikaliſche Gedächtnis, das als
ſolches von einer allgemeinen tonkünſtleriſchen Beanlagung
ganz untrennbar erſcheint. Ich würde daher nicht einen Au—
genblick ſchwanken, irgendeine Perſon, von der mir nichts
anderes bekannt wäre als ihre Klavierbravour, unter die
Muſiktalente zu rechnen.
Nun haben wir aber im Pianola einen Organismus, deſ—
ſen Virtuoſität ohne weiteres als grenzenlos bezeichnet wer—
den muß. Sein Koordinationszentrum umfaßt alle Mög—
lichkeiten zugleich. Jeder korreſpondierende Hammer iſt ſein
eigener Finger, und jeder dieſer Finger funktioniert in jedem
kleinſten Zeitteilchen mit nie verſagender Treffſicherheit. Das
ergibt insgeſamt eine Virtuoſität, mit der ſich keines leben—
digen Spielers Technik zu meſſen vermag und die ja auch
ſelbſt bei blaſierten Klavierhörern jedesmal aufs neue die
Empfindung des Staunens auslöſt.
Und dieſe grenzenloſe Technik tritt trotzdem beim Pianola
ſo ſelbſtverſtändlich auf, daß ſie durchaus als ein Element
der Schönheit erſcheint, ohne jenen fatalen Beigeſchmack der
menſchlichen Bravour, die ſich ſtets als etwas Unnatürliches
verrät, als etwas Ertrotztes, im vieljährigen Kampf gegen
die Widerſpenſtigkeit der Hand Erzwungenes. Was der Kom—
poniſt im Einzelfalle beabſichtigt hat, die beſtimmte Idee im
Tonreich, die ſich in dieſem Werke objektiviert, wird um ſo
9 *
131
reiner in die Erſcheinung treten, je mehr die techniſche Arbeit
verſchwindet, die es zu ſeiner Darſtellung aufbietet. Ich fol—
gere: das Pianola iſt nicht nur ein Künſtler, ſondern es über—
ragt ſchon in feinem heutigen Können alle lebenden Klavier:
menſchen dadurch, daß es ein Maximum der Technik mit
einem Minimum der Ablenkung von der muſikaliſchen Haupt—
ſache verbindet.
Alle die Notbehelfe, die der wirkliche Pianiſt, auch der
vortrefflichſte, einſchmuggeln muß, die durch das Pedal ver—
deckten Undeutlichkeiten und Unzulänglichkeiten, das nie zu
vermeidende Durcheinanderſchütteln der Töne im komplizier—
ten Figurenwerk, die verwiſchten Grenzlinien im Doppelgriff—
ſpiel, kurz alle techniſchen Mängel, die wir gefliſ—
ſentlich oder gewohnheitsmäßig überhören, weil ſie unlöslich
der menſchlichen Darbietung anhaften — ſie exiſtieren nicht
für das Pianola. Es iſt der einzige abſolut ehrliche Künſt—
ler, der einzige, der ſeine Arbeit mit vollkommen reinem Ge—
wiſſen erledigt. Das Pianola unterſchlägt nicht, beſchönigt
nicht und hilft ſich niemals mit einer athletiſchen Geſte über
eine techniſche Lücke hinweg. Sein vollgriffiges Spiel, ſeine
Oktaven, Terzenläufe und Akkordfolgen ſind die einzigen, die
volles Gewicht zeigen und jede Goldprobe aushalten. Ach,
wieviel Elemente gibt es im Menſchenſpiel, die uns nur dar—
um individuell gefärbt erſcheinen, weil jeder Spieler ſich auf
ſeine perſönliche Weiſe mit der Unzulänglichkeit auseinan—
derſetzt! Weil jeder ſein Spezifikum beſitzt, mit dem er ſich
und die Hörer über den im letzten Grunde unbeſieglichen
Widerſtand der Materie hinwegtäuſcht! Gewohnheit und
muſikaliſche Anpaſſung an das Gegebene haben uns dahin
geführt, in dieſen perſönlichen Färbungen Tugenden zu er—
blicken. Und ebenſo wird uns die Anpaſſung an das Pianola
142
na
dahin führen, ſolche Tugenden bis auf ihren Fehlergrund .
zu durchſchauen, alſo auch auf gewiſſe Abtönungen zu ver—
zichten, ſobald wir ſie als Begleiterſcheinungen menſchlicher
Schwäche oder als Falſchſpielertricks erkannt haben.
Und nun wird es an der Zeit ſein, ſich deſſen zu erinnern,
daß ja ſchließlich auch zum Pianola ein Menſch gehört, der
die Bälge tritt, der das Pedalwerk regelt und die Modu—
lationshebel nach ſeinem eigenen Willen lenkt. Außerlich
betrachtet, könnte er für den Pianiſten dieſes Inſtrumentes
gelten. Tatſächlich verhält er ſich zum eigentlichen Klavier—
ſpieler wie der große Hexenmeiſter zum kleinen Zauberlehr—
ling.
Seine Arbeit beſteht darin, die ungeheuren muſikaliſchen
Kräfte austönen zu laſſen, die in der Kombination Klavier
plus Pianola fertig vor ihm liegen; im Klavier als Chaos,
beim Durchgang durch das Pianola diſzipliniert, fertig ver—
arbeitet, nur noch des letzten Impulſes gewärtig. Keine
techniſche Sorge tritt ihm nahe; alle dieſe Sorgen ſind von
den Bändern des Pianolas abgefangen worden, deren Sieb
nichts durchläßt als ſchlackenfreie techniſche Vollkommenheit.
So kann ſich denn der Pianolameiſter einzig und allein dem
Vortrag des Stückes widmen.
Vortrag? Meiſter? — ja, ganz gewiß. Schon heute kön—
nen Spiel und Spieler dieſe Titel verdienen. In der Hand—
habung des Metroſtylhebels, in der Regiſtrierung, vor allem
aber in der Kunſt der Pedalgebung, in der Okonomiſierung
des Luftſtromes öffnet ſich die ganze Stufenleiter von der
Unbeholfenheit des Anfängers bis zur Meiſterſchaft; und
demzufolge eine entſprechende Skala von der trockenen Wie—
dergabe der Noten bis zum hochmuſikaliſchen Vortrag. Nur
mit dem Unterſchied vom Urklavier, daß der Fingerpianiſt
133
fein halbes Leben der Erlangung der Technik opfern muß,
während der Pianolaſpieler, entbunden von dieſer Fron, als
der Spieler höherer Ordnung ſich ſofort am Reingeiſtigen,
am Vortrag, emporbildet.
Wir haben es im Grunde mit dem einfachen Anſatz zu tun:
Der Klavierſpieler verhält ſich zum Klavier wie der Pianola—
ſpieler zum Pianola. Auch das Klavier iſt eine mechaniſche
Anlage, da es die fertigen Töne auf Vorrat bereitet. Erſt der
unter der Wucht der Schwierigkeit ſtöhnende Künſtler ver—
wandelt die Sauberkeit dieſer Anordnung in eine Unreinheit,
von der er ſich vergebens durch Maſſendiſziplin der Finger
zu befreien ſtrebt. Unzähligemal im Laufe ſeiner Studien
wird es ihm inſtinktiv bewußt, daß dieſe Maſſendiſziplin in
den letzten Dingen des Klavierismus das entſcheidende Wort
zu ſprechen hat; daß eine Zeit kommen muß, die mit der
Forderung der Klarheit und Wahrheit in der Wiedergabe die
Romantik der Fehler überwindet; daß das Ohr der Zukunft
jeden Manſch und Planſch als frevelhafte Fälſchung wahr—
nehmen wird. Der Pianoliſt kann da anfangen, wo der ver—
zweifelte Pianiſt aufhört. Er ſteht vor der Mechanik über:
legener Klaſſe, vor der zwiefach rektifizierten Reinheit. Die
Sklaverei der Erdenſchwere weicht dem Höhenrauſch, die Pro—
peller arbeiten für ihn, und losgelöſt von der Miſere des
Muskeldienſtes werden ſeine Finger einzig und allein künſt—
leriſchen Impulſen zu gehorchen haben.
Gewiß, ich ſpreche hier im Futur, vom Pianola der Zu—
kunft und von deſſen Meiſter.
Ohne weiteres ſei zugegeben, daß hier zwiſchen dem Er—
reichten und dem Wünſchenswerten noch eine weite Lücke
klafft. Die Abſchattierung der Tonſtärke iſt im heutigen
Pianola an gewiſſe Grenzen gebunden, und in der Phraſie—
134
rung einer legato zu gebenden Melodie behauptet der Fin⸗
gerſpieler noch den Vorrang. Aber es wäre Gouvernanten—
äſthetik, zu erklären, daß die Großwelt des Klaviers ſein
ganzes Heil von der poetiſchen Wiedergabe einer im Ather
ſchwebenden Geſangslinie zu erwarten habe. Was dem Kla—
vier ſeine überragende Stellung anweiſt, was es neben dem
Orcheſter und ſelbſt mit Ausſchluß der Orgel zum eigent—
lichen Kultur⸗ und Literaturträger beſtimmt, iſt die mehr:
dimenſionale Unendlichkeit feiner Tonkombinationen, inner:
halb deren die einzelne getragene Kantilene verſchwindet wie
ein anmutiges Wellengekräuſel am Ufer gegen die Majeſtät
des Ozeans. Und dieſer Ozean ſteht dem Pianolaſpieler ſchon
heute offen. Es wird durchaus eine Frage des konſtruktiven
Fortſchritts bilden, auch jene Reſtaufgaben zu bewältigen,
und wer ſich den Weg vergegenwärtigt, den die Lebendigkeit
des Vortrages ſeit dem vorſintflutlichen Drehklavier bis zum
modernen Pianola durchmeſſen hat, der kann über die der—
einſtige Löſung dieſer Aufgaben nicht im Zweifel fein.
Die Seele des Pianola iſt die Notenrolle; denn dieſe
enthält den erſchöpfenden Ausdruck der Kompoſition, und
ſo iſt hier das Kunſtwerk ſelbſt zu einem Beſtandteil des
Inſtrumentes geworden. Die Tonſchöpfung tritt nicht von
außen heran, ſondern lebt mit dem darſtellenden Mechanis—
mus ein und dasſelbe Leben. Es erſcheint mir nicht neben
ſächlich, daß die Noten, wie ſie ſich hier abrollen und durch
den Atem der Bälge in das Inſtrument ergießen, ſchon in
ihrer Erſcheinung ein weit zutreffenderes Bild des kompo—
ſitoriſchen Gedankens geben als die Drucknoten. Die Zwei—
teilung nach rechter und linker Hand, die doch nur ein Zu⸗
geſtändnis an die menſchliche Anatomie darſtellt, iſt der Ein—
heitlichkeit gewichen. Die Dauer jeder Note, ihr Einſchlag
135
in das Tongewebe, kündigt ſich finnfällig an, dem Kunſt⸗
verſtand unmittelbar erkennbar, nicht durch eine typographi⸗
ſche Chiffre. Geometriſch-analytiſch betrachtet iſt die gedruckte
Notenſeite ein Gebilde, worin zu einer horizontalen Abſziſſe
der Zeit die Tonhöhen als ſenkrechte Ordinaten eingetragen
werden. Dem entſpricht die Anordnung auf dem Klavier
aber keineswegs, denn auf der Taſtatur verlaufen gerade
umgekehrt die Tonhöhen in der Horizontalen. Zwiſchen der
gedruckten und der geſpielten Kompoſition klafft alſo ein
innerer mathematiſcher Widerſpruch, der in ganzer Stärke
wahrnehmbar wird, ſobald man das Abrollen des Noten—
bandes im Pianola verfolgt. Hier verlaufen die Tonhöhen
genau ſo, wie wir ſie inſtrumental empfinden, in der Wage⸗
rechten, während ſich die Zeit ſinngemäß in der Linie des fort—
ſchreitenden Spiels, alſo ſenkrecht, einordnet. Auch in dieſem
Punkte offenbart ſich eine Rückkehr zur wirklichen Muſik—
natur, ein innigerer Anſchluß an die Kompoſition. Und ich
gehe wohl in der Annahme nicht fehl, daß nach all dieſen
Beweisgründen meine Anſage von der Überwindung des Pia—
nismus durch das Pianola der Zukunft nicht mehr ganz ſo
barbariſch klingen wird wie auf den erſten Anhieb.
Als ich von der Querſumme der Leiſtungen ſprach, nannte
ich die Größe der Literatur. Sie allein wäre zureichend,
um das Pianola allen Inſtrumenten und allen Spielern
überzuordnen, denn ſie umfaßt tatſächlich die muſikaliſche
Welt. Mit einem einzigen Pianola und einem auf ſeinen
Mechanismus eingeübten Spieler iſt die geſamte Botſchaft
des muſikaliſchen Parnaſſes zu verkünden. Klein und ärm—
lich erſcheint der Spezialbetrieb jedes Fingerpianiſten gegen
die Univerſalität eines Pianola, das, ſowie es das Atelier
ſeines Erzeugers verläßt, bereits die ganze auf Taſten dar—
136
ſtellbare Weltliteratur eingeübt hat. Klein und ärmlich er
ſcheint auch ſo geſehen das Heer ſonſtiger Spielapparate,
der Mignonklaviere, der Grammophone, kurz aller Kon-
ſtruktionen, die nur das automatiſch wiederzugeben vermö—
gen, was ihnen ein Künſtler vorgeſpielt oder vorgeſungen
hat“). Sie haften ſklaviſch an der Endlichkeit menſchlicher
Darbietungen, während das Pianola ſeinen Reichtum ohne
Mittelsperſon aus der Unendlichkeit der Schöpfung herleitet.
Während Mignon und Grammophon ſich unweigerlich auf
den beſtimmten Stil ihres Vortragsmuſters feſtlegen, bleibt
das Pianola nur dem Komponiſten ſelbſt verpflichtet, völlig
frei indes in Tempowandel und Stärkegraden; alſo mit den
Kennzeichen der Perſönlichkeit begabt gegenüber den Repro—
duktionsmaſchinen, die keine Originalklangbilder, ſondern nur
deren Echo zu geben vermögen.
*) Ich bin mir deſſen bewußt, daß ich hier aus dem Felde der
kunſtphiloſophiſchen Zukunft in das der gerichtsnotoriſchen Gegen—
wart geleite. Eine Reichsgerichtsentſcheidung vom 5. Mai 1909
enthält folgende Sätze: „In der Reichsgerichtskommiſſion wurde
ein Pianola vorgeführt, und man überzeugte ſich, daß der Bor;
trag der Kompoſition mit Hilfe des Pianolas von dem Vortrage
durch einen in der Technik hervorragend geſchulten Spieler nicht
oder doch nur von den Kennern der größten Feinheiten unter-
ſchieden werden kann.“ „. .. Dies gerade iſt auch beim Pianola
das Charakteriſtiſche. Der Vortragende iſt hier in der Lage, die
Wiedergabe des Muſikwerkes nach ſeiner perſönlichen Auffaſſung
in den vom Geſetz hervorgehobenen Richtungen zu beſtimmen.
Hierdurch wird die Wiedergabe in gewiſſem Maße ſelbſt eine
perſönliche, eine individuelle. Sie wirkt nach Art eines perſön—
lichen Vortrages. Beim Grammophon und beim Phonographen
iſt das unmöglich. Alles Perſönliche iſt bei der Vorführung des
Phonographen ausgeſchaltet; nur das Mechaniſche iſt in Wirk—
ſamkeit.“
137
Das Pianola iſt ein Lebendiges trotz feiner im Grunde
maſchinenhaften Anlage, wie ein modernes Feldheer lebendig
iſt, obſchon es ſich nicht auf die Individualitäten vorzeitlicher
Ritter beruft. Es iſt ein übergeordnet Lebendiges im Sinne
Fechnerſcher Philoſophie, denn es denkt mit der Summe der
Kompoſitionen, aus denen ſich ſeine Leiſtung aufbaut. Wir⸗
kungslos werden die Kaſſandrarufe der frommen Schwär⸗
mer verhallen, die ſich die Mechaniſierung der Tonkunſt nur
als eine Entgötterung der Kunſtwelt vorzuſtellen vormö—
gen. Auch die Sternenwelt iſt nicht entgöttert worden da—
durch, daß Kopernikus, Kepler und Newton das Firmament
unter die Geſetze der Mechanik zwangen. Man muß nur ler⸗
nen, das Grundweſen der Mechanik, die nach Geſetzen wal⸗
tende Kraft, in ihrem Zuſammenhang mit dem Schönen in
Natur und Kunſt zu erfaſſen und als etwas Göttliches wahr⸗
zunehmen!
138
EIER
Ein verlorenes Paradies
Richard Wagner ſagt: „Ich kann den Geiſt der Muſik
nicht anders faſſen als in der Liebe“ — ein Gefühlsſpruch,
der in feiner Einfachheit und Eindringlichkeit nach Erwei—
terung ruft, dergeſtalt, daß man das Weſen der geſamten
Kunſt in der Liebe begreifen möchte. In der Tat kann kein
Vergleich einleuchtender, in ſich gewiſſer ſein als der einer
Kunſtbefruchtung mit der Liebesempfängnis. Und es be—
durfte nur noch des weiteren Anſchluſſes an neuzeitliche ex—
perimentelle Wiſſenſchaftlichkeit, um auch auf künſtleriſchem
Felde die Befruchtung nach den Methoden der letzten Phy—
ſiologie zu vollziehen; das heißt, die Liebesumarmung in
einen Laboratoriumsakt zu verwandeln und den künſtleriſch
in Brunſt erzeugten Organismus durch einen in der Retorte
dargeſtellten Homunkulus zu erſetzen. Das tertium com-
parationis, die Erzeugung der Frucht, bleibt ja auch dann
noch beſtehen, und zugleich wird das wichtige ökonomiſche
Geſetz Oſtwalds: „Spare Energie“, in höchſt erfreulicher
Weiſe gewahrt. Das ſo gewonnene Weſen atmet, lebt, be—
wegt ſich, verrichtet organiſche Funktionen, und nur eines
iſt bis jetzt noch nicht erwieſen, erſcheint mir auch in hohem
Grade zweifelhaft: ob es ſelbſt ſpäterhin zeugungsfähig
ſein wird. Denn die Natur läßt ihrer nicht ſpotten, und
wenn ſie ſich hintergangen, durch einen Mechanismus über—
139
rumpelt ſieht, ſo kann es nicht fehlen, daß fie ſich rächen
wird; nämlich dadurch, daß ſie die Fälſchung ihres Willens
irgendwie durch eine Falſchheit im Reſultat zum Ausdruck
bringt. Das ohne Brunſt und Kuß empfangene Kunſtwerk,
die nach Döderleins Rezept hergeſtellte Symphonie und
Poeſie, wird körperliche Attribute haben, aber keine klam—
mernden Organe, eine Vernunft, aber keine Seele, wird
ſelbſt des Kuſſes unfähig fein und die an ihm geſparte Ener—
gie durch eigene Energieloſigkeit verraten; und ohne Liebe
geboren, wird es unfähig ſein, Liebe zu wecken. Während
aber in bürgerlichen Bezirken der Homunkulus noch als
größte Seltenheit auftritt und der bürgerliche Standesbeamte
in Verlegenheit gerät, weil er nicht weiß, wie er die Kurioſi—
tät eintragen ſoll, ift der kritiſche Standesbeamte ohne wei—
teres bereit, dem Kunſthomunkel jedes gewünſchte Doku—
ment auszuſchreiben. Ihm genügt ſeine Exiſtenz in Noten
und Worten, das Vorſtadium der Liebe oder Nichtliebe küm—
mert ihn nicht weiter; ebenſowenig ſeine deutlich erkennbare
Herkunft aus Atelier, Injektion, Flaſche und Spritzmecha—
nismus. Es tönt, alſo iſt es eine Symphonie. Es hat ir—
gendwelche rhythmiſche Glieder, alſo iſt es ein Gedicht. Es
wird ſtandesamtlich eingetragen, kritiſch beglaubigt und be—
kommt gewöhnlich auch eine Empfehlung mit auf den Weg.
Fragt ſich bloß, wie die nächſte Generation ausſehen wird.
*
Inzwiſchen wollen wir uns mit der gegenwärtigen be—
ſchäftigen. Da haben es denn verſchiedene Exemplare tat—
ſächlich bis zu recht anſehnlichen Diplomen gebracht, ja ſo—
gar bis zur Heiligſprechung. Gnaden und Wunder floſſen
von ihnen auf die Gemeinde, und wer ſich in Proben und
140
reer 1 1 £ 1
Be) 5 4
2
* r > WEL ZEN
Konzerten fleißig umtat, der konnte, wenn er es gut traf, in
zwei Tagen dreimal erlöſt werden. Dieſe Kraft entſtrömt
weſentlich den Endſätzen, deren offenes oder geheimes Pro—
gramm in der Regel mit dem Erlöſungsgedanken ſpielt. Dar—
unter tut es ein Neutöner der jüngſten Ara nicht mehr. Er
identifiziert ſich eo ipso mit der Menſchheit, und nachdem
er deren titaniſches Ringen in den Vorderſätzen abgehaſpelt
hat, ſetzt er ſich im letzten breit hin und erlöſt ſie insgeſamt
durch hohe Triller, Flageoletts und Harfenarpeggien. Das
einzig Störende an dieſem Spaß iſt nur, daß dieſe letzte him—
melſtürmende Seligkeit im Prinzip von Beethoven, in der
Inſtrumentation von Liſzt und Berlioz ſchon wiederholt vor—
weggenommen wurde. Tut nichts, man macht es immer
noch einmal, denn Beethoven iſt bloß bis zur Neunten ge—
kommen, dieſe Herren aber haben Zeit, und da ſie alleſamt
da anfangen, wo Beethoven aufhörte, ſo kommen ſie natür—
lich mit ihren erfreulichen Sphärenklängen erheblich weiter
und können bedeutend gründlicher erlöſen als Beethoven.
Auch das fauſtiſche Drängen der verzweifelten Heldenſeele
in den Eingangsſätzen liegt ihnen beſſer als dem großen
Ludwig, wie ſchon daraus hervorgeht, daß dieſer ſich mit
einem Orcheſter von fünfzig Perſonen begnügte, was eigent—
lich höchſt ſpießbürgerlich und gar nicht titaniſch iſt, während
der neue Symphoniker tauſend Aufführende vorſchreibt, was
doch der weiten Menſchheitsidee ſchon viel näher kommt.
Aber der Kernpunkt liegt offenbar darin, daß ſo ein Alt—
klaſſiker mit greifbaren, plaſtiſchen Themen arbeitet, die ihm
ungerufen zuſtrömen und ſich unter ſeinen Händen zu klin—
genden Gebilden aufbauen; faſt ohne ſein Dazutun, wie an—
gehaucht von einer komponierenden Naturmacht, die ſich zur
Verwirklichung ihrer platoniſchen Ideen eines beglückten In—
141
terpreten bedient. Wo ſoll da eigentlich die rechte Verzmweif-
lung der Heldenſeele herkommen? woher die prometheiſche
Qual in der Fülle der Luſtempfindungen, die ſolche nie aus⸗
ſetzende Inſpiration gewährt? In dieſer Hinſicht treten die
Tauſendkünſtler von heute mit ganz anderen Beglaubigungen
auf. Ihnen frißt wirklich etwas am Herzen, nämlich der
Komponierdrang um jeden Preis, der unbefriedigte Trieb,
das heiße Sehnen nach der ſoufflierenden Stimme, die ver—
gebliche Anrufung des Heiligen Geiſtes. Dumpf unter der
Schwelle ihres Bewußtſeins wühlt ihnen das Leiden eines
Widerſtreites, das ſie für fauſtiſch nehmen, das aber in
Wahrheit der Schmerz des Eunuchen iſt; die Troſtloſigkeit
des Nichtvollbringenkönnens mit begehrenden Nerven und
unzulänglichen Organen. Die Schärfe dieſes Peinzuſtandes
würde ausreichen, um eine Welt mit Weherufen zu erfüllen,
ſie befähigt nur leider für ſich allein gar nicht für eine
Symphonie; am allerwenigſten für Beethovens Zehnte, und
wenn auch auf dem Gerüſt zwanzigtauſend Künſtler ſich an⸗
ſtrengten, die Qual des Komponiſten in Schallwellen um:
zuſetzen. Denn nicht darin liegt das Weſen dieſes Kontraſtes,
daß der Tondichter einem hochgeſteckten Ziel zufliegt, daß
er dieſes Ziel ſelbſt mit den mächtigſten Flügelſchlägen nie
zu erreichen vermag, ſondern darin, daß er kriecht und hinkt,
während Flügel notwendig wären, um überhaupt die Richt—
linie ahnen zu laſſen. Mit der Größe des Wollens kontraſtiert
nicht die Kleinheit der Menſchennatur, ſondern die Kleinheit
dieſes Gehirns, dem nicht genug einfällt, um ein Lied oder
eine Etüde zu beſtreiten, und das ſich an die ſymphoniſchen
Möglichkeiten heranwagt mit der poſitiven Unmöglichkeit,
ein ausgiebiges Motiv zu erfinden.
Dieſes Mißverhältnis iſt traurig, aber nicht tragiſch. Und
142
die ſymphoniſchen Dramen, die fich hieraus entwickeln, ges
nügen nur einſeitig der Ariſtoteliſchen Regel der Furcht und
des Mitleids, nämlich ſo, wie es jener geiſtreiche Spötter
verſtanden hat, daß ſie Mitleid erregen mit dem, was der
Autor bereits geſchrieben hat, und Furcht vor dem, was er
noch ſchreiben wird; wobei allerdings ein Empfänger voraus⸗
geſetzt wird, der die Dinge rein muſikaliſch auf ſich wirken
läßt und entſchloſſen iſt, die Bedürfniſſe des Ohres gegen
jeden Anſturm des Verworrenen und Langweiligen zu ver—
teidigen.
Es ſoll nicht geleugnet werden, daß ſich in dieſem An—
ſtürmen ein hohes Maß ſtrategiſcher und taktiſcher Fähigkeit
kundgibt. Wer ſich mit ſeinen kalophonen Mitteln im Rück⸗
ſtand ſieht, wird bald genug entdecken, daß ſich die kako—
phonen Feldtruppen weit raſcher und ausgiebiger mobiliſie—
ren laſſen und daß der übelklingende Kontrapunkt ein uns
gleich weiteres Feld beherrſcht als der gutklingende. Hierin
liegt geradezu das Kennzeichen dieſer Tonſetzerei: man kann
alles machen, alles komponieren, die ganze Unendlichkeit der
Tonfolge und Tongruppierung durchmeſſen und braucht ſich
nicht mehr auf das Mindeſtmaß der Ausleſe zu verpflich—
ten, das ſich der Kontrolle des Schönheitsſinnes unterwirft.
Iſt dieſe Kunſt erſt einige Jahrzehnte geübt worden, ſo wun—
dert ſich das Ohr über nichts mehr. Es erfährt eine organiſche
Umbildung durch Anpaſſung an die Klangwelt. Die Ver—
teidigungsorgane, die aus feinen Membranen beſtehend ehe—
dem das Eindringen des Störenden verhindert haben, ver—
kümmern und werden ſchließlich abgeworfen, da ſie ſich den
unaufhörlichen Angriffen gegenüber als unwirkſam erwieſen
haben. Das Ohr wird Schalltrichter, verzichtet aufs Dif—
ferenzieren, verlernt die Unterſcheidung von Gut und Böſe,
143
erreicht einen Höhegrad an kakophoner Empfänglichkeit und
fühlt fich am Ende ſogar freier als vordem, inſofern es feine
Verbindung mit dem Geſchmack, einem unbequemen und pe=
dantiſchen Aufpaſſer, gelöſt hat.
—
Freilich müſſen hier, wie bei allen Vorgängen der Um—
bildung, die ataviſtiſchen Rückfälle in Rechnung geſtellt wer—
den. Dieſe Rückſchläge unterliegen einfachen biologiſchen Ge—
ſetzen, die einen gewiſſen Periodenumlauf bedingen. Mit an—
deren Worten: in gemeſſenen Zwiſchenräumen, je nach der
Länge des Kunſtwerkes, nach heutigem Durchſchnitt etwa
alle zwanzig Minuten, beſinnt ſich das Ohr auf ſeine ur⸗
ſprüngliche Veranlagung und verlangt urväterlich nach Wohl-
klang. Ein Tonſetzer, der dieſe Sachlage verkennt, würde
üble Erfahrungen machen und auf die Dauer über das Fias-
co d’estime nicht hinauskommen. Zur Ehre unſerer Zunft
ſei es geſagt, daß die allermeiſten dieſen Umſtand wohl be=
rückſichtigen und ſich ſonach ernſtlich bemühen, durchſchnitt—
lich alle zwanzig Minuten etwas zu erfinden.
Es iſt ein Akt der Okonomie, der ſich jedesmal auf der
Stelle belohnt. Im Grunde beruht er auf dem Geſetz des
Widerſpruchs, das ſchon die Klaſſiker kannten, nur daß hier
das Wirkungsproblem von der anderen Seite angefaßt und
gelöſt wird. Ich erinnere an den Cumulus in Beethovens
Eroika mit ſeiner tremolierenden Sekunde b — as, die als
vereinzelte Diſſonanz die Kunſtwelt ſo lange in Aufregung
gehalten hat. Hier ſtand der ſchroffe Übelklang vereinſamt
und trotzig in einer Welt des Wohlklanges. Heute macht
man das umgekehrt; man baut eine Welt des Mißklangs und
verblüfft dann durch eine blitzartig dazwiſchenfahrende Kon—
144
ſonanz. Man ſtiftet Dafen in der Wüfte, Und wenn man
die Mitwanderer genügend verdurftet glaubt, reicht man
ihnen ſogar den Labetrunk in Form einiger Walzertakte. Das
wirkt erfriſchend und wird zudem als ein Beweis beſonderer
Güte und Herablaſſung begrüßt. Der Walzer braucht nicht
gut zu ſein, auch nicht neu; ein verwäſſertes Wiener Motiv
von Lanner genügt. In der Operette würde er lediglich eine
Banalität mehr bedeuten, eine jener Trivialſtellen, wie ſie
im Sommer zu Dutzenden aus den Schädeln betriebſamer
Oſterreicher auskriechen, um für den Winter die leeren Stel—
len zwiſchen den eigentlichen Schlagern auszupolſtern. Aber
in der kakophonen Symphonie wirkt ſo ein Walzerbrocken
Wunder. Die Motivierung macht übrigens niemals beſon—
dere Umſtände; denn da dieſe Symphonien durchgängig von
Kampf und Erlöſung handeln, ſo wird der ringende Heros
ab und zu der lockenden Weltfreude genähert. Zur Bio—
graphie des Fauſt gehört eben das Singen, Fiedeln, Kegel—
ſchieben, die geputzte Magd und der beizende Tabak einer un—
fauſtiſchen Umwelt. Dieſer hundertmal komponierte Fauſt
würde direkt ſeinen Beruf verfehlen, wenn er auf dem weiten
Wege von den Kontrabäſſen der inneren Zerriſſenheit durch
die Fagotte der Hexenküche zu den Harfen der himmliſchen
Freuden nicht einmal bei einer böhmiſchen Kirmeß Station
machte, wo der Komponiſt ſeinen längſt fälligen Ländler los—
werden kann. Daß ſie ſämtlich auf die nämliche hübſche
Idee geraten, kann nur denjenigen verſtimmen, der entweder
alle derartigen Programme verwirft oder, wenn er ſie zu—
läßt, von ihnen eine neue Wendung, einen neuen Geſichts—
punkt erwartet. Zum Glück iſt die Nörgelſucht bei den mei—
ſten Chorführern der öffentlichen Meinung nicht hervor—
ſtechend. Es ſtört ſie nicht im geringſten, wenn derſelbe Held
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 10
145
immer wieder über denfelben programmatiſchen Leiſten ge—
ſchlagen, immer wieder auf dieſelbe Kirchweih ins Vergnügen
geſchickt wird. Die Sache gilt ihnen unentwegt als „ſehr
geiſtreich“, der Ländler mag ausſehen, wie er will, er wird
überall, wo er im geſtaltloſen Nichts als rhythmiſches Etwas
auftaucht, als höchſt originell gefeiert, und noch viele Auf—
führungen ſind ihm todſicher.
*
Vor vierzig bis fünfzig Jahren hat nämlich unſere geſamte
Kunſtkritik einen Unglücksfall erlebt, von dem ſie ſich ſo
recht bis heute nicht erholen konnte. Es mag ja ſein, daß ein
Erdbeben, ein Zyklon größere Verwüſtungen angerichtet hat,
nachhaltiger aber iſt noch keine Kataſtrophe geweſen als dieſe,
die ihre Folgen an einem ganzen Berufsſtande noch nach
einem halben Jahrhundert aufzeigt. Alſo man hatte eine
der größten Erſcheinungen der Weltgeſchichte, nämlich das
Richard Wagnerſche Kunſtwerk, mißverſtanden, den Um—
ſchlag der Entwickelung verfehlt, im Bunde mit führenden
Komponiſten und hervorragenden Aſthetikern, die für ſich
imſtande geweſen wären, die öffentliche Meinung zu beherr—
ſchen. Aber dieſes Mißverſtändnis war vom Volk nicht ge—
nehmigt worden: Geh du rechtswärts, laß mich linkswärts
gehn, — hatte der Volksgeiſt entſchieden, gegen alle Autoritä—
ten der komponierenden und rezenſierenden Feder mit ſolcher
Nachdrücklichkeit entſchieden, daß ſein Wille das neue Kunſt—
geſetz wurde und daß die Gefiederten umlernen mußten. Als
Rückſtand dieſes weltgeſchichtlichen Vorganges iſt der Kritik
ein Leitſatz lebendig geblieben: eine ſolche Blamage darf ſich
in aller Welt niemals wiederholen! Längſt ſind ſie dahin,
die jene Blamage anrichteten und ihr zum Opfer fielen. Aber
146
5
die Kritik als ſolche, vertreten in den Söhnen und Nachfol—
gern der Firma, ſpürt heute noch den Schrecken in Form
des kategoriſchen Imperativs: Nie wieder! Über allen direk—
ten Tonempfindungen, Reizungen, akuſtiſchen Widerſprüchen
und äſthetiſchen Zweifeln hat ſich ein oberſtes Denkgeſetz auf—
gebaut: Immer mitgehen, bis an die Grenzlinie des Schaf—
fens mitgehen, in jedem Stürmer das Genie wittern, — es
könnte ein Großer ſein!
Die Methode iſt unfehlbar: Wenn ich immer gut Wetter
prophezeie, wird mich kein Sonnenſtrahl widerlegen, und
wenn ich mit allen Verwegenen gemeinſame Sache mache,
kann mich kein Übermächtiger zu Boden ſtrecken. Und nun
hat ſich in ſelbſtverſtändlicher Wechſelwirkung folgender Tat—
beſtand herausgebildet: die Natur, die ehedem in der Erſchaf—
fung der Genies äußerſt ſparſam vorging, entfaltet nach
Gutachten der Kritik ſeit etwa zwei Jahrzehnten eine unge—
heure Gebelaune; die wie Pilze nach dem Regen aufſprie—
ßenden Genies orientieren ſich mit Leichtigkeit nach der Wind—
richtung, ſie überbieten einander in Extravaganzen, da dem
Extravaganteſten alle Vorteile der Meiſtbegünſtigung zufal—
len. Das Publikum aber wird vor eine unermeßliche Laſt—
arbeit geſetzt; es wird dermaßen in Anſpruch genommen, die
unüberſehbare Fülle der Neugenialen zu begreifen, daß ihm
kaum noch die Möglichkeit bleibt, ſich der alten Werte zu er—
innern. Jedes Jahr überſpült eine Welt von Schönheit und
Reiz mit den überall gleichen Fluten geſtaltlos wogender
Muſikmaterie. Nur noch wenige Hochbauten, wie etwa der
Beethovenſche Leuchtturm, halten der Überſchwemmung
ftand. Aber alle Plantagen ihnen zu Füßen, die Wundergär⸗
ten, deren höchſter Zauber vielleicht in ihrer Vergänglich—
keit ruhte, die beglückenden Gewächſe, die nicht den Wuchs
10%
147
der Zeder, nur den Duft der Roſe, die ſtille Herrlichkeit des
Veilchens beſaßen, liegen unter der Fläche, erſoffen und
verſchlammt. Es muß einmal geſagt werden: nicht Neu—
land wurde gewonnen und urbar gemacht, ſondern Altland
wurde fortgeriſſen. Und wenn Xenophons Zehntauſend ju—
beln durften, als ſie dem Meere nahekamen, ſo haben die
Hunderttauſend von heute Grund zu wehklagen: Thalatta,
Thalattal, wenn ſie von der monotonen Salzflut eingeholt
werden.
*
Ein Entrinnen gibt es nicht bei dieſem Andrang, dem
auf kritiſchem Gelände keine Deiche gegenüberſtehen. Dem
nächſten Geſchlechte wird Mozart, Weber, Schubert eine Le—
gende ſein, wie der gegenwärtig aufſtrebenden Meyerbeer,
Mendelsſohn, Rubinſtein und die Meiſter des bel canto be=
reits ins Legendäre tauchen.
Aber, ſo höre ich den Einwand, dieſe Schätze mußten und
müſſen vergehen, um neuen Errungenſchaften Raum zu ge—
ben; nur auf den Trümmern alter Kunſt kann das Ver—
ſtändnis und das Entzücken für eine neue gedeihen. Ver—
ſtändnis? Zugeſtanden, inſofern es als der Trieb aufgefaßt
wird, ſich in einer uferloſen, chaotiſchen, von kosmiſchem
Dröhnen erfüllten Muſik zurechtzufinden. Entzücken? Ehr⸗
lich geſagt, davon merke ich nicht viel. In dem futuriſtiſchen
Glaubensbekenntnis hat die Freude ausgeſpielt. Ich ſehe
eine Überfülle von Konzerten und Opern, mit unzähligen
tauſenden höchſt aufmerkſamer, bis zur Selbſtqual geduldi—
ger, lernbegieriger und intereſſierter Hörer; nur daß ſich
ihr Intereſſe ganz einſeitig nach der Richtung des Begreifens
verdichtet, nicht nach der des Genießens. Selbſt wenn ich
richtige Erfolge von einſt und jetzt zugrunde lege — ich bin
148
8
leider alt genug, um vergleichen zu können —, ſo komme
ich in keiner Sekunde davon los: es iſt ein Unterſchied zwi—
ſchen dem Fluidum, das durch eine entzückte Hörerſchaft
von ehedem wogte, und der Welle des gemeinſamen Ein—
verſtändniſſes von heute. In den Beifall iſt Automatismus
hineingekommen, und auf den Geſichtern lagert des Ge—
dankens Bläſſe. Ich ſehe mir ſo einen Beifallsſpender an
und diagnoſtiziere: Die Sache hat ihm nicht viel gebracht,
aber er erklärt ein hohes Einkommen an Genuß, um den
Kredit nicht zu verlieren. Er markiert Vorgeſchrittenheit,
letzte Kultur, ſtrammes Mitgehen bis ins Extrem, aber es
iſt nicht eigentlich die Bürde der Begeiſterung, deren er ſich
entläd, ſondern die Bürde des vier- oder fünfſätzigen ſym—
phoniſchen Ungeheuers, und wenn ich ganz ſcharf aufpaſſe,
ſo entdecke ich im Applausgeräuſch gewöhnlich ein Unter—
motiv, welches beſagt: Gott ſei Dank, daß der Bandwurm
zu Ende iſt! Im Grunde genommen iſt er ein Eingeſchüch—
terter, der es ſich als ein moderner Menſch um keinen Preis
anſehen laſſen darf, wie ſchwer die Suggeſtion der Umwelt
auf ihm laſtet; infolgedeſſen benutzt er den einzig möglichen
Ausweg, indem er die Haltung des Beherzten annimmt und
ſich mit feinem Evoe in die vorderſte Reihe der Bacchanten
ſchiebt. Die Probe aufs Exempel erhalte ich regelmäßig,
wenn ich mir ſo einen Begeiſterten privatim vornehme und
ihn nach ſeinem poſitiven Gewinn befrage. Bitte, ſchlagen
Sie mir auf dem Klavier eine Stelle an, die Ihnen be—
ſonders gefiel, ein Thema, eine Modulation, ein Irgendet—
was, das Sie gefangen nahm und Sie beſchäftigt; Sie kön—
nen nicht ſpielen? Gut, dann ſingen, ſummen, pfeifen Sie
es, nur zum Zeichen, daß ein Niederſchlag in Ihnen haften
blieb. Faſt regelmäßig ſtoße ich auf ein Vakuum. Der Mann
149
erklärt eidesſtattlich feine Begeiſterung, aber er hat nichts
gegenwärtig, das Werk hat ſeinem Gedächtnis nichts ge—
ſagt. Und da im Denken wie im Fühlen das Gedächtnis den
letzten Schluß und die eigentliche Kontrolle bildet, ſo er—
leben wir hier faſt durchgängig jenes unheimliche Rätſel
einer Folge ohne Grund, einer Wirkung ohne Urſache. Aber
die nämliche Perſon ertappt ſich unzähligemal auf Remini⸗
ſzenzen aus Klaſſikern und Romantikern von Bach bis zu
Schumann und herab bis zu Offenbach, ja ſein ganzes mu—
ſikaliſches Bewußtſein, ſoweit es in ihm lebendig iſt und
nicht unter einer nebelhaften Doktrin begraben liegt, ſetzt
ſich aus ſolchen Reminiſzenzen zuſammen; wie ganz na=
türlich, da das Bewußtſein überhaupt mit der Erinnerung,
der organiſchen Mneme, eine reſtloſe Einheit darſtellt. Dem—
gegenüber flüchtet nun die Ausrede aller Befragten zu einer
höchſt verſchmitzten Formel. Sie erklärt nämlich: In dieſer
Kunſt verliert die Einzelheit ihren Sinn gegenüber dem Gan—
zen; was man vordem Melodie nannte oder Thema oder
Motiv, kurz, alles feſt Umriſſene, gleichſam Gegen—
ſtändliche, das ſind olle Kamellen, die man in die Kinder—
ſtube verwieſen hat. Wir haben es nur noch mit Geſamt—
gebilden zu tun, mit Gehörerlebniſſen, die ſymboliſtiſch,
impreſſioniſtiſch wirken ſollen und in denen ſich die Einzelheit
naturgemäß verliert. Wir wollen nur noch Farben, aber keine
Konturen. — Wirklich, wollt ihr? Da ſeid ihr ja recht be—
ſcheiden geworden! Ihr ſchraubt euch auf den Urzuſtand zu—
rück, da die Kunſt noch keine bildſame Kraft beſaß und erſt
anfing zu kriſtalliſieren. Habt ihr je eine ſteinalte Meſſe
gehört, ein Stück aus der vorſintflutlichen Musica sacra
oder eine Kompoſition der Chineſen, Aſchantis, Bantuneger?
Da habt ihr das Zerfließende, Ungeſtützte, Gallertartige in
150
den ſchönſten Typen; das Ideal der Nichtabgrenzung, das
Verſchwimmen der Tonalität, kurzum das reine akuſtiſche
Erlebnis, das durch keine innere Formbeſtimmtheit geſtört
wird. Glaubt mir nur, meine Freunde, Impreſſionismus
kommt her von Imprimieren, das heißt fo wie canis a
non canendo, nämlich: was ſich auf keine Weiſe dem Ge—
dächtnis imprimiert, das iſt eine Impreſſion. Daher mag
es ja auch kommen, daß die richtigen Jakobiner unter den
Künſtlern immer entſchiedener den Anſchluß an eine ent—
legene Vorzeit fordern. Ihr Ziel liegt nicht in der Zukunft,
ſondern in der Diluvialzeit. Was ſie in mehr oder minder
deutlicher Lehre verkünden: Aufhebung der Tonart, Drit—
teltöne, Vierteltöne bis herab zu Infiniteſimaltönen, das
ſind Anſchlüſſe an eine Molluskenzeit der Kunſt, der alle
Kennzeichen entwickelter Kultur, nämlich die Selbſttätigkeit
getrennter Organe, die Differenzierung, fehlen.
Freilich, wer ſich heute mit Entſchiedenheit dieſem Auf—
löſungsprozeß entgegenwirft, der kann darauf rechnen, in
den üblen Ruf eines Reaktionärs zu geraten. Nur daß
im Gange der Geſchichte die Richtungen ihren Sinn ge—
ändert, ja geradezu vertauſcht haben; die Hervorbringung im
Bündnis mit der Tageskritik ſtrebt nach rückwärts, wäh—
rend der vereinzelte Antikritiker dieſe Entwicklung zu den
Segnungen von Anno Tobak nicht mitmachen will. Tat—
ſächlich liegen die Dinge heute ſo, daß die Strukturauflöſer
und Formtöter eine Rückwärtſerei im ſchlimmſten Sinne
betreiben und daß der Fortſchritt nur noch bei den ſehr weni—
gen liegt, die ſich dieſer revisio in pejus widerſetzen; bei
den verſchwindenden Melodikern und Kalophonikern und bei
den ganz vereinzelten Aſthetikern, die die neueſte Schaffens⸗
art bis auf den Grund durchſchauen; wo ſie dann zwei Haupt⸗
151
elemente zu ſehen bekommen: das Unvermögen zur Geſtal⸗
tung und den Bluff. Beide ſtehen in engſter Fühlung, denn
wer wirken will, ohne die urſächlichen Vorbedingungen im
Kopf und in der Hand zu haben, der muß eben bluffen. Frei⸗
lich hat jede Verblüffung einmal ein Ende, allein ich fürchte,
daß die empfangende Kunſtwelt an dieſem Ende erſt an—
langen wird, wenn es zu ſpät iſt, das heißt, wenn keine Bau—
meiſter mehr vorhanden ſind, kräftig genug, um das wieder—
aufzurichten, was die tondichtenden Übermenſchen eingeriſſen
haben.
*
Zweifellos gab es an der Wegſcheide Entwickelungsmög—
lichkeiten genug. Da war die Bayreuther Linie, offen für
einen Meiſter, der ſich zu Richard Wagner verhalten hätte
wie Wagner zu Gluck. Er iſt nicht erſchienen. An ſeiner
Stelle tummelten ſich auf ſeiner Weide diejenigen, denen die
Natur ein ausgiebiges Talent zum Wiederkäuen verlieh und
überdies eine Ausdauer im Beruf bis zum Kahlfraß.
Dann gab es die Linie Beethoven-Brahms, ausſichtsrei—
cher als jene, weil weiter von der Peripherie zweckdienlicher
Möglichkeiten entfernt. Sie konnte begangen werden von
einem Meiſter, der an Begabung dem Johannes gar nicht
überlegen zu ſein brauchte. Nur anders hätte er ſein müſſen;
wie ja auch der Johannes dem Ludwig nicht überlegen war,
ſondern nur die Richtung ſeiner Spuren kongenial verſtand.
Auch dieſer Meiſter iſt nicht gekommen, und wenn er noch
erſcheinen wollte, ſo müßte er ſich beeilen, ehe der Flugſand
die Orientierungszeichen völlig überweht hat.
Außerordentlich verheißungsvoll ſah die Linie Verdis aus,
wie er ſie als Achtzigjähriger im „Falſtaff“ vorzeichnete.
Der Greis mit dem Flug des Euphorion bot ein ganz einziges
152
U * 1 nn
Schauſpiel, begeiſternd durch die ihm perſönlich gehörende
Leiſtung und dabei aufs höchſte verlockend für die Jungen,
denen er ganz neue, in ihrem Verfolg unabſehbare Ausnüt-
zung vorhandener Kräfte wies. Hatte er im „Falſtaff“ die
Ergebnislinie aus Tonenergien gefunden, die eigentlich in
„Figaros Hochzeit“ und „Meiſterſingern“ beheimatet ſind,
ſo war am Wendepunkt der neuen Entwickelung alles zu er—
hoffen. Allein der „Falſtaff“ blieb ein Beiſpielloſes, die
Jünger hielten nichts von einer Methode, die ein fabelhaftes
kontrapunktiſches Wiſſen und Können vorausſetzte, ſie flüch—
teten humorlos in die Niederungen des Lebens, die der Nie—
derung ihrer Talente entſprach, und erzielten hier durch die
erweislich wahre Übereinſtimmung beider Flachheiten einen
hohen Grad von Verismo.
Und welche Wege ſonſt noch zum Fortſchritt geführt hät—
ten, zum organiſchen Aufbau, ohne reſtloſe Zertrümmerung
des Beſtehenden, wie fie der Futurismus fordert? Ignora-
mus. Das wäre auf die ſpezifiſche Eigenart der großen Män—
ner angekommen, von denen wir keine Kunde haben, weil
ſie nicht aufgetreten ſind. Möglich auch, daß ſie vorhanden
waren, als Schatten über die Szene gehuſcht ſind, mit Kund—
gebungen, die zu fein waren, um im Sauſen der Modernität
bemerkt zu werden. Daß ſich unter den Urhebern dieſes Sau—
ſens ganz hervorragende Könner befinden, verkenne ich
durchaus nicht; Köpfe von eminentem Orcheſtraldenken, de—
ren Technik, auf einen anderen Strang geſetzt, zu ſublimen
Offenbarungen geführt hätte. Ich bin bereit, ihnen meine
Huldigung zu erweiſen, mit dem Hut in der Hand, aber mit
dem Vorbehalt: Ihr habt am Ruin der Kunſt mitgearbeitet,
ihr zumeiſt. Und wenn eine eingeborene Notwendigkeit dazu
führt, deren Tempel zu veröden, den Genuß aus ihnen hin—
153
3 *
—
auszujagen, den volltönenden Chorgeſang in eine plärrende
Litanei zu verwandeln, ſo ſeid ihr die gottgewollten Voll—
ſtrecker dieſer Notwendigkeit geweſen.
Den Poſitiviſten, die durchweg und überall an einen Fort—
ſchritt glauben und alſo auch in der Kunſt mit ihm als mit
einem Selbſtverſtändlichen rechnen, möchte ich zweierlei ent—
gegenhalten. Erſtlich die allgemeine Mechaniſierung, die jeden
menſchlichen Betrieb meiſtert und ja auf dem beſten Wege iſt,
die Welt zu einer großen Maſchinenhalle zu vervollkommnen.
Es wäre widerſinnig, anzunehmen, daß die Kunſt allein im—
ftande fein ſollte, ſich dieſer Mechaniſierung zu widerſetzen;
dem aufmerkſamen Betrachter zeigt fie vielmehr die ganz aus⸗
geſprochene Strebung, ſich ihr in raſendem Tempo anzu—
paſſen. Die ausübende und ſchaffende Virtuofität, die Verall-
gemeinerung der Technik, das Pianola, der konzertante Maſ—
ſenbetrieb und die Genies in Maſſe, die Tauſend-Mann-Or⸗
cheſter, die jedem muſikaliſchen Ohr erkennbare Gleichflüſſig—
keit der Muſikmaterie ſind die äußeren und inneren Merkzei—
chen dieſes Vorgangs. In dieſer Mechaniſierung ſteckt, wo
fie auch auftritt, ein gleichmacheriſcher Faktor, der die Unter—
ſchiede verwiſcht, die hervorragenden Sonderungen unterdrückt
und die Einzelheiten des Prozeſſes verähnlicht. Im bürger—
lichen Leben bedeutet dies: Erſparnis an mechaniſcher Men—
ſchenarbeit, Zeitgewinn, Erhöhung der Daſeinsebene für die
Unteren, Vertiefung für die Oberen, geſteigerte Bequemlich—
keit, Schutz vor Überraſchungen. In den lyriſchen Künſten:
Abplattung der hervorſtechenden Erfindungsmerkmale, Til-
gung der Zäſuren, Vereinheitlichung der Wellenlängen in
allen klingenden Gebilden. Und wer, von dem vorgefaßten
Begriff hypnotiſiert, auch da von Fortſchritt reden will, der
ſoll auf keinen Widerſpruch ſtoßen: die fortſchreitende Mono—
154
et zu
* =
tonie und Verlangweiligung des Betriebes ſeien ihm gern zu—
gegeben.
Zweitens aber möchte ich auf die innige Beziehung von
Kunſt und Philoſophie hinweiſen und auf den beſonderen
Umſtand, daß faſt jede Phaſe der einen in der anderen ein
erläuterndes Abbild findet, ſo daß man aus der Geſchichte des
Denkens für die Geſchichte des freien Schaffens mancherlei
lernen kann. Wer nun da begriffen hat, daß die Lehre Kants
durch die klaſſiſche Dichtung, zumal durch Schiller, illumi—
niert wird, wer aus der fünften Symphonie den kategoriſchen
Imperativ, aus der neunten die tongewordene intellegible
Welt heraushört, den möchte ich einladen, einen Schritt weis
ter zu wagen und die nachkantiſche Epoche mit den tranſzen—
denten Tonübungen der Heiligen vom letzten Tage zu ver—
gleichen. Er wird dann bemerken, daß die Erkenntnisgeſpen—
ſter der Fichte-Schelling-Hegel⸗Periode, zumal die Phäno—
menologie mit ihren ſich im Nebel bewegenden zerfließenden
Begriffen, mit ihren Identitäten der Nichtidentitäten, Ab—
ſolutheiten und Anundfürſichkeiten ein ganz getreues Paar:
ſtück in den allermodernſten Klanggebilden finden. Entſchließt
man ſich zu dieſer Parallele, ſo kann man den Fortſchritt hü—
ben und drüben leicht unter einem gemeinſamen Geſichts—
punkt bringen. Dem Schritt „über Kant hinaus“, den jene
Vergaſung aller vormals gefeſtigten Denkſubſtanz bedeutet,
entſpräche der Fortſchritt über Beethoven hinaus. Wer aber
mit Schopenhauer der Meinung iſt, daß nichts ſo ſehr zum
Mißruf der Philoſophie beigetragen hat als jene Auflöſung
der Begriffe und Denkmöglichkeiten, wer im ſpäteren Ver—
lauf zur Einſicht gekommen iſt, daß die Philoſophie noch
heute an den Folgen der Hegelmethode wie an einer chroni—
ſchen Vergiftung zu tragen hat, der wird auch im klanglichen
135
Gegenſtück ein Elinifches Bild vor Augen haben. Hier wie
dort Rückfälle in die Scholaſtik, in die Myſtik, in eine okkulte
Ausdrucksweiſe, hier wie dort ein mechaniſches Gemenge von
Kitſch und Perverſität, in jener gefährlichen Miſchung, in
der ſich Traumviſion von ausgeſprochenem Wahnſinn, Hell—
ſeherei von Augurentrug kaum noch unterſcheiden läßt. Und
ſchließlich hier wie dort ein ſnobiſtiſch aufgedonnerter Appa—
rat, der alle möglichen Ingredienzien zermalmt, verkocht
und im Auspuff von ſich gibt, bloß die eine nicht, die köſt—
lichſte und ſeltenſte von allen, die kein ſnobiſtiſches Etikett
trägt, ſondern ſich ſchlicht und recht „Erfindung“ nennt.
Das Wort Erfindung iſt in den vorliegenden Ausführun—
gen oft wiederholt worden und eigentlich viel zu ſelten. Denn
es umſchließt alle Geheimniſſe aller Probleme, die ſich hier
darbieten. Es gibt uns den Doppelſchlüſſel ſowohl zum wah—
ren Paradies der Kunſt wie zur Folterkammer, in der die
Muſe gequält wird. Soll das Paradies kein auf immer ver—
lorenes ſein, ſo kann die Wiedereroberung nur auf eine Weiſe
ſtattfinden: durch die feierliche Inthroniſation eben der Er—
findung. Die Kunſt ſelbſt kennt keinen anderen Wert, und
ihre Bouſſole weiſt unveränderlich nur auf ſie. Alle anders—
genannten Mittel, die das Werk zum Kunſtwerk machen,
der motiviſche Ausbau, die Stimmführung, die ſchöne Cha—
rakteriſtik, die Inſtrumentation, die große Linie des Ganzen,
ſind ſelbſt Erfindungsmomente und, wo ſie ohne die grund—
legende Erfindung auftreten, Gegenwart markieren, nichts
als Täuſchung. Wenn ich da leſe — und wie oft muß ich es
leſen —, dieſes oder jenes Vertonte mache einen ausgezeich—
neten Eindruck, zeuge von dem eminenten Wollen ſeines
Schöpfers, verdiene die Palme kraft dieſer oder jener hohen
Tugenden, und wenn es dann ganz leiſe nachklappert, ver-
156
klauſuliert und umſchrieben, daß eigentlich mit der Erfindung
nicht ſo recht was los ſei, dann weiß ich: hier wird wieder
Hokuspokus vorgemacht, wieder einmal verſucht, eine Miß—
geburt zum Adonis umzulügen. Es gibt kein wahres Kunſt—
werk ohne den göttlichen Funken, das heißt ohne Themen—
inſpiration, ohne die prima facie einleuchtende überwälti—
gende Erfindung. Ob dieſe ſich auf höherer oder niederer
Plattform offenbart, das mag ſpäter die Rangordnung an—
gehen, da der Menſch ohne Kategorien nicht auskommt und
auch hier nach oben und unten einteilt. Das Entſcheidende
bleibt, daß das unterſte Kunſtwerk mit Erfindung immer
noch höher ſteht als das Kunſtwerk der höchſten Kategorie
ohne Erfindung. Anders und ſchöner hätte ſich die Klang—
welt entwickelt, wenn dieſer Grundſatz allenthalben Bekenner
fände, wenn wir uns nicht genierten, das frohe Gelächter
einer Offenbachiade über ein ſymphoniſches Gewinſel, ein
genial hingeworfenes Tanzſtück über eine nach der Spielregel
erklügelte ſtelzbeinige Fuge, ja ſelbſt einen packenden Gaſſen—
hauer über ein von guter Geſinnung triefendes Oratorium zu
ſtellen. Die Tiefenwerte gehören überhaupt zu den größten
Seltenheiten, und die angeblichen Tiefen, die wir ſo oft mit
dem Senkblei erforſchen, führen nicht in erzhaltige Schächte,
ſondern in taubes Geſtein. Ja wir ſtoßen hier oft genug auf
die fatale Tatſache, daß die Tiefe die einzige Dimenſion iſt,
über die ſich das Werk auszuweiſen vermag, daß ihm ſomit
die Körperlichkeit fehlt. Nicht geheimnisvolle Abgründe ſtel—
len dieſe Tiefen dar, ſondern nur ungemein lange Röhren,
aus deren unterem Ende der Autor genau ſo reſultatlos her—
auskriecht, wie er oben erfindungslos hineingekrochen iſt. Um
dieſe ausſichtsloſe Turnerei aus der Welt zu ſchaffen, gibt es
nur das eine: wir müſſen wenigſtens ein paar Jahrzehnte
157
lang uns auf die arg vernachläffigte und mißachtete Ober:
fläche zurückbeſinnen, allwo die Schönheit ſich zu allererſt
zu entfalten hat, in der Melodie, in dem an ſich wertvollen
Motiv, in Eleganz und Grazie, im Einfall; an der Oberfläche
und im Vordergrund die Wegzeichen errichten, die Preiſe ver—
teilen und die Sinne vorerſt für die Genialität ſchärfen, die
im hellen Tageslicht zu wirken vermag. Unſer Retrorſum
ſei ein anderes als das der letzten Geſtaltvernichter, die mit
präraffaelitiſchem Getue in ihre trübe Zukunft einen Schim—
mer antiker Helligkeit lenken möchten; alſo nicht zurück zu
Rameau, nicht zurück zu Paleſtrina, ſondern zurück zur Er—
findung! Keine gültigere Definition iſt je aufgeſtellt wor—
den als die des erſten Johann Strauß: „Genie iſt, wann
einem was einfällt!“ Ergänzen wir ſie nicht doktrinär durch
die Forderung: Dann muß es ſich aber ſofort als Tiefbohrer
betätigen. Nein, laſſen wir ihm die Kultur der Oberfläche
und hängen wir ihm keine Minderwertigkeit an, denn es iſt
krönungswert, weil es Genie iſt. Und wenn durch Jahrzehnte
die Künſtler, denen etwas einfällt, die Melodiker und Har—
moniker, die nicht betäuben, ſondern entzücken, wieder das
Übergewicht in der Wertſchätzung errungen haben, dann mag
endlich einer kommen, der Säkularmenſch, der, mit dreidi—
menſionaler Erfindung ausgerüſtet, Höhen und Tiefen durch—
mißt, der uns die neuen Ewigkeitswerte gibt, der die Freuden
und Leiden des zwanzigſten Jahrhunderts kompoſitoriſch aus—
zuſprechen vermag, ohne zu grinſen und ohne zu ſtöhnen.
Iſt euch ein Großer auf ſo lange Zeit zu wenig, da ihr ge—
wohnt ſeid, ſie aus den Feſtberichten kohortenweis kennen
zu lernen? Ach, ich fürchte, mit der Hoffnung auf den einen
ſind wir ſchon zu ſpät gekommen oder, günſtigſtenfalls, ein
Jahrhundert zu früh!
158
Wo ſitzt die Kultur“)?
Ein Geſpräch
A.: „Und wiſſen Sie, was mir neulich paſſiert iſt? Ich
fahre in einem durchgehenden Abteil zweiter Klaſſe nach
Frankreich. An der Grenze erſcheint ein franzöſiſcher Beam—
ter, kontrolliert die Fahrkarten und erklärt: ich müſſe da
raus oder Supplement nachzahlen. Blödſinn! ſage ich; ich
habe Fahrtausweis zweiter, und das iſt zweite! er ſolle ſich
gefälligſt anſchauen, was am Wagen angeſchrieben ſtehe; das
ſei eine II — wir kommen ins Streiten, und ſchließlich ſehe
ich ſelbſt nach. Was ſoll ich Ihnen ſagen? Die II war plöß-
lich mittels eines Klappmatismus in eine I verwandelt. Die
Leute hatten einfach unſere brave zweite Wagenklaſſe zur
erſten ernannt. Profitgier natürlich, aber doch zugleich ein
) Dieſer Aufſatz entſtand, wie man ſchon aus den erſten Zeilen
erkennt, zur Zeit tiefſten Friedens, als noch kein Wetterleuchten
das Herannahen des Weltgewitters ankündigte. Die hier ent⸗
wickelten Betrachtungen ſetzen alſo einen freundlichen Hintergrund
voraus und ſtellen dadurch an den hiſtoriſchen Sinn des Leſers
gewiſſe Anſprüche. Sie bedingen ein abſichtsvolles Zurücktauchen
in Lebensformen und Anſchauungen, die ſeitdem gewaltſame Er—
ſchütterungen durchgemacht haben. Der Aufſatz iſt mithin, etwa
nach dem Maßſtabe eines Leitartikels oder Feuilletons gewertet,
ſozuſagen „unaktuell“ geworden. Aber das war er ja ſchon, als
ich ihn ſchrieb, als ich aufzeigen wollte, daß der Begriff „Kultur“
anders begrenzt werden darf, als der landläufige Gegenwartwert
159
r
ſchreckliches Armutszeugnis; die Anerkennung deſſen, daß in
Frankreich der oberſte Komfort gerade ſo weit reicht, wie bei
uns der mittlere.“
B.: „Sie haben natürlich die Ergänzung zur erſten nach—
gezahlt.“
A.: „Gar nicht daran zu denken. Schon aus Trotz nicht.
Ich wanderte vielmehr in eine franzöſiſche zweite, in eine
furchtbare Engnis von zehn Perſonen, in eine Pferchanſtalt
von Menſchen, die zu eingepökelten Sardellen degradiert wa—
ren. Und jetzt begannen die unabſehbaren, fahrplanmäßigen
Zugverſpätungen! Laßt die Hoffnung draußen, die ihr ein—
tretet! Was erzählt man uns da von den Greueln der ſibiri—
ſchen Gefängniſſe? In den Eiſenbahnwagen romaniſcher Län⸗
der — da wohnen die Greuel! Himmelherrgott! und da
treten immer noch Kulturhiſtoriker, Leitartikler und Feuille—
toniſten auf, die uns von der Überlegenheit der weſtlichen
Kultur vorfaſeln!“
B.: „Ich würde Ihnen empfehlen, ſich im Wiederholungs—
falle nicht auf den Moment der Gegenwart einzuſtellen, ſon—
dern auf die geſchichtliche Vergangenheit. Kultur iſt ein gei—
gleichen Namens, daß er jenſeits der Anſchauungen liegt, die aus
den Erlebniſſen der Einzelnen hervorwachſen. Nicht um den
Gegenſatz von Kultur und Barbarei handelt es ſich hier, ſondern
um den Zuſammenprall zweier auf Grenzgebieten liegenden Werte,
die bei oberflächlicher Betrachtung freundnachbarlich verſchwiſtert
erſcheinen, bei tieferer Prüfung ſchroffe Gegenſätze offenbaren.
Nur auf dieſe Antitheſe kam es an, während alles, was an Lob
und Tadel anklingt, höchſtens die Bedeutung einer Hilfskonſtruk—
tion zum Beweiſe jener Gegenſätzlichkeit beſitzt. Daß hierzu weſent—
lich Bauſtoffe aus dem 17. und 18. Jahrhundert verwendet
wurden, zeigt deutlich genug das Ziel der ganzen Erörterung,
die aus entlegener Vergangenheit zu ferner Zukunft eine Brücke
ſchlagen möchte.
160
A
ſtiges Fluidum, das uns allerdings anweht, ſobald wir die
weſtliche Grenze überſchreiten. Wenigſtens mir geht es ſo:
Die Wagenwände, die mich umſchließen, verflüchtigen ſich
und geben den Horizont frei; den Tiefblick auf zwei große
Jahrhunderte, in denen Frankreich Geiſtesarbeit für ganz
Europa geleiſtet hat. Ja, das ſpüre ich mit allen Schauern
der Ehrfurcht. Ich reiſe nicht von Pagny nach Epernay, nicht
von Pontarlier nach Dijon, ſondern ich reiſe in das Land vom
Port Royal, in das Reich der Enzyklopädiſten, in das Land
der Pascal, Viéta, Fermat, Descartes, Diderot, d'Alembert,
Laplace, Lagrange. Das muß man hindurchfühlen durch die
Kleinlichkeiten der körperlichen Gegenwart. Ich kaufe mir
auch nicht an der Grenze die neueſte Nummer des Matin
oder des Figaro, ſondern ich ziehe einen franzöſiſchen Klaſ—
ſiker aus meinem Handkoffer ...“
A.: „Der Ihnen kurz zuvor aus dem viel zu engen Gepäck—
netz auf den Kopf gefallen iſt.“
B.: „Und dann beginne ich zu leſen, und eine Welt von
Akkorden baut ſich über dem Orgelpunkt der Empfindung:
hier fließen die Grundquellen der menſchlichen Geiſteskultur.
Weder die Alexandriniſche Großzeit noch die italieniſche Re—
naiſſance, noch der deutſche Humanismus reicht da hinan.
Ich tauche in die Zeiten zurück und atme die Luft, die Des—
cartes geatmet hat...“
A.: „Sie atmen ein Gemiſch von Schweiß, Kohlenſtaub,
Knoblauch und Kaporalzigaretten.“
B.: „. .. Denn ſchließlich gründet ſich alles, was an Er—
kenntnis, an Kauſalphiloſophie in uns lebt, auf Descartes.
Aber es iſt natürlich nicht nebenſächlich, wo man lieſt. Der
örtliche Kontakt entſcheidet. Auf der Strecke Weimar —Jena,
wo ſogar der Banauſe ſeinen Goethe und Schiller herausholt,
Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 11
161
wirkt er zweifellos nicht ſo überwältigend, als auf einer der
Zufahrſtraßen, die nach Paris führen. Sie haben es wahr—
ſcheinlich noch nie probiert, und deshalb rate ich Ihnen:
Leſen Sie auf ſolcher Eiſenbahnfahrt die ‚Prinzipien‘ des
Carteſius.“
A.: „Ich werde es nicht tun! Ich werde die Prinzipien
des Carteſius nicht leſen, und zwar aus Prinzip. Zum Leſen
gehört Licht, und zum Licht gehört ein anderes Eiſenbahn—
kupee, als ein franzöſiſches. Am Tage ſind die Fenſter ver—
ſchmiert, wenn die Lampen angeſteckt werden, brennt eine
Funſel, die im beſten Fall ſoviel leuchtet wie ein ſchwelender
Kienſpan. Das dritte Wort der franzöſiſchen Intelligenz iſt
immer „la lumiere!‘ Aber was wird aus der lumiere,
wenn man fie am nötigſten braucht? ein künſtliches Glüh—
würmchen. Der ſtrahlende Leuchtturm verwandelt ſich in
ein Dreier-Nachtlicht. Und da reden Sie mir von Kauſali—
täten und verweiſen mich auf das berühmte ‚ergo‘ des Des—
cartes. Wie liegen die kauſalen Zuſammenhänge aber in
Wirklichkeit? Es iſt finſter, ergo kann ich nicht leſen!“
B.: „Wenn man bei Tage reiſt und ſeinen Eckplatz hat,
ſo geht es ſchon.“
A.: „Ich reiſe niemals bei Tage und erwiſche nie einen
Eckplatz. Ich leugne überhaupt die Eckplätze auf franzöſiſchen
Bahnen. Man ſitzt immer auf einem Mittelſitz im Mittel
arreſt. Und ich brauche wohl nicht erſt zu beweiſen, daß man
in ſolcher Lage überhaupt gar nichts anderes anfangen kann,
als ſich ärgern.“ 5
B.: „Die Franzoſen haben das Gegenteil bewieſen. Neh—
men wir zum Beiſpiel Poncelet. ..“
A.: „Wer iſt das?“
B.: „Sie belieben Scherzfragen einzuwerfen. Wer all—
162
TEE TEN.
gemeine Kulturdinge erörtert, dem möchte ich doch zunächſt
die Bekanntſchaft mit Poncelet zutrauen.“
A.: „Ich bedaure unendlich, der Herr iſt mir nicht vor—
geſtellt. Nach Ihren Andeutungen möchte ich indes ſchlie—
ßen, daß es ein Mann war, der zahlreiche Geduldsproben
abgelegt hat.“
B.: „Stimmt ungefähr. Er verbrachte zwei Jahre ſeines
Lebens in echtruſſiſcher Gefangenfchaft zu Saratow an der
Wolga und hatte es dabei weſentlich unbequemer als Sie in
einem franzöſiſchen Waggon. Von der Außenwelt abgeſchnit—
ten, ohne Bücher und irgendwelches Anregungsmaterial, im
Dunkel der Kaſematte entwickelte er aus ſtiller Intuition
heraus die neue epochale Wiſſenſchaft der projektiviſchen Geo—
metrie, die ihn unſterblich machen ſollte. Er ärgerte ſich
nicht, ſondern er forſchte. So benimmt ſich ein Franzoſe in
beengter Lage.“
A.: „Ein glänzendes Rezept! Wenn man ſich ohne Schlaf—
möglichkeit die Nacht um die Ohren ſchlägt, erfindet man
eine neue Wiſſenſchaft. Ich ſchwöre Ihnen, daß ich das nie—
mals tun werde. Am allerwenigſten, wenn ich reiſe und da—
bei aus einer Peinlichkeit in die andere gerüttelt werde. Dann
ziehe ich mich wie ein Häufchen Unglück auf das Minimum
meiner Körperlichkeit zuſammen und ſtöhne. Ein Kultur:
menſch ſtöhnt eben, wenn es ihm ſchlecht geht.“
B.: „Pascal ſtöhnte nicht. In jener hiſtoriſchen Nacht,
da ſeine Zahnſchmerzen ihren Höhepunkt erreichten, rettete
er ſich aus aller Qual, indem er die analytiſchen Schwierig—
keiten der Zykloide beſiegte und die mathematiſchen Geheim—
niſſe dieſer wichtigen Kurve aufdeckte. Solche Einzelzüge
gehören zum Weſen der franzöſiſchen Kultur. An ſie ſoll man
denken, und nicht an das perſönliche Mißbehagen des Augen-
il
+03
blicks, wenn man franzöſiſche Erde befährt. An Varignon
ſoll man denken!“
A.: „Wer iſt denn das ſchon wieder?“
B.: „Ich ſtelle feſt, daß es in Ihrer Geiſtigkeit an jeder
höheren Orientierung fehlt. Sie überantworten ſich einer
Maſchine, die Sie mit achtzig Kilometer pro Stunde be—
fördert, und Sie ahnen nicht einmal die einfachſten Geſetze
irgendeiner Maſchine; was iſt ſie, wem gehorcht ſie?“
A.: „Es iſt eine Lokomotive, und ſie gehorcht dem
Dampf.“
B.: „So dürfte ein Bauer reden. Die Kultur ſpricht
anders; ſie definiert die Maſchine als eine Konſtruktion, die
das Parallelogramm der Kräfte aus einem Prinzip zur Wir—
kung ſteigert. Da haben Sie die Lehre des großen Varig—
non, der das Pech hat, Ihnen unbekannt zu ſein. Ziehen
Sie die Fäden von Varignon zu d'Alembert, zu Lagrange, zu
Poinſot, zu Carnot — und hierzu eignet ſich nichts dermaßen,
wie eine Bahnfahrt in deren franzöſiſcher Heimat —, ſo
wird in Ihnen die ganze Mechanik lebendig, als ein Bez
greifen aller Weltvorgänge aus der Bewegung der Atome.
Und wenn Sie ſich hierzu aufraffen, dann werden Sie nicht
mehr ſtöhnen, ſondern jubeln, bei jeder Beſchleunigung durch
Frankreich, dem Urſprungsland der höheren Mechanik.“
A.: „Großartig! Und jetzt werde ich Ihnen einmal die
franzöſiſche Mechanik auseinanderſetzen. Sie beſteht darin,
daß man in jedem Abteil überall, wo man einen Haken ver—
mutet, an den man ſeinen Mantel hängen könnte, durch
einen unnützen Metallknubbel enttäuſcht wird; ſie beſteht
darin, daß in den Toiletten die Hydraulik entweder gänz—
lich fehlt oder nicht funktioniert, ſo daß Sie ſelbſt mit einem
Moſesſtab kein Waſſer hervorzaubern können; ſie beſteht
164
darin, daß die Heizvorrichtung nach mechaniſchen Grund—
ſätzen gebaut iſt, die ſchon zur Zeit des Khalifen Omar in
Alexandrien überwunden waren; ſie beſteht darin, daß keine
Schiebetüren vorhanden ſind, ſondern Angeltüren, von denen
eine einzige genügt, um den ganzen Korridor zu verſperren.
So, und jetzt ſtelle ich Ihnen anheim, in Ihrem Kolleg über
Mechanik fortzufahren.“
B.: „Ich ſprach vom Begreifen der Weltvorgänge.“
A.: „Und ich ſpreche vom Begreifen der Eiſenbahnvor—
gänge, das iſt der Unterſchied. Setzen Sie den ganzen Wa—
gen voller Varignons und Pascals, — dieſe Vorgänge wür—
den ihnen ewig unbegreiflich bleiben. Und aus Ihren Atom—
bewegungen mache ich mir gar nichts. Ein Atom Seife ſoll
ſich bewegen, wenn ich im Kabinett am Apparat kurble!
Und ferner werde ich Ihnen einmal wiſſenſchaftlich kom—
men: ‚Die Seife iſt der Maßſtab für die Kultur der Staa—
ten‘ — wiſſen Sie, von wem dieſer Ausſpruch herrührt?
Von einem der größten Gelehrten aller Zeiten, von Juſtus
von Liebig.“
B.: „Juſtus von Liebig hat noch mehr Zitate geliefert, die
darauf ſchließen laſſen, daß er in Frankreich und beſonders
in den Laboratorien bei Gay-Luſſac, Dulong und Thénard
noch ganz andere Dinge geſucht und gefunden hat als Seife.
Keiner hat den Poſitivismus und die Exaktheit der fran—
zöſiſchen Wiſſenſchaft ſo laut gerühmt wie er. Aber Sie
kommen von der Kleinlichkeit nicht los, Sie projizieren alles
aufs Innere des Wagens und meſſen die Kultur am
Waſchraum! Ihre Debattierkniffe kenne ich nachgerade.
Wenn ich Ihnen jetzt auseinanderſetze, daß die geſamte orga—
niſche Chemie, die Lehre von den Kohlenſtoffverbindungen,
ihre mächtigſten Anſtöße von Frankreich empfangen hat, ſo
165
werden Sie mir ſofort mit einem Bonmot über franzöſiſche
Eiſenbahnkohle antworten.“ —
A.: „Sehr richtig. Sie brauchen bloß in Belfort am
Zuge einen Metallgriff anzufaſſen, dann haben Sie die Koh:
lenſtoffverbindung an den Fingern und werden fie bis Lyon
nicht mehr los.“
B.: „Und wenn ich dann etwa auf die Großtaten der
franzöſiſchen Aſtronomen überleitete, ſagen wir auf das
Wunder des Leverrier, der aus einer Planetenſtörung heraus
den Neptun entdeckte, jo würden Sie das Wort ‚Störung‘
aufgabeln und für Ihre einſeitigen Zwecke verwerten.“
A.: „Sie liefern mir wirklich die Stichworte. Der ganze
Betrieb, von dem ich rede, ſetzt ſich aus Störungen zu—
ſammen. Jeder Fahrplan iſt eine organisation desorgani-
see. Den letzten Zug haben Sie verpaßt, aber der vor—
letzte hat zwei Stunden Verſpätung, und den können Sie
erreichen. An keinem Wagen hängt eine Richtungstafel, und
wenn eine dranhängt, iſt ſie falſch. Und erſt die Störungen
an einer franzöſiſchen Zollſtation! Sie kennen doch Venti—
miglia? Da vergehen einem die Planetenentdeckungen; in
dieſen Störungen hat noch niemand etwas anderes entdeckt
als ein zweites Inferno von Dante. Sie freilich, mit Ihrer
kosmiſchen Überlegenheit und mit Ihrer tranſzendenten Ge—
duld, Sie wären imſtande, mir ſelbſt in den Verzweiflungs—
ſtunden von Ventimiglia eine Vorleſung über den Kultur:
wert der franzöſiſchen Revolution und über die Eroberung der
Menſchenrechte zu halten. Wo ſind dieſe Menſchenrechte, und
vor allem, wo ſind die Franzoſen, die ſich aufbäumen und
in der Bahn ihre Menſchenrechte verlangen? Sind das wirk—
lich die Abkömmlinge der Girondiſten, Ihre Nachbarn im
Wagen, die alles wie ein Fatum ruhig hinnehmen, was das
166
ancien régime einer Bahnverwaltung über fie verhängt?
Unſereiner flucht doch wenigſtens. Und wenn er endlich zu—
rückkommt, dann jubelt er an der Grenze: Deutſchland!
deutſche Wagen mit deutſchen deutlichen Aufſchriften! deutſche
Bequemlichkeit, Sauberkeit, Geräumigkeit, Pünktlichkeit!
Fließendes Waſſer, reine Wiſchtücher, blanke Fenſter, geputzte
Klinken, ſtrahlende Lampen, hilfreiche Beamte, — Menſchen—
rechte! Ja, mein Freund, man muß von Welſchland nach
Germanien fahren, um ſich ganz mit dem Gefühl zu ſättigen:
hier bei uns ſitzt die Kultur!“
B.: „Wir ſprechen von verſchiedenen Dingen und reden an—
einander vorbei. Ich verſuche das Problem in der Tiefe zu er—
faſſen, Sie haften an der Oberfläche. Die Geiſtesentwicklung
eines Volkes vollzieht ſich dramatiſch, aber während ich mich
bemühe, das dramatiſche Gewebe zu erkennen, ſtarren Sie
auf die Inſzenierung, und zwar ausſchließlich auf die In—
ſzenierung des letzten Aktes. Sie verwechſeln die Aufma—
chung, die Dekoration und die Güte Ihres Parkettplatzes
mit dem, was eigentlich geſpielt wird, was ſeit Jahrhunder—
ten geſpielt wurde. Im letzten Grunde gilt Ihnen die Welt
als ein Panorama, das Sie, möglichſt bequem hingeſtreckt,
genießen wollen. Aber die Welt als Kulturerſcheinung iſt
nicht nach Bequemlichkeit orientiert. Alle wirklichen Kultur—
einſchnitte waren Unbequemlichkeiten, gewaltſame Brüche,
rauhe Eingriffe in die liebgewordene Gewohnheit. Die Offen—
barungen der franzöſiſchen Großmeiſter haben das Behagen
weder der Mitlebenden noch der Nachwelt geſteigert; ja, im
großen und ganzen darf man annehmen, daß es ſich im
Kreiſe der Kirchenväter und Scholaſtiker angenehmer denken
und leben ließ als im Kreiſe der Enzyklopädiſten und der Exakt⸗
forſcher überhaupt. Nichtsdeſtoweniger ſehnen wir uns nicht
167
in jene Atmoſphäre zurück. Wir ſtoßen uns wund an den Eck—
pfeilern der Kultur, die nicht für das Glück der Perſon gebaut
ſind, ſondern als Stütze für die Kuppel der Geiſtigkeit.“
A.: „Und daran ſoll ich denken, wenn ich Eiſenbahn fahre?
Nein, lieber Herr, als moderner Menſch bin ich natürlich Rei—
ſender, und als ſolcher verlange ich, daß mir die Kultur eines
Landes an der Grenze entgegenſpringt, in den Zug hinein, auf
den Polſterſitz. Aus all den unentbehrlichen Nichtigkeiten ſoll
ſie mich anwehen, nicht um mein Inneres zu vertiefen, ſon—
dern um mein Außenleben zu erhöhen; ihre Arme ſoll ſie mir
entgegenſtrecken, nicht um mir Bücher um die Ohren zu ſchla—
gen, ſondern um mich zu liebkoſen. Wenn ich in die Pro—
vence, an die Riviera, nach Paris oder in die Bretagne reiſe,
will ich nicht erſt ein Fegefeuer abſolvieren, bevor ich ins
Paradies gelange. Es ſoll ſchon im Vorhof paradieſiſch aus—
ſehen, ganz einfach ausgedrückt, es ſoll moderner Komfort
vorhanden ſein, und Sie werden mir zugeben, daß auch dieſe
Kulturforderung ihre Berechtigung hat.“
B.: „Ich merke, daß Sie auf die Brücke einer Verſtändi—
gung treten wollen, und ich ſelbſt wäre unkultiviert, wenn ich
Ihnen dahin nicht folgte. Suchen wir alſo im Parallelo—
gramm unſerer auseinanderſtrebenden Anſichten die Diago—
nale und einigen wir uns auf folgende Formel: Kultur und
Komfort ſind zweierlei, und gerade in Frankreich wird man
gut tun, beide Begriffe auseinanderzuhalten; dort nahm die
Kultur ehedem einen ſo breiten Raum ein, daß für den Kom—
fort nicht viel übrig geblieben iſt.“
A.: „Einverſtanden; ich möchte den Satz nur ein bißchen
anders redigieren: Komfort iſt eine Angelegenheit, für die
Frankreich das ſchöne Wort und Deutſchland die gute Sache
beſitzt!“
168
Wie groß ift die Welt?
Man hat da die ſchönſte Auswahl zwiſchen allen Formaten
und kann bezüglich der Ausmaße nicht in Verlegenheit kom—
men. Philoſophie und Sternkunde bieten ein Warenlager, in
dem alle Größenlagen vertreten ſind. Von der kleinſten an—
gefangen, die ſo klein iſt, daß man ſie bequem in die Weſten—
taſche ſtecken kann.
Eigentlich iſt das eine Null-Welt ohne jede Dimenſion.
Alles, was ſich uns ſonſt als Sonnenweiten, Siriusfernen,
Rieſenhaftigkeit der Geſtirnwelt vorſtellt, verſchwindet.
Nichts bleibt übrig als das Bildchen von alledem, wie es
ſich auf der Netzhaut unſeres Auges abmalt. Dieſe Lehre
räumt radikal auf mit dem Univerſum: Der geſehene Raum,
von unſerem ſichtbaren Leibe angefangen bis hinauf zum
Sternenhimmel, ſamt allem, was darin ruht und ſich be—
wegt, iſt gar nichts wirklich Gegenſtändliches außerhalb un
ſerer Sinne, ſondern nur ein Phänomen innerhalb unſeres
ſinnlichen Bewußtſeins. So hat es Ueberweg gedacht, ſo
hat der bedeutende Denker Otto Liebmann den Satz ge—
formt und auf Betrachtungen gegründet, die aſtronomiſch
auf Kepler, phyſiologiſch auf Johannes Müller, Nagel
und Hering zurückgehen. Herbart und Lotze werden an—
gerufen, um der Großwelt den Garaus zu machen, und
dieſem Vernichtungswillen gegenüber hält kein Fernrohr, kein
169
Spektralwerkzeug ftand. Denn auch diefe Apparate find nur
Täuſchungen, Phantome, von unſerem Augenbildchen hin—
ausgezaubert in ein Unbekanntes, das uns von einer Zwangs
vorſtellung als Außenraum vorgeredet wird.
Auf anderen Wegen wird ein ähnlich hiſtoriſches Ergebnis
erzielt. Es gibt eine Philoſophie der Schrumpfung, die
zunächſt der Welt nichts zuleide tut und ſie ſo groß beſtehen
läßt, als man nur irgend will. Dann aber fährt ſie mit der
Frage fort: Was geſchähe, wenn die Welt mit allem Inhalt
plötzlich auf die Hälfte ihrer früheren Dimenſionen ein—
ſchrumpfte? Beſäßen wir Menſchen ein Beobachtungsmittel,
um dieſen Vorgang feſtzuſtellen? Keineswegs! Denn da
alle unſere Organe, einſchließlich unſerer Maßſtäbe und Meß⸗
werkzeuge, dieſe Verjüngung auf ein Halb mitmachen, ſo
ändert ſich für uns nicht das allermindeſte; das heißt ein
ſolcher Vorgang könnte ſtattfinden, ohne uns irgendwie zu
berühren, wir würden nichts merken. Der Mond wäre nach
wie vor 50000 Meilen von uns entfernt, aber „Halbmeilen“,
die für uns ganz dieſelbe Bedeutung hätten, wie vordem die
Ganzmeilen. Spüren wir aber nicht eine Verkürzung auf
ein Halb, ſo ſpüren wir ſie auch nicht auf ein Zehntel, auf
ein Tauſendſtel, überhaupt nicht, das Univerſum könnte
plötzlich oder allmählich auf die Größe eines Stecknadel—⸗
kopfes, eines Atomes zuſammenſchrumpfen, ohne daß ſich
für uns, für unſer Leben und unſere Auffaſſung das Ge—
ringſte ändern würde. Wir führen fort, nach parallaktiſchen
Beſtimmungen die ungeheuerlichſten Sternentfernungen her—
auszurechnen, in voller Unkenntnis der Tatſache, daß ſich
in Wirklichkeit eine beobachtende Null mit einer Welt-Null
meſſend beſchäftigt. Das iſt aber eine Möglichkeit, über deren
Weſen wir nur das eine auszuſagen vermögen: ſie iſt viel
170
de Aa
wahrſcheinlicher als die ererbte Gewißheit, die uns mit feſten
Strecken und rieſigen Räumen operieren läßt.
Nun zu den Welten mittleren Formates, für die ich hier
aus dem reichlich verſorgten Warenlager eine Probe vor—
legen möchte. Vergleichen wir ſie mit dem ſoeben ange—
deuteten Zuſtand des abſoluten Schwundes, ſo werden wir
ſie außerordentlich geräumig finden, wenngleich immer noch
etwas eng im Verhältnis zu den üblichen Univerſalbegriffen.
Der geradlinige Durchmeſſer des geſamten Weltraumes be—
trägt nach dieſer Auffaſſung 40000 Kilometer, alſo genau
ſoviel wie die Länge unſeres Äquators; die Erde verzichtet
auf ihre Kugelgeſtalt, wird zur vollendeten Scheibe, zur
„Totalebene“, kein Himmelskörper, ſondern eine Scheide—
wand, ein Zwerchfell im endlichen Raum, zugleich deſſen
untere Hälfte, während ſich alle Geſtirne, der ganze „Him—
mel“ in der oberen befinden.
Wir beſchwören hier keinen urzeitlichen oder mittelalter—
lichen Spuk, verſenken uns nicht in die Grübelei eines Scho—
laſtikers, ſondern folgen den Spuren eines ſehr gelehrten
Modernen, des Dr. Ernſt Barthel, der ſeine Weltanſicht
in einer großen Abhandlung feſtgelegt hat. Der Ort der
Veröffentlichung, L. Steins Archiv für ſyſtematiſche Phi—
loſophie (Heft 1 von 1916) erzwingt Beachtung, und der
Vortrag des Mannes, der uns eine neue Weltorientierung
geben will, iſt zweifellos auf Scharfſinn geſtimmt. Inner—
halb des hier aufgeſtellten Rahmens iſt natürlich weder eine
Angabe noch eine Erörterung ſeiner Beweiſe möglich; um
ſo weniger, als dieſe mit einer der ſchwierigſten Vorſtellun—
gen der Ultra-Geometrie, mit dem „gekrümmten Raum“ ar⸗
beiten, die ſich einer allgemein verſtändlichen Darſtellung
nahezu entzieht. Für unſeren Zweck genügt die Feſtſtellung
174
Bi.
des Formates ſelbſt. Wir erfahren, daß heute Strebungen im
Gange ſind, die der Welt gewiſſe auskömmliche, endliche,
nicht eben weitgeſpannte Maße zuweiſen. Man kann in
40000 Kilometern exiſtieren, ohne ſich an ihnen zu berau—
ſchen, wie man ſich auch an den Sonnenwirkungen erfreuen
kann, wenn man mit dem denkeriſchen Wagemut des Dr.
Barthel alle Geſtirne unendlich viel kleiner als die Erdmaſſe
anſetzt. Im Ernſt geſprochen: Zu Zeiten Galileis wäre jene
kurioſe Schrift nicht auf den Index gekommen, während ſie
heute allerdings wie eine Ketzerei gegen die Allmacht der
Aſtronomie auftritt.
Sie ſteht aber nicht etwa vereinzelt da. Wir ſind in neueren
Jahren von ganzen Stimmchören umflutet worden, die das
Hohelied der Endlichkeit ſingen; alle aſtronomiſchen Strecken
find ihnen zu weit, alle Bewegungen zu flink, fie wollen letz—
ten Endes darauf hinaus, irgendwie und irgendwo im angeb—
lich Unendlichen Abſchlüſſe zu finden. Mißverſtandene Leh—
ren von Flammarion und Henri Poincars gingen vor—
auf; ihnen folgten die Mißverſteher Auguſt Strindberg,
Woodhouſe, eigenſinnige Deutſche von der Gefolgſchaft des
Johannes Schlaf mit ihren gellenden Schlagworten:
„Sinnloſe Aſtronomie“, „Wiſſenſchaft, die heute auf den
Univerſitäten verhökert wird“, „Symphonie des Unſinns“!
Eine geozentriſche Anſchauung ſollte durchbrechen, noch unter
Lukrez hinunter, der zwar die Sterne als Kleinweſen erach—
tete, aber doch den Weltraum nicht verengen wollte. Deut—
lich umſchriebene Formate gibt es nicht innerhalb dieſer Leh—
ren. Man kann immer nur ſagen: Kleinwelten, Mittelwel—
ten, wie ſie ſich denen darſtellen, deren Sinn von den irdi—
ſchen Maſſen nicht loskommt. Anaxagoras hatte behauptet,
die Sonne ſei größer als der uns heute ſo vertraute Pelo—
172
FR
* r a ent *
5 4
ponnes. Das war in ſeinem Sinne eine Erweiterung des
Größenbegriffs, in unſerem ein Feſtkleben am alten Diminu—
tiv. Die Welt des Anaxagoras iſt ein maßloſes Ungeheuer,
am Verſtand ſeiner Zeitgenoſſen gemeſſen, ein Mikrob für
uns, die wir die Strecken nach Lichtjahren beurteilen.
Danach ergibt ſich ein Weltformat, das nur noch im Zah—
lenſinne Bedeutung hat, das ſich an die Zahl heftet, um über—
haupt ausſprechbar zu werden. Die Anſchauungsmöglichkeit
entſchwindet. Wir lernen und glauben, daß die Firfterne
erſter Größe durchſchnittlich ſiebzehn Lichtjahre von uns ab—
ſtehen, die Lichtſekunde zu 300 ooo Kilometern, alſo rund
150000 Milliarden Kilometer; und daß dieſe Unfaßbarkeiten
wieder verſchwinden gegen die Erſtreckung der Milchſtraße,
für die wir ſiebentauſend Lichtjahre bewilligen müſſen. Und
auch damit hätten wir erſt eine Inſel im Univerſum erfaßt,
nicht dieſes ſelbſt.
Die Anſchauung ſucht in ihrer Bedrängnis einen Ausweg
und findet ihn in der Vermutung, daß zwar der Raum un—
endlich ſein müſſe, nicht aber die Menge und Maſſe der Welt—
körper. Es gibt einen auf Herſchel zurückgehenden Schein—
beweis, der dieſe Vermutung mit optiſchen Gründen zur Ge—
wißheit erheben möchte. Er wirkt auch optiſch ganz über—
zeugend, rennt aber gegen einen Grundpfeiler der in uns
eingebauten Logik. Denn alle Ermeßlichkeit iſt Null gegen
das Unendliche, und all die Lichtjahre bedrängen uns nicht
ſo ſchmerzlich wie der Zwang, dieſe Ganzgroßwelt wiederum
auf Null verkümmern zu laſſen.
Nein, wir ſuchen immer noch nach größeren Formaten für
die Welt, und wer mit der eigenen Phantaſie nicht aus—
kommt, der mag die des Voltaire zu Hilfe rufen.
Der Weiſe von Ferney ſchlägt in mehreren Erzählungen
173
das Thema von der Weltgröße an und, wie zu erwarten,
er gibt ſich dabei nicht mit Kleinigkeiten ab. Ein Engel tritt
als Lehrmeiſter auf: die Welt mag noch ſo ausgedehnt ſein,
mit einer einzigen iſt nicht auszukommen; ſetzen wir alſo
einen hübſchen Multiplikator ein und behaupten wir: im
Raum ſind hunderttauſend Millionen von Welten vorhanden,
eine immer ſchöner und beſſer als die andere; oder rückwärts
gerechnet: eine immer toller als die andere; die uns zunächſt
liegende, die irdiſche, kommt leider dabei am ſchlechteſten
weg und wird in Voltaires Betrachtung als das „Tollhaus
des Univerſums“ bemakelt.
Gleichviel. Unſere vergleichende Studie ſoll ſich ja nur mit
den Weltfor maten beſchäftigen, zwiſchen denen fie genü—
gende Auswahl verſprach. Von einer Abſchätzung nach Vor⸗
trefflichkeit und Ungüte hat ſie ſich fernzuhalten. In ihr
gilt nur das Relative, das jedes Gut und Böſe abwehrt und
ſelbſt in der Abſchätzung reiner Raumgrößen der letzten Frage
nach Richtig oder Falſch aus dem Wege geht.
Die Annäherung
Man könnte es wie ein Märchen anfangen, „Es war ein:
mal“, und es kommt auch allerhand Fabelhaftes darin vor.
Aber ſehr poetiſch wird es darin nicht zugehen. Denn die
Dinge, die hier eine Annäherung ſuchen, find weder Gemein—
ſchaften, die ihren Haß vergeſſen wollen, noch Menſchenkin—
der, die durch eine geheime Sehnſucht zueinander getrieben
werden, ſondern zwei vergeiſtigte Weſen, zwei Begriffe: die
Vermutung und die Genauigkeit.
Alſo es war einmal ein großer Gelehrter, der hieß Micha—
el Pſellus, der lebte im elften Jahrhundert, galt viel bei
ſeinen Zeitgenoſſen und wurde von ihnen mit dem Ehren—
titel „Erſter der Philoſophen“ geſchmückt. Der hatte es ſich
in den Kopf geſetzt herauszubekommen, wie ſich denn eigent=
lich der Umring eines Kreiſes zu ſeinem Durchmeſſer ver—
hielte. Und nachdem er lange überlegt und gerechnet hatte,
kam er dahinter, das müßte eine Zahl ſein zwiſchen zwei
und drei, ungefähr zwei und vier Fünftel, oder noch etwas
darüber. Und die gelehrten Zeitgenoſſen dieſes „Erſten der
Philoſophen“ waren ſehr erfreut über dieſen Fund, ganz
überzeugt davon, daß hier Vermutung und Genauigkeit einen
ſchönen Akt der Annäherung vollzogen hätten.
Wenn ein halbwegs intelligenter Knabe mit einem runden
Gegenſtand ſpielt, mit einem Kreiſel oder Tellerchen, und
einen Faden um die Rundung legt, ſo müßte ihm der Unſinn
175
h —
r
des großen Pſellus klar werden. Er könnte es vom Faden
ableſen, daß das Dreifache des Durchmeſſers noch nicht aus—
reicht, um den Kreiſel oder das Tellerchen ganz zu um—
ſpannen.
Es mag fraglich fein, ob Kinder ſolche Experimente anſtel—
len. Daß die Erwachſenen es vor faſt dreitauſend Jahren
getan haben, erfahren wir aus dem Erſten Buch der Könige bei
Beſchreibung des herrlichen Waſchgefäßes, das unter dem
Namen des ehernen Meeres eine Zierde des Salomoniſchen
Tempels bildete: „Und er machte das Meer, gegoſſen, zehn
Ellen von einem Rande bis zum andern, gerundet ringsum,
. . . und ein Faden von dreißig Ellen umfing es ringsum.“
Hier ſprach alſo der Faden: die geſuchte Zahl iſt genau gleich
drei, und die Prieſter im Tempel Salomos, denen der Be—
griff der „Annäherung“ noch fremd war, mochten das wohl
als eine Gewißheit hinnehmen.
Aber den ſpäteren Talmud-Gelehrten ſtiegen doch Zwei—
fel auf. Sie unterſuchten wiederum verſchiedene runde Schüſ—
ſeln mit dem herumgeſpannten Faden und gelangten zu dem
Ergebnis: man muß, um den Umring zu erhalten, den
Durchmeſſer von Rand zu Rand dreimal nehmen und ein
„Audew“, was in ihrer Sprache bedeutete: und ein kleines
bißchen mehr. Das war weder falſch, noch genau, ſondern
eben nur annähernd richtig. Und bei den weiteren Annähe—
rungen der Folgezeit ergaben ſich Wunder.
Man nennt die geſuchte Größe bekanntlich nach einem For—
ſcher, der ſie einer weitgehenden Unterſuchung unterwarf,
die Ludolfſche Zahl oder *. In der Schule lernt man: Eins
Komma 14159, und dieſer Annäherungsgrad reicht auch
für die meiſten Erforderniſſe des Lebens wie der Technik. Mit
jeder weiteren feſtgeſtellten Dezimalſtelle ſchärft ſich die Ge—
176
nauigkeit naturgemäß ſehr erheblich; Ludolf van Ceulen be—
rechnete die Zahl bis zur 35. Dezimale, am Anfang des acht—
zehnten Jahrhunderts konnte dieſes u das Jubelfeſt der hun—
dertſten Stelle feiern, ſeit dem Jahre 1844 beſitzen wir es,
durch den Kopfrechner Daſe, bis auf 200 Stellen genau.
Was bedeuten dieſe Annäherungen? Zunächſt das eine,
daß eine abſolute Genauigkeit bei einem ſo einfachen Ge—
bilde wie der Kreis niemals zu erzielen iſt; dann als zweites
die Beruhigung darüber, daß wir den möglichen Fehler bis
zu beliebiger Kleinheit vermindern und unter die Schwelle
des Bewußtſeins hinabdrücken können.
Wir nehmen als Prüfungsmaß die winzige Dicke eines
allerfeinſten Damenhaares und fragen: wie groß darf ein
Kreisumfang ſein, damit die mögliche Ungenauigkeit der Be—
rechnung höchſtens ſo groß ausfällt wie dieſe Haarfeinheit?
Wir operieren mit einem u von nur 15 Stellen und ermit—
teln: Ein Kreis von der Größe des Erdäquators verträgt
dieſe Probe, multiplizieren wir deſſen Durchmeſſer mit ſol—
cher Zahl, ſo wird die mögliche Ungenauigkeit noch lange
nicht das zarte Quermaß eines Blondhaares erreichen.
Wirtſchaften wir aber mit der ausgewachſenen Ludolfzahl
von 100 oder gar von 200 Stellen, ſo können wir ganz ins
Phantaſtiſche hineinſteigen. Der Kreis kann dann ſo groß
oder milliardenfach größer ſein als die Milchſtraße, als die
geſamte ſichtbare Sternenwelt: ſo wird der mögliche Fehler
unter die Bazillenkleinheit herabſinken und durch kein Mikro—
ſkop der Welt wahrnehmbar gemacht werden können.
Aber ein Fehler bleibt trotzdem zurück, nämlich der Unter—
ſchied zwiſchen dem Errechneten und dem mathematiſch als
Kreis Vorgeſtellten. Dieſe Annäherung kann niemals bis
zur völligen Berührung getrieben werden.
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 12
177
Die Naturbetrachtung ſchlägt ähnliche Wege ein, wenn fie
ſich Zielen nähert, die ſie vorläufig für erreichbar hält, um
ſpäterhin inne zu werden, daß die ſogenannte Genauigkeit und
Sicherheit im letzten Grunde nur eine ſehr geſteigerte An—
näherung bedeutet.
Wir befinden uns am Ufer eines mäßig großen Binnen—
ſees; kein Windhauch kräuſelt die Oberfläche, kein Boot
durchfurcht ſie, der Vergleich mit einem Planſpiegel drängt
ſich auf, und wir können von dieſer Fläche mit ruhigem Ge—
wiſſen als von einer vollkommenen Ebene ſprechen. Kein
Naturgeſetz wird uns Lügen ſtrafen, wenn wir an dieſer
„Ebene“ feſthalten und ſie den ſonſtigen Erſcheinungen des
gewöhnlichen Lebens einordnen.
Aber dieſe Ebene bietet uns nur eine Richtigkeit in erſter
Annäherung. Eine geſteigerte Aufmerkſamkeit nötigt uns
ſofort, den Waſſerſpiegel als Teil einer ſchwachgebogenen
Kugelfläche anzuerkennen. Denn der See gehört zur irdi—
ſchen Globusfigur und iſt ihrer Krümmung unterworfen.
In dieſer zweiten Annäherung werden gewiſſe Beobachtungen
erſt ermöglicht und verſtändlich, die auf Grundlage der erſten
zu Widerſprüchen führen müßten.
Dieſe zweite Annäherung könnte ausreichen, wenn unſer
Planet wirklich eine Kugel wäre. Wir wiſſen aber, daß die
Erde mit ihrer polaren Abplattung von der Kugelform ab—
weicht und die Geſtalt eines Rotationsellipſoides zeigt. Auch
hiervon muß unſer Binnenſee Notiz nehmen, ganz unab—
hängig von ſeiner Größe oder Kleinheit. Er darf im Flüſ—
ſigkeitsſpiegel nur wiederholen, was die Allgemeinfigur vor—
ſchreibt, und ſo ergibt ſich als dritte Annäherung: der See
wölbt ſich als Teil einer ellipſoidiſchen Fläche.
Und noch immer ſind wir nicht bei der genaueſten Ge—
178
nauigkeit angelangt. Denn wir müſſen weiterhin noch die
atomiſtiſche Struktur des Waſſers in Betracht ziehen. Unſer
geiſtiges Auge nimmt heute ſchon vorweg, was dem körper—
lichen noch entgeht, nämlich eine Atomlagerung an der Ober—
ſchicht, die den ſtetigen Zuſammenhang der Fläche überhaupt
aufhebt. Wir wiſſen nicht, was dieſe vierte Annäherung
uns bieten wird; wir können in ihr nur eine Anſchauungs—
form mutmaßen, der gegenüber die vorhergehenden, Ebene,
Kugel, Ellipſoid als Vorläufigkeiten zu gelten haben, als
kurzgefaßte, ungenaue Bezeichnungen für höchſt verwickelte
Gebilde.
Die uns bekannten Naturgeſetze verhalten ſich fortgeſetzter
Prüfung gegenüber wie jener Seeſpiegel. So wie ſie ermittelt
wurden und zuerſt in die Lehrbücher übergingen, beanſpruchen
ſie in der Regel nur den Wert einer erſten Annäherung.
Bei verſchärfter Prüfung werden weitere Annäherungen er—
forderlich, das will ſagen: das Geſetz in ſeiner bekannten
Form hält nicht dicht, zeigt Lücken, durch die gewiſſe Aus—
nahmen ſchlüpfen können, iſt überhaupt nur Interimsgeſetz,
vorbehaltlich weiterer Paragraphen, die erſt eine geſteigerte
Genauigkeit ermöglichen ſollen.
Solche Geſetze ſtehen vor der verſchärften Frage wie nicht
ganz taktfeſte Zeugen vor Gericht. Man kann ihnen die Eid—
fähigkeit nicht abſprechen, denn ſie ſprechen die Wahrheit;
nur nicht die volle Wahrheit; ſie verſchweigen Einzelheiten,
nicht in der Abſicht, einen Irrtum hervorzurufen, aber ohne
die innere Kraft, jeden Irrtum auszuſchließen. Als derartige
bedingte Geſetze haben ſich zumal die Gasgeſetze erwieſen,
wie fie von Dalton, Mariotte, Gay-Luſſac formuliert wur—
den; ferner das Wärmegeſetz von Dulong und Petit, die
Geſetze der Leitfähigkeiten von Wiedemann-Franz und Lo—
e
179
renz, im weiteren überhaupt die mechaniſchen Geſetze, jo:
bald raſche Bewegungen kleinſter Maſſen in Frage kommen.
Es ſind, wie man wohl heute in anderem Zuſammenhange
ſagt, Mantelgeſetze, mit Mänteln, die in Ewigkeiten zu halten
ſchienen, deren Nähte aber doch allmählich auseinander—
platzen.
Sogar Newtons Gleichungen als Ausdruck der klaſſiſchen
Schwerkraftslehre haben daran glauben müſſen. Sie ſind
„erſte Annäherungen“ geworden, ſeitdem der gewaltige For—
ſcher Albert Einſtein mit ſeiner eigenen Gravitationstheorie
eine weitere Annäherung gefunden und damit vormals un—
durchdringliche Rätſel am Himmelsbogen wie durch einen
Zauber entſchleiert hat.
Und über das Gebiet der Phyſik hinaus wird der große
Begriff ſeine große Macht äußern, wenn er in die Gebiete
des reinen Erkennens, der Ethik und Aſthetik übergreift, wenn
wir in den gültigen Geſetzen des Denkens und Empfindens
über das Zunächſt-Wahre vorſchreiten werden zu verborgenen
Wahrheiten, nach dem Prinzip der Annäherung, welches
nicht rechthaberiſch umſtößt, ſondern verfeinert, neue Mög—
lichkeiten erſchließt. Ja ſelbſt das ſicherſte vom Sicheren, die
Mathematik, wird ſich der Betrachtungsart der Annäherung
nicht verſchließen dürfen, nicht nur in Zahlen — dieſe Arbeit
beſorgt ſie ja ſelbſt ſeit Urzeiten — ſondern in ihren grund—
legenden Lehren. Die Anfänge hierzu liegen vor, weitere
Wege hat Vaihinger in ſeiner herrlichen „Philoſophie des Als
Ob“ gewieſen. Dann könnte ſich der Kreis einmal völlig
ſchließen, anſcheinend in einem fehlerloſen Zirkel, — denn
was ſollte genauer ſein als das Genaueſte? —, und doch mit
einem neuen gewaltigen Ausblick auf die Relativität jeder
Erkenntnis.
180
Das Heraklitiſche „Alles fließt“ wäre dann zu ergänzen
in einem „Alles wankt, ohne zu ſtürzen“. Auf beweglichen
Unterbauten erſter und zweiter Annäherungen werden dritte
und vierte errichtet, ohne Sorge um die Tragfähigkeit. Es
hat ſich gezeigt, man kommt höher, wenn man aufwärts
baut, als wenn man nur immer an alten Fundamenten
mauert und in die Breite arbeitet. Und vielleicht läßt ſich auf
dieſe Weiſe, über alle Zweifel hinweg, einmal ein feſter Punkt
gewinnen, der Punkt, den der Mechaniker Archimedes er—
ſehnte, um die Erde, und den die Erkenntnis erſtrebt, um den
Irrtum aus den Angeln zu heben.
181
Der Alpdruck
Das Wörtchen „vielleicht“ müßte am Anfang und am
Ende der Betrachtung ſtehen. Iſt dies alles, was wir ſchau—
dernd und bewundernd hören, ſchauen und fühlen, was uns
durchbebt und erhebt, vielleicht nur ein Traum? Steckt
hinter der tauſendmal gebrauchten Sprachwendung „man
faßt ſich an den Kopf“ vielleicht mehr als eine ſymboliſche
Bewegung? vielleicht der ernſthafte Verſuch, einen Alpdruck
abzuſchütteln, der aller Wirklichkeit zum Trotz doch nur
traumhaft vorhanden wäre?
Dies Wörtchen „vielleicht“ hieß urſprünglich im Mit⸗
telhochdeutſchen ſo viel wie „ſehr leicht“ und bezeichnete einen
gewiſſen, nicht unbeträchtlichen Grad der Wahrſcheinlichkeit.
Es verlor den Wahrſcheinlichkeitswert, um nur eine loſe
Möglichkeit anzudeuten, die der ſchweifende Gedanke für die
Dauer einer Sekunde berührt. Nicht auf länger. Wir glau=
ben an die Wirklichkeitswelt, wir halten an der Gegenſtänd—
lichkeit des wachen Zuſtandes feſt und ſind uns des ſpieleri—
ſchen Gegenſatzes bewußt, wenn uns trotzdem einmal der Ge—
danke durchzuckt: vielleicht iſt es doch nur ein Traum?
Bis uns dann einmal der Eigenſinn überfällt und uns
nötigt, der flüchtigen Frage halt zu gebieten. Vielleicht ent—
ſinnen wir uns dabei, daß heute gewiſſe Denkmöglichkeiten
vorhanden ſind, die bei den Urvätern nicht einmal als hu—
182
r
ſchende Schatten vorhanden waren. Wir denken daran, daß
| die Schwerkraft in der Natur verſchwinden, daß die Gerad—
linigkeit des Lichtſtrahls aufhören könnte. Solche „vielleicht“
hat es früher nicht gegeben. Aus allen Ecken der neueſten
Naturwiſſenſchaft ſtrömen uns die Unmöglichkeiten entgegen,
die plötzlich das Geſicht der Möglichkeit, ja der Wahrſchein—
lichkeit annehmen. Man darf das Undenkbare nicht mehr ab—⸗
lehnen. Das ſcholaſtiſche, ehedem fo widerſinnige: „Credo
quia absurdum“ hat angefangen, wiſſenſchaftlichen Grad
zu gewinnen.
Alſo die ſcheinbar ſo törichte und ſonſt nie ſtandhaltende
Traumfrage erhält den Geſtellungsbefehl, ſoll gemuſtert und
unterſucht werden. Zunächſt muß ſie ſich entkleiden, und
wenn ſie die Gewandung abgeworfen hat, ſteht das nackte
„Ich“ vor uns, das Bewußtſein der eigenen Perſönlichkeit.
Weder Ariſtoteles, noch Kant, noch Fichte haben an ihm ge—
zweifelt. Aber von neueren, ſehr bedeutenden Philoſophen
iſt dem ſicher begrenzten „Ich“ ſcharf zugeſetzt worden, ſo
ſcharf, ſo erfolgreich, daß man allen Ernſtes behaupten darf:
in abſehbarer Zeit wird dieſes „Ich“ als wiſſenſchaftliche
Beſtimmtheit ausgeſpielt haben.
Vorläufig exiſtiert es noch, erfreut ſich aller bürgerlichen
Rechte, wird von ſich ſelbſt anerkannt und ſpinnt ſeine Er—
innerungen in einem regelmäßigen Wechſel zwiſchen Schlaf
und Wachen. Solange der Schlaf vorhält, alſo etwa in einem
Drittel des Lebens — fo ſagen wir im Wachen —, verſagt die
Kontrolle des richtigen Denkens. Die Hauptbeſtimmungen
nach Raum, Zeit und Urſächlichkeit ſind aufgehoben. Wo—
her wiſſen wir das? Weil der Moment des Aufwachens ein—
tritt, in dem ſich die verlorenen Denkfunktionen wieder pünft-
lich zur Stelle melden.
2
;
—
4
183
Aber während wir dieſen ſicheren Schluß ziehen, fchließt
ein Drittel der Menſchheit anders. Die fünfhundert Mil—
lionen Menſchen, die eben jetzt ſchlafen, ſind, ſofern ſie träu—
men, vom Gegenteil feſt überzeugt. Jeder von ihnen hat ſein
eigenes „Ich“, und dieſes träumende Ich zweifelt nicht im
geringſten an ſeiner Gegenſtändlichkeit, an der Richtigkeit
ſeiner Raum- und Zeitorientierung, an ſeinen Verknüpfungen
von Urſache und Wirkungen, kurz an der Wahrheit und Wirk—
lichkeit ſeiner Erlebniſſe.
Es iſt durchaus kein waghalſiger Gedanke, anzunehmen,
daß die phyſiologiſche Natur der Menſchen ſich verändern
könnte. Stellen wir uns ein ſtetig wachſendes Schlafbedürf—
nis vor, ſo müſſen wir Menſchen für möglich halten, die 16,
20, 23 Stunden am Tage ſchlafen. Und bei weiterem Ver—
folg bis ins Extrem landen wir, ohne in Sinnwidrigkeit zu
verfallen, bei einer veränderten Welt: auf einen Menſchen,
der wacht und richtig denkt, kämen zur gleichen Zeit tauſend
irrende Träumer. Auf dieſem Punkte beginnt die Regel der
Wahrſcheinlichkeit ein Wörtchen mitzureden: Warum ſoll die
Meinung des Einen als Kontrollinſtanz ausſchlaggebend ſein
gegen den Widerſpruch der tauſend? Liegt nicht allzeit das
Normale, das Gültige bei der großen Anzahl? Als das Ent—
ſcheidende muß doch die überwiegende Regel angeſprochen
werden, nicht die vereinzelte Ausnahme.
Wie immer ſteht der Einwand bereit: auch jene Tauſend
werden aufwachen und erkennen, daß ſie in Viſionen verſpon—
nen waren. Erkennen — das heißt eine Überzeugung gewin—
nen, mit einer Deutlichkeit, die dieſer Minute angehört. Aber
in der Vorminute, oder in der nächſten Stunde herrſcht eine
andere Deutlichkeit, und der logiſche Zirkelſchluß iſt fertig:
wir erkennen dies, weil es wahr iſt, und es iſt wahr, weil
184
wir es fo erkennen. Der Rechtsſtreit ift niemals zu ſchlichten;
denn erſtens iſt der Richterſtuhl unbeſetzt, und zweitens fehlt
immer die eine Partei, während die andere deklamiert und
ihren Standpunkt vertritt; bis ſie wiederum verſchwindet und
die Gegenpartei mit genau derſelben Beredſamkeit das Gegen⸗
teil behauptet. Und um die Unmöglichkeit dieſes Prozeſſes
zu vollenden: beide Parteien ſind innerlich und äußerlich iden—
tiſch, aber antipodiſch entgegengeſetzt, ſie erblicken ſich nie, ſie
können immer nur eines: zeugenlos, gegenſtandslos, beweis—
los gegeneinander in die Luft ſchwören!
Das Traum⸗Ich iſt feiner Sache ganz ſicher. Sein Krieg
zeigt dieſelbe Grauſamkeit wie der der Wachenden, ſein Frie—
den übertrifft vielleicht an Holdſeligkeit jedes Idyll, das wir
in glücklichen Zeiten jemals erlebten. Ich, der ich jetzt und
hier ſchreibe, habe mir oft genug im Traum die Frage vorge—
legt: träumſt du vielleicht? Ja, ich verfuhr noch gründlicher:
alle Argumente aus Schriften und eigenem wachen Denken
ſtanden mir zur Verfügung mitſamt allen Erwägungen nach
Möglichkeit und Wahrſcheinlichkeit, und ſorgſam unterſuchte
ich — um etwa auf einen beſtimmten Traumfall zu kommen:
du befindeſt dich hier vor dem Dogenpalaſt in Venedig;
wäre es nicht denkbar, daß du dich in nächſter Minute in
deinem Berliner Bettlager entdeckteſt? Und mit der größten
Beſtimmtheit entſchied ich: Nein! ſo etwas mag im Anſchluß
an einen Traum paſſieren, aber nicht hier, nicht in der Wirk—
lichkeit; wie könnte ich ein geträumtes Venedig mit dieſem
gegenſtändlichen verwechſeln? mit dieſem wirklichen Dogen—
palaſt? Lächerlich, auch nur eine Sekunde an ſeiner Realität
und an meinem Aufenthalt vor ihm zu zweifeln. Ja, in der
verfloſſenen Nacht, als ich im Hotel Garibaldi lag und ſchlief,
da habe ich geträumt, und in der nächſten Nacht werde ich
185
wahrſcheinlich wieder träumen, irgendwelches konfuſe Zeug,
das von der Klarheit dieſer Gegenwart himmelweit entfernt
iſt.
Der Kellner des Café Quadri auf dem Markusplatz
bringt mir eine Schale Kaffee, eine höchſt poſitive Taſſe mit
gar nicht fortzuleugnendem Inhalt. Neben mir ſitzt Goethe,
der mir Bruchſtücke aus ſeiner italieniſchen Reiſe erzählt.
Blitzartig durchfährt mich ein Zweifel. Lebt denn Goethe
noch? Eigentlich ſollte er tot ſein. Ach ja, richtig, er iſt ja in
Weimar geſtorben, und in Weimar iſt er auch tot und be—
graben. Aber hier in Venedig iſt er lebendig, ſonſt würde er
ja nicht neben mir ſitzen und Kaffee trinken.
Merkwürdig bleibt es trotz alledem! Wie kam ich eigent—
lich mitten im Kriege ins italieniſche Feindesland? Ich finde
hierfür die ganz glaubhafte Erklärung: einmal iſt ja der Krieg
ſchon ſeit zehn Jahren vorbei, dann war ja auch der Krieg
niemals wirklich, ſondern nur geträumt, und ſchließlich ge—
hört ja Venedig auch gar nicht zu Italien. Ich weiß ja ganz
genau, wie ich hierher gefahren bin: mit dem Hapagſchiff
Imperator von Cuxhaven nach Luzern, und dicht daneben
liegt doch Venedig am Vierwaldſtätter See. In der Traum—
logik hat das alles ſeine Richtigkeit.
Es iſt auch ganz in der Ordnung, daß der Markusdom da
drüben gar nicht ausſieht wie der Markusdom, ſondern wie
der Bahnhof von Baſel. Das muß ſo ſein und iſt immer ſo
geweſen. Baedeker macht doch ausdrücklich darauf aufmerk—
ſam. Die ganze Architektur des Platzes mit den Prokuratien
zur Seite erhält dadurch erſt ihren ſtilrichtigen Abſchluß. Und
gleichzeitig liefert mir das Bauwerk den vollkommenen Be—
weis für die Tatſache des Wachens: Auf dem Ferngleis der
Markuskirche bin ich ja angekommen, ich habe ja ſogar noch
186
W *
Handgepäck drüben beim Biſchof. Das iſt alſo die volle Wirf-
lichkeit ohne einen Schimmer von Traumphantaſie.
Immerhin, um den Beweis ganz ſchlüſſig zu machen,
bringe ich ſelbſt das Geſpräch auf dieſe Frage: Sagen Sie,
Herr von Goethe, halten Sie in der Angelegenheit von Schla—
fen und Wachen eine Täuſchung überhaupt für möglich? Hal-
ten Sie es für denkbar, daß ich jetzt nur träume, während
ich mit Ihnen in Venedig dieſe Frage erörtere?
Goethe zog eine Reihe beſchriebener Blätter aus der Taſche,
breitete ſie aus und verwies mich auf den Inhalt. Da würde
ich alles finden, was ich zu erfahren wünſchte. Ich konnte
aber die Zeilen und die Worte nicht zuſammenbringen. Gleich—
zeitig begann das Glockenſpiel von San Marco zu läuten
und ſetzte ſich automatiſch in das Spiel meiner Weckeruhr
fort. Eine Sekunde ſpäter entdeckte ich mich wirklich auf
meiner Berliner Bettmatratze.
Alſo doch geträumt?! und welche Intelligenz bürgt dafür,
daß nicht wenige Minuten darauf ein neues „Alſo doch“
die neue Wirklichkeit durchſchneidet?
Ich knipſte das Licht an und verſuchte mit müden Augen
zu leſen. Was da gerade auf dem Nachttiſche lag: es war
ein Band Calderon, und ich geriet an die Stellen: „Nichts
Ewiges kann das Glück uns geben, denn flücht'ger Traum
iſt Menſchenleben, und ſelbſt die Träume ſind ein Traum“,
— — „da doch auf dieſer Welt, Clotald, nur alle träumen,
die da leben!“
Calderon, Grillparzer und viele andere Dichter bis zu
Strindberg, Widmann und Gerhart Hauptmann haben die—
ſen Gedanken in Ernſt und Laune behandelt, mit ihm ge—
ſpielt, neue intelligible Welten aus ihm gebaut. Ja, man
kann wohl behaupten, daß keines Dichters Schaffen ihm
187
völlig auszuweichen vermochte, denn er begreift in ſich die
äußerſt letzte aller letzten Fragen. Der Metaphyſiker landet
ihr gegenüber beim Verzicht. Die Lehre von einer Traum—
haftigkeit der Wirklichkeitswelt iſt in keiner Weiſe logiſch zu
widerlegen, ſo formt Mauthner den Verzicht unter der vollen
Wucht des großen Fragezeichens. Wir ſchließen mit einer
Waghalſigkeit, die in keinem andern Denkakt ihresgleichen
findet, aus dem einzigen uns bekannten Falle, aus unſerer
eigenen Exiſtenz, auf die ganze Welt, und werden immer
wieder darauf geſtoßen, daß ſelbſt dieſes uns einzig wirklich
Bekannte in zwei gegenſätzlichen Erſcheinungen auseinander—
klafft. Das große „Ignorabimus“ des Du Bois-Reymond
ſteht nirgends ſo drohend aufgerichtet wie in der Frage:
Träumen wir, oder wachen wir?
Unſer Anfangswort „Vielleicht“ neigt ſich ihr gegenüber
ſtark auf die Seite der Sinnloſigkeit, denn kein Wahrſchein—
lichkeitsgrad, man ſetze ihn beliebig groß oder klein an, will
auf die Frage paſſen. Ein Philoſoph des achtzehnten Jahr:
hunderts hat geſagt: was nur wahrſcheinlich richtig iſt, das
iſt ganz beſtimmt falſch. Wie falſch iſt dann erſt das, was
ſprachlich auf ein Vielleicht hinausläuft, nämlich die Frage
ſelbſt. Sie iſt falſch geſtellt, in ſich ſinnlos, ohne daß wir
die geringſte Möglichkeit beſäßen, ihr aus dem Wege zu
gehen oder ſie in andere Faſſung zu bringen. Nichts als den
Ausdruck der Denkverlegenheit bedeutet dieſes Vielleicht. Und
wenn einer von uns bisweilen in ſchreckhaftem Erſtaunen
von einem Zweifel übermannt ward: vielleicht träume ich
nur dieſen Krieg? — ſo konnte er mit derſelben Berechtigung
von der Traumüberzeugung ausgehen und fragen: Vielleicht
iſt dieſer Krieg trotz alledem eine Wirklichkeit?
188
Die Hemmung und die Forderung
Ein Boot fährt bei ſtarkem Strom auf dem Rhein von
Bonn nach Köln. Maſchinenkräfte ſind nicht vorhanden,
das Fahrzeug läßt ſich treiben. Der Bootsherr verfügt über
gutes Meßwerkzeug und über ein rechtwinkliges Segel von
einfachſter Spannungsform. Alleiniger Zweck der Reiſe iſt
die Feſtſtellung eines Zuſammenhanges, der auf den erſten
Blick gar nichts Beſonderes zu bieten ſcheint, der ſich indeſſen
bei ſchärferer Beobachtung als höchſt merkwürdig, man
könnte ſagen als wunderbar erweiſen wird.
Der Bootsherr macht die Reiſe dreimal, jedesmal in der
nämlichen Richtung von Bonn nach Köln. Zuerſt überläßt
er ſich bei Windſtille ausſchließlich der Triebkraft des Waſ—
ſers. Beim zweitenmal ſetzt ein mäßiger Südwind ein, der
das Segel bläht und die Fahrt beſchleunigt. Bei der dritten
Fahrt legt ſich Nordwind in das Segel und wirkt der Fahrt—
richtung entgegen, verzögernd.
Strom und Windſtärke find, abſolut genommen, nach
Ausweis der Meſſungen dieſelben geblieben, nur daß ſich
der Wind abwechſelnd in poſitivem und in negativem Sinne
eingeſetzt hat. Daraus folgt, oder ſagen wir gleich: ſcheint
zu folgen, daß das Boot mit dem Winde genau ſoviel Ge—
ſchwindigkeit gewinnt, als es gegen den Wind verliert. Das
wäre an der Dauer der einzelnen Reiſen mit Sicherheit feſt—
189
zuſtellen. Die erſte Fahrt, die ſegelloſe, müßte nach Zeit
gemeſſen zweifellos den Mittelwert zwiſchen den beiden ans
deren ergeben.
Das iſt eigentlich ſo ſelbſtverſtändlich, daß manche gar
nicht begreifen werden, weshalb es überhaupt zur Erörterung
geſtellt wird. Und dieſe Manchen werden ſehr erſtaunt ſein,
zu erfahren, daß es bei aller Selbſtverſtändlichkeit falſch
iſt. Unſer Bootsherr ſtellt nämlich durch außerordentlich
ſcharfe Zeitvergleichung feſt: Der Gegenwind wirkt ſtärker
als der Förderwind; bei ſonſt ganz gleichen Kräfteverhält—
niſſen überwiegt die Hemmung!
Die hierbei auftretenden Größenunterſchiede ſind freilich
ſehr klein. Aber ſelbſt dort, wo ſie ſich der einfachſten Beob—
achtung entziehen, ſind ſie ſicher vorhanden und der Be—
rechnung zugänglich. Und ſo winzig ſie auch erſcheinen mö—
gen, ſo gewaltig iſt die Rolle, die ihnen die neueſte Wiſſen—
ſchaft im Getriebe des Erkennens zugewieſen hat. In dem
übergewicht der Hemmung liegt zuerſt ein ſcheinbarer Wider—
ſinn, der wiederum in ſeinem tiefſten Grunde den Schlüſſel
zu den größten, vielleicht zu den letzten Geheimniſſen der
Natur birgt. Schwere Abenteuer des Gedanken- und Sach—
erperimentes liegen auf dieſem Wege, deſſen Windungen
ſchließlich zur neuen Relativitätstheorie führen.
Der Verlockung, dieſen Weg zu beſchreiten, widerſtehen wir
einſtweilen, um uns lediglich mit dem Prinzip der überwie—
genden Hemmung zu beſchäftigen. Denn um ein Prinzip
handelt es ſich hier, nicht um das zufällige Ergebnis einer
Bootfahrt auf dem Rhein. Die Natur entwickelt hier keine
beſonderen Launen, ſondern befolgt eine Regel, unbekümmert
darum, ob dieſe Regel bei erſter Wahrnehmung einleuchte
oder nicht. Der Beobachter könnte ſeinen Verſuch mehrfach
190
a „ eee
eee
abändern, z. B. mit Maſchinenkraft die nämliche Strecke
flußabwärts und flußaufwärts fahren, dann würde die Waſ—
ſerſtrömung je nach der Richtung helfend oder aufhaltend
einſetzen. Und ein Kontrollverſuch könnte am Ufergelände
ſtattfinden, im Auto, mit dem Winde und gegen ihn. Immer
bleibt die Tatſache beſtehen, daß die Mitwirkung von der
Gegenwirkung übertroffen wird, daß die Hemmung ſtärker
ausfällt als die Förderung.
Dieſes ſeltſame Mißverhältnis bleibt natürlich nicht auf
Schiff und Auto beſchränkt; es ſetzt ſich vielmehr überall
durch, wo ein Für und Gegen, ein Hin- und Her-Effekt auf⸗
tritt, nicht nur bei Bewegungen, ſondern allgemein. Der
Kern der Erſcheinung läßt ſich mit bloßer Wortbetrachtung
nicht recht an die Oberfläche bringen, ſehr bequem aber mit
einigen Zahlen, die ſich ganz einfach aus einem Vorgang der
Alltäglichkeit ergeben. Ich entnehme fie mit einer durch die Zeit⸗
umſtände gebotenen Sachveränderung einem von Dr. Hans
Witte aufgeſtellten Beiſpiel in deſſen Werk: Raum und Zeit
im Lichte der neueren Phyſik.
Ein Raucher bezieht allwöchentlich 120 Zigaretten, und
zwar 60 Stück vom Händler A und 60 Stück vom Händler
B. Der Preis iſt bei beiden Verkäufern der nämliche, 10
Pfennig für je 5 Zigaretten. Eines Tages ſchlägt A ſeinen
Preis auf und verabfolgt nur noch 4 Zigaretten für 10 Pfen—
nig, während B um genau ebenſoviel billiger liefert, näm—
lich 6 Zigaretten für 1o Pfennig. Für den Raucher gleicht
ſich dies anſcheinend vollkommen aus, er unterliegt einer
Hinz und Herwirkung von gleichen Abmeſſungen.
Aber feine Rechnung ſtimmt nicht. Er hat nach der Preis—
veränderung an den Händler A für je 60 Stück 1,50 Mark
zu zahlen, an B für ebenſoviel 1 Mark, zuſammen alſo
191
2,50 Mark; während er feinen früheren Bedarf in der Woche
mit 2,40 Mark zu decken vermochte.
Das Beiſpiel entbehrt der Feinheit, es verdeutlicht aber
an einem grobkörnigen Vorgang, daß in dem Hin und Her
noch etwas anderes zum Ausdruck kommt als der zu aller—
erſt wahrgenommene Gradunterſchied. Setzt man ſtatt der
beiden Händler den Hemmungswind und den Förderwind,
ſo verfeinert und vertieft ſich die Aufgabe ſchon merklich,
und die Schwierigkeit, den Zuſammenhang zu erkennen,
wächſt in gleichem Verhältnis. Geht man in der Analogie
noch weiter, indem man den atmoſphäriſchen Wind durch
den ſtrömenden Ather, das Schiff durch einen Lichtſtrahl er—
ſetzt, ſo ergeben ſich die wunderbarſten Probleme, die in
letzter Ausfolgerung zu einem neuen phyſikaliſchen Weltbild
führen.
Der ungleiche Widerſtreit zwiſchen Hemmung und För—
derung kann aber vielleicht auch in ganz anderen Betrach—
tungen Bedeutung gewinnen; nämlich außerhalb der meß—
baren phyſikaliſchen Kräfte im Bereiche der Motive, die un—
ſer Tun und Streben beeinfluſſen. Nur loſe Andeutungen
können nach dieſer Richtung gegeben werden, denn wir nä—
bern uns hier einem unerforſchten Gebiet und find, weit ent—
fernt von irgendwelcher Gewißheit, auf dämmernde Ahnun⸗
gen angewieſen.
Thomas Buckle bemerkt in feinem berühmten Ziviliſations—
werk, daß jede große Reform nicht darin beſtanden habe, et—
was Neues zu tun, ſondern etwas Altes außer Kraft zu
ſetzen; „die wertvollſten Geſetze ſind die Abſchaffungen frü—
herer Geſetze geweſen, und die beſten Geſetze, die gegeben
worden ſind, waren die, welche alte Geſetze aufhoben.“ Buckle
bringt zum Beweiſe gewiſſe alte Religions-, Korn- und Wu⸗
192
chergefeße, deren Väter mit Motiven in förderndem Sinne
arbeiteten, da ja andernfalls ihr Paragraphenbau als aus
genſcheinlich und unbedingt zweckwidrig gar nicht hätte zu=
ſtande kommen können. Buckle ſieht die Hemmungen und
erkennt ſie durchweg als überwiegend. Ja, er geht noch wei—
ter: er nähert ſich bereits jener naturgeſetzlichen Wertung,
daß ſchon bei anſcheinend ganz gleicher Verteilung die Hem—⸗
mung den Ausſchlag gibt. Möglich, ja wahrſcheinlich, daß
er die Folgerungen übertreibt, wie faſt jeder Erkenner und
Vorahner eines neuen Prinzipes. Dies zu unterſuchen, würde
meine Zuſtändigkeit überſchreiten. Ich greife nur Buckles
Grundmeinung als eine Tatſache heraus und als einen Beleg
dafür, daß ein bedeutender Kopf geneigt war, den Gegen—
gründen unter allen Umſtänden ein ſtärkeres Gewicht zuzu—
ſprechen als den Gründen.
Leider kann man beide nicht auf der Präziſionswage abwä—
gen, ebenſowenig wie andere Motive. Könnte man etwa
Dank und Undank mit der Wage meſſen, ſo würde ſich bei
Übertragbarkeit des Hemmungsgeſetzes auf ſeeliſche Vor—
gänge folgendes ergeben: beim Widerſtreit der Beweggründe
und bei anſcheinend gleichem Kräfteſpiel ſetzt ſich der Undank
ſinnfälliger durch, dem fördernden Dank fehlt ein Kraft—
moment, das dem Undank als einer Hemmung zur Verfü—
gung ſteht; nicht die Verteilung der Anfangsmotive iſt das
Entſcheidende, ſondern jenes tückiſche mechaniſche Geſetz, das
aus dem Gleichgewicht der Urſachen noch ein Ungleichgewicht
der Wirkungen herauszuholen verſteht.
Befragen wir die Lehrmeiſterin Natur, ſo gibt ſie uns
eine Antwort, die zwar den Sinn des Geſetzes nicht ent—
rätſelt, aber ſeine Macht mit beredten Zeichen anerkennt.
In zahlloſen Mengen verſtreut ſie ihre Keime zur Förde—
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 13
193
rung der Art- und Gattungserhaltung, mit einer maßloſen
Freigebigkeit, die ihr oft genug von Naturforſchern den Titel
einer Verſchwenderin eingetragen hat. Sie will damit aus⸗
drücken, daß die Hemmung — die Gefahr im Kampf ums
Daſein — nur dann wettgemacht werden kann, wenn die
Förderung mit einer alle Begriffe überſteigenden Wucht ein—
ſetzt. Und da die Natur eine gute Rechnerin iſt, ſo verfährt
ſie dabei progreſſiviſch, in einer ſprunghaft anſteigenden
Reihe. Sie verleiht einem einzigen Karpfen eine ſo ungeheure
Eiermitgift, daß ſchon lange vor der zehnten Geſchlechts—
folge der Nachwuchs das Gewicht der Erdmaſſe übertreffen
müßte, ſelbſt wenn zwiſchendurch Trillionen in Gefahren
zugrunde gingen. Und mit einem Hinweis auf den tatſäch—
lichen Beſtand erläutert ſie uns, daß ein einfaches, klar zu
überblickendes Verhältnis zwiſchen Hemmung und Förderung
nicht beſteht. Nur den Verdacht gilt es zu ſchärfen gegen
jede mögliche Hemmung, und der Vorſorge jedes erdenkliche
Größenmaß zu gewähren; es kann niemals hoch genug ge—
griffen werden und wird erſt dann zweckentſprechend aus—
fallen, wenn es in erſter Anlage ausſieht wie eine Über—
treibung. Und aus dem Beiſpiele der Natur, die Hemmun—
gen ſchuf, um ſie mit allem Aufgebot der Verſchwendung zu
bekämpfen, läßt ſich vielleicht jene verwickelte Regel in ganz
einfacher Form ableiten. Es iſt mehr als eine wortſpieleriſche
Selbſtverſtändlichkeit, wenn man behauptet: Nichts iſt der
Förderung ſo bedürftig, wie die Förderung.
194
Gedanke, Blitz und Chronometer
Das Fünfzig⸗Jahr⸗Jubiläum, ehedem nicht üblich, ift mit
geſteigerter Metronomiſierung des Lebens ein anerkanntes
Recht aller Menſchen geworden, die etwas geleiſtet haben und
ſich feiern laſſen wollen. Dieſes Menſchenrecht ſoll hier für
eine Entdeckung in Anſpruch genommen werden, die trotz
ihrer Größe und Wichtigkeit im Sturm unſerer Tage leicht
überſehen werden könnte.
Vor ziemlich genau fünfzig Jahren iſt man nämlich dem
Gedanken auf die Sprünge gekommen.
Er hatte ſich bis dahin, ſeit Urbeginn der Welt, mit dem
Blitz meſſen dürfen, anerkanntermaßen und ſprichwörtlich.
Da gab es gar nichts zu diskutieren und zu beweiſen. Es war
von allem, was einleuchtet, das Selbſtverſtändlichſte. Dich-
ter wie Philoſophen rühmten den Gedanken wegen ſeiner
Schnelligkeit, und der geſunde Menſchenverſtand gab ſeinen
Segen dazu. Der Gedanke war das ſchnellſte aller Dinge,
er hielt, modern geſprochen, den Rekord. Und er muß ſehr
erſtaunt geweſen ſein, als ihm vor fünfzig Jahren einige
bedeutende Forſcher mit dem Chronometer in der Hand ein
recht ſaumſeliges Tempo nachwieſen.
Wahrſcheinlich wird ſich auch heute noch bei der großen
Mehrzahl der Leſer ein ſtarker Widerſpruch melden: Was
ſoll das heißen? das Hoheitsrecht der abſoluten Geſchwindig—
7
195
keit ſoll bei unſerem Gedanken angetaſtet werden? Aber
der braucht doch überhaupt keine Zeit! eigentlich müßte ſich
der Blitz noch geſchmeichelt fühlen, wenn man ihn zum Ver—
gleich heranzieht. Der iſt eine elektriſche Entladung und kann
auf dem durcheilten Wege gemeſſen werden. Wer aber ſollte
den Gedanken meſſen?
Die Antwort lautet ſchlicht und ſachlich: das Experiment.
Der Gedanke mußte ſich auf den Leidensweg begeben; er
wurde, wie es in der alten Folterordnung heißt, „peinlich
befragt“. Und die Männer, die dem wiſſenſchaftlichen In—
quiſitionsamt vorſtanden, waren, mit Einrechnung der Vor⸗
läufer: Beſſel, Pouillet, Helmholtz, Donders, Hirſch, de Jaa⸗
ger. Noch vor achtzig Jahren hatte der hochgelobte Mei—
ſter der Phyſiologie Johannes Müller die Anſicht ver—
treten: Wir werden wohl niemals die Mittel gewinnen, um
die Geſchwindigkeit der Nervenwirkung zu ermitteln. Ein
Menſchenalter darauf war dieſes „Unmöglich“ — mit ſo
vielen anderen — verſchwunden, die Zeit zwiſchen Nervenreiz
und Signal war ermittelt, der Gedanke vom Anlaß bis zum
Ausbruch nach der Uhr kontrolliert. Und es ergab ſich da—
bei, daß der Gedanke vordem ganz ungeheuerlich überſchätzt
worden war. Seine unendliche Raſchheit ſchrumpfte auf ein
ſehr beſcheidenes Maß zuſammen: 30 bis 60 Meter in der
Sekunde, — das war alles!
Wie hätten jene Forſcher ihre Funde erſt ausgedeutet, wäre
ihnen bekannt geweſen, was wir heute durch unſeren Carl
Ludwig Schleich aus ſeinem „Schaltwerk der Gedanken“
erfahren haben: daß das Gehirn ſich ſelbſt unter die Lupe
zu nehmen vermag, daß die eine Hälfte des Gehirns die an—
dere in jedem Momente beobachten kann!
In einem abſchließenden Vortrage führte damals, vor
2
196
einem halben Jahrhundert, der Phyſiologe Profeſſor von
Wittich ungefähr folgendes aus: die Vorgänge im Gehirn
zwiſchen Bewußtſein und Wollen unterliegen zwar erheb—
lichen perſönlichen wie zeitlichen Schwankungen, fie brau—
chen aber jedenfalls Zeit, und dieſe iſt meßbar. Eine Ka—
nonenkugel legt in derſelben Zeit, die zwiſchen unſerer Emp—
findung und der ihr folgenden Willensäußerung verfließt,
etwa 300 Fuß, ein Adler 20 Fuß, das engliſche Rennpferd
und die Lokomotive 14 Fuß zurück. Der Gedanke blitzt nicht
mehr, denn ſelbſt im Höchſtmaß ſeiner Beſchleunigung wird
er von den Schwingen des Adlers weit überholt.
Die Schlußkette iſt hier noch nicht vollſtändig; das fehlende
chronometriſche Zwiſchenglied ergibt ſich aus einer Mitteilung
von Donders aus derſelben Zeit: Danach iſt der Gedanke
je nach den mitſpielenden Organen auf drei verſchiedene Zeit—
maße angewieſen. Sie betragen für die Sinnes werkzeuge:
Gefühl, Gehör und Geſicht ungefähr je ein ſiebentel, ein
ſechſtel und ein fünftel Sekunde.
Übertragen wir dies auf irgendein Beiſpiel aus dem täg⸗
lichen Leben. Jemand erhält einen unvermuteten Schlag.
Augenblicklich durchzuckt ihn ein Gedanke: du mußt dich
wehren; oder ausbiegen; oder die Flucht ergreifen; oder wi—
derſchlagen. Aber blitzartig geht dieſes Zucken nicht vor ſich;
der Gedanke braucht ein ſiebentel Sekunde, um fertig zu
werden, um die kleine Strecke von der Urſprungsſtelle des
Reizes bis zur Auslöſung einer Bewegung zu überwinden.
Ich muß geſtehen, daß ich die Angaben von Donders und
von Wittich zahlenmäßig nicht ganz in Übereinſtimmung zu
bringen vermag. Rechnen wir indes dreißig Meter Nerven—
leitung für die Sekunde, ſo gewinnen wir einen ziemlich
ſicheren Anhalt zum Vergleich der Geſchwindigkeiten, immer
197
vorausgeſetzt, daß wir das, was in den Erregungsleitungen
vorgeht, ohne weiteres als das Maß für das Tempo des Ge—
dankens anſetzen dürfen.
Mit dieſem nicht unerheblichen Vorbehalt würden wir leicht
feſtſtellen können, wie ſich der Gedanke zur elektriſchen Welle
verhält. Er müßte feine Geſchwindigkeit verzehnmillion⸗
fachen, um mit dem Blitz in Wettbewerb treten zu können.
Im natürlichen Verlauf der Dinge würde der menſchliche
Gedanke, wenn auch nicht vom Adler, ſo doch von der
Schwalbe eingeholt und von jedem Infanteriegeſchoß weit—
aus übertroffen werden; er ſtünde der Bewegung einer Gar—
tenſchnecke, ja ſelbſt der Unmerklichkeit im Wachstum eines
Grashalmes immer noch ſehr viel näher als dem Blitz, den
er vormals zu überflügeln vermeinte.
Welch ein Abſchwung, welch jähe Entthronung des Er—
habenſten im Geiſte, das zu all feinen anderen Vollkommen—
heiten auch die idealen Siebenmeilenſtiefeln brauchte, und
dem nun ganz gewöhnliche Fußgängerſohlen zugewieſen wer—
den!
Aber iſt es denn auch wirklich der „Gedanke“, der ſich
dieſe ungeheuerliche Bremſung gefallen laſſen muß? Oder
treibt hier eine Vertauſchung der Begriffe ihr Unweſen, die
eine Bedingung des Gedankens, einen molekularen Vorgang
im Organismus, als den Gedanken ſelbſt anſpricht?
Niemals war dieſe Frage brennender als heute, wo der
auf den Augenblick geſtellte Gedanke über weitgeſpannte
Schickſale unterſcheidet. Wenn wir uns den Feldherrn vor—
ſtellen, der nach einem empfangenen Sinneseindruck den
Gedanken formt, oder den Mann am Steuer, deſſen Be—
wegungsimpulſe in der Hand vom Gedanken regiert werden,
ſo erſcheint es uns ebenſo kleinlich wie unmöglich, daß hier
198
Maße zugrunde liegen ſollen, nach fünftel oder ſiebentel Se—
kunden. Der Blitz ſoll wieder in ſeine Rechte treten!
Und das geſchieht. Was die Phyſiologie erforſchte, bleibt
davon ganz unberührt. Sie maß nur das Meßbare, das
Zeitintervall zwiſchen dem Reiz und der vollendeten Wahr—
nehmung. Und wir brauchen nur das Experiment anders
zu geſtalten, um zu völlig anderen Ergebniſſen zu gelangen.
Wir denken an zwei Verſuchsperſonen, die über hundert
Meilen hinweg ein Ferngeſpräch halten. Wo iſt die Bes
grenzung ihrer Nerven? an ihrer Haut, in ihren Ohren, in
ihrem Hirn oder Rückenmark? ganz gewiß nicht. Solange
die Verbindung beſteht, bilden ſie eine Einheit, der Tele—
phondraht gehört jetzt zu ihrem Nervenſyſtem. Laſſen wir
es ſelbſt gelten, daß der Hörer den Bruchteil einer Sekunde
konſumiert, ſo iſt es doch der weit abgelegene Gedanke, der
den ſeinen hervorruft, und wenn deſſen Echo zum Sprecher
zurückſtrömt, ſo erlebt dieſer in ſich Gedankenphaſen, deren
Wandel alle Adler- und Geſchoßflüge weit hinter ſich läßt.
Denn der Sprecher denkt im Hörer, der Hörer im Sprecher,
und in die Geſchwindigkeitsberechnung muß ein Nerv von
hundert Meilen Länge eingeſetzt werden.
Wir brauchen aber gar nicht zwei Verſuchsperſonen, eine
einzige genügt vollkommen. Dieſe eine ſoll ihren Gedanken
in einem ganz beſtimmten Vorſtellungskreis ſchweifen laſſen.
Ich denke an einen Leuchtturm mit Drehfeuer. Der Kreis,
den der Lichtbalken beſchreibt, kann ſchon mit heutigen Mit-
teln bis zu 100 Kilometer Radius ausgedehnt werden. Die
Technik der Zukunft wird ihn erweitern, ſagen wir bis zu
1000 Kilometer Durchmeſſer, oder über 3000 Kilometer
Kreisumfang. Der Scheinwerfer werde von einer Rotier—
maſchine getrieben, die 200 Umdrehungen in der Sekunde
f 199
macht. In diefer Annahme ſteckt kein Widerſinn, nur ein
techniſches Problem. Iſt es gelöſt, ſo erhalten wir ein Dreh—
feuer, deſſen leuchtendes Ende mit einer Schnelligkeit von
600000 Sekunden-Kilometer über die Fläche ſauſt.
Das iſt „Über-Lichtgeſchwindigkeit“! Nun macht mein
Gedanke folgenden Weg: er denkt an die Ergebniſſe der
neueſten Phyſik, nach denen die Über-Lichtgeſchwindigkeit als
eine Unmöglichkeit erwieſen wird; wohlverſtanden: bei be—
wegten Körpern. Hier entdeckt er aber plötzlich, daß ſie
ſehr wohl durch eine Maſchine zur Erſcheinung gebracht wer—
den kann. Und wenn dieſer ſelbe Gedanke dem leuchtenden
Strahl⸗Ende nachgeht — und das iſt ihm ein leichtes —, fo er—
reicht er ſelbſt das Zeitmaß des Vorgeſtellten, alſo mehr als
die Lichtgeſchwindigkeit, das heißt, er überflügelt nunmehr
den Blitz und überhaupt alles, was im Weltall unter den
Begriff der Bewegung fällt.
Das eine iſt als Gedankenexperiment ebenſo zuläſſig, wie
das andere als Verſuch in der Arbeitsſtätte des Nerven—
forſchers, das eine ergibt eine philoſophiſche Richtigkeit, wie
das andere die phyſiologiſche. Beide Richtigkeiten beſtehen
widerſpruchslos nebeneinander, weil die Begriffsfaſſung des
„Gedankens“ in beiden Fällen eine andere iſt.
Dem Phyſiologen iſt er ein Bewußtwerden nach vorauf—
gegangenem Reiz, dem Philoſophen ein ſelbſtändiges Spiel
innerer Kräfte, deſſen Ablauf niemals nach dem Chrono—
meter beurteilt werden kann.
So hat alſo der große Johannes Müller mit ſeiner zuvor
genannten Anſage falſch prophezeit; aber er hätte nur ein
einziges Wort zu verändern brauchen, um in alle Ewigkeit
Recht zu behalten; man ſetze in ſeinem Spruch ſtatt „Ner—
venwirkung“: „Gedankenablauf“, und man erhält die un—
200
—
meßbare, weil unermeßlich große Geſchwindigkeit, die aller
Zeiten und Räume ſpottet.
Wie es übrigens ſchon ein gewiſſer Kantianer namens
Schiller in beträchtlicher Wortſchönheit ausgeſprochen hat,
nicht der ſchönen Worte wegen, ſondern um das Denken als
eine Angelegenheit des Weltgeiſtes vom Zwange der Kons
trolle zu entbinden:
„Hoch über der Zeit und dem Raume webt
Lebendig der höchſte Gedanke!“
201
Der unſterbliche Cajus
Der Sinn des Daſeins und der Sinn des Todes, urewige
und in unſern Tagen mit beſonderem Nachdruck geübte The⸗
men, münden letzten Endes in den allbekannten Schulfall
der Logik: Alle Menſchen müſſen ſterben; Cajus iſt ein
Menſch; folglich muß Cajus ſterben. Nichts iſt einleuch-
tender. Der unbedingt ſterbliche Cajus hat in dieſem Ge—
dankenſchema — ſonſt nirgends — die Unſterblichkeit er⸗
rungen. Aber wie? wäre nicht doch noch ein anderer Cajus
denkbar, ein wirklich unſterblicher, auf einen erhöhten Sinn
des Daſeins geſtellter, der ſich jener Formel zu entziehen
wüßte? Die Frage ſcheint abſurd, iſt aber dennoch einer
theoretiſchen Behandlung nicht ganz unzugänglich. Und es
darf uns, um einer ſehr fernen Löſung zuzuſtreben, auf
einige Umwege nicht ankommen.
Zunächſt ſoll der logiſche Beſtand jenes Schulſatzes an
einem klaſſiſchen Beiſpiel erſchüttert werden. Unſer Umweg
führt uns nach Florenz, wo im Jahre 1639 auf dem Gar:
tendache des herzoglichen Palaſtes eine Bewäſſerungsanlage
hergeſtellt werden ſollte. Ein vortreffliches Saugrohr wurde
angelegt, die Maſchine funktionierte nach allen Regeln der
Kunſt, und man erwartete das Erfließen des Waſſers mit
ſelbſtverſtändlicher Beſtimmtheit. Damals hätte ſich zwi—
ſchen Galilei und feinem genialen Schüler Torricelli fol-
202
gende Unterhaltung ereignen können. Denn Meiſter Galilei
war tatſächlich berufen worden, um in der herzoglichen An—
lage nach dem Rechten zu ſehen.
Galilei. Heute wollen wir einmal unterſuchen, inwie—
weit der Denkzwang über uns Gewalt hat. Nicht wahr,
lieber Evangeliſta: alle Waſſerſäulen müſſen ſteigen, wenn
die Luft über ihnen hinweggepumpt wird; alle Wafferfäus
len ſteigen dem Saugkolben unbedingt nach. Dieſes floren—
tiner Gebilde iſt eine Waſſerſäule, — folglich?
Torricelli. Folglich muß ſie ſteigen; folglich muß ſie
dem Kolben unbedingt nachſteigen.
Galilei. Mit mathematiſcher Beſtimmtheit, ſollte man
annehmen. Und dennoch! es gelingt nicht, dieſen Dachgar—
ten zu bewäſſern. Das Waſſer weigert ſich, heraufzukom—
men. Hier läßt uns alſo die Logik im Stich. Es liegt doch
genau wie bei dem berühmten Cajus, der ſterben muß, weil
alle Menſchen ſterben müſſen. Unſere Florentiner Waſſer—
ſäule iſt der Cajus: ſie müßte! aber ſie tut es nicht.
Torricelli. Mit Verlaub, Meiſter: Wenn wir hier vor
dem Unbegreiflichen ſtehen, ſo erfließt für uns zwar kein
Waſſer, aber ein neuer Beweis. Nämlich der, daß der Ober—
ſatz falſch war. Richtig hätte er gelautet: alle bisher beob—
achteten Waſſerſäulen ſtiegen bei Luftfortnahme bis zu be—
liebiger Höhe. Dieſe Florentiner Säule wird heute zum er—
ſtenmal beobachtet. Sie hat alſo keine Veranlaſſung, un-
ſere, wenn auch noch ſo ſichere Erwartung zu beſtätigen.
Sie ſtellt den allererſten Ausnahmefall vor; inſofern ſie bei
zehn Meter Höhe ſtehen bleibt. Wir erkennen hier einen
Sonderfall und müſſen ſagen: der Oberſatz gilt nur bis zu
einer gewiſſen Grenze.
Galilei. Aber, liebſter Torricelli, was wird denn dann
203
aus unſerm Cajus? Dann könnte doch auch der einen Son—
derfall darſtellen?
Torricelli. Selbſtverſtändlich. Das Sterbenmüſſen gilt
wie das Steigenmüſſen des Waſſers nur bis zu einer gewiſ—
ſen, endlichen Grenze. Cajus könnte ewig leben. Nehmen
wir an, daß bis heute eine Billion Menſchen exiſtiert haben.
Nehmen wir ferner an, daß unter ihnen ſich nicht ein ein—
ziger befand, der dem Tode entging: ſo ergibt ſich für Cajus
eine Todeswahrſcheinlichkeit von einer Billion dividiert durch
Billion plus eins. Das iſt allerdings ein ſehr hoher Grad
der Möglichkeit, aber keineswegs eine Gewißheit. Mit an⸗
deren Worten: der Oberſatz war falſch, und er war es ſchon
deshalb, weil wir nach alter akademiſcher Gewohnheit von
allen Menſchen ſprechen, während doch Leute wie Cajus, die
doch auch Menſchen ſozuſagen ſind, noch gar nicht unterſucht
werden konnten.
Dieſes Geſpräch hat nicht ſtattgefunden, wenigſtens nicht
in dieſer Form. Da wir es aber einmal konſtruieren, ſo
denken wir uns einen dritten Teilnehmer hinzu, einen Pro—
feſſor der Phyſiologie von der Univerſität Bologna, Amts—
genoſſen jener Phyſiker. Der wird etwa ergänzt haben:
Torricelli hat unrecht. Daß der einzelne Menſch, den wir
nach Dozentenſitte Cajus nennen, wirklich ſterben muß, iſt
nicht nur eine ſehr hohe Wahrſcheinlichkeit, ſondern direkt
eine Gewißheit. Und hierfür habe ich einen unwiderleglichen
Beweis. Der Menſch iſt ein Organismus von beſtimmter
Lebensfähigkeit, die an einen Ablauf in der Zeit gebunden
bleibt. Nun könnte man allenfalls ſagen, es wäre vielleicht
möglich, dieſen organiſchen Ablauf zu unterbrechen und ſpä—
ter wieder einſetzen zu laſſen; ſo wie man eine abgelaufene
Uhr nach ſehr vielen Jahren wieder in Bewegung zu ſetzen
204
vermag. Das wäre aber nur ein Scheineinwand. Denn wenn
die organiſchen Funktionen erſt einmal reſtlos aufgehört ha—
ben, ſo können ſie nie wieder in Tätigkeit geſetzt werden. Das
ſagt uns nicht nur die phyſiologiſche Erfahrung, ſondern
die Logik ſelbſt, die den Tod ja gar nicht anders definiert,
als durch das Erlöſchen der organiſchen Funktionen. Wenn
aber kein einziger Organismus über jene Grenze hinweg er—
halten werden kann, ſo gilt dies auch vom Menſchen; was
zu beweiſen war.
Dieſe Bekundung wird zu Protokoll genommen und einem
ſpäteren Forſcher vorgelegt. Der könnte nun wiederum fort—
fahren:
Der Beweis des alten Profeſſors erſcheint vollkommen
geſchloſſen, und dennoch hat er ein Loch; er war richtig im
n
ſiebzehnten Jahrhundert und wurde falſch im neunzehnten.
Mit großem Bedacht hat der Herr von Bologna einen dro—
henden Einwand vorweggenommen, um ihn ſofort zu wider—
legen: nämlich den der Stillegung organiſcher Funktionen.
Sie iſt für ihn ganz identiſch mit dem Tode. Wir wiſſen
aber heute, was er noch nicht wiſſen konnte, daß gewiſſe
organische Tätigkeiten vollkommen ſtillgelegt und für ir—
gendwelche ſpätere Wiederauflebung aufgeſpart werden
können; ſozuſagen in einem unbegrenzt langen Zwiſchentode.
Wird dies aber auch nur für einen einzigen Organismus klar
erwieſen, dann öffnet ſich in jenem Beweis eine Lücke, ein
Ausnahmefall ſchiebt ſich dazwiſchen, und nichts hindert
Herrn Cajus, mit dem Ausnahmefall ebenfalls durchzu—
ſchlüpfen, das heißt auf eine mögliche körperliche Unſterb—
lichkeit Anſpruch zu erheben.
Dieſer von uns ſo genannte „Zwiſchentod“ iſt keine Fabel,
ſondern ein erlebtes Ereignis. Er kann beiſpielsweiſe, wie
205
er >
aus den Berichten John Franklins, des Polforſchers, her=
vorgeht, durch Unterkühlung hervorgerufen werden. Fiſche,
die aus dem Waſſer an die grönländiſche Luftkälte gebracht
wurden, erſtarrten zu einer ſo feſten Eismaſſe, daß man ſie
mit der Art in ſplitternde Stücke zerſchlagen konnte und
daß ſelbſt ihre Eingeweide bloß einen feſten gefrorenen Klum—
pen darſtellten. Kein Zweifel, daß das Leben in ihnen voll-
ſtändig erloſchen war, daß keine Wechſelwirkung von Zelle
zu Zelle ſtattfand; denn ſolche Wirkung iſt an die Verſchieb—
barkeit flüſſiger Teile gebunden. Deſſenungeachtet gelang
es Franklin, einige der gefrorenen Fiſche, die er in unzerſchla—
genem Zuſtande am Feuer auftaute, wieder lebendig zu
machen. Ein Karpfen, der ſechsunddreißig Stunden in abſo—
luter Froſtſtarre gelegen hatte als durchaus kriſtalliniſch
durchſetztes Gebilde, erholte ſich ſo vollkommen in der
Schmelze, daß er ſich mit großer Kraft umherwerfen konnte.
Als Ellis an der Hudſonbay überwinterte, fand er einen
völlig zuſammengefrorenen Klumpen ſchwarzer Stechfliegen;
dem Feuer genähert, lebten ſie wieder auf. Er berichtete fer—
ner, daß man dort häufig an den Seeufern Fröſche findet,
die genau ſo feſt wie das Eis ſelbſt gefroren ſeien, und ſich
dennoch bis zu unzweifelhafter Lebensäußerung wieder auf—
tauen ließen.
Im Zuge unſerer Betrachtung kann es als nebenſächlich
gelten, daß einzelne Forſcher dieſen augenfälligen Tatſachen
gewiſſe Einſchränkungen entgegenſetzen. So ermittelte Hun—
ter experimentell die Notwendigkeit eines beſtimmten Ge—
friertempos: der Froſttod muß plötzlich einſetzen, damit ſich
aus der radikalen Erſtarrung wieder Leben entwickeln könne.
Es ſei deshalb unmöglich, etwa einen im Polareiſe ganz un—
verdorben aufbewahrten Elefanten der Vorwelt wieder zu
206
lebendigem Daſein aufzutauen. Aber ſelbſt dieſer Zweifler
kann nicht umhin, den Zwiſchentod als ſolchen für erwieſen
anzunehmen. Er ſelbſt erwähnt die Beobachtung an Krö—
ten, alſo an Tieren, deren natürliche Lebensdauer ſich kaum
über vierzig Jahre erſtreckt; man hat aber Kröten mitten
in Felſen eingeſchloſſen gefunden, wo ſie Jahrhunderte,
vielleicht Jahrtauſende eingeſchloſſen geweſen waren, und
die dann doch, aus ihrem ſteinigen Kerker befreit, lebend
umherhüpften.
Die Liſte könnte noch erheblich verlängert werden, wenn
man die niederften Organismen in den Betrachtungskreis ein⸗
bezieht, Weſen, bei denen die abſolute Vertrocknung noch
nicht den Beginn eines zweiten, dritten Lebens verſperrt.
Was wir als erwieſen vor uns haben, iſt die Einſchaltung
eines Zwiſchenzuſtands, der den landläufigen Begriff der
Lebenseinheit aufhebt. Die Einheit des Individuums bleibt
trotzdem erhalten. Hier erſchließt ſich mithin die Lücke in der
gewöhnlichen Auffaſſung vom Ablauf organiſcher Erſcheinun—
gen und von der ſtatiſtiſch ermittelten Lebensdauer. Iſt der
Stillſtand auch nur in einem einzigen Fall zuverläſſig er—
mittelt, fo wird der Schulfall erſchüttert: Alle ſteinhart ges
frorenen Fiſche find tot; dieſer Karpfen iſt ein ſteinhart ge—
frorener Fiſch; folglich? — Die Franklinſche Tatſache ver-
bietet den Schluß. Alle Kröten müſſen vor ihrem fünfzig
ſten Jahr ſterben; dieſes im Felſen eingeſchloſſene Indi—
viduum iſt eine Kröte; folglich? — Wiederum fährt die ver-
einzelte Beobachtung ſtörriſch zwiſchen Ober- und Unterſatz;
genauer geſprochen: ſie zerſtört die Hauptanſage. Die Kröte
muß gar nicht ſterben; wenn Jahrhunderte und Jahrtau—
ſende des Überlebens möglich ſind, warum nicht auch Jahr—
millionen? Und wenn ſich bei Kröte, Fiſch und Inſekt Aus—
207
nahmen einftellen können, warum nicht auch bei Menſchen?
Der ganze, nunmehr in Zweifel gerückte Vorbeweis bezog
ſich ja ganz allgemein auf Organismen, nicht auf den Men⸗
ſchen als Sonderweſen, und hätte auch gar nicht anders ge⸗
führt werden können. Alle Menſchen müſſen — heißt wirk⸗
lich nichts anderes als: Alle Organismen müſſen; und das
ergibt nur eine vorläufige, aber nicht unbedingte Richtig⸗
keit innerhalb gewiſſer Erfahrungsgrenzen.
Cajus hat alſo Ausſichten. Nicht dadurch, daß es ge—
lingen könnte, ihn mit Überlebenserfolg auf Eis zu legen,
oder in einen Felſen einzuſchließen. Die Bedingungen, die
erforderlich wären, um für ihn den Zwiſchentod, den Still
ſtand der Lebensfunktionen zu erzwingen, und ihm ſpäter
den Neubeginn des irdiſchen Lebens zu eröffnen, ſind uns
unbekannt. Sie brauchen auch gar nicht zu exiſtieren. Nur
der Denkzwang, der ſie für unmöglich erklärt, muß fallen.
Dieſer Denkzwang iſt jener Eiſesſtarre vergleichbar. Er kann
aufgetaut werden und für die Fortſetzung in einem neuen
Denken die Möglichkeit bieten.
Klingt ſehr abenteuerlich, das weiß ich. Deshalb möchte
ich mich doch, anſtatt mich ganz ungeſchützt jedem Angriff
preiszugeben, unter den Fittich einer der größten Autoritäten
flüchten. Helmholtz, der ſich mit jenem Problem nach—
drücklich beſchäftigt hat, ſagt: „Ich kann Jemandem, der
gegen mich behauptet, daß unter Anwendung gewiſſer Mit-
tel das Leben des Menſchen unbeſtimmt lange erhalten blei-
ben würde, zwar den äußerſten Grad der Ungläubigkeit ent⸗
gegenſetzen, aber keinen abſoluten Widerſpruch.“ Mit
andern Worten: der unſterbliche Cajus iſt vorſtellbar, und ein
logiſcher Grund gegen ſeine Erſcheinung in irgendwelcher
Wirklichkeit iſt nicht vorhanden.
208
Das Relativitätsproblem
Probleme ſind nicht dazu da, um gelöſt, ſondern um er—
örtert zu werden. In den meiſten Fällen kann der Denkkrüp⸗
pel, genannt homo sapiens, ſchon froh ſein, wenn es ihm
gelingt, das Problem halbwegs anſchaulich zu formulieren.
Gilt dies von jedem Problem höherer Ordnung, ſo beſon—
ders von dem größten und ſchwierigſten, das ſich bis heute
dem Intellekt entgegengeworfen hat. Seit wenigen Jahren
rüttelt es an den Grundfeſten menſchlichen Denkens; keine
der organiſierten, eingewurzelten Vorſtellungen hält ihm
ſtand. Mit einem Gemiſch von Erſtaunen und Verzweiflung
ſteht das Gehirn vor den Trümmern ſeiner älteſten, beſten
Beſitztümer. Keine Gedankenrevolution früherer Zeiten, auch
nicht die Tat des Kopernikus, die Elemententheorie Lavoi—
ſiers, das Geſetz von der Erhaltung der Kraft, der Darwinis—
mus, kann ſich ihr an grundſtürzender Gewalt vergleichen.
Pulveriſiert, in Atome aufgelöſt, erſcheinen plötzlich die ſicher—
ſten Pfeiler aller Selbſtverſtändlichkeiten, und aus dem ge—
ſtaltloſen Chaos ſteigt eine neue Denkform empor, unfaßbar
und dennoch zwingend: das Prinzip der Relativität.
Mit den alten billigen Einſichten vom „Relativen“ hat
dieſes Prinzip wenig mehr gemeinſam als den Namen, wenn
es ſich auch im Kern mit ihnen decken mag. Es greift ſo
mächtig über ſie hinaus, daß der geläufige Relativitätsbegriff
in ihm drinſteckt, wie ein einziger Protoplasmakern im wei⸗
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 14
209
ten Gewebe, nur noch mikroſkopiſch erkennbar. Die alte Re—
lativität genügte für philoſophiſche Feierſtunden und vertrug
ſich am letzten Ende ganz leidlich mit allen phyſikaliſchen
Denknotwendigkeiten, wie ſie ſich im Laufe der Jahrhunderte
herausgebildet hatten. Denn dieſe zeigten ausnahmslos einen
ſchönen Gleichlauf mit dem Intuitiven, Vorausgeahnten,
waren in den Denkformen alter Wahrheitsſucher längſt vor—
gebildet, bevor ſie noch phyſikaliſch bewieſen wurden. Von
dieſer Verträglichkeit iſt die neue Relativität weit entfernt.
Ihr Anſturm legt Breſche in das Geſetz von der Beſtändig—
keit der Maſſen, von der Gleichheit des Gleichen, in die Gül-
tigkeit der Newtonſchen Regeln, ſelbſt in die geometri—
ſchen Grundanſchauungen. Ja noch mehr. Sie will uns
zwingen, eine geradezu okkulte Vorſtellung, nämlich die Vier—⸗
dimenſionalität, in unſere Einſicht aufzunehmen. Und ſie
zwingt uns hierzu mit einem Werkzeug, das ſie ſich eben erſt
aus unſerem geiſtigen Beſitzſtand herausgebrochen hat, mit
der mathematiſchen Diktatur. Wir ſelbſt werden relativ in
dieſer Relativität. Wir fühlen uns von einem Circulus vi-
tiosus umklammert und ſehen keinen Ausweg. Wider—
ſpruchsvolles müſſen wir als widerſpruchslos anerkennen,
klar Erwieſenes bezweifeln, wenn nicht als unmöglich ab—
lehnen. Populär geſprochen: das Gehirn dreht ſich im Kreiſe,
und zwei entgegengeſetzte Vorſtellungen aneinandergeſpießt
wie die Figuren in Dantes Hölle, wälzen ſich im infernali—
ſchen Feuer. Kein Loskommen möglich und keine Vereini—
gung. Nur eine grenzenloſe Qual, eine Hoffnungsloſigkeit,
die das einzig Abſolute bleibt in dieſer neuen Welt der Rela—
tivitäten.
Ruf und Widerruf liegen hier eng beieinander, gepaart wie
Schall und Gegenſchall, jedem Anruf antwortet ein wider—
210
Fe 2
ſprechendes Echo. Der Weg geht über die Leichen von Begrif—
fen neuen blitzenden Einſichten entgegen, die, kaum gewon—
nen, ſchon wieder als Begriffsleichen zu Boden ſinken. Auch
die hier vorliegenden Betrachtungen werden ſich von dieſem
Fluch nicht befreien können. Sie werden tief in die Gänge
einer ſezeſſioniſtiſchen Philoſophie hineinführen, in denen die
Anſchaulichkeit verſagt, die Sprachmöglichkeit erlahmt. Ich
kann dem Leſer, der mir folgen will, auch nicht etwa einen
Ariadnefaden verſprechen, ja ich möchte mit ihm ausdrücklich
verabreden, daß der Zuſpruch „Weiter!“ in keinem Punkte
ein Vorwärts oder ein Rückwärts bedeutet. Denn das Laby—
rinth, in das wir uns begeben, beſitzt nicht zwei Dimenſionen,
wie das kretiſche, nicht drei, wie die Analyſis des Raumes,
ſondern vier. Die Zeit, als Veränderliche, wird ihren An—
ſpruch anmelden, in die Geometrie unſeres Weges aufgenom—
men zu werden. Immerhin dürfte mein Begleiter mehrfach
in eine Art von Parſifal-Stimmung geraten: „Ich ſchreite
kaum, doch wähn' ich mich ſchon weit,“ und ich werde ihm
mit Gurnemanz zu antworten haben: „Du ſiehſt, mein
Sohn, zum Raum wird hier die Zeit!“
*
Eine annähernd exakte Darſtellung des Relativitätsprin⸗
zips ohne mathematiſche Hochſpannung iſt zurzeit unmöglich,
wird vielleicht immer unmöglich bleiben. Es wäre eine Auf—
gabe, um faßliche Vergleiche heranzuziehen, wie etwa: die
Weltgeſchichte auf eine bequeme Gedächtnisformel zu brin—
gen, die Keplerſchen Geſetze aus dem kleinen Einmaleins zu
beweiſen, den Spinoza als Pantomime aufzuführen oder die
Neunte Symphonie für eine Soloflöte einzurichten. Allen—
falls ließen ſich aus der ſtrengen Forſchung einige letzte Dinge
1 *
ö 37H
fo herausſchälen, daß auch dem Fernerftehenden ein däm—
mernder Proſpekt eröffnet wird; ein verſchwimmender Hori—
zont, der ihm durch Nebelſchleier hindurch großartige Ahnun—
gen erweckt. Ich will verſuchen — und bin mir der Unzu—
länglichkeit des Verſuches bewußt — einige wenige For—
ſchungslinien loſe nachzuzeichnen, einige Ergebniſſe aus den
wichtigſten Dokumenten herauszuziehen. Und da der Menſch
auch intellektuell genommen immer nur einen Hals zu bre—
chen hat, ſo will ich auch vor der noch größeren Waghalſig—
keit nicht zurückſchrecken, an dieſe Darſtellung einige erkennt—
nistheoretiſche Betrachtungen zu knüpfen, für die ich die ver—
antwortliche Zeichnung einſtweilen allein zu tragen habe.
Sollte die Frage nach meiner Berechtigung hierfür auftau—
chen, ſo bleibt mir mangels einer anderen Antwort nur die
Zuflucht zu der Auskunft: dieſe Frage darf nicht geſtellt wer⸗
den. Denn, wie ſchon mehrfach geſagt wurde und noch öfter
zu wiederholen ſein wird, wir gelangen hier in ein Gebiet
der Relativitäten, in dem uns überhaupt alle Maßſtäbe,
alſo auch der des zuſtändigen Beurteilers und berechtigten
Folgerers verlaſſen müſſen. Für die Berechtigung ſpreche
einſtweilen nur das eine, daß meines Wiſſens noch keiner
von den Großen im Reiche der Relativität zum Volke der
Nichtmathematiker herabgeſtiegen iſt, und daß es folglich
eines Nichtzünftigen bedarf, um ihre Worte in die Weite zu
tragen. Der Große bleibt in ſeiner unnahbaren Höhe, weil
er ganz mit Recht befürchtet, ſeine Lehre könnte in ihrer Pro—
jektion auf eine Popularfläche Verſchiebungen und Verkrüm—⸗
mungen erleiden. Der Nichtzünftige überwindet ſolche Be—
denklichkeiten, er hofft ſogar, daß der Verluſt an Exaktheit
ſich mit irgendeinem Gewinn an Einſichten ausgleichen wird.
Es gibt Brücken der Erkenntnis, die unter dem ſchweren Tritt
21 2
des ſtrengen Forſchers zuſammenbrechen müßten, während
ſie dem leichter dahinſchreitenden zum anderen Ufer verhelfen.
*
Der für die Maſſe weithin kenntliche Nimbus, den nur ein
langer Zeitablauf zu weben vermag, ſtrahlt noch nicht um die
Genies der neuen Geiſtesrevolutionen, um Hendrik Antoon
Lorentz, Albert Einſtein, Max Planck, Hermann Minkowski.
Zudem wählt die Gegenwart ihre Preſtigemenſchen lieber
unter den Kampfhelden, Politikern und Künſtlern, als
unter den bedeutenden Phyſikern und Mathematikern.
Sollte aber dereinſt die Epoche der Aufregungen und
Erſchütterungen von einem Zeitalter des reinen Intellekts
abgelöſt werden, dann werden jene Namen mit der nämlichen
Andacht ausgeſprochen werden, mit denen man heute in
Stunden ſtiller Beſinnung einen Galilei, Descartes, Huy—
ghens, Laplace, Gauß oder Helmholtz nennt. Bis zu Ein—
ſtein, Lorentz und Minkowski vorzudringen iſt vorerſt noch
ziemlich ſchwierig. Sie haben ihre Schriften vergittert, wie
ihre Vorgänger die Akademie zu Athen, mit der Warnungs—
tafel „Medeis Ageometretos eisito...: Kein Nichtmathe⸗
matiker ſoll hier hinein!“ Am humanſten, am nachgie—
bigſten den Bedenken gegenüber, verfährt eigentlich noch
Henri Poincaré, und unter den Büchern mit ſieben Sie—
geln, die er ſonſt zu ſchreiben pflegte, iſt ſeine Schrift über
„Die neue Mechanik“ noch das offenſte. Anſtatt von vorn—
herein mit dem Geſchütz unheimlicher Differentialgleichun—
gen vorzurücken, vermenſchlicht er die Aufgabe durch Einfüh—
rung jenes Beobachters „Lumen“, der uns zuerſt von Camille
Flammarion vorgeſtellt worden iſt. Mit dieſem Lumen, „wie
ich ihn ſehe“, wollen wir uns zunächſt ein wenig beſchäftigen.
2
Herr Lumen iſt eine ziemlich phantaſtiſche Erſcheinung: ein
Reiſender, dem eine ganz abſonderliche Bewegungsgeſchwin—
digkeit zur Verfügung ſteht und der folglich die Ereigniſſe an—
ders ſieht, als wir an der Scholle haftenden Menſchenkinder.
Sein Reiſetempo übertrifft das des Lichtſtrahles. Während
das Licht, das heißt jeder optiſche Vorgang, in jeder Sekunde
300 ooo Kilometer zurücklegt, zeigt ſein Schnelligkeitsmeſ—
ſer 400 ooo, er überrennt alſo im erſten Anlaufe das Licht
und alle Botſchaften, die ſich vom Tatort irgendeines Ereig—
niſſes in den Weltenraum fortpflanzen “).
*) Dieſer fabelhaften, aber für die Wiſſenſchaft ſo einträglichen
Schnellfahrt wird auch im Archiv für ſyſtematiſche Philoſophie
von 1911 und in dem „Buch der 1000 Wunder“ (Verlag von
Albert Langen, München) gedacht. Sie bildet den Eingang einer
Betrachtungsreihe, worin die von Einftein über die ſpezielle hinaus—
gefolgerte „Allgemeine Relativitätstheorie“ ihr Banner aufgepflanzt
hat. Unter ihrem Einfluß hat die für abgeſchloſſen gehaltene,
klaſſiſche Gravitationslehre die ſtaunenswerteſte Erweiterung er—
fahren. Ein vordem nie für lösbar gehaltenes Rätſel in der Lauf—
bahn des Merkur entſchleierte ſich vor der überlegenen Betrach—
tung und Berechnung der Allgemeinen Relativität. An der Welt
gültigkeit dieſer Lehre iſt ſomit nicht zu zweifeln, ſo ungeheuer—
liche Denkſchwierigkeiten ſie auch nach anderer Seite heraufbe,
ſchwört. Wenn irgendwo, ſo wird es ſich hier in einer ferneren
Zukunft zu erweiſen haben, ob der als unmöglich vorgeſtellte
„Sprung über den Schatten“ trotz alledem ausführbar ſein kann.
Vielleicht wird dabei mehr zu überſpringen ſein, als wir heute
ahnen: Flächen, die eine vormalige Philoſophie mit Licht zu über-
gießen ſchien und die ſich doch in der künftigen Betrachtung als
Schattenfelder erweiſen werden! Was ſich vorläufig erſt als eine
Relativität in Raum und Zeit auf ſtreng phyſikaliſcher Grundlage
offenbart hat, wird dereinſt in eine Relativität aller Denkformen
übergreifen und in eine gegen alle Überlieferung zu ertrotzende
Metaphyſik. Erſt in dieſer kaum vorzufühlenden Lehre können
214
Dieſer Ausbund an Eile nimmt feinen Ausgangspunkt auf
der Erde und verläßt den Planeten am Schluß eines denk—
würdigen hiſtoriſchen Ereigniſſes, ſagen wir: der Schlacht
von Sedan. Er erlebt alſo noch in nächſter Nähe die Tat⸗
ſachen des 1. Septembers von 1870, er ſieht um halb ſieben
nachmittags die Übergabe des napoleoniſchen Degens und
überblickt ein weites, mit Toten und Verwundeten überſätes
Schlachtfeld. Mit der erſten Sekunde ſeiner Schnellfahrt
von der Erde hinweg in den Weltenraum hinein überholt er
alle Lichtſtrahlen, die in der nämlichen Sekunde von Sedan
ausgegangen ſind, und noch dazu die letzten aus der vorigen
Sekunde. Nach einer Stunde beſitzt er bereits einen Vor—
ſprung von 20 Minuten den blutigen Tatſachen gegenüber,
und ehe der zweite Tag vergangen iſt, wird ſich dieſer Vor—
ſprung ſo ſtark erweitert haben, daß er nunmehr nicht das
Ende, ſondern den Anfang der Schlacht wahrnimmt —
vorausgeſetzt, daß die Güte ſeines Auges oder Teleſkopes
für dieſe Weitſchau ausreicht, ein ganz nebenſächlicher Vor—
behalt, der im Rahmen unſerer Erörterung gar keine Rolle
ſpielt. Denn einem Weltenbummler, den wir mit 400000
Kilometer pro Sekunde ausſtatten, werden wir unbedenklich
auch eine entſprechende Scharfſichtigkeit zubilligen. Bei ſo
weitgegriffenen Prämiſſen darf es auf ein Mehr oder Weni—
ger nicht ankommen.
Wir haben alſo feſtgeſtellt, daß Herr Lumen am 1. Sep⸗
tember 1870 das Ende und nach etwa zwei Tagen den An—
fang der Schlacht geſehen hat. Bloß geſehen? Nein, auch
erlebt. Denn an welchen anderen Daten ſollte er die Tat—
die Unſtimmigkeiten der Erkenntnis verſchwinden, wie ſchon jetzt
in der von Einſtein begründeten die Unſtimmigkeit eines Planeten⸗
laufes verſchwand, um der Begreiflichkeit Platz zu machen.
215
ſachen meſſen, wenn nicht am Augenſchein? Herr Lumen iſt
kein Hiſtoriker. Wir haben ihn nach unſerem Willen erſchaf—
fen als einen intelligenten, ſcharfſichtigen und ſchnellbewegten
Homunkulus, der ſich ſein Urteil durchaus auf Grund ſeiner
Erfahrungen bilden ſoll, wie wir anderen es auch tun. Und
Lumens Erfahrungen ſind rein optiſche. Nicht der geringſte
Zweifel kann in ihm aufſteigen, daß der Aufmarſch der Heere
zur Schlacht von Sedan ſpäter erfolgt iſt als die Kapitu—
lation der franzöſiſchen Armee.
Was aber hat unſer Lumen in der Zwiſchenzeit geſehen?
Offenbar die Vorgänge in umgekehrter Reihenfolge,
wie in einem verkehrt abgerollten Kinematographen darge—
ſtellt; nur daß wir im Vitaſkop den menſchlichen Trick durch⸗
ſchauen, weil wir das „wirkliche“ Ereignis kennen, das
heißt das Ergebnis, wie wir es ſonſt „geſehen“ haben;
während Lumen den umgekehrten Vorgang als den einzig
tatſächlichen anerkennen muß, weil er außer dem einmal Ge—
ſehenen gar keinen anderen Maßſtab beſitzt, an dem er es
meſſen kann. Seine eigene Bewegung und Wahrnehmung
ſind ſtetige Funktionen der Zeit; ebenſo ſtetig und lückenlos
iſt das, was er als Schlachtentwicklung erkennt: das Auf—
ſtehen der Toten und Verwundeten, ihre Einordnung in die
Regimenter und Bataillone, die vom Ziel rohreinwärts flie—
genden Kanonenkugeln, die rückwärts zum Kampfbeginn
marſchierenden Truppen — und bei Fortſetzung ſeiner Wel—
tentour der Milchſtraße entgegen: die Schlacht von Wörth
vor der Kriegserklärung; die Kriegserklärung vor der Em—
ſer Depeſche; Napoleon im Glanz feines Imperiums zu Pas
ris lange nach dem Akt ſeiner Gefangennehmung bei Sedan.
So ſieht er die Dinge, ſo begreift er ſie. Und wenn auch
ſeine Auffaſſung der geläufigen ſchnurſtracks widerſpricht,
216
TER
in einem Punkte dürfte fie ihr nahekommen, nämlich in der
alten biologiſchen Verierfrage, ob das Ei früher vorhanden
war oder die Henne; ſeine Verlegenheit, dieſe Frage nach
dem Augenſchein zu beantworten, wird mit der unſrigen,
von einer Interferenz abgeſehen, ſo ziemlich übereinſtimmen.
Unſer Lumen⸗Verſuch läßt ſich aber auch noch anders an—
ordnen. Man kann ihn als ruhend vorſtellen und die Erde
von ihm fortbewegt; man kann als zeitlichen Ausgangs—
punkt ſtatt des Schluſſes der Schlacht deren Anfang wäh—
len. Auch die Bewegung ſelbſt läßt ſich verlegen, gerad—
linig oder gekrümmt, mit einem Anfangspunkt weit von
uns im Weltenraume. Und ſchließlich ſei auch noch das
Tempo veränderlich, über die immenſen 400000 Kilometer
hinaus, und anderſeits abwärts unter die Lichtleiſtung für
minder dringliche Fälle. Das ergibt eine Menge von Kom—
binationen, die dem Lumen ſehr verſchiedene Weltbilder lie—
fern. Eine dieſer Anordnungen würde zur Folge haben, daß
er immer nur den Anfang der Schlacht erblickt, eine mili—
täriſche Erſtarrung ohne tätige Auflöſung, tagelang, jahre—
lang, durch beliebige Zeiten; oder auch die Völkerwanderung
als eine ewige Ruhe der Völker. Orientiert ſich Lumen nach
einem ſolchen Proſpekt, ſo ſteht die Zeit für ihn ſtill. Soll
aber die Allerweltsuhr Sonne dem Lumen als Chronometer
gelten, ſo läßt ſich auch eine Bewegung konſtruieren, die
ihm die Sonne ans Firmament nagelt. Auch dieſe Orien—
tierung ginge ihm alſo verloren, und Lumen könnte alt wer—
den, ohne daß er mit der Denkform der Zeit, die nur am
Weiſer einer wahrgenommenen Veränderung Exiſtenz er—
ERBETEN,
hält, Bekanntſchaft gemacht hätte. Eine weitere Anordnung
würde ihm die Entwicklung des Kriegsbildes bei Sedan zwar
als vorhanden, aber ſehr verlangſamt zeigen; als eine
21 7
Schlacht, die ſich, nach unſerem Zeitmaß gerechnet, über
Jahrtauſende erſtreckt, worin mit Geſchoſſen geſchleudert
wird, die im Schneckentempo durch die Luft gleiten und
dem Krieger, nachdem ſie ihn getroffen haben, noch eine
Gnadenfriſt mehrerer Stunden gewähren, bevor ſie ihn durche
bohren. Kennt Lumen den „wirklichen“ Hergang, ſo wie
wir ihn kennen, das heißt auf Grund unſerer Erfahrungen
genau zu kennen glauben, ſo wird er den Schlüſſel zu all
dieſen Abſonderlichkeiten ſeiner perſönlichen Erlebniſſe bei
den Bewegungen ſuchen, denen er ſelbſt oder ein Syſtem von
Maſſenpunkten ausgeſetzt iſt. Kennt er ihn nicht — und
dies war unſere Vorausſetzung —, ſo erhält er Anſichten,
Erlebniſſe, Erfahrungen, die uns fremd ſind, vor allem eine
von der unſrigen völlig verſchiedene Weltmetromiſierung, die
bis zum Stillſtand der Zeit, ja, bis zur völligen Umkeh—
rung der Zeit führen kann.
Er wird aber auch zu einer ganz anderen Vorſtellung
von der Kauſalität gelangen, falls ihn ſein Denkapparat
überhaupt zwingt, Folge mit Grund zu verknüpfen, zwiſchen
den in der Zeit gelagerten Dingen nicht nur ein Vorher und
Nachher, ſondern auch einen Erkenntnisgrund zu ſuchen.
Wenn er erſt alle Schlachten von Sedan und Wörth bis Ma—
rathon in verkehrter Anordnung erblickte, nie eine Schlacht
anders ſah als in umgekehrter Reihenfolge, ſo wird ſich
auch ſeine Denkform hinſichtlich der Kauſalität, relativ zur
unſeren, umkehren: unſere Urſache wird ſeine Wirkung
werden, unſere Folge ſein Grund. Sieg und Niederlage
verwandeln ſich für ihn zur Vorbedingung des Zwiſtes; und
auf Grund feiner ſtetig eingeübten Erfahrung wird er ohne
das geringſte Bedenken dazu gelangen, ſein Nacheinander,
ſeine beim Schwanz aufgezäumte Kauſalität für die er—
218
N
ſchöpfende „Erklärung“ der Geſchehniſſe zu erachten; in
ſchönſter Übereinſtimmung mit jenem Meiſter, von dem Mar⸗
tin Luther ſang:
Dias iſt der beſte Meiſter Klügle,
Der das Roß am Hintern zäumen kann
Und rücklings reitet ſeine Bahn,
Seiner Sackpfeifen Hall
Iſt der allerbeſte Schall!
Aber die Sackpfeife dieſes Lumens bläſt ja falſch! ruft der
ſichere Mitbürger; das alles ſind ja optiſche Täuſchungen!
Wir wiſſen ja, wie's geweſen iſt! Natürlich wird der ſichere
Mitbürger recht behalten — vorläufig; ſeine Weltbetrachtung
bleibt unerſchüttert — einſtweilen. Denn gewiß, das ſind
optiſche Täuſchungen, an der Kontrolle unſerer Sinne und
Werkzeuge, die bekanntlich niemals einer Täuſchung unter—
liegen, höchſtens in kleinen Zufälligkeiten, aber niemals be—
kanntlich im großen. Und die Wagniſſe dieſes Lumen in
Anſehung der Zeit find nichts anderes als grober philoſophi—
ſcher Unfug, da ſich die Zeit kraft der ihr innewohnenden
fortlaufenden Tendenz bekanntlich niemals umdrehen läßt.
Wie ſagte doch der herrliche Dove, der Vater der Meteoro—
logie? „Wenn wir Profeſſoren unſicher ſind, eröffnen wir
den Satz immer mit dem Wörtchen bekanntlich.“
*
Aber man braucht ja kein Profeſſor zu ſein, um den Her—
gang eines Ereigniſſes in der Zeitfolge richtig zu beurteilen.
Den Extravaganzen Lumens gegenüber lehnt ſich ſchon der
geſunde Menſchenverſtand auf. Wie wollen wir überhaupt
mit einem Denkakt vorwärts kommen, wie uns überhaupt
irgendwelche Anſchauung bilden, wenn wir uns nicht auf das
219
Bekannte ſtützen? Wir leben ja in einer Wirklichkeitswelt
und beſitzen dazu eine Wirklichkeitsphiloſophie, die uns mit
einem ganzen Arſenal von Beweiſen ausrüſtet. Und dieſe
Beweiſe? ſie ſind auf die Selbſtverſtändlichkeiten der Logik
und Mathematik gegründet, auf die Grundſätze, die in ihrer
Einfachheit und Durchſichtigkeit keines Beweiſes fähig oder
bedürftig ſind. Sind oder erſcheinen? Das wird wohl auf
dasſelbe hinauslaufen. Einen Gott können wir nicht fragen,
und wir fühlen hierzu auch gar kein Bedürfnis, wo es ſich
um etwas ſo Elementares handelt wie um unſere Zeitanſchau—
ung. Jener Abenteurer Lumen mußte eben ganz perverſen
Bedingungen unterworfen werden, ehe er der Täuſchung an—
heimfiel. Wir anderen werden niemals in ſeine Lage ge—
raten; wir reiſen nicht mit dem Lichtſtrahl, nicht gegen den
Lichtſtrahl, ſondern wir halten, mögen wir uns wie immer
bewegen, eine ſichere Diſtanz zu den Ereigniſſen, deren Ab—
lauf im Nacheinander wir als etwas Abſolutes erkennen.
Nur daß hier die aſtronomiſche Wiſſenſchaft mit einer et=
was unbequemen Bemerkung dazwiſchenfährt. Wir andern,
wir Abſoluten, reiſen nämlich auch ganz unheimlich. Nicht
abgetrennt wie jenes Experimentalweſen, ſondern als Be—
ſtandteile des irdiſchen Syndikates drehen wir uns um die
Erdachſe, fliegen wir mit 30 Kilometer pro Sekunde um
die Sonne, machen wir ſchließlich eine Geſellſchaftsreiſe mit,
die von dieſer gelenkt wird; denn die Sonne bewegt ſich mit
allen ihren Trabanten in der Richtung zum Sternbild des
Herkules. Dieſe Geſchwindigkeiten kommen uns nicht zum
Bewußtſein, aber ſie exiſtieren. In den Relativitäten zu
irdiſchen Vorgängen ſpielen ſie keine Rolle, aber in unſeren
Beziehungen zu außerirdiſchen Phänomenen könnten ſie eine
Wichtigkeit erlangen, auch in Anſehung der Zeitbeurteilung.
220
Ob wirr vielleicht gar noch rapider ſauſen als Lumen? Das
wäre ſchon möglich; denn auch der „Herkules“ ſtellt nur ein
einſtweiliges Richtungsziel der aſtronomiſchen Welt vor; er
ſelbſt und die ganze Fixſterninſel, der er zugehören mag,
fliegen nach unbekannten Zielen, mit ihnen nach weiteren
unbekannten Punkten im Raume, mit unbekannten Geſchwin⸗
digkeiten.
Es eröffnet ſich mithin neben dem vertrauten „Bekannt⸗
lich“ ein gar nicht zu überſehendes „Unbekanntlich“, und
zwiſchen beiden iſt Platz für jene neue Lehre, die ſich als das
„Prinzip der Relativität“ nach und nach entſchleiern wird.
Vorerſt ſind wir ihm durch unſere Betrachtungen nur inſo—
weit genähert worden, als ein leiſer Zweifel an der Allgemein—
gültigkeit unſeres Zeitbegriffs aufzuſteigen beginnt; eine noch
unter der Schwelle lagernde Ahnung, daß der inneren
Qualität der Zeit ein Abenteuer zuſtoßen könnte, wenn
ein funktioneller Ausdruck der Zeit, nämlich die Geſchwin—
digkeit, über alle Anſchaulichkeit hinaus ins Abenteuerliche
ſich ſteigert. Daß dadurch unſere ganze alte Mechanik, un—
ſer mathematiſch-phyſikaliſches Begreifen der Weltvorgänge,
aus den Angeln gehoben wird, iſt freilich auf dieſem Punkte
noch nicht einzuſehen.
*
Jene beſondere, nach unbekanntem Ziel gerichtete Bewe—
gung ſoll im folgenden zur Unterſcheidung von den aſtrono—
miſch erkennbaren Bewegungen „die Translation“ ge—
nannt werden. Muß ſie denn exiſtieren? Ja, ſie muß. Wer
die Translation überhaupt in Abrede ſtellen wollte, würde
damit unrettbar einem Widerſinn verfallen. Denn im Ver—
hältnis zu den unendlich vielen übergeordneten Bewegungen
221
ift die Ruhe nur der unendlich unwahrſcheinliche, alſo un⸗
mögliche Spezialfall. So ſchließen wir in der Richtung eines
Denkzwanges, aber wir können uns damit noch nicht be—
ruhigen. Wir fragen vielmehr: Gibt es denn gar kein Mit⸗
tel, um dieſe unbekannte Translation praktiſch, ſinnfällig
erkennbar zu machen?
Damit geraten wir an den ſpringenden Punkt: Ein fol-
ches Mittel iſt wirklich vorhanden, das Experiment, das uns
die Translation augenfällig zeigen müßte, kann angeſtellt
werden, aber es verſagt, es liefert ein unbedingt nega—
tives Ergebnis, beweiſt genau das Gegenteil deſſen, was
es beweiſen ſollte. Und hier ſteigt zwiſchen dem Experiment
und der Logik eine geſpenſtiſche Unſtimmigkeit empor, die
uns eine Zeitlang vor die furchtbare Wahl ſtellt, entweder
an unſerem Verſtande zu zweifeln oder an der Möglichkeit
einer durchgreifenden Phyſik.
Jenes negativ entſcheidende Experiment gründet ſich auf
folgende Überlegungen: Eine von der Sonne ausgeſandte
Botſchaft braucht ungefähr acht Minuten, um die Erde zu
erreichen. Findet nun eine Translation ſtatt, und iſt dieſe
ſo beſchaffen, daß ſie die Richtung „Erde nach Sonne“
verfolgt, ſo fliegen wir dieſer Botſchaft entgegen, müßten
ſie ſomit ſchneller erreichen als im entgegengeſetzten Fall,
wenn ſich nämlich die Erde von der Sonne entfernt und dieſe
ihr im gleichen Abſtande nachfolgt; denn dieſer Vorgang
würde eine Verzögerung in der Empfangnahme der Bot—
ſchaft bewirken. Mit anderen Worten: die optiſchen Phäno—
mene, wie ſie ſich innerhalb des ruhend gedachten Sonnen—
ſyſtems abſpielen, müßten geſtört werden, wenn zu den uns
bekannten Bewegungen innerhalb dieſes Syſtems noch eine
übergeordnete Bewegung, die Translation, hinzutritt.
222
Dieſe Beſchleunigungen und Verzögerungen einer Licht—
botſchaft laſſen fich auf der Erde durch Spiegelvorrichtungen
nachahmen, und zwar unter Zuhilfenahme von Lichtinter—
ferenzerſcheinungen mit einem ſo hohen Grade von Genauig—
keit, daß jede durch die Translation verurſachte Störung
ſich augenblicklich dem Auge des Forſchers verraten müßte.
Ein amerikaniſcher Phyſiker, Michelſon, hat eine Verſuchs—
anordnung erdacht, die jeden Fehler in der Beurteilung des
Vorgangs nach menſchlichem Ermeſſen ausſchaltet. Derartige
Fehler müßten bei allen erdenklichen Variationen des Michel-
ſonſchen Spiegelverſuches abwechſelnd im poſitiven und im
negativen Sinne auftreten und dadurch einander wechſel—
ſeitig verraten. Allein nichts Derartiges wird beobachtet. Der
Verſuch erſcheint in jedem Fall vollkommen geſchloſſen, in
ſich ausgeglichen, fehlerfrei, und liefert mit unumſtößlicher
Gewißheit das Ergebnis: Die optiſchen Phänomene bleiben
ungeſtört, ein Einfluß der Translation auf dieſe Phä⸗
nomene findet nicht ſtatt.
Hieraus ergab ſich für die Forſcher die peinlichſte Zwangs—
lage, und ihr Gewiſſen wurde in die denkbar grauſamſte Al—
ternative eingeklemmt. Es galt die Wahl zu treffen zwi—
ſchen zwei Unfaßbarkeiten: entweder gehorcht die Optik nicht
den allgemeinen Geſetzen der Mechanik, oder die Translation
muß allem Denkzwang zum Trotz nachträglich doch noch
abgelehnt werden.
Der zweite Ausweg erſchien noch ungangbarer als der erſte.
Lieber wollte man noch ein vorerſt unheilbares Zerwürfnis
zwiſchen der Optik und Mechanik vermuten, als ſich der gänz⸗
lich abſurden Vorſtellung unterwerfen, ein Teil des Welt—⸗
ganzen verharre im Stillſtand.
Aber dabei konnte es doch nicht bleiben. Denn auch die
223
mechanifche Denkweiſe ift ja im naturwiſſenſchaftlichen Men—
ſchen eingewurzelt, und wenn dieſe ſich plötzlich mit gewiſſen
optiſchen Tatſachen in unlösbaren Widerſpruch ſetzt, ſo bleibt
am letzten Ende aller Enden wirklich nichts anderes übrig, als
ein Geheimnis in eben dieſer mechaniſchen Denkweiſe zu ver—
muten und alles daranzuſetzen, um dieſem ſchrecklichen Rät—
ſel auf die Spur zu kommen.
Und hier meldete ſich als rettender Engel mit hilfreichem
Drang oder als rettender Satan mit verſteckter Spekulation
auf die arme Seele das „Relativitätsprinzip“. Das
Prinzip, das in ſeinen Folgerungen die alte Mechanik um—
wirft. Es beſagt: Die Weltgeſchehniſſe ſind nur dann zu be—
greifen, wenn man ſich entſchließt, den Geſchwindigkeitsbe—
griff und den Zeitbegriff radikal umzugeſtalten. Die Frage
nach der „wirklichen“ Geſchwindigkeit iſt phyſikaliſch ſinn—
los und ebenſo die Frage nach der „wirklichen“ Zeit, die
zur Wahrnehmung einer Lichtbotſchaft erforderlich iſt; beide
Fragen erwachſen erſt dann zu einer Verſtändlichkeit, wenn
ſie einander durchdringen, dergeſtalt, „daß eine Zeitangabe in
der Phyſik erſt dann einen beſtimmten Sinn hat, wenn ſie
auf den Geſchwindigkeitszuſtand eines beſtimmten Beobach—
ters bezogen wird.“
Noch ſchärfer erſcheint das Prinzip in A. Einſteins klaſ—
ſiſcher Abhandlung „Zur Elektrodynamik bewegter Körper“,
die freilich in den Schwierigkeiten des Ausdrucks, ja, des Ge⸗
dankens gemildert, verdünnt, verzuckert werden muß, um
für einen größeren Kreis als Erkenntnisquelle genießbar zu
werden. Auch mit dieſem Vorbehalt kann ich beim beſten
Willen dem Leſer die Kletterei über einen vereiſten Grat nicht
erſparen. Möge ihn die Hoffnung auf eine Ausſicht aller—
erſten Ranges mit der nötigen Tapferkeit ſtärken!
*
224
Alſo nicht wortwörtlich nach Einftein, aber annähernd ſinn⸗
getreu nach dieſem Bahnbrecher ſei folgendes definiert:
„Die Geſetze, nach denen ſich die Zuſtände der phyſikali—
ſchen Syſteme ändern, find unabhängig davon, auf wel—
ches von zwei zueinander in gleichförmiger Translation be—
findlichen Syſtemen dieſe Zuſtandsänderung bezogen wird.“
„Jeder Lichtſtrahl bewegt ſich im ruhenden; Syſtem mit
beſtimmter gleichbleibender Geſchwindigkeit, unabhängig
davon, ob dieſer Lichtſtrahl von einem ruhenden oder beweg—
ten Körper entſandt wird. Die Geſchwindigkeit drückt ſich
durch das Verhältnis der Zeitdauer zum Lichtweg aus“, wo⸗
bei zur Beſtimmung der Zeitdauer zwei ſynchrone, das heißt
ideal gleichlaufende Uhren vorausgeſetzt werden.
In dieſen Poſtulaten, die den Einfluß der Translation
ausſchalten, dafür aber die abſolute Lichtgeſchwindigkeit als
ein notwendiges Merkmal jeder Erkenntnis einführen, iſt
das Ergebnis des Michelſonſchen Spiegelverſuches enthalten;
und da dieſes Reſultat nur in einem Zerwürfnis mit der alten
Mechanik als möglich erſcheint, ſo muß dieſes Zerwürfnis
in der rechneriſchen Ausfolgerung irgendwie zutage treten.
Es iſt unausbleiblich, daß gewiſſe Anſchauungen, die wir als
phyſikaliſche Denkform für vollkommen natürlich, ſelbſtver—
ſtändlich und eigentlich der Erörterung entzogen erachten, auf
den Kopf geſtellt werden, ſobald wir ſie an dem ſoeben auf—
geſtellten Relativitätsprinzip meſſen. Und dieſe Wirkung
ſtellt ſich denn auch beim erſten rechneriſchen Anlauf mit einer
gar nicht zu überbietenden Heftigkeit ein.
Es gibt nichts Elementareres als die Streckenmeſſung.
Stellen wir uns einen ſtarren, dünnen, geradlinigen Stab
vor, aus unveränderlichem harten Metall, der ſich in der
Richtung ſeiner eigenen Ausdehnung fortbewegt. Seine
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 15
225
Länge ſoll von zwei Beobachtern gemeſſen werden. Der eine
mißt, ſelbſt in Ruhe befindlich, nach dem optiſchen Verfah—
ren, während der andere die Bewegung mitmacht und die
Stablänge direkt durch Anlegen eines Maßſtabes ermittelt.
Beide Beobachter arbeiten nach untrüglichen Methoden, nur
daß ſich bei dem einen, dem ruhenden, der Einfluß des
Relativgeſetzes geltend machen muß. f
Und hier erleben wir die erſte Überraſchung: Für ein und
denſelben Stab werden zwei verſchiedene Längen feſtge—
ſtellt! Die Bewegung an ſich hat feine Länge verändert!
Genauer ausgedrückt: Das Verhalten des ſtarren Stabes
im bewegten Syſtem vom ruhenden beurteilt, zeigt eine
Anomalie, die zu allererſt kaum eine andere Deutung ver—
trägt als die einer geometriſchen Widerſinnigkeit.
Was geht eigentlich hier vor? iſt die Geometrie umge—
fallen? ſchießt die Logik Kobolz? Iſt eine feſte Strecke nicht
mehr identiſch mit ſich ſelbſt? — Im erſten Moment wollen
wir wohl der Bedrängnis entſchlüpfen, indem wir uns in den
Ausweg einer „optiſchen Täuſchung“ zu retten verſuchen.
Aber nein! hier liegt ein rein rechneriſches, mathematiſch
vollkommen einwandfreies Ergebnis vor; von einer Verſchie—
bung im Sinne des Falſchſehens kann gar keine Rede ſein,
die Verſchiebung iſt einzig und allein auf das Konto des
Relativitätsprinzipes zu ſetzen, und da wir dieſes einſtwei—
len als unerſchütterlich anzunehmen haben — wir müßten
denn die Translation als ſolche leugnen —, ſo bleibt nur
übrig, bis zum Eintritt einer weiteren Erleuchtung an einen
Hexenſpuk zu glauben, der die Geometrie verwirrt.
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Die leiſe Hoffnung des Verängſtigten, es könne ſich viel—
leicht nur um einen Gelegenheitsſtreik der Geometrie han—
deln, ſcheitert bald an noch ſchlimmeren Offenbarungen. Die
Geometrie verkündet einfach den Generalſtreik, und die ſonſt
jo arbeitswillige alte Mechanik beteiligt ſich daran auf gan—
zer Linie. Beide vereinigt begehen nunmehr die ſchwerſten
Exzeſſe gegen die alte Ordnung der Dinge.
Denn wenn ſchon eine feſte Strecke ſich ſelbſt aufgibt,
wenn ſie kürzer wird mit fortſchreitender Bewegung, ſo geht
es einem feſten Körper noch grotesker: Ein ſtarrer Körper,
der in ruhendem Zuſtand ausgemeſſen die Figur einer Kugel
hat, gewinnt in bewegtem Zuſtand — vom ruhenden Syſtem
aus betrachtet — die Geſtalt eines Rotationsellipſoids, er
wird nahezu eiförmig. Bei geſteigerter Bewegung ſchrumpft
ſeine Bewegungsdimenſion immer mehr zuſammen, ſobald
er die Lichtgeſchwindigkeit erreicht, geht ſeine Körperhaftig—
keit vollſtändig verloren; er verwandelt ſich in ein flächen—
haftes Gebilde, in eine unendlich dünne Kreisoblate, fällt
vollſtändig aus der Stereometrie heraus, wird ſozuſagen
der Schatten feiner ſelbſt.
Und wenn dieſe Kugel zum Beiſpiel ein Planet iſt, deſ—
ſen Translation bis zum Lichttempo anſchwillt, ſo ſauſt er
fortan in aller Körperloſigkeit durch den Weltenraum als
ſchattenhafte Kreisſcheibe. Er ſelbſt kann es nicht merken,
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ebenſowenig ſeine Bewohner, die alleſamt plattgedrückt ſind,
ohne ſich ihrer Plattheit bewußt zu werden. Denn ihre Beob—
achtungsinſtrumente und ihre Sinneswerkzeuge haben gleich—
zeitig die nämliche Entformung durchgemacht. Nichts könnte
ihnen verraten, wie ſehr ſie ſich verändert haben. Ihr Leben
Hund Treiben würde in ihrer eigenen Beurteilung nicht die
geringſte Abweichung vom gewohnten Typus aufzeigen, nur
15 *
227
der draußenſtehende Unparteiiſche würde erkennen, daß fie
ſich ſämtlich in umgekehrte Peter Schlemihle verwandelt
haben: in Schatten, die ihre Körper verloren.
Nach dem Zuge dieſer Unterſuchung wird es wohl klar ge—
worden ſein, daß dieſe fabelhafte Verdünnung nicht etwa
auf luftige oder ätheriſche Widerſtände zurückzuführen iſt,
noch weniger auf etwaige Zentrifugalkräfte. Nein, die Be—⸗
wegung ſelbſt iſt es, die ſolches Unheil erzeugt, nichts
außer ihr; die Bewegung verwüſtet die Form. Was wir bis
vor kurzem unter der Figur eines Körpers verſtanden haben,
wird ſinnlos vor dem Relativitätsgeſetz. Unter feiner Herr:
ſchaft wird jede Figur falſch beſchrieben, wenn ſie nur in
Raumdimenſionen ihren Ausdruck findet. Die Figur wird
vielmehr zu einer Funktion der Geſchwindigkeit, alſo auch
der Zeit.
Und die Zeit, die wir bisher nur als eine Bewußtſeins—
form im Nacheinander der Ereigniſſe kannten, erhebt ſich
plötzlich zu einem Machtfaktor in der beſchreibenden Geo—
metrie: In den Dreibund von Länge, Breite und Höhe tritt
ſie als vierte Koordinate mit allen Rechten einer formbe—
ſtimmenden Dimenſion.
Längſt haben wir alle Anſchaulichkeit hinter uns werfen
müſſen. In der Euklidiſchen Wiſſenſchaft bleibt ſelbſt bei
den gefährlichſten Spekulationen, bei den äußerſten Schwie—
rigkeiten der Flächendurchdringung, noch ein Reſt von An—
ſchaulichkeit für einen, der ſich im Raum leidlich gut zu
orientieren verſteht. Aber hier ſitzt plötzlich in der rechnert—
ſchen Entwicklung ein Dämon in Geſtalt einer veränderlichen
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Zeitgröße, die zugleich Zeit und Raum fein foll, ein Geſpenſt,
das ſich mit der Lichtkonſtanten verkuppelt, zu Null zus
ſammenſchrumpft, zu Unendlich auswächſt, das rechneriſche
Monſtroſitäten hervorzaubert und mit ihnen jeder anſchau—
lichen Möglichkeit ins Geſicht ſchlägt.
Und der nämliche Dämon übt ſeine Gewalt, wenn wir
nunmehr die Maſſe als ſolche in die Relativität einbezie—
hen; wenn wir eine bewegte Kugel, einen bewegten Pla—
neten, nicht nach ihrer Form, ſondern nach ihrem materiellen
Inhalt befragen. Eine Maſſe wird durch die Kraft charakteri—
ſiert, die erforderlich iſt, um ſie in Bewegung zu ſetzen, auf—
zuhalten oder aus ihrer Bahn abzulenken. In der alten
Mechanik wurde die Maſſe durch die Kraft in einfacher Pro—
portionalität beſchleunigt, in der neuen Mechanik, die ſich
auf das Relativitätsprinzip gründet, wird die Kraft ſelbſt
vergewaltigt. Je länger ſie auf den Körper bei ſtarker Be—
wegung einwirkt, deſto geringer wird ihre beſchleunigende
Leiſtung. Und da die Maſſe nicht anders zu definieren iſt
als durch den Widerſtand, den ſie der Kraft bietet, ſo ſpringt
uns nunmehr eine weitere Unerhörtheit in unſer ſchon ge—
nügend verdutztes Geſicht. Die Rechnung ergibt klipp und
klar:
Die Maſſe eines Körpers wächſt mit erhöhter Geſchwin—
digkeit; ſie wird unendlich groß, wenn ſie in ihrer Be—
wegung die Lichtgeſchwindigkeit erreicht. Eine Flintenkugel,
die dieſe Geſchwindigkeit erzielt, wird dadurch unendlich
ſchwerer als alle Erden, Sonnen und Siriuſſe zuſammenge—
nommen. Alle Gewalten der Welt ſind nicht mehr vermö—
gend, ihr eine Beſchleunigung zu erteilen.
Wir haben ſomit unſere Vorſtellung von der Konſtanz
der Materie, von der Beſtändigkeit einer Schwere, eines
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Gewichtes, einer dem Gefühl zugänglichen Körperlichkeit,
mit Stumpf und Wurzel auszureißen. Wir haben uns der
neuen Vorſtellung zu unterwerfen, daß eine körperliche Maſſe
die Identität mit ſich ſelbſt verliert, wenn ſie zu anderen
Geſchwindigkeiten übergeht.
Wir müſſen uns aber auch mit einem Widerſpruch ab—
finden, der alles Vorausgegangene an Extravaganz über—
bietet: Jener Werwolf der Geſchwindigkeit, der im Rela—
tivitätsprinzip niſtet, ſchlägt ſeine Krallen zugleich nach
der Figur und nach der Subſtanz. Mit ein und demſelben
Griff verdünnt er die Form und verdickt er die Maſſe. Un:
terſuchen wir die Figur einer Kugel, ſo finden wir bei im—
menſer Beſchleunigung eine Kreisoblate; unterſuchen wir die
Materie, ſo ergibt ſich eine über alle Begriffe geſteigerte
Maſſigkeit. Die Kugel bewegt ſich, und der Verſtand ſteht
ſtill. Denn was er findet, iſt der Gipfel aller Denk-Abenteuer
ein jeder Kraft überlegenes Nichts, ein Schatten von uns
endlicher Schwere!
Aber rechneriſch, mathematiſch— phyſikaliſch iſt alles in
ſchönſter Ordnung, und du könnteſt eher mit deinen Fingern
aus den Alpen das Matterhorn herausbrechen, als irgend—
ein Beweisglied aus den Gleichungen, in denen ſich jene Er—
ſtaunlichkeiten ausdrücken.
In dieſen Gleichungen wird das Denken zukünftiger Ge—
ſchlechter die allein gültige Orientierung finden. — Falls das
Relativitätsprinzip lückenlos richtig iſt und in ihm allein
alle Wahrheit beſchloſſen liegt.
Aber wie denn? Kann es denn noch eine richtigere Rich—
tigkeit geben als die mathematiſche? Die Frageſtellung iſt
bedenklich. Sie rührt an eines der tiefſten Geheimniſſe, das
ſelbſt als Problem dem Worte kaum zugänglich iſt. Und
230
ET
auch dies Problem ift nicht dazu da, um gelöft, ſondern nur
um — höchſtens — erörtert zu werden.
Alſo ich meine — und ich bitte, die Ich-Form zu entſchul⸗
digen, da ich kein anderes Mittel weiß, um dieſe Meinung
vorzutragen —, daß die mathematiſchen Wahrheiten nur be—
dingungsweiſe die letzten Wahrheiten ſind. Man fängt an,
ſich von dem Glauben loszumachen, daß die mathematiſchen
Einſichten auf reinen Denkformen a priori ruhen, man
läßt zu, daß ihnen vielmehr ein gewiſſer Satz von Erfah—
rungen zugrunde liegt, ſelbſt den analytiſchen Urteilen von
Hume und den Verites eternelles von Leibniz. Große
mathematiſche Geiſter, wie Gauß, Mach, Poincaré, Helm—
holtz haben dieſe Anſicht vertreten. Und da mir dies ein—
leuchtet, jo meine ich: die Mathematik kann anfangen un—
ſchlüſſig zu werden, wo eine Welt von Erfahrungen eine Welt
von neuen Fragen aufmacht.
Aus einer erkenntnistheoretiſchen Ecke könnten Motive her—
vorbrechen, die mit den mathematiſchen Motiven zuſammen
in eine andere Welt hineinführen, jenſeits von Richtig
und Falſch.
*
Sehen wir uns daraufhin doch einmal das neue Relativi—
tätsprinzip an. In einer mathematiſch unanfechtbaren Weiſe
beweiſt es uns, daß die Lichtgeſchwindigkeit die größte aller
möglichen Geſchwindigkeiten im Univerſum ſein muß. Weil,
wenn es eine noch größere gäbe, der mit ihr bewegte Körper
eine über Unendlich geſteigerte Maſſe gewinnen, ſomit zu
einer Sinnloſigkeit entarten würde.
Dieſe Sinnloſigkeit wird abgelehnt zugunſten eines Grund—
geſetzes der neuen Mechanik, welches eben beſagt, daß die
Lichtgeſchwindigkeit das abſolute Maximum darſtellt. Da
231
meldet ſich des Zweiflers Frage: iſt denn die aus dieſem
Grundgeſetz abgeleitete, mit ihr in der nämlichen Gleichung
verquickte andere Unmöglichkeit vom unendlich dünnen und
trotzdem unendlich ſchweren Körper nur um ein Atom be—
greiflicher, annehmbarer? Und wenn ich die erſte verwer—
fen ſoll, welcher Erkenntnisgrund kann mich nötigen, die
zweite anzuerkennen? Und wenn ich die zweite annehme,
warum nicht auch die erſte, die mich in dieſen furchtbaren
Zirkulus hineingetrieben hat? Zwei Unmöglichkeiten ſtehen
hier gegeneinander, und die Waffen der Mechanik verſagen
gegen beide. Mitten drin ſind wir im Gebiet jenſeits von
Richtung und Falſch, jeder Verſuch, ſich in ihm zu orientieren,
auch mit den ſonſt untrüglichen Werkzeugen der Mathematik,
iſt in dieſem Anlauf nichts als der Sprung über den eigenen
Schatten, die Jagd nach dem Spiegelbilde hinter dem Spie—
gel, das Emporziehen der Leiter, auf der man ſteht!
Dasſelbe Spiel gewahren wir, wenn wir den Anfang der
Relativitätserkenntnis mit dem Ende vergleichen. Den An—
fang gewannen wir aus dem Begriff der „Translation“,
die wir annehmen ſollten und mußten, weil das Gegenteil,
eine partielle Ruhe im Weltganzen, unausdenkbar erſcheint.
Und am Ende grinſt uns die Verkündigung an, daß jenes
Geſchöpf Lumen nicht möglich iſt, daß die Lichtſchnelligkeit
das Maximum aller Geſchwindigkeiten darſtellt; die ab ſo—
lute Höchſtgrenze. Alſo eine ſcharfbegrenzte Konſtante als
ein Abſolutes in einer gänzlich auf das Relative geſtellten
Lehre, in der alles und jedes auf das Unendliche hindrängt!
Im Verhältnis zu den Räumen des Weltalls iſt das Licht—
tempo eine Null; und wenn kein Körper, kein Planet, keine
Sonne in ihrer kosmiſchen Wanderung dies Tempo, dies
relative Null, überſchreiten darf, — ja dann ſäße ich ja
183
wieder genau auf derſelben Unausdenkbarkeit, die eben durch
die Annahme einer Translation herausgeſchafft werden ſollte!
Denn ebenſogut, wie ich mich am Ende mit einem end—
lichen Maximum befreunden ſoll, könnte ich mich ja im
Anfang ſchon mit einem geringeren Maximum verſöhnen,
und wenn ich am Schluß zur Überwindung eines Denkzwan⸗
ges getrieben werde, warum nicht ſchon im Anfang? Bes
täube ich dieſen Denkzwang aber ſchon früher, ſo verwan—
delt ſich die ganze Translation aus einer Notwendigkeit in
eine Willkür, und jede ihrer Folgerungen iſt von vornherein
mit dem Zeichen der Unzuverläſſigkeit behaftet. Alſo auch
ſo geſehen erſcheint dieſe Kette angeblicher Unumſtößlich—
keiten als eine mythiſche Schlange, die ſich in den Schwanz
beißt und mit ihren Giftzähnen vorn ihren Giftſtachel hin—
ten auffreſſen will.
*
Denkzwänge vorn und hinten, doppelte Widerſprüche an
allen Enden! Doppelt, weil ſie nicht nur aller Erfahrung
und Anſchaulichkeit widerſprechen — darüber wäre auf Mo—
mente hinwegzukommen —, ſondern weil jeder zugleich ſeine
Prämiſſe verhöhnt und ſeiner Folgerung ſpottet. Kann es
jemals gelingen, die geheime Quelle des tiefſtliegenden Wi—
derſpruchs aufzudecken? Sollte vielleicht irgendeine Welt—
gleichung exiſtieren, aus der ſich herausrechnen ließe, daß
nicht nur alle Beſchleunigungsmöglichkeit, ſondern auch die
mathematiſche Denkweiſe an Grenzen gebunden iſt?
Man greife es an wie man wolle, überall gerät der In—
tellekt an Abgründe, vor denen er zurückſchaudert. Da, wo
ſich das vierdimenſionale Chaos auftut, iſt es eigentlich noch
am gemütlichſten. Die Zeit als vierte Koordinate widerſpricht
zwar jeder anſchaulichen Vorſtellung, läßt ſich nicht begrei—
233
Br
fen, aber doch traumhaft erahnen, wie die Unſterblichkeit,
wie die Auferſtehung. Auch die alte Mechanik hat mit ihr
im Sinne einer gewiſſen Vierdimenſionalität gerechnet und
damit praktiſch beweisbare Ergebniſſe gewonnen. Aber ſchon
dieſe alte Mechanik hat erfahren, daß das Durchhalten eines
mechaniſch-mathematiſchen Prinzips bis ins Extrem nicht aus⸗
führbar iſt. So ließ ſich das Gravitationsprinzip nicht bis
zur molekularen Annäherung durchfolgern, weil hier Un—
endlichkeitswerte auftreten müßten, die der Denkmöglichkeit
widerſtreiten. Aber die neue, die Relativitätsmechanik, die
zum großen Teil außerhalb der Erfahrung arbeitet, ſchreckt
vor ſolchen Unendlichkeitswerten nicht zurück, und verkündet
ihre tranſzendenten Ergebniſſe mit aller Sicherheit, denn ihre
Poſition iſt mathematiſch uneinnehmbar.
Vielleicht aber erkenntnistheoretiſch doch angreifbar.
Den erſten Sturm wird ſie gewiß abſchlagen. Ja, ich
zweifle gar nicht daran, daß ſie ihre Stellung auf eine
weite Zeitſpanne hinaus noch mehr und mehr befeſtigen wird.
Denn ſie beſitzt außer ihrer mathematiſchen Feſtung noch
eine Hilfstruppe im freien Felde, die ſich vorläufig mit jedem
Tage vergrößert.
Dieſe Truppe, die bisher nur Siege zu verzeichnen hat,
marſchiert unter der Flagge der Elektronentheorie. Ihre
Führer, vor allen der Leydener Nobelpreisträger Antoon Lo—
rentz, ſchworen nicht von Anbeginn zur Relativitätslehre;
allein mit ihren Leiſtungen gerieten fie in den relativen Wir:
bel, aus dem es kein Entrinnen gibt. Nur mit flüchtigſtem
Seitenblick auf die Zuſammenhänge darf hier die Frage ge—
ſtreift werden, was die beiden Diſziplinen veranlaßte, einan⸗
der zu begegnen, ja ineinander aufzugehen.
Die ſeltſamen Tänze elektriſcher, magnetiſcher Teilchen
234
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konnten nämlich zwar mit vollkommener Genauigkeit bes
ſchrieben, allein durchaus nicht mechaniſch begriffen werden.
Die Aufgabe ihrer Beſchreibung wurde durch die ſogenannten
Hertz-Maxwellſchen Differentialgleichungen reſtlos gelöſt,
aber eben dieſe Gleichungen leben in unverſöhnlicher Feind—
ſchaft zur alten Mechanik. Will man ihnen überhaupt die
Möglichkeit zur Mechanik öffnen, ſo ſieht man ſich auf den
einzigen Weg angewieſen, nämlich die alte Tür zu vermau—
ern und das neue Tor zur Relativität vierdimenſional auf—
zuſperren. Unternimmt man dies, ſo verwandelt ſich die
Feindſchaft mit einem Schlage in herzlichſte Sympathie, und
die Bewegungsphänomene der Elektrizität, des Magnetis—
mus, weiterhin der Optik, werden verſtändlich — was man
ebenſo in dieſen geheimnisvollen Gebieten „verſtändlich“
zu nennen beliebt.
Mit dieſem Vermögen, in die Wirrnis der Elektronen eine
mechaniſche Ordnung hineinzubringen, ſpielt das Relativi—
tätsprinzip ſeinen allerſchärfſten Trumpf aus. Er erſcheint
den großen Phyſikern ſo unübertrumpfbar, daß ſie es darauf—
hin wagen, die ganze Naturwiſſenſchaft auf die eine Karte zu
ſetzen: Da es nicht möglich iſt, die elektriſchen Phänomene
altmechaniſch zu erklären, ſo wollen ſie nunmehr die mechani—
ſchen elektriſch erklären, das heißt alles Weltgeſchehen in
einen Wirbel von Elektronen auflöſen. Und das iſt nur mög—
lich, wenn alle Vorgänge in ein reines Vakuum verlegt wer—
den, wenn dem Träger aller Bewegungen, dem Ather, jede
materielle Eigenſchaft abgeſprochen wird.
Wiederum geraten wir hier in einen Zirkelſchluß; denn die
neue Mechanik erſcheint am Anfang und am Ende der Gedan-
kenreihe, ſie tritt als Frage auf, um ſich ſelbſt als Antwort
zu fordern.
235
Stern und Kern der eigentlich mechanifchen Naturauffaf-
ſung iſt das Energieprinzip, das Geſetz von der Erhaltung
der Kraft, wie es lange vorgeahnt, von Robert Mayer funda-
mentiert, von Clauſius, Joule und Helmholtz nach allen
Richtungen ausgebaut wurde. Und wenn die Entdeckung die⸗
ſes Prinzips aufs innigſte mit der Frage zuſammenfiel:
Welche Beziehungen müſſen zwiſchen den Naturkräften be—
ſtehen, wenn es unmöglich ſein ſoll, ein Perpetuum mobile zu
bauen? ſo erhebt ſich nunmehr eine Frage, die Planck in die
Worte faßt: Welche Beziehungen müſſen zwiſchen den Natur⸗
kräften beſtehen, wenn es unmöglich ſein ſoll, an dem Licht—
äther irgendwelche ſtoffliche Eigenſchaften nachzuweiſen?
Die erſte Frage wird in weiteſtem Sinne durch die allge—
mein⸗mechaniſche, die zweite durch die neumechaniſche, rela=
tiviſtiſche Naturauffaſſung beantwortet. Und hierin ſcheint,
an alter Schullogik gemeſſen, abermals ein höchſt gefähr—
liches, mit geheimen Trugſchlüſſen hantierendes Doppelſpiel
ſein Weſen zu treiben.
Denn die neue Beantwortung der zweiten Frage führt un—
mittelbar zur Relativitätstheorie, zur neuen Mechanik, zur
Aufhebung der Maſſenkonſtanz und damit auch zur Aufhe—
bung der alten Energievorſtellung, da die Maſſe nur energe—
tiſch begriffen werden kann. Iſt die neue Beantwortung der
zweiten Frage richtig, ſo ſtellt alſo die frühere Beantwor—
tung der erſten Frage einen Irrtum dar. Dann liegen in
deren Bereich drei Möglichkeiten vor: entweder war ihre
Vorausſetzung falſch, dann gäbe es ein Perpetuum mobile;
oder die mathematiſch-phyſikaliſche Ausfolgerung war un—
genau, oder ſchließlich: die Frageſtellung war verfehlt. Da
nun aber die zweite Frage haarſcharf ſo aufgebaut iſt wie die
erſte, ſo unterliegt ſie durchaus den nämlichen drei Eventuali—
236
täten, von denen jede zu einer Ungenauigkeit führen kann und
im Grenzfall führen muß. Unſere eigene Vorausſetzung
lautete in dieſer Gedankenreihe: „Wenn die neue Beantwor⸗
tung der zweiten Frage richtig iſt“, — unſer Schluß, „dann
muß oder kann das Ergebnis falſch ſein.“ Der Widerſpruch
kann nicht mehr übertroffen werden. Über die Schlange, die
ſich in den Schwanz beißt, ſind wir hier weit hinaus: dieſe
Schlange beißt ſich in ihren eigenen Kopf!
Wir müſſen alles, was an Erkenntnistheoretiſchem in
uns gegenwärtig lebt, umſtülpen, neuordnen, wenn wir uns
mit dem Relativitätsprinzip befreunden wollen. Bleibt es
ſiegreich, ſetzt es ſich im Laufe langer Zeiten als Denkform
durch, dann erſcheint die Umwandlung erkenntnistheoretiſcher
Einſichten die unausbleibliche Folge.
Von dieſen Folgen laſſen ſich einige als grundſtürzend
ſchon heute vorausſehen, nämlich:
Es iſt möglich, von falſchen Prämiſſen durch exakte Folge⸗
rung zu richtigen Reſultaten zu gelangen.
Es iſt ebenſo möglich, von richigten Prämiſſen durch 5
Schlüſſe bei falſchen Reſultaten zu landen.
Auf praktiſchem Gebiete ſind derartige Fälle bereits in
vereinzelten Proben vorgebildet. Das Kant-Laplaceſche Welt:
ſyſtem bietet hierfür ein Beiſpiel. Die Vorausſetzungen
Kants ſind teilweis als unrichtig längſt erwieſen, ſeine
Schlüſſe — mit Einſchränkung zu verſtehen —, waren kor—
rekt, ſein Ergebnis gilt nach heutiger Auffaſſung noch als
gültig.
*
Wird ſich nun das neue Prinzip durchſetzen? Die genia—
len Wortführer der Sache ſind deſſen in ihrer Beweis—
führung ganz ſicher, es darf anderſeits nicht verſchwiegen
237
werden, daß fie einige leiſe Zweifel hindurchſchimmern laſſen,
ſobald ſie, was doch gar nicht zu vermeiden iſt, die Frage der
Anſchaulichkeit ſtreifen. Ja, zuweilen regt ſich bei einigen
im Gewiſſensgrund eine Eontraftierende Stimme, die nach
Erlöfung ruft. In ihren phyſikaliſchen Schwüren ſteckt un-
ter der Schwelle der Hörbarkeit die reservatio mentalis:
Wir arbeiten mit einer Hypotheſe, zu der uns gewiſſe Not—
wendigkeiten zwingen, weil wir keine beſſere Hypotheſe be—
ſitzen.
Aber jene Schwüre treten heute dennoch mit dem An—
ſpruch der Beweiskräftigkeit auf. Vor allem ſoll der Ana—
logieſchluß als durchgreifend anerkannt werden: Der Menſch—
heit Denken hat ſich fchon einmal vor vierhundert Jahren
von der Anſchaulichkeit losgerungen, damals, als es galt,
die Exiſtenz der Antipoden zu begreifen und den Erdplaneten,
die uns bekannte unendliche Welt menſchlicher Ereigniſſe,
als eine Winzigkeit im Weltall zu erkennen. Die Gravita—
tionslehre, das kopernikaniſche Syſtem, die Keplerſchen Ge—
ſetze haben die antike Anſchaulichkeit ausgerottet und das
Denken zunächſt mit einer Unbegreiflichkeit überrumpelt, die
ſich allmählich zu einer neuen, höheren, auf kosmiſche Orien—
tierung bezogenen Anſchaulichkeit organiſierte. Auf einer er—
höhten Stufe der Forſchung reicht auch dieſe zweite Anſchau—
lichkeit nicht mehr aus. Und genau ſo wie vor vierhundert
Jahren ein ganz neues Denken Platz greifen mußte, ſo ge—
raten wir heute an die harte Notwendigkeit, uns zu einer
dritten Anſchaulichkeit zu erziehen. Galileis „eppur si mu-
ove!“ gewinnt eine neue Bedeutung: Was ſich bewegt und
in der Bewegung verändert, iſt nicht nur die Erde, ſondern
der innere Charakter der Zeit. Fürs erſte meutert die
Gehirngewohnheit mit aller Hartnäckigkeit gegen die gewalt—
238
c
ſame Zumutung. Aber dieſen Prozeß der Denkträgheit ken—
nen wir ja ſchon aus der Geſchichte. Und wir wiſſen, daß ſie
mit dem Siege der großen Idee über die ererbte Anſchauung
enden muß. In unſerem Falle: Aus einer alten und ver—
alteten Anſchaulichkeit wird eine neue hervorwachſen, die mit
ihrem unvergleichlich weiter geſpannten Horizont das Prin—
zip der Relativität als eine Verſtändlichkeit, vielleicht ſogar
einmal als eine Selbſtverſtändlichkeit umfaſſen wird.
Aber wiederum könnte der Zweifler ſagen: dieſer Analogie—
ſchluß hinkt auf beiden Beinen, auf dem einen, weil das
Gleichnis mit der kopernikaniſchen Lehre nicht ſtimmt, auf
dem andern, weil der Horizont ſich nicht erweitert, ſondern
verengt. Das Syſtem des Kopernikus war nicht nur auf
Erfahrung errichtet, nicht nur vorausgeahnt, vorausgedacht
von hellen Köpfen des Altertums, ſondern es brauchte nur
ausgeſprochen zu werden, um ſofort den Schlüſſel zu einer
Welt ſonſt unerklärlicher Erſcheinungen zu bilden. Wer ſei—
nen einzigen radikalen Denkakt erfaßt hatte, der ſpürte, daß
er damit aus einer Welt der Abſurditäten in eine Welt der
Begreiflichkeiten gedieh. Tauſend Unklarheiten verſchwanden,
eine kosmiſche Durchſichtigkeit tat ſich auf. Bietet ſich hier
wirklich die genügende Parallele mit der neuen Lehre, an
deren Anfang und Ende lauter Denkverzweiflungen ſtehen?
die das Gehirn in zwei Teile zerſägt, von denen der eine
mathematiſch befiehlt und der andere erkenntnistheoretiſch
den Gehorſam verweigert? aus deren gärenden Schoß my—
ſtiſch verlarvte Ungeheuer aufſteigen?
Nein, dieſe Parallele verſagt durchaus. Nichts im Rela—
tivitätsprinzip kündigt ſich dem reinen Erlöſungsbedürfnis
als befreiende Offenbarung an, als Heilsbotſchaft, alles in
ihr klingt ihm nach mathematiſcher Scholaſtik. Und es wird
239
den Verdacht nicht los, daß es, anſtatt unſeren Standpunkt
zu erhöhen, uns eigentlich in den Anthropomorphismus zu⸗
rückwirft. Das kopernikaniſche Lehrſyſtem, welches den geo—
zentriſchen Standpunkt als kleinlich erkannt und die helio⸗
zentriſche Betrachtung geöffnet hat, befriedigte eine uralte
Sehnſucht nach der Unendlichkeit; war doch ſchon der erſte
Sonnenanbeter der erſte Kopernikaner! Die Relativitäts—
lehre mündet bei der Lichtkonſtanten, bei einer Endlichkeit,
jenſeits deren die Welt mit bretternen Formeln vernagelt
wird. Was find denn jene fatalen 300000 Kilometer in der
Sekunde? Eine auf irdiſche Ausmaße bezogene Verhältnig-
zahl! Der Erdäquator ſiebenundeinhalbmal genommen. Eine
Strecke, die jeder Schiffskapitän, jeder Lokomotivführer prak⸗
tiſch erleben kann. Und die ſoll eine Begriffsgrenze dar—
ſtellen, wo es ſich um die letzte Einſicht in das Weltganze
handelt? Das erinnert doch wirklich an jene talmudiſche
oder hindoſtaniſche Weisheit, die das Längenmaß ihres per=
ſönlichen Gottes nach ſoundſo vielen Meilen bezifferte!
Alles Außermenſchliche, Relative, Tranſzendente der neuen
Lehre kann nicht darüber hinweghelfen, daß in ihrem Grunde
ein Menſch ſitzt, ein „Beobachter“, der vom ruhenden Sy—
ſtem aus das bewegte beurteilen will und ſich hierbei auf
Lichtſignale, Lichtwahrnehmungen verläßt, der von der Qua—
lität eines beſtimmten Empfindungsorgans, alſo von ſich
ſelbſt, nicht loskommt. Aus der kopernikaniſchen Lehre kann
der Menſch vollkommen herausgehoben werden, ſie bleibt
trotzdem beſtehen. Das Relativitätsprinzip iſt von der be—
ſtimmten Beurteilung des beſtimmten Beobachters nicht ab—
zutrennen; es bleibt verbunden mit einer anthropomorphen
Grundanſchauung, die das Licht vermenſchlicht; ja, vielleicht
liegt das Geheimnis all der Ungeheuerlichkeiten, die wir im
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Verfolg der Relativität durchzumachen hatten, einzig in dem
Lichtbegriff ſelbſt, der als das Poſtulat eines Zufallsſinnes
einfach ſinnlos wird, ſobald man den organiſchen Grund die—
ſes Sinnes fortdenkt.
Jenſeits von Richtig und Falſch! zu einer anderen Formel
iſt nicht zu gelangen. Sie wird das letzte Wort der Ver—
zweiflung bleiben überall da, wo wir das Gehirn zu Funktio—
nen zwingen wollen, denen dieſer Zellenklumpen nicht ge—
wachſen iſt und denen auch das Überhirn künftiger Gene—
rationen nicht gewachſen ſein wird. Nicht weil es als er—
ſchließendes Inſtrument nicht zureicht, ſondern weil das zu
Erſchließende gar nicht exiſtiert. Der Wahrheitsſucher wird
niemals ein Wahrheitsfinder werden, denn er ſucht etwas
nicht Vorhandenes. Die Wahrheit, definiert als die Über—
einſtimmung der Vorſtellung mit der Wirklichkeit, iſt im
beſten Falle eine anthropomorphe Tautologie, da eine be—
greifliche Wirklichkeit eo ipso mit der Vorſtellung kongruie—
rend zuſammenfällt. Wer aber darüber hinaus fragen will,
fragt ſinnlos. Und trotzdem bleibt es unbeſtreitbar, daß in
der Welt der Erſcheinungen die Relativitätslehre als Er—
forſchungsmittel unerhört Großartiges vollbracht hat! Wie
eine Gottesgewalt kam ſie über den Denkmenſchen, erhellend
und blendend, verwirrend und erleuchtend, mit Blitzſchlägen,
die Pforten der Phyſik aufſprengten und Säulen der Er—
kenntnistheorie an der Wurzel trafen! Vielleicht ſteht fie
ſo außerhalb aller ererbten und erworbenen Denkgewohn—
heit, daß ihr gegenüber nicht einmal die Verſtandesformen
des Glaubens und des Zweifels auftreten dürfen!
*
Man geſtatte mir eine Lehre aufzuſtellen, die ich vorläufig
nur in Form eines Gleichniſſes auszuſprechen vermag: Jede
Moszkowski, Der Sprung über den Schatten 16
241
Wahrheitsfrage iſt ein Komplex von Konftanten und Une
bekannten, die ſich in einer Gleichung zuſammenfinden. Die
Konſtanten der Algebra treten hier als Begriffe und Worte
auf, die Löſung der Gleichung wäre die Wahrheitsfindung.
Wird dieſes zugegeben, ſo folgt alles weitere mit unbe—
dingter Sicherheit. Die Löſung ſtellt ſich dar als ein Aus—
druck aus eben jenen Konſtanten, aus den Worten und Be—
griffen gebildet, die in der Gleichung ſteckten; an Stelle der
Unbekannten eingeſetzt, befriedigt er die Gleichung, liefert
er die Wahrheitsantwort.
Nehmen wir einmal den einfachſten Fall: eine lineare
Gleichung mit einer Unbekannten. Wir wiſſen, daß dieſe eine
Löſung, und zwar nur eine einzige Löſung zuläßt. Hat alſo
die Begriffsfrage dieſe einfache Form, ſo werden wir eine
unzweideutige Wahrheit als Auflöſung herausrechnen, näm—
lich eine ſolche, deren tautologiſchen Charakter wir unſchwer
erkennen.
Bei Gleichungen höheren Grades hört die Eindeutigkeit
auf. Eine reine quadratiſche Gleichung verträgt zwei Löſun—
gen, die einander im Zahlenwert gleich, aber im Vorzeichen
entgegengeſetzt ſind; die Plus-Größe und die zugeordnete
Minus⸗Größe befriedigen mit derſelben Beſtimmtheit die
Forderung der Gleichung. Aus dem Algebraiſchen ins Be—
griffliche übertragen, bedeutet dies: Wenn wir unſerem In—
tellekt eine einfache Begriffsgleichung von quadratiſcher Na—
tur aufgeben, ſo erhalten wir zwei Antworten, die einander
direkt widerſprechen, zwei ſchnurſtracks gegenſätzliche Löſun—
gen, welche die Gleichung reſtlos befriedigen, mithin zwei
Wahrheiten, die einander verneinen und nichtsdeſtoweniger
volle Wahrheiten bedeuten. Und ein großes Welträtſel ent—
ſchleiert ſich auf einmal vor unſeren Augen. Denn dieſe Auf—
242
ra a Ze te
löſungspaare treten ja in unſerer Philoſophie tatſächlich als
Antwortpaare im Sinne der Antinomien auf; fie heißen:
Notwendigkeit und Zufall, freier Wille und Willensunfrei—
heit, Monismus und Dualismus, Theismus und Atheismus,
Schöpfung und Urzeugung, Teleologie und Zweckleugnung,
Ewigkeit und Zeitgrenze, bis zu allen perſönlichen Lehrmei—
nungen, die ſich kontradiktoriſch um die Begriffe Gott und
Teufel gruppieren. Und wir erkennen: faſt alle landläufigen
Fragen der Schulphiloſophie ſind ihrem Weſen nach qua—
dratiſche Gleichungen, die gleichzeitig eine poſitive und eine
negative Wurzel liefern; was die Weltweisheit ſeit alters—
her als eine wahre Crux mit ſich herumgeſchleppt hat, näm—
lich die Unvereinbarkeit polar entgegengeſetzter Entſcheidun—
gen, fügt ſich plötzlich als ein algebraiſches Ergebnis zwanglos
zuſammen; der Zufall erfüllt die Gleichung ebenſo vortreff—
lich wie die Notwendigkeit, die Freiheit ebenſo reſtlos wie
die Unfreiheit, jede richtige Löſung fordert ihr Spiegelbild
mit entgegengeſetztem Vorzeichen als die zweite Löſung einer
und derſelben fragenden Gleichung.
Aber auch hier gelangen wir nicht über die Tautologien
hinaus, nur daß ſie als ſolche etwas ſchwerer zu durch—
ſchauen ſind. Das Gebiet der Tautologie überhaupt verlaſ—
ſen wir erſt mit denjenigen Gleichungen, die mit realen
Größen nicht mehr zu bewältigen ſind und zu imaginären,
komplexen Löſungen führen. Schon bei gewiſſen quadrati—
ſchen Gleichungen kann dieſer Fall eintreten, bei allen reinen
Gleichungen vom dritten Grade aufwärts iſt er unaus—
bleiblich. Nehmen wir etwa eine Gleichung fünften Gra—
des, ſo muß ſie zwar nach Cauchy, Gauß und Hermite
fünf Wurzeln beſitzen, aber dieſe ſind rein algebraiſch nicht
mehr darſtellbar, nur noch in elliptiſchen Tranſzendenten,
16 *
243
und damit entfällt die Möglichkeit, eine derartige Gleichung
ins begriffliche Gebiet hinein zu verfolgen. Selbſt wenn
wir uns anſtatt an unferen eigenen Intellekt, an den Welt:
geiſt als an den Beherrſcher der Laplaceſchen Weltformel
wenden dürften, jo müßte er antworten: die Erkenntnisglei⸗
chung, die du mir vorlegſt, iſt fünften Grades, hat alſo keine
aus Worten oder Begriffen darſtellbare Wurzel. Das, was
du in dieſem Falle ſuchſt, die Wahrheit, iſt nur noch ein
imaginäres Phantom; die Frage nach dieſer Wahrheit iſt
in ſich ſelbſt ſinnlos.
Ich bin tief durchdrungen davon, daß jede Wahrheitsfrage
höherer Ordnung, jede, die ſchon ihrer Faſſung nach die ein—
fach tautologiſche Beantwortung abwehrt, im tiefſten Kern
eine ſolche Begriffsgleichung einſchließt; wenn nicht gar noch
die weitere Unlösbarkeit hinzutritt, daß in der Fragegleichung
von Anfang an mehrere Unbekannte ſtecken. Armes Men—
ſchenhirn! Du ſtellſt da eine Frage auf etwa in der Faſſung
der Kantiſchen: „Wie find ſynthetiſche Urteile a priori mög—
lich?“ Und darauf willſt du eine Antwort haben! Die al-
gebraiſche Löſung einer Gleichung mindeſtens fünften Gra—
des mit mehreren Variabeln! Appellierten wir zuvor von
der Mathematik an die Erkenntnistheorie, ſo müſſen wir
jetzt den Erkenntnistheoretiker an den Mathematiker verwei—
ſen; der wird ihm einen Beſcheid geben, deſſen Inhalt aus
der Formelſprache in klares Deutſch überſetzt lauten müßte:
Das, was du für eine Frage hältſt, iſt eine grammatiſche
Verkettung von Unfaßbarkeiten mit einem Fragezeichen da—
hinter; erwarte keine mögliche Antwort auf ein unmögliches
Etwas, das ſich für eine Frage ausgibt!“
) Ohne Algebra, rein erkenntnistheoretiſch, gelangt Fritz
Mauthner in ſeiner Sprachkritik zu ähnlichen Ergebniſſen, die
244
. a 2 Nu en Fe a > a El nutze
ae 7 Er
Und jo geſehen erfcheint auch die Frage, die dem Rela—
tivitätsprinzip zugrunde liegt, als eine Unauflöslichkeit. Die
Gleichungen, die von den großen Relativiſten im vierdimen—
ſionalen Koordinatenſyſtem entwickelt werden — Wunder—
werke in ihrer Art —, ranken ſich doch nur an der Außen—
ſeite herum. Im Kern ſteckt eine andere, viel kompliziertere
Gleichung, die Antwort haben will auf die allgemeinſte
Frage nach den Zuſammenhängen der Weltgeſchehniſſe. Die
Wahrheit, die dieſe Frage ſucht, exiſtiert nicht, oder ſie liegt
jenſeits von Richtig und Falſch, ſie kann ſich nie wahrhaft
und einleuchtend aus all den Widerſprüchen herausſchälen,
die wir erſchauernd durchmeſſen haben. Wenn wir ſchon
im Bann des Denkzwanges die Frage aufwerfen: Was iſt
Wahrheit? ſo folgen wir wenigſtens dem Beiſpiel des Pi—
latus, der hinausging, ohne die Antwort abzuwarten.
„Vorausgeſetzt, daß die Wahrheit ein Weib iſt“ — ſo
beginnt Friedrich Nietzſche die Vorrede zu ſeinem Jenſeits,
um darauf den Verdacht zu gründen, daß alle Philoſophen,
ſofern ſie Dogmatiker waren, ſich ſchlecht auf Weiber ver—
ſtanden. Mein Verdacht geht weiter. Ich fürchte, daß die
Wahrheit weder ein Weib, noch ein Mann, noch überhaupt
irgend etwas iſt außer der Wurzel einer tranſzendenten Glei—
chung und daß alle Bemühungen der Philoſophen wie der
Phyſiker hier nichts anderes umwarben als ein reines Va—
kuum. Bis eine neue Philoſophie, von der wir heute noch
nichts wiſſen, vielleicht eine Relativitätsphiloſophie, in die—
ſem Vakuum die Anſätze und Keime begrifflicher Erfaß—
barkeiten aufſpüren wird. Eine Preisaufgabe, die die Ur—
enkel der Forſcher von heute beſchäftigen möge!
er freilich ſchöner und eindringlicher vorträgt, als ich fie darzu—
ſtellen vermag.
245
Die Heimat der Größen
Es iſt nicht ſo leicht, Namen zu nennen und zu treffen,
wenn es darauf ankommt, in einem beliebigen Felde die Ewig—
keitsgrößen zu erfaſſen. Wo die ſcharfe Berechnung fehlt, wo
der Augenſchein und die Momentempfindung entſcheidet, un=
terliegen wir ausnahmslos der Täuſchung, die uns eine
Sonne vorſpiegelt, wo nur ein Meteor verglimmt, und die
uns ein Pünktchen überſehen läßt, wo tatſächlich eine Sonne
leuchtet. Oft iſt es verſucht worden, in einem beſtimmten Ge—
biete die Koryphäen zu kränzen; und faſt immer haben die
folgenden Jahrzehnte die getroffene Auswahl beanſtandet,
verworfen, wenn nicht verhöhnt und verlacht. Vor Menſchen—
altern wurde ein Dichter mit dem Vergleich gefeiert:
Traun, ein Schiller und ein Goethe, ja ein Opitz wär' von—
nöten,
Um den Maßſtab zu bezeichnen für die Größe des Poeten!
Und dieſen Opitzen begegnen wir durchweg, wo wir alte
Wertſchätzungen aus unſerem eigenen Geſichtswinkel meſſen.
Vierzehn Jahre währte der Bau der großen Pariſer Oper,
und ſo lange hatten die Kommiſſionen und Fachausſchüſſe
Zeit, ſich die Größen zu überlegen, die für den Prachtbau in
Skulpturen verewigt werden ſollten, als Matadore der Oper
246
überhaupt. Das Reſultat war: kein Weber, kein Wagner,
kein Verdi; Mozart und Meyerbeer nur als Büſten, Rameau
und Spontini in Koloſſalfigur, und am Eingang zu den vor—
nehmſten Plätzen, beſonders auffallend: „Niedermayer“,
ein Muſiker, deſſen Name längſt ausgetilgt iſt bis auf die
Chroniſtenſpur, bis auf die verblaßte Erinnerung an einige
ſehr unbedeutende Opern und ſehr bedeutende Operndurch—
fälle.
Ahnliche Opitzereien und Niedermayereien pflegen ſich ein—
zuſchleichen, wenn Volk gegen Volk in irgendeinem Betracht
der Kunſt, Wiſſenſchaft und Kultur gewogen werden ſollen.
Der ſichere Punkt, von dem aus die Gruppierung der Größen
klar zu überblicken wäre, iſt nicht auffindbar. Aber wenn es
auch im ganz großen Bereich unmöglich iſt, aus der Enge der
Vorurteile herauszukommen, perſönliches und nationales
Falſchſehen zu überwinden, ſo erſcheint wenigſtens für die
Wiſſenſchaft der Anſatz, der taſtende Verſuch einer Me—
thode gegeben; die eben als Methode vor der bloßen
Meinung den Vorzug aufweiſt, das perſönliche Urteil
auszuſchalten. An die Stelle egozentriſcher und heimat—
lich betonter Gründe tritt eine Art von Berechnung. Dieſe
von de Candolle erfundene, von dem Aſtronomen Pik—
kering ausgebaute Methode fußt auf dem Grundgedanken:
Es werden aus allen Nationen diejenigen Gelehrten heraus—
gehoben, die von mindeſtens zwei großen auswärtigen Aka—
demien als Mitglieder gewählt worden ſind. Unſer Oſtwald
hat die zuletzt von Pickering gewonnenen Ergebniſſe prozen—
tual auf die Bevölkerungen berechnet, ſo daß man aus ſeiner
Tabelle den ſpezifiſchen Wiſſenſchaftswert der einzelnen
Völker ableſen kann. Danach ergibt ſich: in wiſſenſchaftlicher
Hinſicht marſchiert heute Sachſen an der Spitze aller Län—
247
der, eine ſtatiſtiſche Beſtätigung der volkstümlichen Selbſt⸗
einſchätzung „mir Sachſen ſein helle“. Ihm folgen zunächſt
Norwegen und Baden, Schweden, Holland und Bayern,
Preußen und England, Dänemark, Württemberg, Frank—
reich, die Schweiz, Belgien, Italien, Oſterreich, Vereinigte
Staaten und in weitem Abſtand davon Rußland. Das abſo—
lute Übergewicht, der wiſſenſchaftliche Schwerpunkt ſozuſa⸗
gen, ruht mithin in Deutſchland.
Die Methode an ſich iſt zweifellos angreifbar, und zwar
gerade in ihrem objektiven Kern. Ihre auf Diplome und
Zahlen geſtützte Objektivität verleugnet jede ſubjektive Schät⸗
zung, alſo gerade das, was wir an Geiſtigkeit in uns auf⸗
bringen, wenn wir uns mit Geiſtesgrößen beſchäftigen. Selbſt
wenn wir zu Unrecht annehmen wollen, daß die Diplome
nur nach Verdienſt verteilt werden, daß Cliquenwirtſchaft,
Begünſtigung und Verſicherung auf Gegenſeitigkeit gar keine
Rolle ſpielen — die Geſchichte der Akademien beweiſt das
Gegenteil —, ſo bliebe immer noch die Frage offen, ob ein
ganz großer Denker, Forſcher und Menſchheitsförderer nicht
mit dem vielfachen Gewicht des Durchſchnittsdiplomierten
anzuſetzen wäre. Demgegenüber beruft ſich die Methode auf
das Geſetz der großen Zahl, auf die Wahrſcheinlichkeit der
wechſelſeitigen Fehlerkorrektur, ſo daß ſchließlich doch eine
gewiſſe Zuverläſſigkeit dieſer Statiſtik herauskommen müſſe.
Das läßt ſich hören, ſelbſt dem Einwand gegenüber, daß in
dieſer Aufmachung ein ungelöſter Reſt bleibt, ein tiefſter
Kern, der ſich jeder Berechnung verſchließt; und um ſo eher
läßt es ſich hören, als in der de Candolle-Pickeringſchen Regel
doch ein erſter Anſatz vorliegt, der wiſſenſchaftlichen Geſamt—
leiſtung mit Zahl und Maß beizukommen. Sie erfaßt nicht
die Gipfel, aber die Hochebene, ſie zeigt mit annähernder
248
ee hun nn 2 om de when U 2m De
BEN La u ana = Dre dm eh ir S
Deutlichkeit die Durchſchnittshöhen des Gelehrtenſtandes in
national geſonderten Gruppen.
Dieſer fertigen Methode ließe ſich aber vielleicht eine un—
fertige zur Kontrolle gegenüberſtellen, eine andere, die nach
der ſubjektiven Seite ſo weit ginge, wie jene erſte mit ihrer
gleichmacheriſchen Unbeſtechlichkeit nach der objektiven. Man
müßte ſich von Anfang an auf die andere Seite des Problems
ſtellen, nicht von den Perſonen und Diplomen, ſondern von
den Dingen und Erſcheinungen ausgehen, um zu ermitteln,
welcher Anteil an den großen Errungenſchaften auf die Völker
entfällt. Eine Aufgabe von enzyklopädiſcher Weite! Kein eins
zelner könnte ſie löſen, denn jeder einzelne wäre zu klein, und
noch weniger eine Akademie, denn durch Hineinziehung einer
gelehrten Körperſchaft würden wir wieder auf Umwegen bei
den Diplomen landen. Wohl aber könnte der einzelne mit
dem vollen Bewußtſein der Unzulänglichkeit die Aufgabe vor—
läufig angreifen und ein für ihn ſelbſt gültiges Ergebnis
hineinſchreiben in der Hoffnung, daß andere das Experiment
wiederholen und durch gehäuften Verſuch in Aufrechnung der
perſönlichen Gleichungen die Fehler allmählich verkleinern.
Eine ſtattliche Reihe von Vorbehalten wird vorauszuſchik⸗
ken ſein. Wir wollen uns verabreden, nur ſolche Errungen—
ſchaften gelten zu laſſen, die entweder das Denken und Fühlen
der Menſchheit nachweislich beſtimmt, gerichtet und erweitert
oder im Sinne der Kultur einen allſeitig anerkannten Fort—
ſchritt bewirkt haben; Kultur in modernem Sinn verſtanden,
nach den Bedürfniſſen der Maſſe gewertet, ohne Rückſicht
auf etwaige Kulturſchäden, die ſich dem einſam wandelnden
Philoſophen unter der Decke des Fortſchritts entſchleiern.
Um einigen Halt in einer Zeitbegrenzung zu finden, be
ſchränken wir die Betrachtung auf die Neuzeit. Bei einem Zu—
249
rückgreifen auf entlegenere Epochen würde die Aufgabe ſelbſt
— Verteilung nach Gegenwartsvölkern — ſinnlos werden.
Wir müſſen verſuchen, unſer Auge gegen das Genie in ge—
wiſſer Weiſe einſeitig abzublenden. Bei den Willensgenies,
den großen Politikern, den Schlachtengewinnern, iſt die Wir—
kung nicht abtrennbar von zahlloſen anderen Faktoren, die
ihnen die Tat ermöglichten, von den Spannkräften, die ſie
vorfanden, von den Punkten, auf die ſie das Schickſal ſtellte,
vom Zufall. Der gewaltige Eroberer wäre, wie ſchon Fried—
rich der Große wußte und ſagte, unter anderen Verhältniſſen
ein gewaltiger Räuber geworden; der große Phyſiker, Erfin—
der, Philoſoph bleibt unter allen Umſtänden er ſelbſt, ſeine
Tat wurzelt in nichts anderem als in ſeinem eigenen Gehirn.
Wenn wir der Schlacht von Lepanto einen entſcheidenden Ein—
fluß auf die Geſtaltung Europas zuſchreiben, ſo gebührt
dieſer Ruhm der Schlacht nicht dem Don Juan d' Auſtria,
der ſie gewann; aber die Darwinſche Theorie gehört dem Dar—
win und die analytiſche Geometrie dem Descartes. Weiter—
hin wird beſondere Vorſicht den Meiſtern der Kunſt gegen—
über zu wahren ſein. Die zwingende Künſtlerſchaft und die
hohe Rangſtellung des Künſtlers reicht noch nicht aus, um
unſere Vorausſetzung zu erfüllen. Wir werden vielmehr —
wenn auch nicht mit der Haftung für Wahrheit, ſo doch mit
dem Vorſatz der Wahrhaftigkeit — zu prüfen haben, ob der
Mann in ſeiner Kunſt ein Pfadfinder und Bahnbrecher ge—
weſen iſt. Die abgetrennten Werke und die Liebe, die wir
ihnen entgegentragen, bieten uns hier keine Wertſicherheit;
entſcheidend bleibt vielmehr, daß der Mann nicht nur am
Ende, ſondern am Anfang einer Entwickelung geſtanden hat.
Mit vielen herrlichen Künſtlern werden noch zahlreiche andere
Perſonen von zweifelloſer Genialität aus der Bildtafel fal—
250
len, denn wie gejagt, wir gehen nicht von den Namen aus,
ſondern von den Dingen und Erſcheinungen; und da dieſe,
dem Problem entſprechend, möglichſt weit abgeſteckt werden
müſſen, ſo bleiben für die Betrachtung nur die Leuchttürme
der Erkenntnis und die Eckpfeiler der Kultur beſtehen.
Mit dieſen Vorbehalten und noch manch anderer reser—
vatio mentalis wollen wir nunmehr Umſchau halten.
Kein Erkenntnisgrund erreicht für die Menſchheit an Breite
und Feſtigkeit ſo gewaltige Maße wie das kopernikaniſche
Weltſyſtem. In ihm iſt alles Denken der Neuzeit verankert.
Nicht die anatomiſche Struktur, ſondern die Befreiung aus
dem Kerker der geozentriſchen Anſchauung hat dem Menſchen
den aufrechten Gang gegeben, der ihm den Welthorizont er—
öffnete. Betrachten wir dieſes Syſtem in ſeinen Begrün—
dungen und Ausſtrahlungen, ſo erſcheint es untrennbar von
der Gravitationslehre, von den Fallgeſetzen, von den Ein—
ſichten in die Planetenbewegungen. Und faſſen wir zuſam—
men, was ſich hier als theoria motus corporum celestium
bietet, ſo haben wir an die Spitze unſerer Statiſtik vier
Urhebernamen zu ſetzen: Kopernikus, Newton, Galilei,
Kepler.
Ihnen zunächſt ſteht die Reihe der Forſcher, durch welche
die weiteſten Probleme der Mechanik, der Körperbewegung
überhaupt, beantwortet wurden. Sie ſind die Baumeiſter
der Fundamente für die exakte Naturwiſſenſchaft, die Ver—
wirklicher der archimedeiſchen Forderung: „Gib mir, wor—
auf ich ſtehe!“ Von ihren Sätzen aus iſt die Erkenntnis—
welt wirklich bewegt worden, bewegt um die feſten Punkte
mechaniſcher Prinzipien, die in dem von der Erhaltung der
lebendigen Kräfte gipfeln. Nennen wir die Koryphäen, wie
ſie ſich unſerm Blick darbieten: Huyghens, Jakob Bernoulli,
251
d' Alembert, Lagrange, Laplace, Hamilton, Carnot, Euler,
Foucault, Robert Mayer, Clauſius, Joule und Helmholtz.
Gauß gehört auch in dieſe Reihe und in geringem Ab—
ſtande von ihm die Praktiker der Himmelskunde: Herſchel,
Caſſini, Römer, Halley, Lalande, Argelander, Beſſel, Le—
verrier, Schiaparelli. Allein da in dieſer Aufmachung jede
Größe nur als Einheit zählt, ſo wollen wir den Gauß
lieber als princeps der Mathematiker buchen. Und um die
Doppelzählung für Newton zu vermeiden, ſeien alle Ehren
der Differentialrechnung auf Leibniz gehäuft, der ja auch
ohnehin in dieſem Regiſter einen Platz behaupten müßte.
Die analytiſche Geometrie, die Schweſter der Differential—
rechnung und mit dieſer verbündet die eigentliche Großmacht
und erfolgreichſte Wundertäterin im Bereiche des reinen Den—
kens, findet ihren perſönlichen Exponenten in René Des—
cartes. Die Nobelgarde der reinen Algebraiſten, Funktio—
nentheoretiker und Zahlentheoretiker, vertreten durch Fermat,
Cauchy, Hermite, Legendre, Riemann, Abel, Jacobi, Weiz
erſtraß, wird in dieſem Zuſammenhange außer Berechnung
bleiben müſſen, denn wir haben hier nicht das Regiſter der
Weltberühmtheiten zu entwerfen, ſondern diejenigen heraus—
zugreifen, deren Leiſtungen die weiteſten Wellenringe ge—
zogen haben. Und an den Unterſchied zwiſchen Tiefe und
Weite müſſen wir uns beſtändig erinnern, wenn unſer Pro—
gramm mit der internationalen Betonung ſeinen Sinn be—
halten ſoll. Erlangen die Heilswahrheiten der nicht-euklidi⸗
ſchen und der vierdimenſionalen Geometrie einmal beſtim—
menden Einfluß auf das mathematiſche Denken überhaupt,
dann wird der Statiſtiker der Zukunft die Riemann, Min—
kowſki, Poincaré als vollwertige Einheiten nachzutragen
haben.
252
r
r ͤòMBvñõ ⏑ ⁰ . ⁰ 2 ⁰˙ -W-
\
In den exakten Naturwiſſenſchaften gebührt der Vortritt
den Männern, die als Entdecker und Geſetzesfinder die Er—
fahrung der Menſchheit bereichert, den Überblick über das
empiriſch Gegebene erweitert und in der Erſcheinungen Flucht
die ruhenden Pole als Elemente der Erkenntnis aufgezeigt
haben. Die klaſſiſchen Mechaniker hatten wir als eine we—
ſentlich mathematiſch gerichtete Ordnung bereits vorwegge—
nommen. Von der Plattform jener Univerſalmenſchen ge—
ſehen, könnten die bahnbrechenden Vertreter der Optik, der
Elektrizität, der kinetiſchen Gastheorie beinahe als Spezia—
liſten erſcheinen. Aber in dieſer Welt iſt die Feinmechanik
von der Großmechanik gar nicht zu trennen. Es iſt Geiſt
vom Geiſte des Galilei, der ſie alle durchweht, gleichviel, ob
wir ihnen die Gasgeſetze, die Spektralanalyſe, die Wunder
der Polariſation oder die elektriſchen Kraftlinien verdanken.
Jeder wird zur Sonne, wenn wir uns ihm nähern, zum Be—
herrſcher eines Syſtems. Unmöglich wäre es, ſie homeriſch
zu beſingen, ſchwierig genug bleibt die Anwendung des ho—
meriſchen Leitmotives „Andra moi ennepe“. Odyſſeus bei
Odyſſeus ſteht in dieſer Ruhmesallee der Scharfſinnigen,
und die Perſpektive, die der einzelne Betrachter gewinnt,
wird niemals für einen wirklichen Geſamtüberblick ausrei—
chen. Wagen wir es trotzdem, ohne die Abſicht, eine Rang-
ordnung einzuhalten, in der Fülle der Geſichte die leuch—
tendſten zu bezeichnen:
Als Galileis Nachbar und zeitlich mit ihm verbunden,
eröffne Torricelli die Reihe. Er und Otto v. Guericke haben
der Menſchheit zuerſt für das Rätſel des Luftmeeres, in dem
ſie lebt, den experimentellen Schlüſſel geliefert. Als die erſte
Pforte erſchloſſen war, öffneten Gay Luſſac, Boyle, Mari
otte, Dalton und Avogadro die Geheimfächer zur Gastheorie.
253
Über die atmoſphäriſchen Engen hinaus führte die Analyſe
des Lichtes in den ſublimen Forſchungen, die ſich an die Na—
men Frauenhofer, Kirchhoff und Bunſen, Maxwell, Croo—
kes, Boltzmann knüpfen, an Young, Fresnel, Bradley, Tyn⸗
dall, Malus (Polariſation), an Thompſon, Arago, Biot,
Snellius; eine lange Liſte, die wir an dieſer Stelle, nicht
durch Newton, Huyghens, Euler verlängern dürfen, da wir
Doppelzählungen zu vermeiden haben.
Im elektriſch-magnetiſchen Felde ſind die Außenforts durch
Volta, Oerſtedt, Gilbert, Ohm, Weber, Faraday, Ampere,
Röntgen, Becquerel, Hertz, Nernſt beſetzt. Letzten Endes
ſind die Fragen der Elektrizität von denen der Optik wie der
neuen Mechanik überhaupt nicht mehr zu ſondern, ſie ſtrecken
vielmehr ihre Antennen gemeinſam in jenes rätſelhafte Ge—
biet des Relativitätsprinzips, das den allerfeinſten und ver-
wegenſten Geiſtern der Gegenwart zum Tummelplatz dient.
Wer dieſen im freien Ather vollzogenen Übungen jemals
mit ſtockendem Atem nahegekommen iſt, der ahnt in ihnen
unermeſſene Zukunftswerte. Hier, in einer vierdimenſionalen
Welt, ſchufen und wirken noch heute: Lorentz, Einſtein,
Planck, Wien. Auf der Verzweigung zwiſchen Phyſik, Phy—
ſiologie und Erkenntniskritik erheben ſich Du Bois-Reymond,
Zöllner und Ernſt Mach zu monumentaler Höhe.
Wer lediglich das Zeitmaß ins Auge faßt, mit dem die
moderne Naturwiſſenſchaft zur Ausnützung der Naturkräfte
geführt hat, wird auf einen Einteilungsgrund ſtoßen, der
die Tat des Lavoiſier an die Wegſchneide zwiſchen Alt und
Neu ſtellt. Nun läßt ſich aber die Kulturgeſchichte in kei—
nem Betracht einen haarſcharfen Trennungsſtrich gefallen,
und wer Lavoiſier ſagt, wird Prieſtley und Scheele dazu
ſagen müſſen. Jedenfalls gewährt dieſer Einteilungsgrund
254
nach chemiſchen Geſichtspunkten den Vorteil, eine Reihe der
hervorragendſten Errungenſchaften als nahezu im Zeitraum
eines Jahrhunderts eingeſpannt zu erblicken. In dichter Folge
ſtehen hier die Großmeiſter des Faches: Davy, Berzelius,
Liebig, Wöhler, Gerhardt, Ramſay, Berthelot, Moiſſan,
Berthollet; weiterhin van 't Hoff, Mendelejew, v. Baeyer,
Fiſcher, Frau Curie und Wilhelm Oſtwald, der ſelbſt ein
Buch über große Männer geſchrieben hat und zu dieſen längſt
gehörte, bevor noch der Nobelpreis ihm dieſe Rangſtellung
urkundlich beſcheinigte.
Vom benachbarten Flügel unſerer Walhalla leuchtet die
Figur Charles Darwins als Mittelpunkt einer Gruppe, de—
ren Arbeitsgebiet die Organismen vom Protoplasma, von
der Zelle, durch alle Zwiſchenſtufen der Entwickelung bis
zur höchſtorganiſierten Geſtaltung umfaßt. Wehte uns aus
den Werkſtätten der Phyſiker und Chemiker eine durch Maß,
Zahl und mathematiſche Abſtraktion erkältete Luft entgegen,
ſo gelangen wir hier an Perſönlichkeiten, die uns die Eng—
berührung unſerer eigenen Körperlichkeit mit dem Weltgan—
zen gelehrt haben. Mögen dieſe Biologen und Morphologen
bis in die volle Anthropologie übergreifen oder die unend—
lichen Wege der durch Strahlungsdruck geſchleuderten Keim—
ſtäubchen verfolgen, mögen ſie im Schoß der Mutter Erde
wühlen und uns die Grenzgebiete der belebten und unbeleb—
ten Natur aufzeigen oder in menſchlichen Kapillargefäßen
die Geſetze des Heils und Unheils erforſchen, — die Schluß—
formel dieſes ganzen Kongreſſes bleibt für uns: tua res
agitur! So geſehen, gehören Schwann, Schleiden, Vir—
chow, die Meiſter der Zellentheorie, Veſalius, Harvey, Boer—
have, Leeuwenhoek, Haller, Owen, v. Bär, Claude Bernard
und Johannes Müller, die Exponenten der modernen Ana—
255
tomie und Phyſiologie, Lyell, Wallace, Ofen, Lamarck und
Haeckel als Werkführer am Bau der Evolutionslehre, in
denſelben Größenkonzern. Linné, Buffon und Cuvier dür⸗
fen hier nicht übergangen werden, wenn wir auch mit ihnen in
ein gefährliches Gedränge zwiſchen Wahr und Falſch geraten;
ſie gehören zum hiſtoriſchen Bilde, teilweiſe antithetiſch, aber
doch unentbehrlich. Auch zwei Dichter grüßen uns aus die—
fer Gemeinſchaft: Goethe, ein Vorahner Darwinſcher Ge—
danken, und Chamiſſo, der Entdecker des Generationswech—⸗
ſels; ihnen zunächſt drei Geſtalten von kosmiſcher Prägung,
weit auseinanderliegend und doch durch einen gewiſſen Ein—
ſchlag ſchweifender Phantaſie verbunden: Fontenelle, Hum⸗
boldt, Svante Arrhenius.
Von Harvey und Boerhave aus gewinnen wir leicht den
Anſchluß an die Samariter der Menſchheit, deren Stamm—
baum bis auf Galenus zurückreicht, die wir aber im Nah:
men dieſer Betrachtung nur bis Paracelſus zurückverfolgen
dürfen. Unbekümmert um die Selektionsergebniſſe im
struggle for life und ohne Rückſicht auf die Hinaufpflan⸗
zung reichen ſie uns die Hand als praktiſche Helfer im
Kampf ums Daſein. Unter den Leidensverkürzern und Le—
bensverlängerern behaupten in Anſehung der von ihnen ge—
ſchaffenen Methode die ſichtbarſten Plätze: Jenner, Scarpa,
Hufeland, Liſter, Dieffenbach, Langenbeck, Billroth, Nela—
ton, Pafteur, Koch, Roux, Behring, Ehrlich. Als Meiſter
der Anäſtheſierungskunſt kommen Jackſon und Simpſon in
Betracht, von denen eine Abzweigung auf unſeren Schleich
führt. Albrecht von Graefe, der Begründer der neuen Au—
genheilkunde, bildet eine Klaſſe für ſich, vielleicht mit Don—
ders einen Doppelſtern. Daß Helmholtz auch in dieſes Ge—
biet hineingeleuchtet hat, ſei nur betont, um ſeine Allgegen—
256
EA ne} Ik nn dl Kara las cr ud Laie
1
wart bei jeder Lichtoffenbarung als eine unerſchütterliche wiſ—⸗
ſenſchaftliche Konſtante feſtzuhalten. Schlage die ewigen Bü—
cher auf, wo du willſt, überall findeſt du die Botſchaft, die
von einem Pariſer Gelehrtenkongreß in die Welt zog: „Dieu
parla, que Helmholtz naquit — et la lumiere est
faite“!
Mehr als eine Brücke führt vom Geſtade der Theorie
zum Uferland der Praxis. Nachdem wir mit flüchtigem Fuß
die Seufzerbrücke der chirurgiſchen Operationen durchmeſſen
haben, wenden wir uns zum Rialto, der uns den Markt des
Lebens öffnet. Was hier die Annalen der Errungenſchaften
als Fortſchritt, als Unterjochung der Naturkräfte, als Men⸗
ſchenglück preiſen, ſtellt ſich im Prinzip als die Übermwin-
dung von Raum und Zeit dar, dergeſtalt, daß der Raum
verkleinert, die verfügbare Zeit verlängert und das Lebens—
tempo trotzdem beſchleunigt wird; ein Widerſpruch in ſich,
der auf einem univerſalen Denkfehler beruht, auf einer Ge—
fühlstäuſchung, die uns andauernd ein Plus an erſparter
Zeit vorſpiegelt, wo tatſächlich ein ſtetig wachſendes Defizit
nach Deckung ruft. Das Zeitalter des Dampfes, der trei⸗
benden Gaſe und der elektriſch-motoriſchen Kräfte, eingeleitet
durch Papin, Fulton, Watt, Mongolfier, charakteriſiert durch
Stephenſon, Siemens, Daimler, Lilienthal, Maxim, Wright
und Ediſon, findet ſeinen Triumph in der Zuſammenpreſſung
von Räumen und Tätigkeiten auf ein Minimum, wobei dann
folgerichtig ein Maximum freier Zeit herausgequetſcht wer—⸗
den müßte. Je weniger hiervon wahrzunehmen iſt, deſto
trotziger beharrt der Kulturmenſch auf dem Segen der Ar—
beitsmaſchinen, der Blitzzüge, der Rekorddampfer, der Flug-
zeuge leichter und ſchwerer als die Luft, der Telegraphen und
Telephone mit und ohne Draht, der Automobile mit und ohne
Moszkowski, Der Sprung uͤber den Schatten 17
257
Zweck. Ergänzen wir alfo die Lifte durch Aufreihung der
prominenteſten Erfinder: Gauß und Weber, Morſe, Hughes,
Wheatſtone, Gramme, Hefner-Alteneck, Philipp Reis, Gra⸗
ham Bell, Branly, Marconi, Slaby. Durchweg Genies vom
Range derer, die das Pulver erfunden haben; und ſo müßte
hier auch der auftreten, der es wirklich erfand, wenn er ſich
durch klare Zeugniſſe ausweiſen könnte. Da dies bekanntlich
nicht der Fall iſt und die perſönlichen Urſprünge der Feuer⸗
waffen überhaupt im Nebel liegen, ſo wollen wir für die
ganze Herrlichkeit der organiſierten Mordtechnik lediglich
den einen in Rechnung ſtellen, deſſen Name nicht nur ein
Vernichtungs-, ſondern auch ein Friedensſymbol geworden
iſt: Alfred Nobel. Auf die Poſtamente ihm zur Seite mögen
ſtatt unſicherer Zerſtörer ſichere Wohltäter ſteigen: Franklin,
der den Blitz zähmte, Salvino d' Armato, der Erfinder der
Brillen, Dollond (der Vollender des Fernrohrs), Janſſen
(Mikroſkop), Drebbel und Reaumur (Thermometer), Beſ—
ſemer (Stahlinduſtrie), Peter Henlein (Taſchenuhren).
Scheint einer von ihnen zu klein neben den Gewaltigen des
Geiſtes, deren Gehirnorganiſation wir bewundern, ſo möge
uns ein Sinnwort des großen d'Alembert über die Auswahl
beruhigen: „Warum ſollen wir diejenigen, welche die Spin—
del, die Hemmungen, die Repetition im Getriebe der Uhr er—
fanden, nicht ebenſo hoch ſchätzen wie die Männer, welche die
Algebra zur Höhe entwickelten?“ ſo fragte dieſer Univerſaliſt
in ſeinem grundlegenden Diskurs zur Enzyklopädie.
Aber alle dieſe Erfindungen und alle geographiſchen
Entdeckungen dazu, von Kolumbus, Vasco de Gama, Tas⸗
man und Cook, bis zu Livingſtone, Stanley, Brazza, Norden—
ſkjöld, Sven Hedin, werden aufgewogen durch die eine Fin—
dertat des Gutenberg. Nähme man den Menſchen alle münd—
258
liche Überlieferung, würfe man fie auf den Stand des frühen
Mittelalters zurück und ließe ihnen nichts als den vorhane
denen Buchdruck, ſo würde ſich die heutige Kulturwelt in
wenigen Jahrzehnten wieder aufbauen. Der bedeutſamſte
Erkenntnisweg führt nicht durchs Ohr, ſondern durchs Auge
zum Verſtande, und wichtiger als die tönende Sprache bleibt
die ſtumme der fünfundzwanzig Typen in ihrer eindringlichen
Beredſamkeit, die auf Beharrung und milliardenfacher Häu—
fung der wirkenden Elemente beruht. Laplaces Weltgleichung
als Anſatz für alle Geſchehniſſe im Univerſum muß ein Phan—
tom bleiben, aber für alles erworbene Wiſſen, für die Uns
endlichkeit der geiſtigen Differentiale liegt das Integral fertig
vor in der Summe der Bibliotheken und in der Weltpreſſe.
Hier, und hier ganz allein, iſt ein Vorgang zwiſchen Men—
ſchen, der an kosmiſche Ereigniſſe heranreicht: aus Atomen
ſahen wir eine Welt entſtehen!
Eine Welt, deren Achſe durch die Pole des Monismus
und Dualismus leitet. In unzähligen Erſcheinungen aus—
einanderſtrebend, hat ſie noch ſtets die richtenden Kräfte für
ihre Flugbahn aus der ſtillen Kammer gewonnen, in der ſin—
nend der Weiſe den ſchaffenden Geiſt beſchleicht. Wohl hat
mancher Exakte im Stolz auf blendende Handgreiflichkeiten
die Metaphyſik und die Philoſophie überhaupt mißachtet;
von der Brüſtung eines Luxusdampfers des Ozeans geſpot—
tet, der das Schiff trägt; bis dann wieder unter den Viel—
zuvielen einer der Vielzuwenigen erſcheint, der den ſtillen Wei—
ſen neue Altäre baut.
Im Zuge unſerer Erörterung, die ja nur ein Verzeichnis
ergeben ſoll, iſt in dieſem Pantheon zwiſchen Göttern und
Gegengöttern nicht zu unterſcheiden. Materialiſten und Idea⸗
liſten, Empiriker und Tranſzendente, Syſtematiker und phi⸗
178
259
loſophiſche Rhapſoden, ſofern ihr Denken tiefe Furchen im
Geiſtesleben zog, haben unſere Tabelle zu bevölkern. Und
ſo mögen ſie hier friedlich aufmarſchieren, die Vorkämpfer
und Antagoniſten: Bruno, Bacon, Spinoza, Pascal, Hobbes,
Locke, Hume, Berkeley, Kant, Bayle trotz Spinoza, Hegel
trotz Schopenhauer, Lamettrie, Holbach und Gaſſendi trotz
Leibniz und Lotze; jenſeits von Richtig und Falſch, aber dies⸗
ſeits von Flach und Profeſſoral buchen wir: Diderot, Con—
dillac, Shaftesbury, Voltaire, Lange, Nietzſche, Bergſon,
Fritz Mauthner, den Undiplomierten, den ich unbedenklich den
Gewaltigen zuzähle, in derſelben Zuverſicht, mit der ich Her
der, Herbart, Viſcher, Fechner, Wundt, Spencer, Ernſt Mach
und Vaihinger auf dieſe Tafel ſchreibe. Minder ſicher wäre
ich bei Auguſt Comte und James, dem Pragmatiſten. Aber
einen Vielgeſchmähten möchte ich mir nicht entgehen laſſen,
den großen Rüpel unter den Philoſophen, Eugen Dühring,
denn mit ſeiner kritiſchen Geſchichte der Prinzipien der Mecha⸗
nik gehört er der Ewigkeit an. Noch fehlt der Mann, der die
Mechanik des hiſtoriſchen Geſchehens mit gleicher Genialität
zuſammengefaßt hätte. Bis er erſcheint, mögen Montes⸗
quieu, Niebuhr, „der Vater der Geſchichte“, Mommſen, Gui⸗
zot, Tocqueville, Winckelmann, Taine, Renan, Strauß und
Buckle die Plätze füllen. Wenn ich ihnen noch Max Nordau
angliedere, ſo geſchieht dies einfach aus dem Recht der Sub—
jektivität heraus, das für mein Regiſter durchweg als uner-
läßliche Vorbedingung ausgemacht war.
Was im Hochland der Philoſophie Erkenntnis, reine An—
ſchauung, Ahnung, Fernſicht iſt, verdichtet ſich im Tal der
Völker zum Verſprechen und zur Agitation. Hier ſtehen die
Männer, welche Theſen anſchlagen, Programme verkünden,
die Reformatoren, Humaniſten, Befreier, Aufklärer und die
260
7
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9
— a 2 =
Apoſtel des Glücks für die größtmögliche Anzahl: Luther
neben Hutten, Petrarca neben Erasmus, — Rouſſeau und
Mirabeau, Waſhington und Lafayette, Feuerbach, Fichte und
Saint Simon als Protagoniſten einer durch Proudhon,
Marx, Laſſalle und Rodbertus gekennzeichneten Szenerie. Um—
wertung der Werte im Geſellſchaftsweſen, Emanzipation und
Völkerfrieden ſind die Parolen, nach denen Adam Smith,
Stuart Mill, Wilberforce, Frederic Paſſy die großen Egois—
men neu orientieren.
Und die Künſtler? ſie, die uns über peinliche Erdenſchwere
hinweg zur intelligibeln Welt heben? Nur mit Zagen gehe
ich an dieſen Katalog, der mir, wie ich ihn auch entwerfe,
den Vorwurf eines falſch eingeſtellten Geſichtswinkels ein—
tragen muß. Gewiß nicht um derentwillen, die genannt wer—
den ſollen, als wegen der Köſtlichen, die vermöge ihrer Fein-
heit durch das weitmaſchige Netz dieſes Planes gleiten. Die
Adler werden drin bleiben und die Nachtigallen entflattern.
Wie viele ſind nicht zu internationaler Bedeutung gediehen
in der internationalen Tonkunſt, die ganz auf die Neuzeit ge⸗
ſtellt, in knapper Spanne dreier Jahrhunderte an Fülle der
Genies alles nachgeholt hat, was die Jahrtauſende ihr ver—
ſagten! Den Parnaß kann man mit ihnen dicht beſiedeln,
nicht aber dieſe unzarte Liſte, die weniger nach Entzückungen
fragt als nach fortwirkender Tat, nach Einfluß auf weitere
Geſtaltungen. Kein Widerſpruch kann ſich erheben, wenn
Bach, Gluck, Mozart, Beethoven und Richard Wagner hier
als richtende Prinzipe aufgeſtellt werden. Wohl aber könnte
die Einrede gelten, wenn ich Meyerbeer und Mendelsſohn
nenne, dagegen Gounod auslaſſe, wenn ich Johann Strauß
und Offenbach feſthalte, dagegen Auber, Boieldieu, Lortzing
übergehe. Die Einrede könnte und müßte gelten, wenn es
261
ſich geradewegs um Kritik der Leiſtungen handelte. Aber hier
befinden wir uns in dem beſonderen Fall, daß wir nur Muſik—
materien wägen dürfen, alſo nur Empfindungen, die blei—
ben, unabhängig von den klanglichen Einkleidungen, in denen
fie zuerſt auftraten. Weber, Schumann, Chopin, Verdi, Roj-
ſini, Liſzt, Berlioz, Brahms, R. Strauß gehören zu den Er-
weiterern, zu den Befruchtern, manch einer, dem ich den gött—
lichen Funken nicht beſtreiten möchte, wie Rubinſtein, Tſchai⸗
kowſky, Max Bruch, Saint-Saöns, Bizet, zu den Befruch-
teten. Man ſuche nicht weiter nach klangvollen Namen.
Nichts wäre mir leichter, als die ganze Ehrenlegion der be—
rühmten Meiſter hier antreten zu laſſen, von Paleſtrina bis
Mascagni. Aber eingekeilt zwiſchen ſubjektivem und objek—
tivem Zwang, zwiſchen perſönlicher Neigung und einem vor—
geſteckten Programm, kann ich über jene Minderzahl nicht
hinaus.
Und in noch ärgere Bedrängnis gerate ich bei den bildenden
Künſten. Hier wollen mir ſtreng genommen nur ganz wenige
einleuchten, in die alle Bedingungen unſerer Statiſtik reſtlos
aufgehen, von Donatello aus gerechnet: Verrocchio, Mi—
chelangelo, Raffael, Lionardo, Rembrandt, Valesquez. Jeder
Atlas der Kunſtgeſchichte kann mich mit den Schwergewichten
von Bramante, Tizian, Rubens, Frans Hals, Holbein, Dü⸗
rer und hundert Modernen auf der Stelle erſchlagen. Ich
müßte ſtillhalten, denn welcher bildende Künſtler wird es mir
glauben, daß im Zuge unſerer Betrachtung das Differential,
das Atom oder die Erfindung der Logarithmen durch Napier
wichtiger iſt als manche Galerie und Kathedrale?
Ungleich größere Energien ſtrahlen von der ſchönen Lite—
ratur aus, und wo ſie ſtrahlen, da finden fie in Millionen
drucken einen Multiplikator, der ihnen eine unendliche An—
262
griffsfläche jedem Bildungsbedürfnis gegenüber verfchafft.
Um die Wunder der Tribuna zu genießen, muß der Kultur—
genoſſe nach Florenz pilgern, aber den Fauſt und den Hamlet
weiß er auswendig, und das Wort iſt ihm in jeder Sekunde
gegenwärtig. Durch alle Sprachverſchiedenheiten hindurch
ſchlägt hier das Weltbürgertum des Gedankens, und genau
wie Kopernikus und Galilei ſind Dante, Boccaccio, Cervan—
tes, Vega, Calderon, Rabelais, Shakeſpeare, Moliere, Goethe
und Schiller Weltpropheten geworden; ihnen zunächſt Leſ—
ſing, Wieland, Byron, Swift, Edgar Poe, Victor Hugo,
E. T. A. Hoffmann, Heine, Gobineau, Tolſtoi, Ibſen, Zola,
Doſtojewsky —, um nur diejenigen vom Campo Santo zu
nennen, die ich ſelbſt als völlig ſichere und fernhin wirkende
Originalgrößen empfinde.
Ich ſelbſt. Damit ſei am Schluß wie am Anfang betont,
daß dieſes Regiſter ſehr viele Löcher hat, haben muß, aber
vielleicht einige weniger als die Diplomliſte der Decandolle
und Pickering. Wünſchenswert wäre es, wenn recht viel ab—
weichende, mit anderen Subjektivurteilen geſättigte Liſten
aufgeſtellt würden; es müßte ſich dann früher oder ſpäter
eine Ausgleichsrechnung ergeben, die zwiſchen den Fehlern
hindurch die Querlinie einer gewiſſen Zuverläſſigkeit erreicht.
Das Endergebnis meines Kataloges iſt ſchnell hingeſchrie—
ben. Ich ermittle für Deutſchland reichlich hundert, für
Frankreich und England rund je ſechzig Einheiten. In wei—
tem und weiteſtem Abſtande folgen Italien, Niederlande,
Skandinavien, Rußland, Vereinigte Staaten, Schweiz, Py—
renäiſche Halbinſel, die zuſammen erſt ungefähr fünfzig
Punkte ergeben. Die Rechnung wird vielen Nichtdeutſchen
mißfallen. Aber ſie ſtimmt eigentlich nicht übel zu einigen
Komplimenten, die uns die Rivalen über die Grenze geſchickt
263
haben. Das Wort vom Volk der Dichter und Denker ſoll
für Germanien gelten, iſt aber in England (von Bulwer) ges
münzt worden. „Friedrichs Staat, der einzige Staat, der
einen geiſtreichen Kopf ernſtlich beſchäftigen kann“, ſagt Mi⸗
rabeau; „Die germaniſche Raſſe, die höchſtſtehende“, ſagt
Gobineau; „Die deutſche Literatur die erſte in Europa“, „Die
Deutſchen, das iſt zweifellos, haben ſeit der Mitte des acht—
zehnten Jahrhunderts eine größere Anzahl tiefer Denker als
irgendein anderes Land, ich könnte vielleicht ſagen, als alle
anderen Länder zuſammengenommen, hervorge—
bracht“, ſagt Buckle, der in Angelegenheiten der „Zivili—
ſation“ ziemlich gut beſchlagen war. Für die obige Bilanz iſt
es jedenfalls nicht unvorteilhaft, daß die Zahl in der Mei
nung, die Majorität in der Autorität — und in was für einer
Autorität! — Schutz und Deckung findet.
264
Dom hohen Berge
Zu den Dingen, die in einem Kriege und in feinen Nach—
wirkungen nicht „geſtreckt“ werden, gehört das Reiſen.
Berufene Federn haben erörtert, wie die Verengung des
Reiſehorizontes eine Vertiefung des Reiſezweckes bewirken
wird, wie wir zahlloſe Herrlichkeiten des Vaterlandes ent⸗
decken werden, die wir vordem vernachläſſigten, um den
Bädekerſternen des Auslands nachzujagen.
Aber jenſeits ſolcher Betrachtungen liegt eine andere, die
vom Reiſezweck auf die Reiſenotwendigkeit übergreift und
über der Behaglichkeit einer Sommerfriſche, über der Se—
henswürdigkeit von unterwegs ein erhöhtes Ziel wahrnimmt.
Auf dem Grunde dieſer Betrachtung liegt ein Lebensproblem,
das an die tiefſten Geheimniſſe der erlebenden und emp-
findenden Seele rührt. Man kann ihm nur nahekommen,
wenn man zwei Gedankengänge einſchlägt, deren Ergebniſſe,
ſcheinbar unabhängig voneinander, dennoch aufeinander
wirken, wie die Pole einer Batterie. Zwiſchen ihnen wird
plötzlich mit großer Leuchtkraft ein Funke der Erkenntnis
überſchlagen.
Wir ſtellen uns zuerſt eine Gebirgsreiſe vor. Ein Gefühl
der Romantik klingt in uns auf. Die Höhe, als die dritte
Dimenſion, tritt in unſere Erfahrung, die ſich ſonſt im
265
Dunſtkreis des Alltags ausschließlich als ein Gebilde der
Fläche entwickelt. Die Bergwelt bricht dieſen Bann. In⸗
dem ſie uns die dritte Dimenſion zum Einfühlen, Höhe
und Tiefe zum Durchkoſten liefert, löſt ſie in uns die eigene
Körperlichkeit, die danach verlangte, ſich aus planimetriſcher
Gefangenſchaft zu befreien. Die Welt des Erlebens, die da
unten ein Bild war, empfängt Relief, erſcheint uns plöß-
lich wie ein körperhaftes Kunſtwerk, in deſſen Abmeſſun—
gen wir unſere Leiblichkeit wiedererkennen. Was uns an
einem großartigen Bauwerk, an einem himmelſtrebenden
Dom im Innerſten ergreift, iſt, auf die Grundformel ge—
bracht, die Überwindung der Schwerkraft. Wenn wir ſelbſt
ſteigen, ſelbſt den Bruch mit der drückenden Verordnung
der Erdenſchwere vollziehen, durchſtrahlt jene Kunſtempfin⸗
dung unſeren ganzen Organismus. Wir blicken auf den
Flächenmenſchen, wie dieſer auf ſeinen eigenen Schatten. Es
iſt das kosmiſche Gefühl der vollendeten Raumerfaſſung,
was wir ſonſt mit dichteriſchen Umſchreibungen als Schön—
heit der Gebirgswelt, als Ausſicht, Rundblick und Pano—
rama preiſen.
In den zweiten Gedankengang biegen wir mit der Frage
ein, ob wir denn ein Organ beſitzen, das den Raum un—
mittelbar zu erfaſſen vermag. Die Antwort ſcheint ſich als
ſelbſtverſtändlich zu ergeben: unſere geſamte Leiblichkeit, in—
ſonderheit der Taſtſinn, — und das Auge, — jo meint man
wohl obenhin — ſtellen hierfür die geeigneten Werkzeuge.
Aber das wäre ein Trugſchluß, der den Raum als ſolchen
mit dem verwechſelt, was ihn erfüllt. Hier aber, wo es
ſich wirklich nur um die Dimenſion handelt, verſagen jene
Sinne vollſtändig, ſie beſitzen nicht die Fähigkeit, den reinen
Raum wahrzunehmen, und wenn ſie dem Verſtand erzäh—
266
len, was fie davon wahrgenommen haben, fo liefern fie ihm
nur dürftige Überſetzungen, nicht das Original ſelbſt.
Aber ein anderes Organ — das Ohr — tritt mit einem
neuen Anſpruch hervor. Es meldet ſich mit der ſeltſamen
Behauptung, daß es imſtande ſei, den Raum ſinnlich zu er⸗
faſſen und ihn dem Menſchen originalgetreu zu übermitteln.
Wenn du beim Reiſen, beim Steigen ein Luſtgefühl ver—
ſpürſt, ſo redet das Ohr zur Perſönlichkeit, — wenn du
dich in den Raum wirfſt und zugleich den Raum als ein
Durchflutendes in dich aufnimmſt, ſo liegen die Wurzeln
dieſer Luſt ganz anderswo als du vermuteſt: nicht im Auge,
das dir kinematographiſche Bilder abrollt, nicht in der Über—
legung, die dir Kilometer vorrechnet, ſondern im Ohr, als
dem einzigen Raum⸗-Organ, das dir die Natur verliehen hat.
Iſt der Raum alſo hörbar? nicht zu erſehen, dafür aber zu
erhorchen? Wir werden uns wohl entſchließen müſſen, dies
anzunehmen, ſeitdem einer der ſchwierigſten und ſcharfſinnig—
ſten Tierverſuche das Labyrinth im Ohr als den wahren
und einzigen Sitz der Raumempfindung über jeden Zwei—
fel hinaus aufgezeigt hat. Kein anderes Organ vermag mit
ähnlicher Leiſtung dem Ohr auf ſeiner Wanderung zu folgen.
Und da das Ohr auf der Wanderung auch hört, die Welt—
geräuſche in ſich aufnimmt, ſo ergänzen wir:
Das Reiſen, inſonderheit das Reiſen zur Höhe, iſt ein
ſymphoniſches Erlebnis. Jenſeits der durch grobe Meß—
werkzeuge erkundbaren Klänge gibt es ein kosmiſches Rau—
ſchen, das ſich der Tiefe des Gehörs ankündigt und von ihm
als eine Raumvorſtellung verarbeitet wird. Dem Lichte des
Weltalls verwandt iſt dieſes Weltgetön eine Grundbedingung
unſeres Daſeins. Und unſer Trieb, den Ort zu wechſeln, uns
in die Höhe zu ſchwingen, iſt im letzten Grunde nur die
267
Sehnſucht nach jenem himmliſchen Konzert, das auf den drei
Dimenſionen des Raumes ſpielt.
Goethe hat das gewußt und ſein Wiſſen in Hörbildern und
Sehklängen niedergelegt: „Die Sonne tönt nach alter
Weiſe“ — „Welch Getöſe bringt das Licht!“ Was feiner-
zeit Geheimwiſſen war, könnte dereinſt Weltkunde werden:
ins Hochgebirge reiſen heißt: dem tönenden Lichte zuſtreben!
Unabhängig von Laune, Mode und Zerſtreuungsbedürfnis iſt
es eine Lebensnotwendigkeit, die ſich auf einer gewiſſen Stufe
der Organiſierung unter allen Umſtänden durchſetzt.
Sie wird aber dereinſt ihre unbeſiegliche Kraft nicht nur
an Einzelweſen erproben, ſondern an Gemeinſchaften. Heut
fragt der banggeſtimmte Reſt der Weltbürgerlichkeit, ob es
wohl überhaupt noch möglich ſei, die zerſplitterten Scherben
der Internationalität, der Weltwiſſenſchaft, der Weltkunſt
wieder zur Einheit zu fügen. Der hohe Berg weiß die tröſt—
liche Antwort. Nicht für heut, nicht für eine Kriegsdauer,
aber für die Friedenszukunft. Die Welt, die Internationali⸗
tät und der hohe Berg können warten. Er bietet keinen allzu
breiten Aufenthalt auf feiner bevorzugten Spitze, deſto ſiche—
rer weiß er, daß ſich auf ihr diejenigen zuſammenfinden wer⸗
den, auf die es ankommt. Und bei ihnen wird ein moderner
Zarathuſtra ſtehen, mit einer modernen Bergrede, — voraus⸗
geſetzt, daß auch Philoſophen umlernen können.
Denn Nietzſches Geſandter durfte ſprechen: „Wer auf die
höchſten Berge ſteigt, der lacht über alle Trauer-Spiele und
Trauer⸗Ernſte.“ Der neue Zarathuſtra wird nicht lachen,
noch weinen, allenfalls lächeln über die Kurzſichtigen, die
ſorgenvoll meinen, ein Fluß der Entwickelung ließe ſich mit
irgendeiner trennenden Schere entzweiſchneiden; jenem Wan⸗
derburſchen an Einſicht vergleichbar, der auf dem Reifträger
268
u Dear ee
Bi die Elbquelle mit der hohlen Hand aufhielt und dabei rief:
Was werden ſich die in Hamburg wundern, wenn dort die
Eibe ausbleibt!
Der neue Zarathuſtra wird ſagen: Dem Trieb nach Raum⸗
erfaſſung und der Sehnſucht nach dem Klingen des Welt—
alls gehorchen ſie alle, die hier heraufkommen. Die nach
alter Weiſe tönende Sonne hat ſie emporgezogen, und die
Sonne iſt international.
Dieſer Franzoſe, Engländer, Ruſſe, Italiener wollte nicht
mehr nach Deutſchland; ſie werden den Weg dahin wiederfin—
den, nachdem ſie den Weg hier herauf gefunden haben. Eine
Stimmung beherrſcht ſie hier alle. Gleichgültig iſt es, ob der
Gipfel Pilatus heißt, oder Gornergrat oder ſonſtwie. We⸗
ſentlich, daß er ein Gipfel iſt, der über flächenhaftes Getriebe
und flächenhaftes Denken hinausragt.
Von den Firnen und Gletſchern dort drüben löſen ſich
Wildbäche, die zu Strömen werden, der großen Flut zueilen,
die wiederum verdampft und dem hohen Berge ihren Wol—
kengruß ſendet. Und in den ewigen Kreislauf, der keinen
Anfang kennt und kein Ende, der alle Grenzen auslöſcht,
fühlt ſich der Hochwanderer unmittelbar eingeſponnen.
Allem Weltgeſetzlichen fühlt er ſich näher. Er braucht nicht
den Wortlaut der Keplerſchen Geſetze zu kennen, noch die
Himmelsmechanik der Kopernikus, Newton, Kant, Laplace
zu verſtehen; aber er ſpürt, daß ſich hier das Unbegreifliche
mit dem Begriffenen vermengt; und daß Internationales am
Werke ſein mußte, um das Begriffene zu ſchaffen, das ſpürt
er auf dem hohen Berge, wo er dem Weltgeiſt näher iſt als
in der Tiefe.
Nietzſches Zarathuſtra durfte ſagen: „Ich bin ein Wan⸗
derer und ein Bergſteiger; und was mir nun auch noch als
269
Schickſal und Erlebnis komme, — ein Wandern wird darin
ſein und ein Bergſteigen: man erlebt endlich nur ſich ſel—
r
Unſer Höhenmenſch weiß und fühlt es anders. Er ſteigt
auf den hohen Berg, erſtlich um ſich ſelber, dann aber — und
dies wird zur Hauptſache —, um in ſich die Menſchheit zu
erleben!
Artur Fürſt und Alexander Moszkowski
Das Buch der 1000 Wunder
Umſchlag⸗ und Einbandzeichnung von Lucian Bernhard
20. Auflage.
Preis geheftet 6 Mark, gebunden 8 Mark
Voſſiſche Zeitung, Berlin: Ein vielſeitiges, reichhaltiges und amüſantes
und dabei ein ernſtes Buch. Die Verfaſſer treten völlig unvoreingenommen
und objektiv an ihr Problem heran. . .. Sie fordern weder Glauden noch
Skepſis; ſie geben keine Werturteile ab, ſondern ſtellen lediglich feſt auf Grund
einwandfreier Berichte, deren Kritik ſie den Leſer überlaſſen. So kann ein jeder
das Buch nach ſeiner Faſſon leſen und ein jeder kann darin die Beſtätigung
ſeines Glaubens oder ſeiner Zweifel finden. Wer gern Anekdoten, amüſante
und erſtaunliche Geſchichten erzählt, dem bietet ſich in dieſem Buche eine Fund⸗
grube, der gegenüber die berühmteſte Aneldotenſammlung verblaßt. Wer Ideen
ſucht, der findet ſie hier dutzendweiſe. Wer ſich und andere gerne gruſeln macht,
kommt ebenſo auf ſeine Rechnung wie einer, der gerne durch anſcheinende,
aber unwiderlegbare Unmöglichkeiten verblüfft. Aber über dieſe leichte Unter⸗
haltungsform hinweg leitet das Buch unmerklich zu einem großen gläubigen
Staunen, das in der Mücke kein geringeres Wunder ſieht als in der „Raum⸗
zeitwelt“ der Relativitätstheorie, und das unmittelbar einführt in das eine
große Wunder des Lebens.
Züricher Poſt: Wer die Lektüre dieſer „tauſend Wunder“ begonnen hat,
kommt nicht mehr davon los; in überaus klarer und anſchaulicher Darſtellung,
doch immer auch kritiſch beleuchtet, werden uns da die Wunder des Mikrokos⸗
mus und Makrokosmus, der phyſiſchen und ſeeliſchen Kräfte vorgeführt.
Das Buch iſt faſt unerſchöpflich reich an Unterhaltung und Belehrung und
wird jedem, der es lieſt, ein köſtlicher Beſitz werden.
Neues Wiener Tagblatt: . . . So erſcheint uns dieſes lehrreiche und
ſchöne Buch als ein Heldenepos der ganzen Menſchheit und läßt tiefe Sehnſucht
in uns aufwachen nach jenen Tagen, in denen unſre Kraft und Erfindungsgabe
nicht mehr auf ſinnloſe Vernichtung, ſondern auf den Ausbau des herrlichen
Wiſſensbaues gerichtet iſt, der ein Tempel aller Menſchen auf dieſer Erde iſt. ...
Jedenfalls iſt es ein ſehr intereſſantes Buch, das in vielen kleinen Abſchnitten,
die äußerſt merkwürdige Dinge mitteilen, eigentlich das Ziel des unter andern
Sprüchen vorgeſetzten Satzes Leſſings verfolgt: „Der Wunder höchſtes iſt, daß
uns die wahren, echten Wunder ſo alltäglich werden können, werden ſollen.“
Verlag von Albert Langen in München
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