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DER UNHEIMLICHE GRAF v^^_ ^.^
♦ DER WERWOLF ♦
DIE FLIEGENDEN LICHTER
VON
THEODOR DÄUBLER
1921
BANAS & DETTE
HANNOVER
pr
^iBRAKy
«^
DER UNHEIMLICHE GRAF
Jch saß einmal vor vielen Jahren in Wien beim
Nachmittagskonzert in einem Vorstadtgarten.
In dieser recht gutbürgerlichen Umgebung hatte
ich wahrlich nichts besonders Romanisches er-
wartet. Doch eine der unerhörlichsten Begeben-
heiten in meinem ganzen Leben sollte sich dort
einfädeln. Zur Sache: die Militärkapelle hatte
soeben ein Potpourri aus Verdiopern zu Ende
gespielt, als sich eine Hand, ich merkte gleich,
es war eine Frauenhand, auf meine Schultern
legte. Als ich mich umsah und zugleich aufge-
standen war, erkannte ich sofort die blonde
Dame, die sich mir so vertraulich genähert hatte.
Ich wußte aber auch im Nu, seit vielen Jahren
hatte ich sie nicht gesehn: als sie mich, etwas
trüblächelnd-anredend, an unsre Bekanntschaft
erinnern wollte, war mir auch schon ihr Name
eingefallen. „Frau von Garpegna, wie geht es
Ihnen?**, Sprach ich sie auf deutsch an; sie war
nämlich geborne Wienerin, Gattin eines italie-
nischen Edelmannes. „Ich danke, Herr Däubler;
es freut mich, daß Sie sich noch auf mich be-
sinnen können, mir geht es schlecht!** War ihre
Antwort. Wir sahen uns einen Augenblick lang.
so zwischen scharf und zögernd, an. Frau
von Carpegna dürfte damals eine Vierzigerin ge-
wesen sein; ihr Haar glänzte noch hochblond,
sie hatte immer zu einer gewissen Korpulenz ge-
neigt; vifUeifht war sie damals etwas magrer,
als ich ihre Erscheinung in der Erinnerung
herumtrug. Schön ist sie niemals gewesen, auch
nicht besonders elegant; nun stand sie, eine ehe-
malige Sängerin und Schwester einer sogar sehr
berühmten Sängerin, ziemlich dürftig gekleidet,
vor mir. „Mein Mann ist tot: wußten Sie es?**
Unterbrach sie das kurze Schweigen. „Nein!**
Antwortete ich, wirklich schmerzlich berührt.
Unsre Familien waren früher in Triest recht be-
freundet gewesen. „Bedauern Sie mich nicht aus
diesem Grunde!** Setzte sie ihre Rede etwas ge-
waltsam hart fort: „Er taugte nicht viel. Sie
werden sagen, er war begabt, meinetwegen. Aber
es reichte bei ihm zu nichts aus. Mich, seine
Kinder, hat er ins Elend gebracht. Nun reden
Bekannte und Verwandte über uns alle sehr
schlecht: meine einzige Sünde ist aber gewesen,
daß ich die Frau eines leichtsinnigen Mannes
war. Kommen Sie an unsern Tisch, meine älteste
Tochter Rita und meine Mutter sitzen dort, in
der hintern Allee, auf einer Bank beisammen.
Ich habe Sie sofort wiedererkannt. Bedauern Sie
erst Niemanden: wir sind nun schon seit drei
Jahren Witwe und Waise.'* Ich folgte der Dame.
Als wir an die andern Frauen herantraten, stand
Fräulein Rita auf und machte einen Knix. Ich
war darüber sehr verwundert, denn sie mochte
wohl über zwanzig Jahre und somit nur ein paar
Jahre jünger, als ich gewesen sein. Sie schien
mir ganz hübsch, etwas zu aufgeschossen, ähnelte
weder ihrer Mutter, noch dem Vater : bald merkte
ich, daß sie leicht hysterisch sein mußte. Sie
zitterte und schnitt beim Sprechen Grimassen.
Übrigens kein Wunder: wir sollten im Gespräch
auf gar ernste Dinge kommen! Und durfte
sie damals die Wahrheit sagen? Erst viel später
sollte ich mir die Frage stellen. Fräulein von Car-
pegna hatte ein gutes Gedächtnis; sie fing mir
sofort von unsern Spielen, vor mehr als zehn
Jahren, an zu reden. Gewiß, wir hatten uns
zum letztenmal in Triest auf dem Bahnhof ge-
sehn, als wir eine Tante der Carpegnas, die von
Görz ankommen sollte, abholten. Der Zug hatte
eine größere Verspätung, und wir veranstalteten
damals ein recht lustiges Blindekuhspiel zur Er-
götzung der andern Wartenden ebenso wie zum
eignen ZeiU er treib. Wir wußten es noch beide
ganz genau! Die Mutter der Frau Carpegna hatte
uns niemals recht gefallen. Es hieß schon der-
einst in Triest, sie sei als Zimmervermieterin
nicht einwandfrei, man hätte oft Pärchen be-
merkt, die zu ihr geklettert wären. Meine Mut-
ter allerdings war ganz entschieden gegen solche
Vermutungen: sie behauptete, man sollte über
die verarmte Dame kein so böses Gerede ver-
breiten! Und dabei blieb es: unsre Familien ver-
kehrten freundschaftlich bis zur Übersiedlung der
Carpegnas nach Wien. Dann trat allerdings sehr
bald Entfremdung ein. Der Grund war ein pein-
licher Vorfall, der sich auf den Straßen des
vierten Bezirks abgespielt hatte, und in den man
auch meine Großmutter mütterlicherseits, die
ebenfalls seit einigen Jahren in Wien lebte,
irgendwie hineinzog. Und dieses auffallende Er-
eignis wurde eigentlich sogleich von uns vieren
besprochen, denn ich bin nicht ohne Absicht zu
den drei Damen gerufen worden! Man wollte
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sich nicht nur vor mir rechtfertigen, sondern
forderte schUeßlich, im Namen einer viel jährigen
Familienverbundenheit, meine Dienste in einer
«ranz unglaublichen Geschichte! Frau von Car-
D o
pegna erzählte folgendes, ohne sich im Beisein
von Mutter und Tochter ein Blatt vor den Mund
zu nehmen: ,,Als Folco*' — so hieß der ver-
storbne Herr von Carpegna — ,,ganz unfähig
wurde, seine Familie zu ernähren, entschloß ich
mich, zusammen mit meiner Mutter, für uns
und die Kinder zu sorgen, sogar für ihn: aber
v^'ir konnten das nicht im kleinen Triest zu-
standebringen, wo man uns auch als wohlhabende
Menschen gekannt hatte, und zogen daher nach
Wien. Ich gebe nun hier seit Jahren Gesangs-
stunden, die Mutter vermietet weiter Zimnier.
Mein Mann litt an Rückenmarksdarre, kein Wun-
der: er hatte einen ausschweifenden Lebenswan-
del geführt. Ich habe ihn dereinst geliebt, trotz
aller Warnungen geheiratet: das ist mein Leicht-
sinn, mein Vergehn! Hier in Wien wurde er
brutal; er peinigte mich, war mit nichts zufrie-
den, schlug die Kinder. Nun, das wissen Sie ja.
Sie kennen auch Folcos Mutter, die als Witwe
den reichen Marchese Albano-Cariati in Bologna
geheiratet hat. Als auch ihr zweiter Mann starb,
brachte sie ihr Erbteil großenteils durch. Immer-
hin besaß sie noch viel Geld bis zu ihrem Tod,
der erst vor einem Jahre erfolgt ist: jedenfalls
mehr, als ich! Nun, wir wandten uns in größ-
ter Not an meine Schwiegermutter. Sie antwor-
tete: Folco und mindestens die beiden kleinern
Kinder Amedeo und Marcella sollten zu ihr nach
Bologna kommen, sie würde für sie sorgen. Mich
und meine Mutter aber konnte die Frau Marchesa
nicht leiden; ich sollte mich von zwei Kindern
trennen und mit Rita in Wien bleiben. In Ita-
lien ist die Ehescheidung noch nicht eingeführt.
Was tun? Ich sträubte mich mit Händen und
Füßen dagegen; einen Richterspruch gab es für
uns nicht, und mein bösartiger Mann quälte mich
unsagbar. Er wurde immer kränker und bekam
nichts aus Italien. Man wollte mich durch Hunger
zwingen; sagte, ich wäre leichtsinnig gewesen,
beschimpfte meine Mutter, und schließlich
brach ich jeden brief Heben Verkehr mit Bo-
logna ab. Mein Mann konnte kaum noch gehn:
oder verstellte er sich bloß? Selten schlich er
IG
sich aus dem Haus, wohl zur Post, um post-
lagernde Briefe seiner Mutter abzuholen. Bei uns
war die Hölle lös, endlich gab mein Mann nach:
er verließ uns und fuhr nach Bologna. Monate-
lang blieben wir ohne Nachricht. Eines Tages
ereignete sich das Furchtbare: die Marchesa fing
die zwei Kleinen, als sie von der Schule nach
Hause gingen, auf der Straße ab. Rita entkam.
Amedeo und Marcella schrien schrecklich, wehr-
ten sich gegen die Großmutter. Es half nichts.
Der Vater wartete in einem Wagen; man ent-
führte mir meine Kinder! Seitdem sind sie in
Bologna. Sie wissen doch, Herr Däubler, daß ich
hilfesuchend zu ihrer Großmutter lief, wir eil-
ten zur Polizei, man verwies uns aufs italie-
nische Konsulat. Dort war man schon vorberei-
tet. Folco und die Marchesa hatten mich und
meine Mutter verleumdet, man machte uns zu
leichtsinnigen Weibern, die ihre Kinder nicht er-
ziehen können. Überdies sollten Amedeo und
Marcella italienisch erzogen werden, für Rita
wäre es allerdings zu spät, sie dürfte bei der
Mutter bleiben, wenn sie wollte; mich aufzuneh-
men weigerte sich die Marchesa ganz entschie-
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den! Übrigens ist nicht meine Schwiegermut-
ter die böseste Person in der Familie, sondern
meine Schwägerin Eletta, die Gräfin von San
Zanipolo in Livorno. Seit dem Tode der Mar-
chesa sind die Kinder bei ihr. Diese Sippe muß
allerhand über mich gelogen haben, denn nun-
mehr hat sich sogar Ihre Großmutter, Herr
Däubler, von mir zurückgezogen. Ich schwöre
Ihnen, alles, was man gegen uns unglückliche
Frauen sagt, ist erlogen. Herr Däubler, helfen
sie mir, wieder zu meinen Kindern zu kommen!**
Ich war natürlicherweise tief bewegt. Vom Kin-
derraub in der Karolinengasse hatte ich aller-
dings bereits gehört: Näheres wußte ich aber
nicht darüber. Ich drückte der Frau von Car-
pegna herzlichst die Hand. ,,Wie immer es auch
mit der Schuld Ihres Mannes sein mag, Ihr
Schicksal ist schrecklich, arme Mutter!" Sagte ich
ihr. Allen drei Frauen traten die Tränen in die
Augen. Fräulein Rita fand zuerst wieder Worte:
„Es verhält sich wirklich so, wie Mutter es er-
zählt hat. Ich will bei ihr bleiben, habe etwas
' '9'
gelernt, hoffe mich als Beamtin durchs Leben
bringen zu können. Meinem Vater habe ich nach
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seinem Tode verziehn, auch der Marchesa; die
Hauptschuld trifft Tante Eletta, die im Verborg-
nen alles angestiftet hat." Ich erinnerte mich,
daß sogar die Marchesa einmal von ihrer Toch-
ter zu meiner Mutter gesagt hatte: „Eletta ist
eine kleine Schlange.** Dies behielt ich jedoch
für mich. Ich wandte mich aber, durch die Er-
innrung ermutigt, nochmals ans Fräulein von Car-
pegna, blickte ihr klar in die Augen und fragte
ganz bestimmt: ,,Also, gnädiges Fräulein, Sie
schwören, daß alles, was ich hörte, wahr ist?**
„Lautre Wahrheit!** war ihre Antwort. Sie zuckte
mit keiner Wimper. Frau von Carpegnas Mut-
ter wurde aber blutrot. Sie hoffte zuerst, ich
hätte ihre tiefe Verlegenheit nicht bemerkt und
faßte sich auch schnell, obschon ich sie scharf
anblickte. Sie hatte sich verraten! Aber, was
konnte hinter alledem stecken? Weder Frau von
Carpegna, noch Rita ahnten, daß ich die alte
Dame ertappt hatte. Ich fand damals nicht den
Mut, die Entschlossenheit, ihr das Geheimnis
durch Fragen abzuringen. Späterhin fehlte mir
dazu die Gelegenheit, denn ich habe keine der
drei Frauen bisher wieder gesehn, wahrschein-
^5
Kch ist die alte Dame bereits tot. So kann ich
noch heute nicht in der geheimnisvollen Ge-
schichte, die ich hier erzähle, ganz genau sehn.
„Helfen Sie mir!** Sagte nochmals Frau vonCar-
pegna: „Fahren Sie nach Italien, mich hat
man nicht empfangen, mit Gefängnis wurde ich
bedroht, da man mich als Gattin eines Italieners
nicht aus dem Lande weisen konnte; ich bin
ja in Livorno und Bologna wiederholt gewesen.
Sie kann man nicht zurückweisen, wenigstens
Nachricht über meine Kinder geben Sie mir.**
Da antwortete ich: „Gnädige Frau, meine Mittel
erlauben mir keine Reise nach Italien, ich bin
Pariser Boheme, nur hier in Wien, nach vielen
Jahren, kurz auf Besuch; ich muß zurück ins
Quartier latin, wo ich zur Not mein Leben friste.
Könnte nicht Fräulein Rita nach Livorno fah-
ren?*' „Ach, fahren Sie, Rita ist erst jetzt
mündig geworden, man hätte sie nicht zurück-
gelassen, jetzt aber geht es nicht; Rita ist zu ner-
vös. Sehn sie selbst, wie sie zittert!** Bat mich
die Unglückliche immer noch. Ich blickte Fräu-
lein Rita abermals sehr fragend an. ,, Meine Mut-
ter hat nicht gelogen, Herr Däubler!** Erfuhr
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ich von ihr. Sonst nichts. Da entschloß ich mich
aufzubrechen, besonders in Anbetracht meiner
UnmögUchkeit, den Leuten sofort zu helfen. Ich
stand auf und sagte: ,, Leben Sie wohl, meine
Damen, ich fahre morgen nach Paris, hier meine
Adresse, geben Sie mir Ihre; sowie es mir mög-
lich sein sollte, nach Italien zu reisen, will ich
dort tun, was irgend möglich." Wir teilten uns
die Wohnungen mit, dann empfahl ich mich,
nicht ohne Herzlichkeit. Meine Großmutter
fragte ich noch am selben Tag um ihre Mei-
nung. „Ich versteh nicht, liebes Kind,** ver-
sicherte sie mir: „Wie sich alles verhält; die Aus-
künfte über Frau von Carpegna und ihre Mut-
ter sind auf der Polizei nicht grade schlecht,
auf dem Konsulat hingegen abscheulich. Eletta
halte ich für eine grundanständige Frau, die Mar-
chesa war meine gute Freundin, ich hätte für
sie die Hand ins Feuer gelegt. Der Frau von
Carpegna hingegen traue ich nicht, ihrer Mutter
schon gar nicht.*- Also, ich konnte beim besten
Willen vorläufig nicht eingreifen: ich hatte vor
allem keine Möglichkeit, nach Livorno zu fahren.
Ich sann hin und her, denn -mächtig hatte mich
der Auftritt im Garten bewegt.
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Als Knabe ging ich stets sehr gern zur be-
freundeten Familie. Folco von Carpegna sprach
ein so schönes Italienisch, es gelang ihm, seine
Kinder vor der verwahrlosten Triester Mundart
zu behüten. Besonders seinen Sohn Amedeo
schien er innigst zu lieben. Zum letztenmal hatte
ich Vater und Sohn an einem Faschings diens tag
nachts, sehr spät, im „Cafe degli specchi'* ge-
sehn. Etwa zwölf Jahre vor dem soeben erleb-
ten Zusammentreffen mit Folcos Familie beim
Militärkonzert in Wien! Der kleine, ungefähr
fünf Jahre alte Amedeo war ein ganz herrliches
Kind. Er hatte die dunklen Glutaugen des Vaters
und die goldblonden Haare der Mutter. Er stand
auf einem Marmortisch; der stolze Folco zeigte
ihm die Masken und vielleicht noch mehr: ihn
den Masken und allen Vorüber wirbeln den. Folco
liebte große Festlichkeiten, er soll sehr freizügig
gelebt haben; als sein Vermögen zusammenge-
schrumpft war, begnügte er sich mit dem
Fasching auf der Straße und im Cafe. Die Car-
pegnas stammten aus der Gegend von Bologna,
lebten aber seit langem in Triest, ohne Öster-
reicher geworden zu sein. Folcos Großmutter
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war mütterlicherseits eine Norddeutsche; er
sprach auch vollkommen deutsch, soll einige Zeit
deutscher Schauspieler gewesen sein; seine Mut-
ter hingegen, die Marchesa, obschon die Tochter
einer Deutschen, verstand kein Wort deutsch. Mit
Politik hat sich die Familie damals nicht be-
faßt, das festzustellen ist, wegen spätrer Ereig-
nisse, die hier berichtet werden sollen, nicht ganz
unwichtig! Nach vielen fehlgeschlagnen Ver-
suchen, sein Leben mannigfaltig zu gestalten., war
Folco in das große Holzgeschäft eines Onkels
eingetreten. Zuerst ging es dort ganz gut; er
konnte sogar heiraten, einen Hausstand anständig
gründen; eigentlich brachte erst der Tod dieses
Onkels eine Verändrung in die Lage der unglück-
lichen Familie. Mit dem Teilhaber des Hauses
vertrug sich Folco gar nicht. Er sollte ausbe-
zahlt werden, man einigte sich nicht über den
Abfindungsbetrag; schließlich kam es zu lang-
wierigen Gerichtshändeln. Der Kampf wurde sehr
hartnäckig von beiden Seiten geführt. Zum
Schluß blieb für beide Teile fast nichts übrig.
Das Geschäft war übrigens auch gleich nach dem
Ableben von Folcos Onkel viel schlechter gewor-
2 Der unheimliche Graf ^ 7
den. Die Carpegnas hatten bereits in Triest sehr
unter bittrer Not zu leiden: Folco wollte keine
Stellung mehr annehmen, konnte es vielleicht
auch nicht: er war rückenmarkleidend. Einige-
mal flüchtete die Familie zur Marchesa nach Bo-
logna, der ging es aber auch nicht besonders
gut, sie war von einer wahren Bauwut ergrif-
fen und hatte sich dabei schon beträchtig in ihren
Unternehmungen verrechnet. Überdies vertrug
sich Folco mit den Verwandten nur sehr schlecht,
seine Frau aber mit der Schwiegermutter gar
nicht. So pendelte die Familie zwischen Bologna
und Triest hin und her, bis die Übersiedlung nach
Wien beschlossen wurde. Wie bereits früher ge-
sagt, wir hatten die Menschen sehr gern, bei
Uns gingen sie viel ein und aus. Die Bologneser
Verwandten besuchten uns ebenfalls immer wie-
der. Der kleine Graf SanZanipolo France s-
chino war, obschon mehrere Jahre jünger als
ich, dereinst mein bester Spielgefährte gewesen.
In der letzten Zeit geriet man aber, wie auch
schon angeführt, besonders nach der aufregenden
Begebenheit mit den entführten Kindern, in die
auch meine Großmutter verwickelt wurde, ganz
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außer jeden Zusammenhang. Es ist so schwer,
sich bei Familienzwisten für einen Teil zu ent-
scheiden! Folco war leichtsinnig, vernachlässigte
seine Frau, das stand fest. Aber auch sie schien
tiefe Schuld, wenigstens den Kindern gegenüber,
zu treffen. Diese Aussprache mit den drei
Frauen hatte mich zutiefst erregt, viele Erinn-
rungen aufgewühlt; ich konnte aber nicht hel-
fen, ich mußte mir es immer wieder sagen und
vor mir selbst bestätigen.
Nach einigen Tagen schon fuhr ich zurück
nach Paris. Oft dachte ich an die unglücklichen
Carpegnas, befragte auch Italiener, mit denen
ich zusammenkam, nach den San Zanipolos, aber
niemand konnte mir eine Auskunft geben. Es
ist selbstverständlich, daß ich niemals nach Wien
an die Leute schrieb; froh war ich, daß man
mir nicht mehr zusetzte. Nach etwa einem Jahr
bekam ich jedoch folgendes lange Telegramm in
deutscher Sprache: „Eine Spur von Amedeo! Im
Corriere della sera fand ich f olgendeAnkündigung :
Der junge Geigenspieler Amedeo von Carpegna aus
Bologna hatte bei seinem Auftreten in Vercelli
großen Erfolg, er wird am 26. Mai in Beifort,
19 2*
dann in Pontarlier und Grenoble auftreten. Fah-
ren Sie nach Beifort, helfen Sie der unglück-
lichsten Mutter. Ihre Ada von Carpegna.** Es
war mir ganz unmöglich, nach Beifort zu fahren:
meine Tasche war niemals leerer, als gerade da-
mals. So entschuldigte ich mich denn in einem
höflichen, aber kurzen Brief und versprach, mich
in Italien einmal um die Angelegenheit kümmern
zu wollen. Ich stellte auch meine Übersiedlung
dorthin für den nächsten Herbst in Aussicht.
Nun, was ich so sehnlich hoffte, gelang mir
viel später; erst nach einigen Jahren konnte ich
mich in Florenz niederlassen! In der ganzen da-
zwischenKegenden Zeit erfuhr ich, ermittelte ich
nichts von Ereignissen der einstmals mit uns so
eng befreundet gewesnen Familie.
Auch in Florenz gelang es mir dann nicht
gleich, etwas über die Carpegnakinder zu erfah-
ren. Ich mußte immer wieder meine Absicht,
nach Livorno zu fahren und mich bei den San
Zanipolos vorzustellen, verschieben. Jemanden,
der mir etwas über diese Livorneser Familie
hätte mitteilen können, fand ich nicht. EndUch
einmal ergab sich aber ganz plötzlich die Ge-
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legenheit, allerhand über das Familiengeheimnis
zu wissen, ja beinahe selbsthandelnd in das
Trauerspiel verwickelt zu werden. Übrigens war
das vorauszusehn, ich sollte, wollte nach Mög-
lichkeit eingreifen, um einer Mutter, die ihre
Kinder verloren hatte, endlich beizustehnl
Das kam so: ich stand mit dem Vorstand
einer zu Geheimlehren neigenden Bücherei,
einem Grafen Costanova in freundschaft-
Kchem Verkehr. Nur selten wohnte ich aller-
dings den theosophischen, oft geheimbündle-
rischen Abenden in dieser Gesellschaft bei; ein-
mal aber interessierte mich sehr ein angekün-
digter Vortrag über die „Kabala** von einem ge-
lehrten Juden in Livorno. Ich wußte, dort gibt
es eine Kabalis tenschule und ging hin. Die Aus-
führungen des Redners waren für mich wichtig;
als er zu Ende gesprochen hatte, trat ich an ihn
heran und befragte ihn noch über einige Sätze,
die mir imklar geblieben waren. Plötzlich fiel
mir die große Familiensache ein. „Sagen Sie Herr
Atala,*' sprang ich von einem Gegenstand zum
andern über: „Kennen Sie in Livorno die Grafen
San Zanipolo!** „Allerdings!*' Gab er mir zur
121
Antwort: ,,Hier im Saal ist der junge Graf
Francesco sogar anwesend!*' Ich war hoch-
erfreut! ,, Bringen Sie uns wieder zusammen/*
bat ich: „Wir sind in Triest Spielgefährten ge-
wesen!** — Nach ein paar Sekunden redete mich
ein mittelgroßer, rotblonder junger Herr, in Be-
gleitung des Herrn Atala an: „Guten Tag, Herr
Däubler, nach so vielen, vielen Jahren treffen
wir uns wieder!** „Herr Graf, Sie können sich
unmögUch an mich erinnern, Sie waren um meh-
rere Jahre jünger als ich, höchstens dreijährig,
als wir uns zum letztenmal sahn; unsre Fami-
lien waren freilich recht befreundet. Sie werden
von mir gehört haben!** Gab ich ihm zur Ant-
wort. Er lächelte und versicherte mir: „Ich habe
allerdings von Ihnen gehört; ich entsinne mich
aber auch unsrer Spiele, besonders in der Villa
Ihrer Eltern. Eine Schwester, sie stand ungefähr
in meinem Alter, dann eine noch kindliche Tante
von Ihnen und die Tochter einer Amme in der
Familie, die mitspielen durfte, waren meistens
auch dabei.** „Sie haben ein unglaubliches Ge-
dächtnis!** Warf ich ein: ,, Diese Kinderjahre wa-
ren wirklich heiter.** „Ja!** Meinte er und blickte
22
scharf auf mich: „Dann kam es aber ganz
anders, sowohl bei Ihnen, als auch bei uns; Sie
wollen mich in unsern Familiensachen befragen,
ich gestatte es Ihnen, Sie tun es im Auftrag einer
unseligen Mutter.*' Herr Atala entfernte sich.
„Wir sind allein, Herr Graf!*' Unterbrach ich ein
augenblickliches, peinlichstes Schweigen : „Ich ge-
steh, daß mich Frau von Carpegna vor meh-
reren Jahren in Wien bat, mich um ihre zwei
Kinder Amedeo und Marcella umzusehn. Was
immer vorgekommen sein mag, das Schicksal der
Mutter ist höchst beklagenswert.*' „Gewiß, das
der Kinder wäre es aber in allerhöchstem Maß
geworden, wenn sich nicht unsre Großmutter,
die Marchesa Albano-Cariati, rechtzeitig ihrer an-
genommen hätte. Folco, mein armer Onkel, tod-
krank, übrigens auch er ein Springinsfeld, konnte
kaum seiner Mutter beistehn. Es ist keine Klei-
nigkeit, wenn einem die Kinder auf der Straße
geraubt werden!*' „Allerdings!" Fiel ich ihm in
die Rede: ,,Man war in Wien sehr erstaunt, daß
die Marchesa zu so einem Gewaltmittel griff!*'
„Die Marchesa", meinte er: „Mußte zu den glei-
chen Mitteln wie die Mutter greifen: warumhatte
»5
die damit angefangen, indem sie die Kinder in
Bologna beim Heimgang aus der Schule abfing
und dann wegschleppte/' „Die Mutter zuerst?'*
Fragte ich. „Gewiß, die Mutter zuerst!*' Bestä-
tigte der Graf: „Sie versuchte es dann noch-
mals, aber die Kinder selbst weigerten sich, ihr
zu folgen, sie wurde als Fremde festgestellt, und
die Menge verhinderte sie, die Kinder zum Bahn-
hof zu bringen.*' „Das hätte ich von der phleg-
matischen Frau niemals erwartet!*' Beteuerte ich.
,,Und doch ist es so!** Sagte der Graf sehr nach-
drücklich: „Amedeo selbst wird es Ihnen be-
stätigen. In drei Wochen gibt er hier ein Kon-
zert; wir haben ihn gewähren lassen, er durfte
Geiger werden: sein Vater hatte bereits Lust
dazu! Sie bekommen rechtzeitig Karten für den
Abend, dann können Sie mit Amedeo, so
lange Sie wollen, sprechen, ich will ihn für die
Unterredung vorbereiten; sagen Sie ihm alles ganz
genau, ich bitte Sie darum." ,,Ich bin bestürzt,
kann Ihnen nur für Ihr Entgegenkommen dan-
ken!" Erwiderte ich: „Warum mag mir aber
Rita nichts davon gesagt, den Vortrag ihrer Mut-
ter gar nicht ergänzt haben — sollte sie von ihr
24
beeinflußt sein?** „Arme Rita!** Meinte der
Graf: „Sie hätte auch in Italien erzogen werden
können, und zwar ohne so schwere Dinge an
sich und in ihrer Umgebung erleben zu müs-
sen. Ihrer Schwester Marcellas Ausbildung ist
noch nicht abgeschlossen. Sie soll in die Schweiz
geschickt werden. Amedeo hat das Institut Gue-
rino da Feltre, wie Sie wissen, das beste von
ganz Italien, besucht; wir haben aber mit allen
seinen künstlerischen Neigungen gerechnet, Sie
werden Ihre Freude dran haben, zu hören, wie
gut er geigt. Auch die deutsche Sprache hat er,
auf seines Vaters besondern Wunsch hin, weiter-
gepflegt. Sie, als deutscher Dichter, werden das
am besten beurteilen können." Ich sah nun, daß
ich mich noch drei Wochen lang bescheiden
mußte. Der Graf schien wohl etwas vorzuhaben,
erkundigte sich jedoch noch rasch nach allen
meinen Verwandten; ich war abermals mehr als
Erstaunt über sein Gedächtnis. Zum Schluß rich-
tete ich noch die Frage an ihn: ,,Sie sind doch
seit ihrem fünften Jahr nicht mehr in Triest
gewesen: Ihre Kenntnisse der Stadt und Men-
schen dort verblüffen mich.** „Seit meinem vier-
" 25
ten Jahr nicht mehr!" War die Antwort. Nun
verabschiedeten wir uns. Der junge Graf hatte
mir beim Weggehn nochmals versprochen: ,,Sie
werden mit Amedeo ganz allein reden können.*'
„Sagen Sie mir/* wandte ich mich gleich dar-
auf an den Grafen Costanova: „Wie weiß San
Zanipolo, daß ich Dichter bin? Ich habe noch
nichts veröffentlicht, unsre Familien sind seit
vielen Jahren ohne jeden Zusammenhang, hier
hat es ihm wohl niemand gesagt. Überdies hat
er es erst gegen Ende unsrer Unterhaltung mit
einer gewissen Absichtlichkeit ausgesprochen,
überhaupt ein unheimlicher Mensch; so ein Ge-
dächtnis habe ich noch niemals erlebt." ,,Das
wundert mich alles nicht!" Meinte Costanova:
„San Zanipolo dürfe alles auf medianem Weg
von Ihnen selbst erfahren haben. Für ihn gibt
es überhaupt keine Geheimnisse. Viele Theo-
sophen halten ihn für einen der größten Zauberer
unsrer Zeit. Dabei ist er noch so jung und nie-
mals im Morgenland gewesen. Hier in Florenz be-
sucht er allerdings oft einen Weisen, vielleicht
seinen Lehrer, einen Herrn Bastiani, den müssen
Sie auch kennen lernen; der behauptet nun, San
26
Zanipolo habe sich von ihm freigemacht, um sich
der schwarzen Wissenschaft ganz hingeben zu
können. Er werde, so sieht Bastiani voraus, noch
zicmHch bald eines seltsamen Todes sterben, dies
werde auch noch rechtzeitig, zu San Zanipolos
Vorteil, geschehn, nämlich noch bevor er seine
Seele ganz verkauft haben wird. Tatsache, mein
Lieber, wo man ihn nicht braucht, taucht er, oft
auf seinem Kraftrad, auf.** ,,Nun, ich danke!"
Sagte ich nicht wenig bestürzt: „Das kann ja
ein hübscher Kampf für mich werden. Ich soll
da einem Familiengeheimnis auf den Grund
sehn, gegebenenfalls gegen die San Zanipolos
allerhand zugunsten einer Dame, die in die
Familie geheiratet hat, unternehmen! Kinder-
raub auf offner Straße hat sich ja schon ab-
gespielt.** ,, Allerdings, von so etwas läßt man
lieber seine Finger weg!** Meinte Costanova:
„Aber ich kann Ihnen vielleicht helfen: vor allem
müssen Sie nun Bastiani kennen lernen; er wird
Ihnen raten. Gehn wir morgen hin; um vier
Uhr treffen wir uns hier vor der Bücherei.
Sagen Sie es keiner Seele, San Zanipolo darf
nichts wissen.*' Ich ließ mir das gesagt sein, dann
trennten wir uns.
Am nächsten Tage waren wir beide pünkt-
lichst an der vereinbarten Stelle. Als wir uns
anschicken wollten, fort, und zwar zu Bastiani, zu
gehn, schoß sein Kraftrad an uns vorbei: San
Zanipolo! „Das fängt ja hübsch an!*' Meinte ich.
Costanova sagte: „Mich wundert das nicht, nur
hätte ich mirs für heute doch nicht erwartet,
San Zanipolo sagte mir, allerdings noch bevor
ich Euch bekannt gemacht hatte, er müßte in
wichtiger Angelegenheit in Livorno sein! Nun
ein paar Worte über Bastiani und seine Frau.
Dieses Ehepaar ist eigentlich immer drüben, ich
meine auf einer höhern Ebne. Sie leben beide
tatsächlich von Luft und Liebe; und zwar nicht
einmal von kirchlich genehmigter ehelicher, son-
dern bloß von himmlischer Liebe! Eigentlich lie-
gen sie ihr ganzes Leben in einem Zustand von
Halbschlummer; diesem Umstand verdanken sie
aber ihre Seherkraft; sie werden auch Ihnen
sagen können, was für Sie das beste sein wird,
zu tun oder zu lassen.** Meine Gespanntheit kann
man sich wohl vorstellen. Bald waren wir zur
Stelle. Im ältesten Florenz. Wir mußten erst in
den letzten, wohl fünften Stock, hinauf klimmen.
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„Hier wohnen die Bastianis seit jeher, sie sollen
in diesem Haus gehören sein!" Sagte noch auf
der dunklen Stiege Costanova. „Beide?** Fragte
ich: „Oder bloß er oder sie?" Costanovalächelte.
Oben angekommen mußten wir noch recht lange
pochen. Mein Begleiter verlor nicht den Mut.
„Man muß sie erst aus dem Schlummer wek-
ken!** War sein Bescheid. Endlich öffnete eine
alte Frau, ganz einfach gekleidet, die Tür.
„Guten Abend Herr Graf!** Hauchte sie: „Will-
kommen, treten Sie ein!" Wandte sie sich an
mich. ,,Frau Bastiani, ich bringe Ihnen einen
deutschen Dichter!** Führte mich Costanova ein.
„Das freut mich sehr, mein Mann wird es schon
wissen; er sagte mir heute früh: Giulia, wir
bekommen Besuch: ich fühle es, San Zanipolo
bedroht jemanden; der Betreffende wird mich
aufsuchen, damit ich ihn beschütze.** Ich sah
Costanova fragend und argwöhnisch an. „Ich
schwöre Ihnen, daß ich Bastianis nicht benach-
richtigt habe!** Sagte er bestimmt. Wir traten
ein. Die Wohnung bUeb dunkel; wie ich später
erfahren sollte, verträgt das hellsehende Ehepaar
kein Sonnenlicht. Ich wurde an ein Bett ge-
^9
führt, drinnen lag, hinter Mullbehängen, wie soll
ich mich ausdrücken: eine sprechende Leiche.
,,Hilf mir, damit ich dem fremden Herrn helfen
kann, leg dich neben mich, Giulia!*' Hauchte er.
,,Ja, Rodolfo!" Lispelte sie. Dann kroch sie zu
ihrer Ehehälfte, damit zwei sprechende Leichen
nebeneinander, hinter den Mullbehängen, liegen
sollten. Beide waren sogleich wie erstarrt. Nach
ein paar Minuten begann sie: „Rodolfo, ich sehe
drei Lämmer.*' „Zwei eulenartige Vögel, groß
wie schwarze Sturm wölken, hadern um sie.** Er-
gänzte er noch: „Was siehst du noch, Giulia?**
„Die Lämmer versuchen zu entfliehn, sie sind
arg verängstigt.** Gab die Frau kaum hörbar zur
Antwort. Und Rodolfo fiel ein: „Zweien ge-
lingt es zu entkommen. Eines wird von den
andern beiden getrennt. Wie schrecklich, die
armen Wesen! Sie schrein alle drei nach uns.
Es geht ihnen schlecht, Giulia was siehst du?**
„Gefahr, sehe ich, Gefahr!** Lispelte die Frau:
,,Kein Blitz, kein rächendes Schwert stürzt vom
Himmel herab, aber eine feurige Schlange ringelt
sich vom Boden empor: wie ein Blitz von unten.**
„Sie meint San Zanipolo!** Flüsterte mir Costa-
^^o
nova zu. ,,Die Schlange hat die beiden Lämmer,
die beieinander blieben, angefaucht. Sie sind in
ihrer Gewalt. Die armen Lämmer.** Dies sah
und berichtete Rodolfo. „Das dritte Lamm ist
verschwunden, vielleicht in einen Abgrund ge-
stürzt.*' Das wußte wieder Giulia zu erzählen.
,;Hüte dich vor der Schlange, vor der roten
Schlange! Es wird dir nichts geschehn, ich werde
wachen.** Nach diesen Worten Herrn Bastianis,
sagte mir Costanova: „Das galt Ihnen, seien Sie
ruhig, wir haben gewonnenes Spiel. Bastianis
werden nun ein paar Tage lang im Starrkrampf
liegen bleiben, bis sie in der Astralebne alles für
Sie geordnet haben werden. Nur dieses Ehepaar
besitzt noch einige Gewalt über San Zanipolo,
gehn wir.** Wir brachen auf.
Mir war gar unheimlich zu Mut: zuerst schlen-
derten wir durch die Straßen, dann blieben wir
auf dem Ponte delle Grazie stehn. „Graf, was
ist das mit dem San Zanipolo?** Unterbrach ich
endlich das Schweigen. „Ich sagte Ihnen doch
gestern, daß er ein Hexenmeister zu sein scheint.
Bastiani, der ihn früher leitete, hat es doch heute
wieder bestätigt; vielleicht wußte er nicht ein-
51
mal, um wen es sich handelte; im Laufe der
nächsten Stunden wird er es aber wissen: die
rote Schlange ist San Zanipolo!*' „Haben Sie
wirklich Beweise für seine geheimnisvollen
Kräfte?*' fragte ich. „Gewiß!'* Sagte Costanova:
„Hören Sie was mir als zweifellos wahr erzählt
worden ist. Graf Francesco San Zanipolo ist zuerst
Fähnrich gewesen. Bei einem Liebesmahl, in An-
wesenheit seines höchsten Vorgesetzten, wurde man
überhaupt erst auf seine wuchtigen medianischen
Eigenschaften aufmerksam. Denken Sie sich, die
Tafelrunde war vollzählig beisammen, es wurde
Wein, es wurden vorzügliche Speisen aufgetischt,
man sprach ungemein angeregt miteinander, San
Zanipolo liebenswürdig wie immer; auf ein-
mal, inmitten eines harmlosen Gesprächs war er
nicht mehr da." „Verschwunden?" Fragte ich.
„Ja, verschvsoinden!" Lautete die Antwort: „Die
beiden Offiziere zu seiner Rechten und zu seiner
Linken blickten sich sprachlos an: der Fähnrich
zwischen ihnen war einfach weg. Alle Anwesen-
den, vom Obersten bis hinunter zum jüngsten
Fähnrich packte Entsetzen. Wohin konnte der
Graf gekommen sein? Sämtliche Türen ver-
52
schlössen! Endlich öffnete man eine, machte
Licht im Nebenzimmer, da lag der Fähnrich Graf
Francesco San Zanipolo, auf dem Lehnstuhl hinge-
streckt. Er befand sich in einem Zustand voll-
ständiger Besinnungslosigkeit. Ich muß hinzu-
fügen, weder er, noch sonst einer der Herrn
Offiziere war an jenem Abende bezecht. Es ver-
stand sich von selbst, daß so ein Wesen aus
der vierten Ebne, das ganz einfach durch
Mauern verschwinden kann, unmöglich länger
Fähnrich bleiben durfte. San Zanipolo wurde es,
als er endlich erwachte, nahegelegt, seinen Ab-
schied zu nehmen. Das tat er, nun studiert er
noch immer Arzneikunde.** Diese rätselhafte Ge-
schichte hörte ich auf der Brücke an. Nun lief
mirs ganz kalt über den Rücken. „Graf Costa-
nova,** sagte ich:„Gehn wir zurück in die Stadt.**
Als wir unter die Säulengänge der Uffizien
traten, trafen wir Atala. Er war noch in Flo-
renz! „Atala!** Redete ihn Costanova an: ,,Herr
Däu'bler liegt in überirdischer Fehde mit San Zani-
polo. Wir waren vor einer Stunde bei Bastianis;
sie werden ihm helfen, sonst würde es ihm wohl
übel ergehn!** „Allerdings!** Fiel uns Atala in die
5 Der unheimliche Graf 33
Rede, und zu mir gewandt, fuhr er fort: „Nur
Bastianis können Sie schützen; seitdem San Zani-
polo verheiratet ist und Arzneikunde und, sagen
wir, Apothekenkram büffelt, ich drücke mich sehr
milde aus, kann er höchst gefährlich werden!
Aber gegen die Bastianis kommt er nicht auf.**
In diesem Augenblick sauste ein Kraftrad an uns
vorüber, der rothaarige Graf saß drauf. Wir
erschraken alle drei; besonders da an dieser Stelle
unter den Uffizien das Kraftradfahren eigent-
lich verboten ist.
Nach ein paar Minuten hatten wir uns wieder
erholt, mußten sogar lächeln; Atala sprach aber-
mals als erster: „Ich will Ihnen die rätselhaf-
teste Geschichte von den Bastianis und San Zani-
polo erzählen. Kurz nach seinem Abenteuer an
der Offizierstafel, ich weiß nicht ob Sie das ken-
nen, ereignete sich folgende rätselhafte Ge-
schichte.** Wir nickten beide. Costanova warf
rasch ein: „Ich habe die Sache soeben erzählt.*'
„Desto besser!** Meinte Atala und begann seinen
Bericht: „Bastiani brauchte San Zanipolo oft,
um. seine Entwicklung lenken zu können. Einmal
fühlte er genau, daß Francescos Anwesenheit in
54
Florenz nötig war. Er ließ ihm drahten:
Fahren Sie heute mit dem Abendzug nach Flo-
renz, erwarte Sie dringend, Bastiani. Damals
waren nämlich die hellsehenden Eheleute auch noch
nicht so sehr im Besitz ihrer magischen Kräfte,
um bloß durch die Ferne wirkend, ihnen anheimge-
f allne Medien herbeirufen zu können ! Heute wäre
dies vielleicht anders: nur benützen die Bastianis
ihr geheimes Vermögen über andre Menschen
niemals, es müßte sich denn um eine Ent-
scheidung, eine Lebensfrage handeln ! Kehren wir
zu San Zanipolo zurück. Er schwankte nicht
einen Augenblick. Der Zug fuhr oder fährt auch
jetzt um acht Uhr abends von Livorno ab, ist
ungefähr um elf Uhr in Florenz. Als ihm das
Telegramm ausgehändigt wurde, war es beinah
halb acht; also hieß es fort! Er setzte sich auf
sein Fahrrad, damals besaß er noch kein Kraft-
rad wie jetzt, und sauste, nachdem er kurz Ab-
schied von der Familie genommen hatte, blitz-
schnell davon. Als er sich dem Bahnhof näherte,
merkte er, daß es erst in zwanzig Minuten acht
Uhr war. ,Was', schoß es ihm durch den Kopf,
,ich werde nicht so lange warten, sondern los-
55 3*
sausen.* Im Nu merkte er sich auf der Land-
straße nach Florenz, im nächsten Augenblick
fühlte er sich aber schon nicht mehr; wenigstens
kaum auf einer Straße, bloß in der Richtung,
rierrlich ist es, zu fliegen, dieses Gefühl, so heißt
es, verdeutlichte sich in ihm. Da wirbelte ihm
eine Doppelreihe von Lichtern entgegen, er
spürte einen Fluß unter sich, eigentlich unter und
zugleich neben sich: also Pisa! Francesco eilte
weiter; es war bestimmt die berühmte untre
Arnostadt, denn er hatte sogar einige Gebäude
wahrgenommen, genau geschaut. Dann schwand
ihm das Bewußtsein vollständig. Er erwachte
auf einem Diwan in der Wohnung Bastianis.
Rodolfo und Giulia bemühten sich um ihn. ,Es
ist schon wieder gut, es war ein Wunder, danken
Sie Ihrem Schutzgeist;* diese Worte waren die
ersten, die Francesco wieder vernahm. Rasch
hatte er sich erholt. Nun erfuhr er aus Bastianis
Mund was sich mit ihm ereignet hatte. Rodolfo
war nachdenklich an seinem Schreibtisch ge-
wesen, und er berechnete, nicht ohne Nervosi-
tät, ob Francesco das Telegramm rechtzeitig be-
kommen haben konnte oder nicht : er hatte Wich-
36
tiges vor! Da merkte er plötzlich, wie sich das
Fenster auf tat: hereinflog der schlafende Graf.
Bastiani war nicht so bestürzt, wie es wohl jeder
andre Mensch gewesen wäre, aber er hatte auch
alle Mühe, sich aufrecht zu halten, Herr der
Lage zu bleiben. Francesco huschte federleicht
gradeaus auf das Sofa zu, auf dem er bis
zu seinem Wiederwachwerden ausgestreckt lag.
Gleich darauf ein geringes Klirren, leichtes Blin-
ken: das Rad fuhr auch durchs Fenster herein,
in der Richtung auf die Lagerstätte seines Be-
sitzers, und dort legte sichs, wie ein treuer Hund,
an das Sofa gelehnt, zu des Grafen Füßen. Ro-
dolf o holte zuerst nicht einmal Giulia herbei. Erst
als man zweimal heftig schellte, und niemand die
Tür öffnete, ging Rodolfo aus der Stube, lun
den späten Gast einzulassen. Draußen stand eine
Wache, sie war mit einem Nachschlüssel ins Haus
gedrungen und sagte: ,Herr Bastiani, soeben sind
Diebe übers Dach bei Ihnen eingebrochen.* ,Nicht
die Spur davon!* Lächelte Rodolfo, der sich wie-
der ganz gefaßt hatte: ,Ein Traumwandler ist bei
mir eingekehrt.* ,Unmöglich,* meinte der Wach-
mann: ,einer von den Kerlen hat ein Rad ge-
57
stöhlen und es dann übers Dach laufend, bei
Ihnen eingeschmuggelt.' ,Nein, es ist kein Kerl,
sondern der Graf San Zanipolo; sein Rad ist
ihm durch die Luft gefolgt, wollen sie sich über-
zeugen?' ,Danke bestens!' Rief der Wachmann
und stürzte über die Treppe dem Ausgang zu; es
war, als fürchtete er, der Graf aus Livorno
käme hintendrein. Noch bevor Rodolfo zum
Grafen zurückkonnte, begegnete ihm auf dem
Flur seine Giulia. ,Ich war in tiefsten Schlaf
verfallen, Francesco muß mich gebraucht haben,
ich fühlte es genau, weiß es jetzt ganz klar!' So
redete sie ihn an. ,Nun komm nur in mein Zim-
mer, da liegt er schon wohlbehalten ausgestreckt,'
sagte fast sieghaft lächelnd Herr Bastiani. Als der
Graf diesen Bericht über sich, ziemlich gefaßt,
angehört hatte, griff er nach seiner Uhr: ,Acht
Uhr fünfzehn Minuten!' Waren seine ersten
Worte nach dem haarsträubenden Abenteuer.
Bastiani schmunzelte: ,Ich habe festgestellt, daß
Sie mir um punkt acht Uhr zugeflogen kamen;
unsre Uhren gehen beide genau.' , Folglich habe
ich zwanzig Minuten von Livorno bis Florenz ge-
braucht,' meinte, nicht ohne Stolz, San Zanipolo.
58
,Em Beweis dafür, daß Sie getragen wurden:
nicht aber durch die vierte Ebne, wie Sie da-
mals beim Offiziersessen, befördert wurden;
sonst hätten Sie keine Sekunde für die Zurück-
legung der hundert Kilometer gebraucht. Viel^
leicht sind Sie entmateriahsiert und wieder mate-
rialisiert worden!* Dies war der Bescheid Bastia-
nis.** — Ich kann nicht leugnen, daß mich diese
unglaubliche Erzählung des Herrn Atala aufge-
regt hatte. Es ist keine Kleinigkeit, gegen einen
solchen Grafen kämpfen zu müssen; übrigens
ich habe ihm, meinen Spielgefährten, doch nicht
Fehde angesagt! Wie käme ich dazu? Costa-
nova aber behauptete, wir hätten einander aufs
Korn genommen. Bastianis und er selbst wären
meine Bundesgenossen; ich sollte mutig den
Strauß für die drei unglücklichen Kinder aus-
fechten. Atala verließ uns; er mußte zurück nach
Livorno, hatte mir übrigens auch keine Hilfe
spontan angeboten; ich aber war vielleicht zu
ungeschickt, ihn darum zu bitten. Ich hatte drei
Wochen bis zu meinem Bekanntwerden mit
Amedeo vor mir. Ich schneide nicht auf, wenn
ich feststelle, daß ich sie bei Tag und Nacht ganz
59
ruhig verlebte. Costanova war darüber sehr er-
staunt; er sagte aber schKeßKch sich und mir:
,,Sie dürfen auch ruhig sein, höhere Gew^alten be-
schützen Sie/* Einen Tag vor dem angesagten Kon-
zert des jungen Triestiners Amedeo de
Carpegna bekam ich mehrere Eintrittsscheine
für mich und meine Freunde, wie vereinbart
und versprochen, zugestellt. Der Saal war voll
besetzt. San Zanipolos Frau, die einem Floren-
tiner Geschlecht entstammte, hatte für bestes,
gutgewilltes Publikum gesorgt. Der junge Mann,
den ich seit so langer Zeit nicht gesehn hatte,
erschien. Fort war die auffallende Schönheit des
Kindes! Er sah nicht bedeutend, aber auch nicht
unangenehm aus. Seine Haare waren immer
noch hellblond, wie die seiner Mutter, die Augen
ebenfalls glutvoll, wie dereinst. Eigentlich wäre er
ganz hübsch gewesen, nur verunstalteten ihn ein
paar Schnitte am Hals und über den Backen-
knochen : Amedeo war skrofulös. Er spielte wirk-
lich gut, nicht hervorragend, aber er berechtigte
zu schönen Hoffnungen. Sein Programm zeugte
von Geschmack; man wagte es, dem an leichteste
Kost gewöhnten Florentiner eine Folge von
40
Stücken wie für die ernsten Kunststädte Bologna,
Turin, Mailand zu bieten. — Amedeo brachte
Scarlatti, Corelli, Leonardo Leo.
Nach den Vorführungen, als der brausende
Beifall verrauscht war, wurde mir vom Grafen
San Zanipolo sein Vetter vorgestellt. Ich wollte
ihn vor allem beglückwünschen; er hatte mir
aber strahlend die Hände entgegengestreckt: ,,Ein
Landsmann, ein Triestiner!** Das war seine Be-
grüßung. Wir sprachen nur ein paar Worte
über PoUtik, dann bat ich ihn mit mir, wie verab-
redet, in ein stilles Cafe gehn zu wollen. Er
stimmte zu, und wir setzten uns bald in einen
ganz leeren Raum, wo uns keine Seele belauschen
konnte.
„Amedeo, ich darf Sie wohl so nennen,** be-
gann ich: „Ich kannte Sie und Ihre Familie in
Triest sehr gut; ich weiß, Sie haben viel durch-
gemacht.** „Gewiß, mein armer Vater ist mir
gestorben, das war das aller schwerste!** Antwor-
tete er. „Und Ihre unglückliche Mutter, denken
Sie nie an Mutter und Schwester?** Warf ich
ein. „Meine Mutter ist eine häßHche Österreiche-
rin, ein böses Weib; die Wiener Großmutter
41
eine Kupplerin, und um Rita bleibt es schade,
daß sie dort verderben muß." Diese Antwort
Amedeos war schroff. „Wissen Sie das ganz
genau?'* Fragte ich weiter. „Um es kurz zu
sagen: Ja! Hören Sie!** Erzählte er nun wild er-
regt: „Rita und ich, Marcella war noch zu klein,
wurden zuerst ausgeschickt, Streichhölzer zu ver-
kaufen. Wenn wir wenig verdienten, schlug
uns die BTutter. Später, als wir heranwuchsen,
griff man zu noch abscheulichem Mitteln, um
durch uns etwas Geld zu verdienen; Rita und ich
wurden mit Ansichtskarten von Triest, Miramar,
Abbazia, zu Kavalieren in die Wohnung geschickt.
Wir mußten einen Brief vorzeigen, drin stand
ungefähr: ,Hochgeborner Herr, ich bin die miß-
handelte Gattin eines Edelmannes; ich weiß nicht
wie ich meine schönen Kinder ernähren soll, hel-
fen Sie mir, nehmen Sie sich ihrer auch ein
wenig, wenn Sie Liebe zu Kindern haben, an.
Hochachtungsvollst, dankbarst Ada von Carpegna.*
Finden Sie das nicht schauderhaft?" „Amedeo,
Ihre Schwester Rita hat mir nichts davon gesagt,
sie behauptete, das Verhalten Ihrer Mutter sei
einwandfrei gewesen; Sie oder Ihre Schwester,
42
einer von Euch muß gelogen haben.*' Auf diesen
Angriff antwortete Amedeo: „Ich habe die
Wahrheit gesprochen. Rita steht unterm Einfluß
von JTutter und Großmutter, die eine Hexe ist.**
„Und Sie, wissen Sie bestimmt, daß Sie ganz
frei urteilen, verurteilen? Fluchen Sie nicht;
vielleicht ist die Mutter doch schuldloser als Sie
denken.** So setzte ich ihm zu, vorläufig ohne
Erfolg. Er griff zu folgendem Beweismittel:
„Wir gingen ruhig in Bologna zur Schule, plötz-
lich kommt die Mutter, schafft uns in einen
Wagen, entführt uns nach Wien; wer so etwas
zu tun imstande ist, muß verrückt sein, beson-
ders wenn er einem statt einer guten Erziehung
nur Elend und Verworfenheit zu bieten hat.**
„Nein, Amedeo,** warf ich ein: „Es steht min-
destens fest, daß auch die Großmutter, die Mar-
chesa Albano-Cariati, zu diesem Gewaltmittel ge-
griffen hat; sie hat Euch, Marcella und Sie, in
Wien geraubt.** „Eine Lüge!** Rief der wild-
erregte Junge. ,, Keine Lüge!** Erwiderte ich sicher:
„Ihr Vetter gibt zu, daß ein Raub in Wien, ebenso
wie in Bologna, ausgeführt wurde, überdies ist
der Vorfall polizeilich, und auch auf dem italie-
45
nischen Konsulat in Wien, festgestellt worden.
Amedeo, Sie sind beeinflußt, schwer beeinflußt.
Sie lügen vielleicht nicht bewußt; sollte man
ganze Strecken Ihres Leben aus Ihrem Gedächt-
nis forthypnotisiert haben? Hat man Ihnen die
bösen Dinge, die Sie erzählten, nicht vielleicht
auch eingeredet?*' Amedeo war verblüfft, er
seufzte, dachte angestrengt nach, sagte dann:
,, Unmöglich, man hat mich nie zu beeinflussen
gesucht, und wozu? Wenn die Mutter anständig
gewesen wäre, so hätte sie zu uns nach Bologna
kommen können.*' „Das denken Sie, Ihre Eltern
waren verzankt, sie begannen sich zu hassen und
überdies — mir fiel eine List, als ich so sprach,
ein — sie sind vielleicht nicht unvermögend! Ihr
Vater muß aus Triest noch Geld bezogen haben.**
Amedeo sali mich sprachlos an; er hatte im Nu
zu mir Vertraun gewonnen: „So lang der Vater
lebte, kamen allmonatlich Beträge an; seitdem
nichts. Ich fragte einmal danach, Tante Eletta
schien mir besonders verlegen, und Francesco
sagte: diese kleinen Beträge schickte ein Freund
Deinem Vater; seitdem er tot ist, hat er die Sen-
dungen eingestellt.** „Es mag sich wohl um wenig
44
gehandelt haben,** erwiderte ich: ,, Immerhin
können Sie mir einen andern Anhaltspunkt geben,
es schwebten noch Prozesse; es kann so oder so
gewesen sein?** „Einmal sah ich den Namen
des Absenders: J. Carpeles!** Ergänzte Amedeo.
„Stimmt, Herr Carpeles aus Prag war der Pro-
kurist des großen Holzgeschäfts ihres Großonkels.
Ich kannte ihn wohl. Vielleicht erinnern Sie sich
auch noch an ihn. Als Sie einmal, in schlimm-
ster Not, von Triest nach Bologna zur Marchesa
fahren mußten, besaß Ihr Vater bloß das Reise-
geld bis zur Grienz Stadt Udine. Er hatte nach
Bologna telegraphiert; erhielt keine Antwort,
wollte eben die Polizei auffordern. Euch alle
auf dem Dienstweg weiter zu befördern, da trat
zufällig dieser Herr Carpeles in den Wartesaal.
Er gab Euch gleich das nötige Reisegeld!'* „Ein
kleiner, dicker Herr mit schwarzem Bart?**
Forschte Amedeo. ,,So sah er ausl Soll ichs
versuchen, mich an ihn zu wenden? Sie müs-
sen mir aber versprechen, alles zu tun, um über
Ihre STutter gerechter zu urteilen. Wahrschein-
lich ist sie viel unschuldiger als man Ihnen über
sie zu denken beigebracht hat.** Während ich
45
Amedeo so zusetzte, schien ich vorläufig gewon-
nenes Spiel zu haben; ich fühlte, daß er mir
bereits zu glauben begann, mir ein Versprechen
geben wollte, als die Tür des verlassnen Cafes
aufgerissen wurde. Herein stürmte der Graf San
Zanipolo. „Unerhört!*' Brüllte er: „Solche Mit-
tel sind schamlos, so war es nicht gemeint. Sie
verleumden uns, Sie wollen den Jungen auf
falsche Wege bringen!'* Alles hätte ich eher er-
wartet, als das Hereinstürmen dieses fürchter-
lichen Menschen. Ich war wie gelähmt. Amedeo
stand wortlos auf, griff beinahe mechanisch nach
Hut und Mantel, machte sich zum Weggehn be-
reit, folgte widerstandslos seinem Vetter, der ihn
süßlich anlächelte und hinaus, ohne ein Wort
des Abschieds, von mir fortführte.
So endete mein Versuch, ins Geschick einer
schwerbelasteten Familie einzugreifen; ich sah,
da war für mich keine Möglichkeit, etwas zu
erreichen. Ich unternahm nichts mehr in dieser
verzwickten Geschichte. Costanova sagte mir,
Amedeo sei noch am selben Abend mit seinem
Vetter abgereist, die Bastianis wären glücklich,
daß wenigstens mir nichts geschehen sei. Amedeo
46
und Marcella würden sie versuchen, von der
Astralefane aus, frei zu machen. In dieser höhern
Welt hoffte das Ehepaar auch Rita aufspüren zu
können, um ihr seelisch behilflich zu sein. Den
Grafen hielten sie für verloren, der schwarzen
Hexerei verfallen.
Ich habe über die ganze Sippschaft nur noch
eines erfahren : etwa ein Jahr später, ist bei einem
Eisenbahnunglück, zwischen Treviglio und Mai-
land, der Graf Francesco San Zanipolo, als ein-
ziges Opfer, ums Leben gekommen.
47
DER WERWOLF
Es kam einmal so, daß ich von Paris aufbre-
chen und mich nach Florenz begeben mußte.
Geld besaß ich sehr wenig und Aussichten, bald
einiges zu bekommen, waren nicht vorhanden.
Ich hatte daher eine wirkUche und wichtige Sorge :
in Florenz billige Unterkunft zu finden. Durch
einen Bekannten wurde ich einem Wirt im Mittel-
punkt der Stadt empfohlen, und der gab mir
auch sofort eine Auskunft. In einem alten Palast
aus dem vierzehnten Jahrhundert sollte ich Woh-
nung finden. Ich ging sogleich hin ; eine sauber ge-
kleidete Frau von etwa fünfzig Jahren empfing
mich ausnehmend freundlich: ,,Also Sie sind der
Herr aus Paris, der zu mir ziehen möchte? Das
Zimmer ist sehr billig!*' Ich trat ein. Die Stube
war etwas dunkel, schien mir aber behaglich ein-
gerichtet und sauber gehalten zu sein; man hatte
mir bereits in der Kneipe gesagt, daß bestimmt
kein Ungeziefer, weder in den Wänden noch
in den Betten sein dürfte. Es fiel mir allerdings
auf, daß der Hausfrau sehr viel daran lag, das
Zimmer zu vermieten; sie erwähnte immer wie-
der, es sei sehr billig; aber auch mir war es
nicht weniger wichtig unterzukommen, und so
51
nahm ich denn die Stube für fünfzehn Franken
im Monat, Frühstück miteinbegriffen.
Ich fühlte mich gleich sehr behaglich. Die
Wirtin trug Fürsorge für allerhand, behandelte
mich besser als es jemals eine Zimmervermieterin
getan hatte; ihr Mann, ein recht wohlbeleibter
Fünfziger, etwas schweratmig, wie ich aus seinen
Gesprächen vernahm pensionierter Polizeibeam-
ter, mißfiel mir auch nicht. Oft wollte er aller-
hand aus seinem bewegten Leben erzählen, die
Frau war aber immer anwesend, und es gelang
ihr, längere Gespräche zu vermeiden. Sie hieß
Ermenegilda, er Marcantonio mit dem Familien-
namen Braccioletti.
Eines Morgens, als die Frau mit dem Kaffee
zu mir in die Stube trat, fragte sie, ob ich mich
bei ihr wohl fühlte. Auf meine Versicherung,
daß dies der Fall, strahlte sie und sagte: „Das
Zimmer ist sehr billig.*' Dann ging sie wieder.
Ich hatte ungefähr zwei Wochen dort gewohnt,
da ereignete sich folgendes: ich kam ziemlich
spät nach Haus und wunderte mich, daß ich
bellen hörte. Meine Wirtsleute schienen also seit
jenem Tag einen Hund zu besitzen! An-
5»
scheinend mußte er recht groß und etwas heiser
sein. Ich schloß die Tür auf und merkte, dias
Gebell kam aus der Schlafstube; also im Vor-
zimmer brauchte ich mich nicht zu fürchten,
etwa als Unbekannter angefallen zu werden. Sig-
nora Ermenegildas Anwesenheit bemerkte ich
auch, sie stöhnte. Der Köter schien ihr vorläu-
fig keine ungetrübte Freude zu bereiten. Nun,
ich trat in meine Stube. Vielleicht hatte das Vieh
mich kommen gehört, nun würde sichs jeden-
falls beruhigen! Doch nichts davon, das Bellen
ging weiter, aber das Ächzen der Frau, das zu-
erst zugenommen hatte, ließ schließlich nach,
übrigens war ich sehr müde und schlief ein.
Am nächsten Morgen kam mirs wunderlich
vor, daß ich den Kaffee so lange nicht, wie
üblich, ans Bett bekam. Löffel- und Tellergeklap-
pcir hörte ich wohl draußen, aber die gute Frau
erschien nicht. Ich hatte den Eindruck, sie
könne sich nicht entschließen, bei mir einzutre-
ten. Endlich, wohl nach einer Stunde, tat sie es
doch. Etwas ängstlich. Auch guten Morgen
wünschte sie mir, wie soll ich sagen: schuldbe-
wußt. Statt Brot und Butter gab es Rosinen-
kuchen. Ich dankte schön.
65
Die Frau wußte nicht recht, sollte sie schnell
verschwinden oder gezwungen lächelnd ein Ge-
spräch beginnen. Da entschloß ich mich dazu,
etwas zu sagen; der Hund fiel mir ein. Kaum
hatte ich ihn genannt, als dem armen Weib die
Hände in den Schoß sanken. Gut, daß der
Kaffee schon auf dem Tisch stand. Sie schien
fassungslos: „Hat Sie das Bellen sehr gestört?"
Brachte sie hervor. „Er wird sich ans Haus ge-
wöhnen und dann still bleiben!" Gab ich zur
Antwort. Sie aber schlich hinaus.
Ich habe Hunde sehr gern und freute mich,
das Tier zu sehn. Als ich aufgestanden war,
suchte ich es, fand aber keine Spur von ihm.
Auch die Frau war fort. Spät abends kam
ich nach Haus; ich hörte, genau wie in
der vorhergegangnen Nacht, Bellen; als ich
aufgeschlossen hatte, auch Stöhnen, dann noch-
mals Bellen, bis ich eingeschlafen war. Es kam
mir aber etwas weniger laut vor, und so dachte
ich mir: Das Biest wird sich schon gewöh-
nen. Am nächsten Morgen pünktlich, in aller
Eile, Kaffee mit Kuchen und obendrein Obst.
Dazu sehr freundhches Gutenmorgen. Doch die
54
Frau, die zum Ausfliegen bereits angezogen, ein-
getreten war, raste sogleich davon. Mir gings
durch den Kopf: die will nicht befragt sein!
Übrigens fühlte ich, daß ich zwei Nächte weniger
geschlafen hatte und entschloß mich, am Abend
früher nach Haus zu gehn. Schon auf der
Treppe hörte ich stärkstes Bellen, aber es klang
eigentümlich heiser. Das war doch kein Hund!
Ich blieb stehn und lauschte: diesmal stöhnte
die Frau nicht mit. Ich schloß auf. Gleich dar-
auf wurde in der Tür der Wirtsleute der Schlüs-
sel umgedreht. Man hatte mich also gehört.
Seufzen folgte diesmal nicht. Das Gebell blieb
aber bis in die Morgenstunden so stark und un-
heimlich, daß ich beschloß, am nächsten Tage
ein Verhör vorzunehmen. Endlich muß ich doch
eingeschlafen sein; als ich aber erwachte, war
es spät, fast Mittag. Nichts rührte sich, kein
Kaffee stand bei meinem Bett, die Wirtin war
fort, der Herr Braccioletti ebenfalls. Alles leer.
Man wich einer Begegnung mit mir aus. Etwas
Geheimnisvolles lag vor, aber was?
In der folgenden Nacht alles still. Kein Bel-
len, kein Stöhnen, in der Früh der Kaffee im
55
Zimmer bereits kalt geworden. Man hatte ihn
ganz leise, als ich wohl noch schlief, neben das
Bett gesetzt. Auch in den nächsten Nächten kein
Bellen, in der Früh vier Tage lang Kaffee mit
Kuchen, dann aber wie ausbedungen, Kaffee mit
Buttersemmel. Die Frau war sehr freundlich,
und ich fragte um nichts. So ging es mindestens
einen Monat lang.
Eines Tages wieder sehr freundlich Guten
Morgen. Dazu plötzliches Auftauchen von Ro-
sinenkuchen. Mir gings gleich durch den Kopf:
wird das Gebell wieder losgehen?
Zwei Tage darauf, als ich spät nach Haus
kam, hörte ich es tatsächlich schon auf der
Treppe. Es war die ganze Nacht über so laut,
daß ich mich oft versucht fühlte, aufzustehn
und nachzufragen. Ich tat es aber doch nicht.
Gegen Morgen hörte das Bellen auf. Ich schlief
jedoch nicht mehr ein und rief nach der Wirtin.
Sie kam ganz verweint herein und fragte: „Sie
haben wohl die ganze Nacht nicht schlafen kön-
nen?** Worauf ich nickte und: „Allerdings!'* Sehr
entschlossen aussprach. ,, Entschuldigen Sie,*' er-
widerte Frau Ermenegilda: „Ich selbst bin das
36
Opfer eines Betruges und wäre ich nicht eine
strenge Katholikin, so hätte ich meinen Mann
längst verlassen, freilich, auch er ist kreuzun-
glücklich!** Nun weinte sie und schluchzte wie
besessen. ,, Beruhigen Sie sich,** sagte ich ihr:
,,LInd dann erzählen Sie mir!** Gleich war sie
ruhiger. „Nicht wahr, Sie verlassen mich nicht?
Das Zimmer ist ja sauber und sehr billig, und
er bellt nur selten; noch zwei Nächte, dann ist
did Krise vorüber.** „Ich werde bleiben,** sagte
ich: ,, Aber Sie müssen mir alles erzählen?** ,, Ja,**
sagte sie: „Es wird mich auch erleichtern. Er
schläft ja fest. Also hören Sie: mein Mann ist
pensionierter Polizist. Eines Tages lief er einem
Dieb bis in den vierten Stock eines Wohnhauses
nach. Oben angelangt, sah der Dieb, da gibt
es kein Entkommen, es sei denn, er überwältigte
seinen Verfolger. Und so drehte er sich rasch
um, packte meinen Mann an der Gurgel und
warf ihn die Treppe hinunter. Der Dieb ent-
kam. Mein Mann blieb bewußtlos liegen. Erst
im Krankenhaus, viele Stunden später, erwachte
er wieder zum Bewußtsein. Die Verletzungen
waren schwer, aber nicht unheilbar. In einer
57
Nacht fing er aber plötidich an zu bellen, furcht-
bar zu bellen, wie es heißt, viel schlimmer als
jetzt." Frau Ermenegilda weinte wieder laut und
rief: „Der Unglückliche, aber er hätte es mir
auch sagen müssen! Ich bin erst seit ein paar
Jahren mit ihm verheiratet und schon viel länger
ist er ein Werwolf/' Die Frau konnte nicht
weiter. Sie mußte aus dem Zimmer. Sie schloß
sich ab, und erst drei Tage später, nachdem in
der Nacht von Herrn Braccioletti ganz wild ge-
bellt wurde, bat ich sie, die Erzählung fortzu-
setzen. Nun tat sie es viel stiller und gefaßter:
„Mein Mann wurde aus dem Hospital entlassen,
man stellte ihn abermals als Wache ein. Oft
aber bellte er wieder des Nachts. In der Wacht-
stube entsetzte man sich darüber, niemand konnte
schlafen. Mein Mann wußte am Morgen nichts
davon. Man fing an, ihn für einen Schwindler
zu halten. Er kam zurück ins Lazarett. Da er
nur bei raschen Witterungsumschlägen und jedes
Mal zur Tag- und Nachtgleiche bellt, so ent-
ließ man ihn. Er kam zurück in seinen Beruf;
nachdem er weiter bellte, wieder ins Lazarett;
schließlich ergab es sich, daß er auch dort bellte.
58
Es war wie diesmal um den einundzwanzigsten
März/' (Als mir Frau Braccioletti dieses erzählte,
schrieben wir tatsächlich den 24. März.) „In kei-
nem Buch der Wissenschaft weiß man etwas vom
Werwolf. Trotzdem behaupteten viele, die ihn
bellen hörten, er sei davon besessen. Die Ärzte
aber hielten ihn für einen Simulanten. Schließ-
lich wurde der Arme ohne Pension entlassen. In
keiner Stellung konnte er jedoch verbleiben. Zwei
Jahre lang lebte er in ärgster Not. Einmal, zu
einer Parade, die der Graf von Turin auf dem
Marsfelde abnahm, übergab er eine Bittschrift
dem hohen Herrn. Er wurde von den Um-
stehenden zurückgestoßen. Nach ein paar Tagen
aber wurde auf allerhöchsten Befehl das Ver-
fahren wieder aufgenommen. Es wurde festge-
stellt, daß er kein Simulant war. Er bekam eine
Pension, und das machte ihn übermütig. Beinahe
sechzig jährig, wollte er heiraten. Er lernte mich
kennen, und ich nahm ihn. Er hatte mir früher
nichts gesagt. Denken Sie, wie er mich entsetzt
hat, als er zum erstenmal anfing zu bellen und
zu Schrein. Hörten Sie nicht, wie er durch das
Gebell immer wieder den Ruf ,sicuro* hervor-
59
stößt?*' Ich tröstete die aufgeregte Frau, so gut
ich konnte und versprach ihr auf ihre Bitte vor-
läufig bei ihr bleiben zu wollen, w^orauf sie mir
die Hände küssen w^oUte und herzlich dankte.
„Sie sehen,** fügte sie hinzu: „Ich überlasse
Ihnen das Zimmer sehr billig und verpflege Sie
so gut ich nur kann/'
Ich hielt es auch beim Ehepaar Braccioletti
jahrelang aus. Allmählich gew^öhnte ich mich
an das Bellen, Stöhnen und Rufen, sprach
schheßlich auch mit Herrn Braccioletti selbst. Er
versicherte mir, er sähe seinen Fehler vollkom-
men ein; nie hätte er heiraten sollen, ohne vor-
her seiner Frau eine Bellvorstellung bei stür-
mischer Nacht gegeben zu haben. Tatsächlich
bellte er auch nur bei Witterungsumschlag oder,
wie Frau Ermenegilda sagte, um Tag- und Nacht-
gleiche und jedesmal um die Sonnenwenden.
Einmal, kurz vor Weihnachten, war es recht
arg. Ich konnte tatsächlich nächtelang nicht
schlafen, überlegte mir, ob ich nicht doch aus-
ziehen sollte, dann kamen aber die Feiertage,
und alles wurde wieder gut. Ein paar Tage nach-
her, noch vor Neujahr, ereignete sich das furcht-
60
bare Erdbeben zu Messina. Viele meiner Be-
kannten, darunter auch zwei Mediziner und ein
Geologe, fuhren auf den Schauplatz der Welt-
katastrophe. Ungefähr vierzehn Tage später
schrieben sie, sie kämen zurück, wir sollten sie
erwarten. In unserm Stammlokal fanden wir
uns vollzählig ein, und was wir da erfuhren,
war selbstverständlicherweise grauenerregend.
Schheßlich fragten wir, ob man in Gegenden, die
Erdbeben besonders ausgesetzt sind, nicht doch da-
zu bestimmte Signale anbringen könnte, die das
Eintreten des Ereignisses irgendwie melden. Die
Antwort war einstimmig, daß man über Erd-
beben nichts vorher wissen kann, zumal der Geo-
loge blieb ganz skeptisch, auch was ein diesbe-
zügliches Verfahren für die Zukunft anging. Die
Mediziner meinten, die Bevölkerung behaupte viel-
fach, Irrsinnige hätten vom Untergang gefaselt.
Auch eine Dame der Gesellschaft in Rom hätte
das Erdbeben für den 8., i8., oder 28. Dezember
vorausgesehn und den König angefleht, Messina
zu räumen. Die Ärzte taten aber das gleiche, was
in Rom geschehen war. Niemand maß diesen War-
nungen eine Bedeutung zu. Das Erdbeben war
61
wohl am 28. Dezember eingetreten, aber man er-
fuhr von der Voraussage erst später und glaubte
daher nicht daran. Einer der Herren, die bei der
Reltungsreise dabei gewesen, meinte allerdings,
ein Mittel gäbe es: Tiere, zumal Hunde würden
ein paar Minuten vor dem Eintreten der Stöße
unruhig. Vielleicht handele es sich nicht um Mi-
nuten, sondern nur um Sekunden. Immerhin
auch Sekunden können nützen. Lange und auf-
geregt sprachen wir über die Schrecken von
Messina und Calabrien. Ganz spät erst gingen
wir heim.
Als ich in meine Haustür trat, hörte ich bel-
len. Schon wieder, dachte ich mir, und noch dazu
so stark. Wie ich über die Treppe hinaufstieg,
merkte ich immer mehr, daß es stärker war als
jemals. Grauenhaft war dieses Bellen, ein un-
nachahmbares Wau Wau, unterbrochen vom Ruf
„sicuro** Trotzdem ich nun doch schon ge-
wöhnt war, stundenlanges Gebell zu hören, so
war ich doch an dem Tag geradezu bestürzt
über dieses neue Gebrause von Wau Wau. Nur
weil es eisig kalt war, entschloß ich mich doch,
in mein Zimmer zu treten, sonst wäre ich die
62
Nacht herumgerannt. Frau Braccioletti mußte
mein Kommen trotz des Wau Wau bemerkt
haben; sie klopfte gleich an die Tür und kam,
schwer verhüllt, weinend und schluchzend zu mir
und bat mich um Hilfe. „Wollen wir nicht zu-
sammen beten?'* Fragte sie: „Mein Mann muß
in der Vorhölle sein. Das ist ein Höllenhund,
kein Werwolf mehr. Hören Sie nur, wie er bellt
und heult; er ist bewußtlos und macht beim
Wau Wau furchtbare Sätze mit seinem schweren
Leibe im Bett.** Ich tröstete nur sehr schwer
Frau Braccioletti. Es war ihr aber schon eine
Beruhigung, bei mir, und nicht im Zimmer des
Unglücklichen zu sein. Sie wimmerte immer wie-
der: „Madonna, wie danke ich dir, eine mensch-
liche Seele!**
Das Wau Wau steigerte sich rastlos. Fast
rhythmisierend, aufsteigend. Mir schwebte der
Vergleich mit den Sof fioni in den Maremmen vor
den Sinnen. So eine Art Gejser von Au- und
Waulauten betäubte uns geradezu. Wie konnte
ein menschlicher Körper das aushalten? Auf ein-
mal stieg sein Schreien in die schrillste Stimmlage,
deren ein solches Gebell, mit äußerster Heftigkeit,
65
nur fähig sein kann ! Noch erschrak Frau Ermene-
gilda. Mitschreiend klajnmerte sie sich an mich. Ihr
Ruf „aiuto!" mischte sich in das Wau Wau Wau
ihres Mannes. Ich selbst schien mir schmerzhaft
von Schreien, Bellen und Umklammert sein von
der Verängstigten emporgerissen, nicht herabge-
zerrt? Wie kam das? Das Gebell klapperte,
schrillte und zerrte an den Möbeln, der Spiegel
klirrte: Wau! Äußerstes Wau, riß Möbel, Frau
Braccioletti und mich schräg aus dem Gleichge-
wicht. Es klapperte: Erdbeben fühlte ich, Erd-
beben, dachte ich, Erdbeben wußte und schrie
ich zugleich. Das Gebell hatte aufgehört. Da^
Ziiyimer kam wieder v^e in Pendelschwingungen
zur Ruhe. Frau Braccioletti war ohnmächtig.
Stille. Hilferufe. Kein Licht auf der Straße.
Rufe: Erdbeben! Ein zweiter Stoß. Frau Braccio-
letti wie tod. Ich und die Möbel in einen
Schwindel- Wirbel hineingerissen. Kein Gebell.
Höchst verwunderlich. Man stürzte auf die
Straße. Der Lärm von der Gasse wurde un-
heimlich. Immer angsterfüllter. Erdbeben! Erd-
beben! Der Beller im Nebenzimmer hatte das
Erdbeben in seinen Wau Wau-Rufen vorherge-
64
spürt, in meinem Gefühl mit hervorgerufen.
Nun war der Werwolf stumm. Auf der Straße
schrie man die ganze Nacht.
5 Der unheimliche Graf
65
DIE FLIEGENDEN LICHTER
In einer sehr schwer verwickelten Angelegen-
heit wurde ich von meinen Eltern nach Wien
berufen. Sofort brach ich von Neapel auf; wurde
aber dann durch ein sehr großes Unglück sechs
Wochen in Rom festgehalten: unterdessen ereig-
nete sich, was ich in Wien hätte ablenken sollen,
vielleicht können. Jedenfalls stand meine Fami-
lie gerade damals unter einem Unheilsstern. Nie
mehr gelang es uns seitdem, und es sind mehr
als zwanzig Jahre vergangen, — was damals zu-
sammenbrach, wieder aufzurichten. Eines Abends
hatte ich endlich vollkommene Sicherheit, ab-
fahren zu können. Sofort kaufte ich mir einen
Fahrschein von Rom bis an die Grenzstation
Pontafel. Die Reise brachte ich in so großer
Nervosität zu, daß ich beschloß, irgendwo zu
übernachten. Zuerst sollte es Venedig sein, dann
dachte ich an Pontafel, schließlich fiel mir Vil-
lach in Kärnten ein; endlich entschloß ich mich
zu einem Abstecher zu Verwandten und zwar von
Villach aus. In der kleinen Stadt Völkermarkt in
Unierkärnten lebte eine Schwester meiner Mut-
ter; sie war mit einem Beamten verheiratet. Ich
hing sehr an dieser Frau, hatte ihren Mann gern,
69
und war ganz glücklich über den Einfall, vor
Wien erst dorthin zu fahren. Kaum hatte ich
diesen Entschluß fassen können, als sich schon
meine Erregtheit anfing zu legen. Frohgemut
setzte ich nunmehr meine Reise fort, es dürfte
von Udine an gev^esen sein.
Ich blieb zwei Tage bei Tante und Onkel ! Dann
mußte ich mit einem Schnellzug, der von Vil-
lach über Marburg a. D. nach Wien fährt, ab-
reisen. Er kam gegen ein Uhr nachts in Völker-
markt durch. Der Bahnhof liegt vom Städtchen
mehrere Kilometer entfernt: ich sollte ihn im
Wagen erreichen. Etwa eine Viertelstunde vor
Mitternacht gings ab. Ich hatte sehr herzlich Ab-
schied genommen! In einer großen Schleife fuhr
ich nun durchs Dunkel, um Völkermarkt herum,
talwärts. Es war eine kühle Frühlingsnacht: der
Wind rauschte in den Pappeln, tief unten brauste
hörbar die Drau. Wir mußten über die hinweg,
auf der andern Seite wiederum in einer Schleife
empor, dem Bahnhof zu. Keine zehn Minuten
Einsamkeit, liebe Stille im Wagen mochte ich ge-
kostet haben, als der Kutscher mir plötzlich in
seiner angenehmen Kärntner Mundart zurief, ich
70
sollte mich umdrehn und sehn, was da kommt!
Er schlug recht stark aufs Pferd ein: ich sah,
wie uns ein Licht nachjagte.
,,Das ist ein Landauer!** Meinte ich. „Gott
gäbs!** Antwortete der Kutscher: „Es wird aber
wohl anders sein.** Ich blieb umgewendet. Eine
zweite, eine dritte, eine vierte, fünfte, sogar eine
sechste, schließlich eine siebente, wie ich meinte,
Laterne folgten uns. Nun, die werden uns gleich
eingeholt haben, dachte ich: wir waren unter-
dessen zu einer Biegung gekommen und fuhren
nun auch sehr schnell, in neuer Richtung, der Drau
zu. Etwa fünf hundert Meter Pappelallee mochten
es noch bis zur Brücke sein. ,, Merken Sie nicht,
daß die Lichter in verschiedner Höhe daherge-
fahren kommen? Übrigens ist keines auf der
Landstraße, und andre Wege gibt es dort nicht!**
Sagte der Kutscher. Das stimmte: mir begann
unheimlich zu werden. Trotzdem folgten die
Lichter irgendwo der Landstraße; sie waren ganz
naturgemäß, einen Augenblick lang alle sieben
mit der Straßeneinbuchtung, durch die wir vor
ein paar Minuten gefahren waren, verschwunden.
PlötzHch stand ein tanzendes Siebengestirn über
71
der Straße; einige hundert Meter hinter uns,
ungefähr dort, von wo aus der Kutscher das erste
Licht erblickt hatte. Dieses rhythmisch bewegte
Sternbild überragte in seinen höchsten Lichtern
beträchtlich Wald und Hügel. Es war eine herr-
Hche Erscheinung. Wie verzückt blickte ich hin,
der Kutscher ebenfalls, ganz starr, obschon er
bloß aufs Pferd hätte achten sollen. Wir waren
voT' der Brücke angelangt: sie mußte erst ge-
öffnet werden. Ein kleines Mädchen huschte
aus dem Brückenwächterhäuschen und ließ die
Schranke hochgehn. „Blicken Sie dorthin!*' Rief
der Kutscher. „Hilfe!'' Schrie das erschreckte
Kind und stürzte ins Haus zurück.
Unser Wagen holperte über die Holzbrücke:
unter uns ging die Drau hoch. Die Nacht war
sternlos. Wir blickten auf das prachtvolle und
rätselhafte Lichtspiel. Mit ausgereckten Hälsen,
jeder auf seinem Sitz umgewendet. Das Pferd
fuhr uns ahnungslos und sicher über Bretter,
dann geräuschloser auf der Landstraße dem
Bahnhof zu. Plötzlich schössen die sieben Lich-
ter in eines zusammen und hetzten als solches
riesengroß der Drau entlang. Gleich darauf war
72
der Spuk verschwunden. Ich hoffte, wir würden
uns nun erholen. Der Wagen fuhr langsam die
Schleife bergan. „Das bedeutet was! Nichts
Gutes, vermute ich.*' Begann der Kutscher zu er-
zählen: „Vor etwa zwei Jahren ist mir etwas
Ähnliches geschehn! Damals holte ich eine
Dame aus Völkermarkt, die in Klagenfurt Ein-
käufe gemacht hatte, zum gleichen Zug ab. Als
wir schon über der Brücke, durch die Pappel-
allee, durch waren, sahen wir, es dürfte kurz
vor ein Uhr gewesen sein, — uns ein Licht ent-
gegenkommen. Gleich darauf ein zweites. Mir
mochte es wohl aufgefallen sein, daß die Lich-
ter in verschiednen, nicht der Landstraße ent-
sprechenden Höhen erschienen waren; dachte mir
aber nichts dabei. Die Dame auch nicht. Als
wir etwas später durch die innre Schleife
hinauffuhren, meinte sie: ,Nun müßten wir aber
den Wagen begegnen, man sieht sie gar nicht,
wo mögen sie hin sein?* Auch ich war erstaunt,
da doch kein Fahrweg irgendwo dort von der
Landstraße abbiegt. ,Sie werden umgekehrt sein!*
Vermutete und antwortete ich. Ein paar Minuten
später leuchtete es knapp vor mir, etwa einen
75
Meter über meinem Kopfe, ganz hell auf. Das
Pferd bäumte sich furchtbar erschreckt. Die
Frau und ich schrien vor Entsetzen. Eine Hand
ohne Arm, mit einer Landauerlaterne flog über
uns, neben uns her. Vielleicht so lang, bis man
von zwanzig bis dreißig zählen kann: etw^a zehn
Sekunden. Dann löschte sie aus. Alles finster!**
Nach dem, was ich soeben erlebt hatte, konnte
ich fürwahr nicht ungläubig sein. „Und dann?"
fragte ich atemlos. ,,Das Licht war weg; ich
hab auch bis heute keins mehr gesehen, nur der
Brücken Wärter und seine kleine Tochter haben
auch einmal so eine ähnliche Lichtjagd erlebt.
Ein paar Tage darauf ist ihnen ein Verwandter
gestorben. Nun, und mir, als ich damals nach
Hause kam, lag meine Mutter zu Bett. Während
ich zur Bahn war, hat sie der Schlag gerührt.
Zwei Tasje darauf ist sie verschieden. Der Frau,
mit der ich die Laterne gesehn habe, ist der
Mann bald darnach auf einer Hochtour in den
Karawanken verunglückt: also auch dort ein
Todesfall!** Von da an schwiegen wir beide.
Zuerst gings ein Weilchen langsam bergan, dann
noch eine Strecke, ganz leicht und schnell dem
74
Bahnhof zu. „Grüßen Sie in Völkermarkt, kom-
men Sie gut nach Hause!*' Verabschiedete ich mit
Händedruck den Kutscher. Am nächsten Morgen
war ich in Wien.
Nach etwa einem Jahr kam ich wiederum in
Völkermarkt an. Bei Tag. Am Bahnhof erwar-
tete mich ein Wagen: der gleiche Kutscher. Ich
erkannte ihn sofort, obschon ich ihn erst da-
mals bei Sonnenlicht genau besehn konnte. Er
war noch sehr jung, hochaufgeschossen, nervös:
das Auge verriet Geisterseherei. Sofort gab ich
ihm die Hand. Er bUckte mich sehr wehmütig
an. „Ihre Frau Tante!** Lispelte er. Mir wnrde
dabei ein Zusammenhang, den ich früher nicht
beachtet hatte, klar. Meine Tante war, nach
jenem gespenstischen Erlebnis gestorben. Da ich
krank zu Bett lag, konnte ich nicht zu ihrer
Beerdigung. Erst damals war es mir möglich ge-
worden, ihr Grab zu besuchen. „Ja, meine arme
Tante!** Gab ich zur Antwort und blickte ihn
fest an. Eine Träne stand in jedem seiner merk-
würdigen Augen und er schluchzte, brachte nur
atemlos hervor: ,,Noch eine Woche, bevor Ihre
Frau Tante von uns gegangen ist, habe ich meine
einzige Schwester verloren!**
75
ALS VORZUGSAÜSGABE WURDEN HUNDERT
EXEMPLARE AUF BÜTTEN ABGEZOGEN /
VOM DICHTER SIGNIERT UND NUMERIERT
DIESES BUCH TRÄGT
DIE NUMMER
DEN DRUCK BESORGTE DIE BUCH-
DRUCKEREI C. G. NAUMANN G. M. B. H.
IN LEIPZIG
0
^/fc.3
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PT Daubler, Theodor
2607 Der unheiinlichG Graf
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