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Full text of "Der unheimliche Graf. Der Werwolf. Die fliegenden Lichter"

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DER    UNHEIMLICHE    GRAF  v^^_  ^.^ 
♦      DER    WERWOLF      ♦ 
DIE    FLIEGENDEN    LICHTER 


VON 


THEODOR    DÄUBLER 


1921 


BANAS       &       DETTE 
HANNOVER 


pr 


^iBRAKy 


«^ 


DER  UNHEIMLICHE  GRAF 


Jch  saß  einmal  vor  vielen  Jahren  in  Wien  beim 
Nachmittagskonzert  in  einem  Vorstadtgarten. 
In  dieser  recht  gutbürgerlichen  Umgebung  hatte 
ich  wahrlich  nichts  besonders  Romanisches  er- 
wartet. Doch  eine  der  unerhörlichsten  Begeben- 
heiten in  meinem  ganzen  Leben  sollte  sich  dort 
einfädeln.  Zur  Sache:  die  Militärkapelle  hatte 
soeben  ein  Potpourri  aus  Verdiopern  zu  Ende 
gespielt,  als  sich  eine  Hand,  ich  merkte  gleich, 
es  war  eine  Frauenhand,  auf  meine  Schultern 
legte.  Als  ich  mich  umsah  und  zugleich  aufge- 
standen war,  erkannte  ich  sofort  die  blonde 
Dame,  die  sich  mir  so  vertraulich  genähert  hatte. 
Ich  wußte  aber  auch  im  Nu,  seit  vielen  Jahren 
hatte  ich  sie  nicht  gesehn:  als  sie  mich,  etwas 
trüblächelnd-anredend,  an  unsre  Bekanntschaft 
erinnern  wollte,  war  mir  auch  schon  ihr  Name 
eingefallen.  „Frau  von  Garpegna,  wie  geht  es 
Ihnen?**,  Sprach  ich  sie  auf  deutsch  an;  sie  war 
nämlich  geborne  Wienerin,  Gattin  eines  italie- 
nischen Edelmannes.  „Ich  danke,  Herr  Däubler; 
es  freut  mich,  daß  Sie  sich  noch  auf  mich  be- 
sinnen können,  mir  geht  es  schlecht!**  War  ihre 
Antwort.   Wir  sahen  uns  einen  Augenblick  lang. 


so  zwischen  scharf  und  zögernd,  an.  Frau 
von  Carpegna  dürfte  damals  eine  Vierzigerin  ge- 
wesen sein;  ihr  Haar  glänzte  noch  hochblond, 
sie  hatte  immer  zu  einer  gewissen  Korpulenz  ge- 
neigt; vifUeifht  war  sie  damals  etwas  magrer, 
als  ich  ihre  Erscheinung  in  der  Erinnerung 
herumtrug.  Schön  ist  sie  niemals  gewesen,  auch 
nicht  besonders  elegant;  nun  stand  sie,  eine  ehe- 
malige Sängerin  und  Schwester  einer  sogar  sehr 
berühmten  Sängerin,  ziemlich  dürftig  gekleidet, 
vor  mir.  „Mein  Mann  ist  tot:  wußten  Sie  es?** 
Unterbrach  sie  das  kurze  Schweigen.  „Nein!** 
Antwortete  ich,  wirklich  schmerzlich  berührt. 
Unsre  Familien  waren  früher  in  Triest  recht  be- 
freundet gewesen.  „Bedauern  Sie  mich  nicht  aus 
diesem  Grunde!**  Setzte  sie  ihre  Rede  etwas  ge- 
waltsam hart  fort:  „Er  taugte  nicht  viel.  Sie 
werden  sagen,  er  war  begabt,  meinetwegen.  Aber 
es  reichte  bei  ihm  zu  nichts  aus.  Mich,  seine 
Kinder,  hat  er  ins  Elend  gebracht.  Nun  reden 
Bekannte  und  Verwandte  über  uns  alle  sehr 
schlecht:  meine  einzige  Sünde  ist  aber  gewesen, 
daß  ich  die  Frau  eines  leichtsinnigen  Mannes 
war.  Kommen  Sie  an  unsern  Tisch,  meine  älteste 


Tochter  Rita  und  meine  Mutter  sitzen  dort,  in 
der  hintern  Allee,  auf  einer  Bank  beisammen. 
Ich  habe  Sie  sofort  wiedererkannt.  Bedauern  Sie 
erst  Niemanden:  wir  sind  nun  schon  seit  drei 
Jahren  Witwe  und  Waise.'*  Ich  folgte  der  Dame. 
Als  wir  an  die  andern  Frauen  herantraten,  stand 
Fräulein  Rita  auf  und  machte  einen  Knix.  Ich 
war  darüber  sehr  verwundert,  denn  sie  mochte 
wohl  über  zwanzig  Jahre  und  somit  nur  ein  paar 
Jahre  jünger,  als  ich  gewesen  sein.  Sie  schien 
mir  ganz  hübsch,  etwas  zu  aufgeschossen,  ähnelte 
weder  ihrer  Mutter,  noch  dem  Vater :  bald  merkte 
ich,  daß  sie  leicht  hysterisch  sein  mußte.  Sie 
zitterte  und  schnitt  beim  Sprechen  Grimassen. 
Übrigens  kein  Wunder:  wir  sollten  im  Gespräch 
auf  gar  ernste  Dinge  kommen!  Und  durfte 
sie  damals  die  Wahrheit  sagen?  Erst  viel  später 
sollte  ich  mir  die  Frage  stellen.  Fräulein  von  Car- 
pegna  hatte  ein  gutes  Gedächtnis;  sie  fing  mir 
sofort  von  unsern  Spielen,  vor  mehr  als  zehn 
Jahren,  an  zu  reden.  Gewiß,  wir  hatten  uns 
zum  letztenmal  in  Triest  auf  dem  Bahnhof  ge- 
sehn, als  wir  eine  Tante  der  Carpegnas,  die  von 
Görz  ankommen  sollte,  abholten.   Der  Zug  hatte 


eine  größere  Verspätung,  und  wir  veranstalteten 
damals  ein  recht  lustiges  Blindekuhspiel  zur  Er- 
götzung der  andern  Wartenden  ebenso  wie  zum 
eignen  ZeiU  er  treib.  Wir  wußten  es  noch  beide 
ganz  genau!  Die  Mutter  der  Frau  Carpegna  hatte 
uns  niemals  recht  gefallen.  Es  hieß  schon  der- 
einst in  Triest,  sie  sei  als  Zimmervermieterin 
nicht  einwandfrei,  man  hätte  oft  Pärchen  be- 
merkt, die  zu  ihr  geklettert  wären.  Meine  Mut- 
ter allerdings  war  ganz  entschieden  gegen  solche 
Vermutungen:  sie  behauptete,  man  sollte  über 
die  verarmte  Dame  kein  so  böses  Gerede  ver- 
breiten! Und  dabei  blieb  es:  unsre  Familien  ver- 
kehrten freundschaftlich  bis  zur  Übersiedlung  der 
Carpegnas  nach  Wien.  Dann  trat  allerdings  sehr 
bald  Entfremdung  ein.  Der  Grund  war  ein  pein- 
licher Vorfall,  der  sich  auf  den  Straßen  des 
vierten  Bezirks  abgespielt  hatte,  und  in  den  man 
auch  meine  Großmutter  mütterlicherseits,  die 
ebenfalls  seit  einigen  Jahren  in  Wien  lebte, 
irgendwie  hineinzog.  Und  dieses  auffallende  Er- 
eignis wurde  eigentlich  sogleich  von  uns  vieren 
besprochen,  denn  ich  bin  nicht  ohne  Absicht  zu 
den   drei   Damen   gerufen   worden!    Man    wollte 

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sich  nicht  nur  vor  mir  rechtfertigen,  sondern 
forderte  schUeßlich,  im  Namen  einer  viel  jährigen 
Familienverbundenheit,  meine  Dienste  in  einer 
«ranz   unglaublichen   Geschichte!    Frau   von   Car- 

D  o 

pegna  erzählte  folgendes,  ohne  sich  im  Beisein 
von  Mutter  und  Tochter  ein  Blatt  vor  den  Mund 
zu  nehmen:  ,,Als  Folco*'  —  so  hieß  der  ver- 
storbne Herr  von  Carpegna  —  ,,ganz  unfähig 
wurde,  seine  Familie  zu  ernähren,  entschloß  ich 
mich,  zusammen  mit  meiner  Mutter,  für  uns 
und  die  Kinder  zu  sorgen,  sogar  für  ihn:  aber 
v^'ir  konnten  das  nicht  im  kleinen  Triest  zu- 
standebringen, wo  man  uns  auch  als  wohlhabende 
Menschen  gekannt  hatte,  und  zogen  daher  nach 
Wien.  Ich  gebe  nun  hier  seit  Jahren  Gesangs- 
stunden, die  Mutter  vermietet  weiter  Zimnier. 
Mein  Mann  litt  an  Rückenmarksdarre,  kein  Wun- 
der: er  hatte  einen  ausschweifenden  Lebenswan- 
del geführt.  Ich  habe  ihn  dereinst  geliebt,  trotz 
aller  Warnungen  geheiratet:  das  ist  mein  Leicht- 
sinn, mein  Vergehn!  Hier  in  Wien  wurde  er 
brutal;  er  peinigte  mich,  war  mit  nichts  zufrie- 
den, schlug  die  Kinder.  Nun,  das  wissen  Sie  ja. 
Sie  kennen  auch  Folcos  Mutter,  die    als    Witwe 


den  reichen  Marchese  Albano-Cariati  in  Bologna 
geheiratet  hat.  Als  auch  ihr  zweiter  Mann  starb, 
brachte  sie  ihr  Erbteil  großenteils  durch.  Immer- 
hin besaß  sie  noch  viel  Geld  bis  zu  ihrem  Tod, 
der  erst  vor  einem  Jahre  erfolgt  ist:  jedenfalls 
mehr,  als  ich!  Nun,  wir  wandten  uns  in  größ- 
ter Not  an  meine  Schwiegermutter.  Sie  antwor- 
tete: Folco  und  mindestens  die  beiden  kleinern 
Kinder  Amedeo  und  Marcella  sollten  zu  ihr  nach 
Bologna  kommen,  sie  würde  für  sie  sorgen.  Mich 
und  meine  Mutter  aber  konnte  die  Frau  Marchesa 
nicht  leiden;  ich  sollte  mich  von  zwei  Kindern 
trennen  und  mit  Rita  in  Wien  bleiben.  In  Ita- 
lien ist  die  Ehescheidung  noch  nicht  eingeführt. 
Was  tun?  Ich  sträubte  mich  mit  Händen  und 
Füßen  dagegen;  einen  Richterspruch  gab  es  für 
uns  nicht,  und  mein  bösartiger  Mann  quälte  mich 
unsagbar.  Er  wurde  immer  kränker  und  bekam 
nichts  aus  Italien.  Man  wollte  mich  durch  Hunger 
zwingen;  sagte,  ich  wäre  leichtsinnig  gewesen, 
beschimpfte  meine  Mutter,  und  schließlich 
brach  ich  jeden  brief Heben  Verkehr  mit  Bo- 
logna ab.  Mein  Mann  konnte  kaum  noch  gehn: 
oder  verstellte  er  sich  bloß?    Selten  schlich  er 


IG 


sich  aus  dem  Haus,  wohl  zur  Post,  um  post- 
lagernde Briefe  seiner  Mutter  abzuholen.  Bei  uns 
war  die  Hölle  lös,  endlich  gab  mein  Mann  nach: 
er  verließ  uns  und  fuhr  nach  Bologna.  Monate- 
lang blieben  wir  ohne  Nachricht.  Eines  Tages 
ereignete  sich  das  Furchtbare:  die  Marchesa  fing 
die  zwei  Kleinen,  als  sie  von  der  Schule  nach 
Hause  gingen,  auf  der  Straße  ab.  Rita  entkam. 
Amedeo  und  Marcella  schrien  schrecklich,  wehr- 
ten sich  gegen  die  Großmutter.  Es  half  nichts. 
Der  Vater  wartete  in  einem  Wagen;  man  ent- 
führte mir  meine  Kinder!  Seitdem  sind  sie  in 
Bologna.  Sie  wissen  doch,  Herr  Däubler,  daß  ich 
hilfesuchend  zu  ihrer  Großmutter  lief,  wir  eil- 
ten zur  Polizei,  man  verwies  uns  aufs  italie- 
nische Konsulat.  Dort  war  man  schon  vorberei- 
tet. Folco  und  die  Marchesa  hatten  mich  und 
meine  Mutter  verleumdet,  man  machte  uns  zu 
leichtsinnigen  Weibern,  die  ihre  Kinder  nicht  er- 
ziehen können.  Überdies  sollten  Amedeo  und 
Marcella  italienisch  erzogen  werden,  für  Rita 
wäre  es  allerdings  zu  spät,  sie  dürfte  bei  der 
Mutter  bleiben,  wenn  sie  wollte;  mich  aufzuneh- 
men weigerte  sich  die  Marchesa  ganz  entschie- 


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den!  Übrigens  ist  nicht  meine  Schwiegermut- 
ter die  böseste  Person  in  der  Familie,  sondern 
meine  Schwägerin  Eletta,  die  Gräfin  von  San 
Zanipolo  in  Livorno.  Seit  dem  Tode  der  Mar- 
chesa  sind  die  Kinder  bei  ihr.  Diese  Sippe  muß 
allerhand  über  mich  gelogen  haben,  denn  nun- 
mehr hat  sich  sogar  Ihre  Großmutter,  Herr 
Däubler,  von  mir  zurückgezogen.  Ich  schwöre 
Ihnen,  alles,  was  man  gegen  uns  unglückliche 
Frauen  sagt,  ist  erlogen.  Herr  Däubler,  helfen 
sie  mir,  wieder  zu  meinen  Kindern  zu  kommen!** 
Ich  war  natürlicherweise  tief  bewegt.  Vom  Kin- 
derraub in  der  Karolinengasse  hatte  ich  aller- 
dings bereits  gehört:  Näheres  wußte  ich  aber 
nicht  darüber.  Ich  drückte  der  Frau  von  Car- 
pegna  herzlichst  die  Hand.  ,,Wie  immer  es  auch 
mit  der  Schuld  Ihres  Mannes  sein  mag,  Ihr 
Schicksal  ist  schrecklich,  arme  Mutter!"  Sagte  ich 
ihr.  Allen  drei  Frauen  traten  die  Tränen  in  die 
Augen.  Fräulein  Rita  fand  zuerst  wieder  Worte: 
„Es  verhält  sich  wirklich  so,  wie  Mutter  es  er- 
zählt hat.    Ich  will  bei  ihr  bleiben,  habe  etwas 

'     '9' 

gelernt,  hoffe  mich  als  Beamtin  durchs  Leben 
bringen  zu  können.   Meinem  Vater  habe  ich  nach 


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seinem  Tode  verziehn,  auch  der  Marchesa;  die 
Hauptschuld  trifft  Tante  Eletta,  die  im  Verborg- 
nen alles  angestiftet  hat."  Ich  erinnerte  mich, 
daß  sogar  die  Marchesa  einmal  von  ihrer  Toch- 
ter zu  meiner  Mutter  gesagt  hatte:  „Eletta  ist 
eine  kleine  Schlange.**  Dies  behielt  ich  jedoch 
für  mich.  Ich  wandte  mich  aber,  durch  die  Er- 
innrung  ermutigt,  nochmals  ans  Fräulein  von  Car- 
pegna,  blickte  ihr  klar  in  die  Augen  und  fragte 
ganz  bestimmt:  ,,Also,  gnädiges  Fräulein,  Sie 
schwören,  daß  alles,  was  ich  hörte,  wahr  ist?** 
„Lautre  Wahrheit!**  war  ihre  Antwort.  Sie  zuckte 
mit  keiner  Wimper.  Frau  von  Carpegnas  Mut- 
ter wurde  aber  blutrot.  Sie  hoffte  zuerst,  ich 
hätte  ihre  tiefe  Verlegenheit  nicht  bemerkt  und 
faßte  sich  auch  schnell,  obschon  ich  sie  scharf 
anblickte.  Sie  hatte  sich  verraten!  Aber,  was 
konnte  hinter  alledem  stecken?  Weder  Frau  von 
Carpegna,  noch  Rita  ahnten,  daß  ich  die  alte 
Dame  ertappt  hatte.  Ich  fand  damals  nicht  den 
Mut,  die  Entschlossenheit,  ihr  das  Geheimnis 
durch  Fragen  abzuringen.  Späterhin  fehlte  mir 
dazu  die  Gelegenheit,  denn  ich  habe  keine  der 
drei  Frauen  bisher  wieder  gesehn,   wahrschein- 

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Kch  ist  die  alte  Dame  bereits  tot.  So  kann  ich 
noch  heute  nicht  in  der  geheimnisvollen  Ge- 
schichte, die  ich  hier  erzähle,  ganz  genau  sehn. 
„Helfen  Sie  mir!**  Sagte  nochmals  Frau  vonCar- 
pegna:  „Fahren  Sie  nach  Italien,  mich  hat 
man  nicht  empfangen,  mit  Gefängnis  wurde  ich 
bedroht,  da  man  mich  als  Gattin  eines  Italieners 
nicht  aus  dem  Lande  weisen  konnte;  ich  bin 
ja  in  Livorno  und  Bologna  wiederholt  gewesen. 
Sie  kann  man  nicht  zurückweisen,  wenigstens 
Nachricht  über  meine  Kinder  geben  Sie  mir.** 
Da  antwortete  ich:  „Gnädige  Frau,  meine  Mittel 
erlauben  mir  keine  Reise  nach  Italien,  ich  bin 
Pariser  Boheme,  nur  hier  in  Wien,  nach  vielen 
Jahren,  kurz  auf  Besuch;  ich  muß  zurück  ins 
Quartier  latin,  wo  ich  zur  Not  mein  Leben  friste. 
Könnte  nicht  Fräulein  Rita  nach  Livorno  fah- 
ren?*' „Ach,  fahren  Sie,  Rita  ist  erst  jetzt 
mündig  geworden,  man  hätte  sie  nicht  zurück- 
gelassen, jetzt  aber  geht  es  nicht;  Rita  ist  zu  ner- 
vös. Sehn  sie  selbst,  wie  sie  zittert!**  Bat  mich 
die  Unglückliche  immer  noch.  Ich  blickte  Fräu- 
lein Rita  abermals  sehr  fragend  an.  ,, Meine  Mut- 
ter  hat   nicht   gelogen,    Herr   Däubler!**    Erfuhr 

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ich  von  ihr.  Sonst  nichts.  Da  entschloß  ich  mich 
aufzubrechen,  besonders  in  Anbetracht  meiner 
UnmögUchkeit,  den  Leuten  sofort  zu  helfen.  Ich 
stand  auf  und  sagte:  ,, Leben  Sie  wohl,  meine 
Damen,  ich  fahre  morgen  nach  Paris,  hier  meine 
Adresse,  geben  Sie  mir  Ihre;  sowie  es  mir  mög- 
lich sein  sollte,  nach  Italien  zu  reisen,  will  ich 
dort  tun,  was  irgend  möglich."  Wir  teilten  uns 
die  Wohnungen  mit,  dann  empfahl  ich  mich, 
nicht  ohne  Herzlichkeit.  Meine  Großmutter 
fragte  ich  noch  am  selben  Tag  um  ihre  Mei- 
nung. „Ich  versteh  nicht,  liebes  Kind,**  ver- 
sicherte sie  mir:  „Wie  sich  alles  verhält;  die  Aus- 
künfte über  Frau  von  Carpegna  und  ihre  Mut- 
ter sind  auf  der  Polizei  nicht  grade  schlecht, 
auf  dem  Konsulat  hingegen  abscheulich.  Eletta 
halte  ich  für  eine  grundanständige  Frau,  die  Mar- 
chesa  war  meine  gute  Freundin,  ich  hätte  für 
sie  die  Hand  ins  Feuer  gelegt.  Der  Frau  von 
Carpegna  hingegen  traue  ich  nicht,  ihrer  Mutter 
schon  gar  nicht.*-  Also,  ich  konnte  beim  besten 
Willen  vorläufig  nicht  eingreifen:  ich  hatte  vor 
allem  keine  Möglichkeit,  nach  Livorno  zu  fahren. 
Ich  sann  hin  und  her,  denn  -mächtig  hatte  mich 
der  Auftritt  im  Garten  bewegt. 

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Als  Knabe  ging  ich  stets  sehr  gern  zur  be- 
freundeten Familie.  Folco  von  Carpegna  sprach 
ein  so  schönes  Italienisch,  es  gelang  ihm,  seine 
Kinder  vor  der  verwahrlosten  Triester  Mundart 
zu  behüten.  Besonders  seinen  Sohn  Amedeo 
schien  er  innigst  zu  lieben.  Zum  letztenmal  hatte 
ich  Vater  und  Sohn  an  einem  Faschings diens tag 
nachts,  sehr  spät,  im  „Cafe  degli  specchi'*  ge- 
sehn. Etwa  zwölf  Jahre  vor  dem  soeben  erleb- 
ten Zusammentreffen  mit  Folcos  Familie  beim 
Militärkonzert  in  Wien!  Der  kleine,  ungefähr 
fünf  Jahre  alte  Amedeo  war  ein  ganz  herrliches 
Kind.  Er  hatte  die  dunklen  Glutaugen  des  Vaters 
und  die  goldblonden  Haare  der  Mutter.  Er  stand 
auf  einem  Marmortisch;  der  stolze  Folco  zeigte 
ihm  die  Masken  und  vielleicht  noch  mehr:  ihn 
den  Masken  und  allen  Vorüber  wirbeln  den.  Folco 
liebte  große  Festlichkeiten,  er  soll  sehr  freizügig 
gelebt  haben;  als  sein  Vermögen  zusammenge- 
schrumpft war,  begnügte  er  sich  mit  dem 
Fasching  auf  der  Straße  und  im  Cafe.  Die  Car- 
pegnas  stammten  aus  der  Gegend  von  Bologna, 
lebten  aber  seit  langem  in  Triest,  ohne  Öster- 
reicher   geworden    zu   sein.    Folcos    Großmutter 

i6 


war  mütterlicherseits  eine  Norddeutsche;  er 
sprach  auch  vollkommen  deutsch,  soll  einige  Zeit 
deutscher  Schauspieler  gewesen  sein;  seine  Mut- 
ter hingegen,  die  Marchesa,  obschon  die  Tochter 
einer  Deutschen,  verstand  kein  Wort  deutsch.  Mit 
Politik  hat  sich  die  Familie  damals  nicht  be- 
faßt, das  festzustellen  ist,  wegen  spätrer  Ereig- 
nisse, die  hier  berichtet  werden  sollen,  nicht  ganz 
unwichtig!  Nach  vielen  fehlgeschlagnen  Ver- 
suchen, sein  Leben  mannigfaltig  zu  gestalten.,  war 
Folco  in  das  große  Holzgeschäft  eines  Onkels 
eingetreten.  Zuerst  ging  es  dort  ganz  gut;  er 
konnte  sogar  heiraten,  einen  Hausstand  anständig 
gründen;  eigentlich  brachte  erst  der  Tod  dieses 
Onkels  eine  Verändrung  in  die  Lage  der  unglück- 
lichen Familie.  Mit  dem  Teilhaber  des  Hauses 
vertrug  sich  Folco  gar  nicht.  Er  sollte  ausbe- 
zahlt werden,  man  einigte  sich  nicht  über  den 
Abfindungsbetrag;  schließlich  kam  es  zu  lang- 
wierigen Gerichtshändeln.  Der  Kampf  wurde  sehr 
hartnäckig  von  beiden  Seiten  geführt.  Zum 
Schluß  blieb  für  beide  Teile  fast  nichts  übrig. 
Das  Geschäft  war  übrigens  auch  gleich  nach  dem 
Ableben  von  Folcos  Onkel  viel  schlechter  gewor- 

2  Der  unheimliche  Graf  ^  7 


den.  Die  Carpegnas  hatten  bereits  in  Triest  sehr 
unter  bittrer  Not  zu  leiden:  Folco  wollte  keine 
Stellung  mehr  annehmen,  konnte  es  vielleicht 
auch  nicht:  er  war  rückenmarkleidend.  Einige- 
mal flüchtete  die  Familie  zur  Marchesa  nach  Bo- 
logna, der  ging  es  aber  auch  nicht  besonders 
gut,  sie  war  von  einer  wahren  Bauwut  ergrif- 
fen und  hatte  sich  dabei  schon  beträchtig  in  ihren 
Unternehmungen  verrechnet.  Überdies  vertrug 
sich  Folco  mit  den  Verwandten  nur  sehr  schlecht, 
seine  Frau  aber  mit  der  Schwiegermutter  gar 
nicht.  So  pendelte  die  Familie  zwischen  Bologna 
und  Triest  hin  und  her,  bis  die  Übersiedlung  nach 
Wien  beschlossen  wurde.  Wie  bereits  früher  ge- 
sagt, wir  hatten  die  Menschen  sehr  gern,  bei 
Uns  gingen  sie  viel  ein  und  aus.  Die  Bologneser 
Verwandten  besuchten  uns  ebenfalls  immer  wie- 
der. Der  kleine  Graf  SanZanipolo  France  s- 
chino  war,  obschon  mehrere  Jahre  jünger  als 
ich,  dereinst  mein  bester  Spielgefährte  gewesen. 
In  der  letzten  Zeit  geriet  man  aber,  wie  auch 
schon  angeführt,  besonders  nach  der  aufregenden 
Begebenheit  mit  den  entführten  Kindern,  in  die 
auch  meine  Großmutter  verwickelt  wurde,  ganz 

18 


außer  jeden  Zusammenhang.  Es  ist  so  schwer, 
sich  bei  Familienzwisten  für  einen  Teil  zu  ent- 
scheiden! Folco  war  leichtsinnig,  vernachlässigte 
seine  Frau,  das  stand  fest.  Aber  auch  sie  schien 
tiefe  Schuld,  wenigstens  den  Kindern  gegenüber, 
zu  treffen.  Diese  Aussprache  mit  den  drei 
Frauen  hatte  mich  zutiefst  erregt,  viele  Erinn- 
rungen  aufgewühlt;  ich  konnte  aber  nicht  hel- 
fen, ich  mußte  mir  es  immer  wieder  sagen  und 
vor  mir   selbst  bestätigen. 

Nach  einigen  Tagen  schon  fuhr  ich  zurück 
nach  Paris.  Oft  dachte  ich  an  die  unglücklichen 
Carpegnas,  befragte  auch  Italiener,  mit  denen 
ich  zusammenkam,  nach  den  San  Zanipolos,  aber 
niemand  konnte  mir  eine  Auskunft  geben.  Es 
ist  selbstverständlich,  daß  ich  niemals  nach  Wien 
an  die  Leute  schrieb;  froh  war  ich,  daß  man 
mir  nicht  mehr  zusetzte.  Nach  etwa  einem  Jahr 
bekam  ich  jedoch  folgendes  lange  Telegramm  in 
deutscher  Sprache:  „Eine  Spur  von  Amedeo!  Im 
Corriere  della  sera  fand  ich  f olgendeAnkündigung : 
Der  junge  Geigenspieler  Amedeo  von  Carpegna  aus 
Bologna  hatte  bei  seinem  Auftreten  in  Vercelli 
großen  Erfolg,  er  wird  am  26.  Mai  in  Beifort, 

19  2* 


dann  in  Pontarlier  und  Grenoble  auftreten.  Fah- 
ren Sie  nach  Beifort,  helfen  Sie  der  unglück- 
lichsten Mutter.  Ihre  Ada  von  Carpegna.**  Es 
war  mir  ganz  unmöglich,  nach  Beifort  zu  fahren: 
meine  Tasche  war  niemals  leerer,  als  gerade  da- 
mals. So  entschuldigte  ich  mich  denn  in  einem 
höflichen,  aber  kurzen  Brief  und  versprach,  mich 
in  Italien  einmal  um  die  Angelegenheit  kümmern 
zu  wollen.  Ich  stellte  auch  meine  Übersiedlung 
dorthin  für  den  nächsten  Herbst  in  Aussicht. 
Nun,  was  ich  so  sehnlich  hoffte,  gelang  mir 
viel  später;  erst  nach  einigen  Jahren  konnte  ich 
mich  in  Florenz  niederlassen!  In  der  ganzen  da- 
zwischenKegenden  Zeit  erfuhr  ich,  ermittelte  ich 
nichts  von  Ereignissen  der  einstmals  mit  uns  so 
eng  befreundet  gewesnen  Familie. 

Auch  in  Florenz  gelang  es  mir  dann  nicht 
gleich,  etwas  über  die  Carpegnakinder  zu  erfah- 
ren. Ich  mußte  immer  wieder  meine  Absicht, 
nach  Livorno  zu  fahren  und  mich  bei  den  San 
Zanipolos  vorzustellen,  verschieben.  Jemanden, 
der  mir  etwas  über  diese  Livorneser  Familie 
hätte  mitteilen  können,  fand  ich  nicht.  EndUch 
einmal   ergab   sich   aber  ganz   plötzlich   die   Ge- 


20 


legenheit,  allerhand  über  das  Familiengeheimnis 
zu  wissen,  ja  beinahe  selbsthandelnd  in  das 
Trauerspiel  verwickelt  zu  werden.  Übrigens  war 
das  vorauszusehn,  ich  sollte,  wollte  nach  Mög- 
lichkeit eingreifen,  um  einer  Mutter,  die  ihre 
Kinder  verloren  hatte,  endlich  beizustehnl 

Das  kam  so:  ich  stand  mit  dem  Vorstand 
einer  zu  Geheimlehren  neigenden  Bücherei, 
einem  Grafen  Costanova  in  freundschaft- 
Kchem  Verkehr.  Nur  selten  wohnte  ich  aller- 
dings den  theosophischen,  oft  geheimbündle- 
rischen Abenden  in  dieser  Gesellschaft  bei;  ein- 
mal aber  interessierte  mich  sehr  ein  angekün- 
digter Vortrag  über  die  „Kabala**  von  einem  ge- 
lehrten Juden  in  Livorno.  Ich  wußte,  dort  gibt 
es  eine  Kabalis tenschule  und  ging  hin.  Die  Aus- 
führungen des  Redners  waren  für  mich  wichtig; 
als  er  zu  Ende  gesprochen  hatte,  trat  ich  an  ihn 
heran  und  befragte  ihn  noch  über  einige  Sätze, 
die  mir  imklar  geblieben  waren.  Plötzlich  fiel 
mir  die  große  Familiensache  ein.  „Sagen  Sie  Herr 
Atala,*'  sprang  ich  von  einem  Gegenstand  zum 
andern  über:  „Kennen  Sie  in  Livorno  die  Grafen 
San  Zanipolo!**    „Allerdings!*'    Gab   er   mir    zur 


121 


Antwort:  ,,Hier  im  Saal  ist  der  junge  Graf 
Francesco  sogar  anwesend!*'  Ich  war  hoch- 
erfreut! ,, Bringen  Sie  uns  wieder  zusammen/* 
bat  ich:  „Wir  sind  in  Triest  Spielgefährten  ge- 
wesen!** —  Nach  ein  paar  Sekunden  redete  mich 
ein  mittelgroßer,  rotblonder  junger  Herr,  in  Be- 
gleitung des  Herrn  Atala  an:  „Guten  Tag,  Herr 
Däubler,  nach  so  vielen,  vielen  Jahren  treffen 
wir  uns  wieder!**  „Herr  Graf,  Sie  können  sich 
unmögUch  an  mich  erinnern,  Sie  waren  um  meh- 
rere Jahre  jünger  als  ich,  höchstens  dreijährig, 
als  wir  uns  zum  letztenmal  sahn;  unsre  Fami- 
lien waren  freilich  recht  befreundet.  Sie  werden 
von  mir  gehört  haben!**  Gab  ich  ihm  zur  Ant- 
wort. Er  lächelte  und  versicherte  mir:  „Ich  habe 
allerdings  von  Ihnen  gehört;  ich  entsinne  mich 
aber  auch  unsrer  Spiele,  besonders  in  der  Villa 
Ihrer  Eltern.  Eine  Schwester,  sie  stand  ungefähr 
in  meinem  Alter,  dann  eine  noch  kindliche  Tante 
von  Ihnen  und  die  Tochter  einer  Amme  in  der 
Familie,  die  mitspielen  durfte,  waren  meistens 
auch  dabei.**  „Sie  haben  ein  unglaubliches  Ge- 
dächtnis!** Warf  ich  ein:  ,, Diese  Kinderjahre  wa- 
ren wirklich  heiter.**  „Ja!**  Meinte  er  und  blickte 


22 


scharf  auf  mich:  „Dann  kam  es  aber  ganz 
anders,  sowohl  bei  Ihnen,  als  auch  bei  uns;  Sie 
wollen  mich  in  unsern  Familiensachen  befragen, 
ich  gestatte  es  Ihnen,  Sie  tun  es  im  Auftrag  einer 
unseligen  Mutter.*'  Herr  Atala  entfernte  sich. 
„Wir  sind  allein,  Herr  Graf!*'  Unterbrach  ich  ein 
augenblickliches,  peinlichstes  Schweigen :  „Ich  ge- 
steh, daß  mich  Frau  von  Carpegna  vor  meh- 
reren Jahren  in  Wien  bat,  mich  um  ihre  zwei 
Kinder  Amedeo  und  Marcella  umzusehn.  Was 
immer  vorgekommen  sein  mag,  das  Schicksal  der 
Mutter  ist  höchst  beklagenswert.*'  „Gewiß,  das 
der  Kinder  wäre  es  aber  in  allerhöchstem  Maß 
geworden,  wenn  sich  nicht  unsre  Großmutter, 
die  Marchesa  Albano-Cariati,  rechtzeitig  ihrer  an- 
genommen hätte.  Folco,  mein  armer  Onkel,  tod- 
krank, übrigens  auch  er  ein  Springinsfeld,  konnte 
kaum  seiner  Mutter  beistehn.  Es  ist  keine  Klei- 
nigkeit, wenn  einem  die  Kinder  auf  der  Straße 
geraubt  werden!*'  „Allerdings!"  Fiel  ich  ihm  in 
die  Rede:  ,,Man  war  in  Wien  sehr  erstaunt,  daß 
die  Marchesa  zu  so  einem  Gewaltmittel  griff!*' 
„Die  Marchesa",  meinte  er:  „Mußte  zu  den  glei- 
chen Mitteln  wie  die  Mutter  greifen:  warumhatte 

»5 


die  damit  angefangen,  indem  sie  die  Kinder  in 
Bologna  beim  Heimgang  aus  der  Schule  abfing 
und  dann  wegschleppte/'  „Die  Mutter  zuerst?'* 
Fragte  ich.  „Gewiß,  die  Mutter  zuerst!*'  Bestä- 
tigte der  Graf:  „Sie  versuchte  es  dann  noch- 
mals, aber  die  Kinder  selbst  weigerten  sich,  ihr 
zu  folgen,  sie  wurde  als  Fremde  festgestellt,  und 
die  Menge  verhinderte  sie,  die  Kinder  zum  Bahn- 
hof zu  bringen.*'  „Das  hätte  ich  von  der  phleg- 
matischen Frau  niemals  erwartet!*'  Beteuerte  ich. 
,,Und  doch  ist  es  so!**  Sagte  der  Graf  sehr  nach- 
drücklich: „Amedeo  selbst  wird  es  Ihnen  be- 
stätigen. In  drei  Wochen  gibt  er  hier  ein  Kon- 
zert; wir  haben  ihn  gewähren  lassen,  er  durfte 
Geiger  werden:  sein  Vater  hatte  bereits  Lust 
dazu!  Sie  bekommen  rechtzeitig  Karten  für  den 
Abend,  dann  können  Sie  mit  Amedeo,  so 
lange  Sie  wollen,  sprechen,  ich  will  ihn  für  die 
Unterredung  vorbereiten;  sagen  Sie  ihm  alles  ganz 
genau,  ich  bitte  Sie  darum."  ,,Ich  bin  bestürzt, 
kann  Ihnen  nur  für  Ihr  Entgegenkommen  dan- 
ken!" Erwiderte  ich:  „Warum  mag  mir  aber 
Rita  nichts  davon  gesagt,  den  Vortrag  ihrer  Mut- 
ter gar  nicht  ergänzt  haben  —  sollte  sie  von  ihr 

24 


beeinflußt  sein?**  „Arme  Rita!**  Meinte  der 
Graf:  „Sie  hätte  auch  in  Italien  erzogen  werden 
können,  und  zwar  ohne  so  schwere  Dinge  an 
sich  und  in  ihrer  Umgebung  erleben  zu  müs- 
sen. Ihrer  Schwester  Marcellas  Ausbildung  ist 
noch  nicht  abgeschlossen.  Sie  soll  in  die  Schweiz 
geschickt  werden.  Amedeo  hat  das  Institut  Gue- 
rino  da  Feltre,  wie  Sie  wissen,  das  beste  von 
ganz  Italien,  besucht;  wir  haben  aber  mit  allen 
seinen  künstlerischen  Neigungen  gerechnet,  Sie 
werden  Ihre  Freude  dran  haben,  zu  hören,  wie 
gut  er  geigt.  Auch  die  deutsche  Sprache  hat  er, 
auf  seines  Vaters  besondern  Wunsch  hin,  weiter- 
gepflegt. Sie,  als  deutscher  Dichter,  werden  das 
am  besten  beurteilen  können."  Ich  sah  nun,  daß 
ich  mich  noch  drei  Wochen  lang  bescheiden 
mußte.  Der  Graf  schien  wohl  etwas  vorzuhaben, 
erkundigte  sich  jedoch  noch  rasch  nach  allen 
meinen  Verwandten;  ich  war  abermals  mehr  als 
Erstaunt  über  sein  Gedächtnis.  Zum  Schluß  rich- 
tete ich  noch  die  Frage  an  ihn:  ,,Sie  sind  doch 
seit  ihrem  fünften  Jahr  nicht  mehr  in  Triest 
gewesen:  Ihre  Kenntnisse  der  Stadt  und  Men- 
schen dort  verblüffen  mich.**  „Seit  meinem  vier- 

"  25 


ten  Jahr  nicht  mehr!"  War  die  Antwort.  Nun 
verabschiedeten  wir  uns.  Der  junge  Graf  hatte 
mir  beim  Weggehn  nochmals  versprochen:  ,,Sie 
werden  mit  Amedeo  ganz  allein  reden  können.*' 
„Sagen  Sie  mir/*  wandte  ich  mich  gleich  dar- 
auf an  den  Grafen  Costanova:  „Wie  weiß  San 
Zanipolo,  daß  ich  Dichter  bin?  Ich  habe  noch 
nichts  veröffentlicht,  unsre  Familien  sind  seit 
vielen  Jahren  ohne  jeden  Zusammenhang,  hier 
hat  es  ihm  wohl  niemand  gesagt.  Überdies  hat 
er  es  erst  gegen  Ende  unsrer  Unterhaltung  mit 
einer  gewissen  Absichtlichkeit  ausgesprochen, 
überhaupt  ein  unheimlicher  Mensch;  so  ein  Ge- 
dächtnis habe  ich  noch  niemals  erlebt."  ,,Das 
wundert  mich  alles  nicht!"  Meinte  Costanova: 
„San  Zanipolo  dürfe  alles  auf  medianem  Weg 
von  Ihnen  selbst  erfahren  haben.  Für  ihn  gibt 
es  überhaupt  keine  Geheimnisse.  Viele  Theo- 
sophen  halten  ihn  für  einen  der  größten  Zauberer 
unsrer  Zeit.  Dabei  ist  er  noch  so  jung  und  nie- 
mals im  Morgenland  gewesen.  Hier  in  Florenz  be- 
sucht er  allerdings  oft  einen  Weisen,  vielleicht 
seinen  Lehrer,  einen  Herrn  Bastiani,  den  müssen 
Sie  auch  kennen  lernen;  der  behauptet  nun,  San 

26 


Zanipolo  habe  sich  von  ihm  freigemacht,  um  sich 
der  schwarzen  Wissenschaft  ganz  hingeben  zu 
können.  Er  werde,  so  sieht  Bastiani  voraus,  noch 
zicmHch  bald  eines  seltsamen  Todes  sterben,  dies 
werde  auch  noch  rechtzeitig,  zu  San  Zanipolos 
Vorteil,  geschehn,  nämlich  noch  bevor  er  seine 
Seele  ganz  verkauft  haben  wird.  Tatsache,  mein 
Lieber,  wo  man  ihn  nicht  braucht,  taucht  er,  oft 
auf  seinem  Kraftrad,  auf.**  ,,Nun,  ich  danke!" 
Sagte  ich  nicht  wenig  bestürzt:  „Das  kann  ja 
ein  hübscher  Kampf  für  mich  werden.  Ich  soll 
da  einem  Familiengeheimnis  auf  den  Grund 
sehn,  gegebenenfalls  gegen  die  San  Zanipolos 
allerhand  zugunsten  einer  Dame,  die  in  die 
Familie  geheiratet  hat,  unternehmen!  Kinder- 
raub auf  offner  Straße  hat  sich  ja  schon  ab- 
gespielt.** ,, Allerdings,  von  so  etwas  läßt  man 
lieber  seine  Finger  weg!**  Meinte  Costanova: 
„Aber  ich  kann  Ihnen  vielleicht  helfen:  vor  allem 
müssen  Sie  nun  Bastiani  kennen  lernen;  er  wird 
Ihnen  raten.  Gehn  wir  morgen  hin;  um  vier 
Uhr  treffen  wir  uns  hier  vor  der  Bücherei. 
Sagen  Sie  es  keiner  Seele,  San  Zanipolo  darf 
nichts  wissen.*'  Ich  ließ  mir  das  gesagt  sein,  dann 
trennten  wir  uns. 


Am  nächsten  Tage  waren  wir  beide  pünkt- 
lichst an  der  vereinbarten  Stelle.  Als  wir  uns 
anschicken  wollten,  fort,  und  zwar  zu  Bastiani,  zu 
gehn,  schoß  sein  Kraftrad  an  uns  vorbei:  San 
Zanipolo!  „Das  fängt  ja  hübsch  an!*'  Meinte  ich. 
Costanova  sagte:  „Mich  wundert  das  nicht,  nur 
hätte  ich  mirs  für  heute  doch  nicht  erwartet, 
San  Zanipolo  sagte  mir,  allerdings  noch  bevor 
ich  Euch  bekannt  gemacht  hatte,  er  müßte  in 
wichtiger  Angelegenheit  in  Livorno  sein!  Nun 
ein  paar  Worte  über  Bastiani  und  seine  Frau. 
Dieses  Ehepaar  ist  eigentlich  immer  drüben,  ich 
meine  auf  einer  höhern  Ebne.  Sie  leben  beide 
tatsächlich  von  Luft  und  Liebe;  und  zwar  nicht 
einmal  von  kirchlich  genehmigter  ehelicher,  son- 
dern bloß  von  himmlischer  Liebe!  Eigentlich  lie- 
gen sie  ihr  ganzes  Leben  in  einem  Zustand  von 
Halbschlummer;  diesem  Umstand  verdanken  sie 
aber  ihre  Seherkraft;  sie  werden  auch  Ihnen 
sagen  können,  was  für  Sie  das  beste  sein  wird, 
zu  tun  oder  zu  lassen.**  Meine  Gespanntheit  kann 
man  sich  wohl  vorstellen.  Bald  waren  wir  zur 
Stelle.  Im  ältesten  Florenz.  Wir  mußten  erst  in 
den  letzten,  wohl  fünften  Stock,  hinauf  klimmen. 

28 


„Hier  wohnen  die  Bastianis  seit  jeher,  sie  sollen 
in  diesem  Haus  gehören  sein!"  Sagte  noch  auf 
der  dunklen  Stiege  Costanova.  „Beide?**  Fragte 
ich:  „Oder  bloß  er  oder  sie?"  Costanovalächelte. 
Oben  angekommen  mußten  wir  noch  recht  lange 
pochen.  Mein  Begleiter  verlor  nicht  den  Mut. 
„Man  muß  sie  erst  aus  dem  Schlummer  wek- 
ken!**  War  sein  Bescheid.  Endlich  öffnete  eine 
alte  Frau,  ganz  einfach  gekleidet,  die  Tür. 
„Guten  Abend  Herr  Graf!**  Hauchte  sie:  „Will- 
kommen, treten  Sie  ein!"  Wandte  sie  sich  an 
mich.  ,,Frau  Bastiani,  ich  bringe  Ihnen  einen 
deutschen  Dichter!**  Führte  mich  Costanova  ein. 
„Das  freut  mich  sehr,  mein  Mann  wird  es  schon 
wissen;  er  sagte  mir  heute  früh:  Giulia,  wir 
bekommen  Besuch:  ich  fühle  es,  San  Zanipolo 
bedroht  jemanden;  der  Betreffende  wird  mich 
aufsuchen,  damit  ich  ihn  beschütze.**  Ich  sah 
Costanova  fragend  und  argwöhnisch  an.  „Ich 
schwöre  Ihnen,  daß  ich  Bastianis  nicht  benach- 
richtigt habe!**  Sagte  er  bestimmt.  Wir  traten 
ein.  Die  Wohnung  bUeb  dunkel;  wie  ich  später 
erfahren  sollte,  verträgt  das  hellsehende  Ehepaar 
kein    Sonnenlicht.    Ich   wurde   an   ein    Bett   ge- 

^9 


führt,  drinnen  lag,  hinter  Mullbehängen,  wie  soll 
ich  mich  ausdrücken:  eine  sprechende  Leiche. 
,,Hilf  mir,  damit  ich  dem  fremden  Herrn  helfen 
kann,  leg  dich  neben  mich,  Giulia!*'  Hauchte  er. 
,,Ja,  Rodolfo!"  Lispelte  sie.  Dann  kroch  sie  zu 
ihrer  Ehehälfte,  damit  zwei  sprechende  Leichen 
nebeneinander,  hinter  den  Mullbehängen,  liegen 
sollten.  Beide  waren  sogleich  wie  erstarrt.  Nach 
ein  paar  Minuten  begann  sie:  „Rodolfo,  ich  sehe 
drei  Lämmer.*'  „Zwei  eulenartige  Vögel,  groß 
wie  schwarze  Sturm  wölken,  hadern  um  sie.**  Er- 
gänzte er  noch:  „Was  siehst  du  noch,  Giulia?** 
„Die  Lämmer  versuchen  zu  entfliehn,  sie  sind 
arg  verängstigt.**  Gab  die  Frau  kaum  hörbar  zur 
Antwort.  Und  Rodolfo  fiel  ein:  „Zweien  ge- 
lingt es  zu  entkommen.  Eines  wird  von  den 
andern  beiden  getrennt.  Wie  schrecklich,  die 
armen  Wesen!  Sie  schrein  alle  drei  nach  uns. 
Es  geht  ihnen  schlecht,  Giulia  was  siehst  du?** 
„Gefahr,  sehe  ich,  Gefahr!**  Lispelte  die  Frau: 
,,Kein  Blitz,  kein  rächendes  Schwert  stürzt  vom 
Himmel  herab,  aber  eine  feurige  Schlange  ringelt 
sich  vom  Boden  empor:  wie  ein  Blitz  von  unten.** 
„Sie  meint  San  Zanipolo!**  Flüsterte  mir  Costa- 


^^o 


nova  zu.  ,,Die  Schlange  hat  die  beiden  Lämmer, 
die  beieinander  blieben,  angefaucht.  Sie  sind  in 
ihrer  Gewalt.  Die  armen  Lämmer.**  Dies  sah 
und  berichtete  Rodolfo.  „Das  dritte  Lamm  ist 
verschwunden,  vielleicht  in  einen  Abgrund  ge- 
stürzt.*' Das  wußte  wieder  Giulia  zu  erzählen. 
,;Hüte  dich  vor  der  Schlange,  vor  der  roten 
Schlange!  Es  wird  dir  nichts  geschehn,  ich  werde 
wachen.**  Nach  diesen  Worten  Herrn  Bastianis, 
sagte  mir  Costanova:  „Das  galt  Ihnen,  seien  Sie 
ruhig,  wir  haben  gewonnenes  Spiel.  Bastianis 
werden  nun  ein  paar  Tage  lang  im  Starrkrampf 
liegen  bleiben,  bis  sie  in  der  Astralebne  alles  für 
Sie  geordnet  haben  werden.  Nur  dieses  Ehepaar 
besitzt  noch  einige  Gewalt  über  San  Zanipolo, 
gehn   wir.**    Wir   brachen   auf. 

Mir  war  gar  unheimlich  zu  Mut:  zuerst  schlen- 
derten wir  durch  die  Straßen,  dann  blieben  wir 
auf  dem  Ponte  delle  Grazie  stehn.  „Graf,  was 
ist  das  mit  dem  San  Zanipolo?**  Unterbrach  ich 
endlich  das  Schweigen.  „Ich  sagte  Ihnen  doch 
gestern,  daß  er  ein  Hexenmeister  zu  sein  scheint. 
Bastiani,  der  ihn  früher  leitete,  hat  es  doch  heute 
wieder  bestätigt;  vielleicht  wußte  er  nicht  ein- 

51 


mal,  um  wen  es  sich  handelte;  im  Laufe  der 
nächsten  Stunden  wird  er  es  aber  wissen:  die 
rote  Schlange  ist  San  Zanipolo!*'  „Haben  Sie 
wirklich  Beweise  für  seine  geheimnisvollen 
Kräfte?*'  fragte  ich.  „Gewiß!'*  Sagte  Costanova: 
„Hören  Sie  was  mir  als  zweifellos  wahr  erzählt 
worden  ist.  Graf  Francesco  San  Zanipolo  ist  zuerst 
Fähnrich  gewesen.  Bei  einem  Liebesmahl,  in  An- 
wesenheit seines  höchsten  Vorgesetzten,  wurde  man 
überhaupt  erst  auf  seine  wuchtigen  medianischen 
Eigenschaften  aufmerksam.  Denken  Sie  sich,  die 
Tafelrunde  war  vollzählig  beisammen,  es  wurde 
Wein,  es  wurden  vorzügliche  Speisen  aufgetischt, 
man  sprach  ungemein  angeregt  miteinander,  San 
Zanipolo  liebenswürdig  wie  immer;  auf  ein- 
mal, inmitten  eines  harmlosen  Gesprächs  war  er 
nicht  mehr  da."  „Verschwunden?"  Fragte  ich. 
„Ja,  verschvsoinden!"  Lautete  die  Antwort:  „Die 
beiden  Offiziere  zu  seiner  Rechten  und  zu  seiner 
Linken  blickten  sich  sprachlos  an:  der  Fähnrich 
zwischen  ihnen  war  einfach  weg.  Alle  Anwesen- 
den, vom  Obersten  bis  hinunter  zum  jüngsten 
Fähnrich  packte  Entsetzen.  Wohin  konnte  der 
Graf    gekommen    sein?     Sämtliche    Türen    ver- 

52 


schlössen!  Endlich  öffnete  man  eine,  machte 
Licht  im  Nebenzimmer,  da  lag  der  Fähnrich  Graf 
Francesco  San  Zanipolo,  auf  dem  Lehnstuhl  hinge- 
streckt. Er  befand  sich  in  einem  Zustand  voll- 
ständiger Besinnungslosigkeit.  Ich  muß  hinzu- 
fügen, weder  er,  noch  sonst  einer  der  Herrn 
Offiziere  war  an  jenem  Abende  bezecht.  Es  ver- 
stand sich  von  selbst,  daß  so  ein  Wesen  aus 
der  vierten  Ebne,  das  ganz  einfach  durch 
Mauern  verschwinden  kann,  unmöglich  länger 
Fähnrich  bleiben  durfte.  San  Zanipolo  wurde  es, 
als  er  endlich  erwachte,  nahegelegt,  seinen  Ab- 
schied zu  nehmen.  Das  tat  er,  nun  studiert  er 
noch  immer  Arzneikunde.**  Diese  rätselhafte  Ge- 
schichte hörte  ich  auf  der  Brücke  an.  Nun  lief 
mirs  ganz  kalt  über  den  Rücken.  „Graf  Costa- 
nova,** sagte  ich:„Gehn  wir  zurück  in  die  Stadt.** 
Als  wir  unter  die  Säulengänge  der  Uffizien 
traten,  trafen  wir  Atala.  Er  war  noch  in  Flo- 
renz! „Atala!**  Redete  ihn  Costanova  an:  ,,Herr 
Däu'bler  liegt  in  überirdischer  Fehde  mit  San  Zani- 
polo. Wir  waren  vor  einer  Stunde  bei  Bastianis; 
sie  werden  ihm  helfen,  sonst  würde  es  ihm  wohl 
übel  ergehn!**  „Allerdings!**  Fiel  uns  Atala  in  die 

5  Der  unheimliche  Graf  33 


Rede,  und  zu  mir  gewandt,  fuhr  er  fort:  „Nur 
Bastianis  können  Sie  schützen;  seitdem  San  Zani- 
polo  verheiratet  ist  und  Arzneikunde  und,  sagen 
wir,  Apothekenkram  büffelt,  ich  drücke  mich  sehr 
milde  aus,  kann  er  höchst  gefährlich  werden! 
Aber  gegen  die  Bastianis  kommt  er  nicht  auf.** 
In  diesem  Augenblick  sauste  ein  Kraftrad  an  uns 
vorüber,  der  rothaarige  Graf  saß  drauf.  Wir 
erschraken  alle  drei;  besonders  da  an  dieser  Stelle 
unter  den  Uffizien  das  Kraftradfahren  eigent- 
lich verboten  ist. 

Nach  ein  paar  Minuten  hatten  wir  uns  wieder 
erholt,  mußten  sogar  lächeln;  Atala  sprach  aber- 
mals als  erster:  „Ich  will  Ihnen  die  rätselhaf- 
teste Geschichte  von  den  Bastianis  und  San  Zani- 
polo  erzählen.  Kurz  nach  seinem  Abenteuer  an 
der  Offizierstafel,  ich  weiß  nicht  ob  Sie  das  ken- 
nen, ereignete  sich  folgende  rätselhafte  Ge- 
schichte.** Wir  nickten  beide.  Costanova  warf 
rasch  ein:  „Ich  habe  die  Sache  soeben  erzählt.*' 
„Desto  besser!**  Meinte  Atala  und  begann  seinen 
Bericht:  „Bastiani  brauchte  San  Zanipolo  oft, 
um.  seine  Entwicklung  lenken  zu  können.  Einmal 
fühlte  er  genau,  daß  Francescos  Anwesenheit  in 

54 


Florenz  nötig  war.  Er  ließ  ihm  drahten: 
Fahren  Sie  heute  mit  dem  Abendzug  nach  Flo- 
renz, erwarte  Sie  dringend,  Bastiani.  Damals 
waren  nämlich  die  hellsehenden  Eheleute  auch  noch 
nicht  so  sehr  im  Besitz  ihrer  magischen  Kräfte, 
um  bloß  durch  die  Ferne  wirkend,  ihnen  anheimge- 
f allne  Medien  herbeirufen  zu  können !  Heute  wäre 
dies  vielleicht  anders:  nur  benützen  die  Bastianis 
ihr  geheimes  Vermögen  über  andre  Menschen 
niemals,  es  müßte  sich  denn  um  eine  Ent- 
scheidung, eine  Lebensfrage  handeln !  Kehren  wir 
zu  San  Zanipolo  zurück.  Er  schwankte  nicht 
einen  Augenblick.  Der  Zug  fuhr  oder  fährt  auch 
jetzt  um  acht  Uhr  abends  von  Livorno  ab,  ist 
ungefähr  um  elf  Uhr  in  Florenz.  Als  ihm  das 
Telegramm  ausgehändigt  wurde,  war  es  beinah 
halb  acht;  also  hieß  es  fort!  Er  setzte  sich  auf 
sein  Fahrrad,  damals  besaß  er  noch  kein  Kraft- 
rad wie  jetzt,  und  sauste,  nachdem  er  kurz  Ab- 
schied von  der  Familie  genommen  hatte,  blitz- 
schnell davon.  Als  er  sich  dem  Bahnhof  näherte, 
merkte  er,  daß  es  erst  in  zwanzig  Minuten  acht 
Uhr  war.  ,Was',  schoß  es  ihm  durch  den  Kopf, 
,ich  werde  nicht  so  lange  warten,  sondern  los- 

55  3* 


sausen.*  Im  Nu  merkte  er  sich  auf  der  Land- 
straße nach  Florenz,  im  nächsten  Augenblick 
fühlte  er  sich  aber  schon  nicht  mehr;  wenigstens 
kaum  auf  einer  Straße,  bloß  in  der  Richtung, 
rierrlich  ist  es,  zu  fliegen,  dieses  Gefühl,  so  heißt 
es,  verdeutlichte  sich  in  ihm.  Da  wirbelte  ihm 
eine  Doppelreihe  von  Lichtern  entgegen,  er 
spürte  einen  Fluß  unter  sich,  eigentlich  unter  und 
zugleich  neben  sich:  also  Pisa!  Francesco  eilte 
weiter;  es  war  bestimmt  die  berühmte  untre 
Arnostadt,  denn  er  hatte  sogar  einige  Gebäude 
wahrgenommen,  genau  geschaut.  Dann  schwand 
ihm  das  Bewußtsein  vollständig.  Er  erwachte 
auf  einem  Diwan  in  der  Wohnung  Bastianis. 
Rodolfo  und  Giulia  bemühten  sich  um  ihn.  ,Es 
ist  schon  wieder  gut,  es  war  ein  Wunder,  danken 
Sie  Ihrem  Schutzgeist;*  diese  Worte  waren  die 
ersten,  die  Francesco  wieder  vernahm.  Rasch 
hatte  er  sich  erholt.  Nun  erfuhr  er  aus  Bastianis 
Mund  was  sich  mit  ihm  ereignet  hatte.  Rodolfo 
war  nachdenklich  an  seinem  Schreibtisch  ge- 
wesen, und  er  berechnete,  nicht  ohne  Nervosi- 
tät, ob  Francesco  das  Telegramm  rechtzeitig  be- 
kommen haben  konnte  oder  nicht :  er  hatte  Wich- 

36 


tiges  vor!  Da  merkte  er  plötzlich,  wie  sich  das 
Fenster  auf  tat:  hereinflog  der  schlafende  Graf. 
Bastiani  war  nicht  so  bestürzt,  wie  es  wohl  jeder 
andre  Mensch  gewesen  wäre,  aber  er  hatte  auch 
alle  Mühe,  sich  aufrecht  zu  halten,  Herr  der 
Lage  zu  bleiben.  Francesco  huschte  federleicht 
gradeaus  auf  das  Sofa  zu,  auf  dem  er  bis 
zu  seinem  Wiederwachwerden  ausgestreckt  lag. 
Gleich  darauf  ein  geringes  Klirren,  leichtes  Blin- 
ken: das  Rad  fuhr  auch  durchs  Fenster  herein, 
in  der  Richtung  auf  die  Lagerstätte  seines  Be- 
sitzers, und  dort  legte  sichs,  wie  ein  treuer  Hund, 
an  das  Sofa  gelehnt,  zu  des  Grafen  Füßen.  Ro- 
dolf  o  holte  zuerst  nicht  einmal  Giulia  herbei.  Erst 
als  man  zweimal  heftig  schellte,  und  niemand  die 
Tür  öffnete,  ging  Rodolfo  aus  der  Stube,  lun 
den  späten  Gast  einzulassen.  Draußen  stand  eine 
Wache,  sie  war  mit  einem  Nachschlüssel  ins  Haus 
gedrungen  und  sagte:  ,Herr  Bastiani,  soeben  sind 
Diebe  übers  Dach  bei  Ihnen  eingebrochen.*  ,Nicht 
die  Spur  davon!*  Lächelte  Rodolfo,  der  sich  wie- 
der ganz  gefaßt  hatte:  ,Ein  Traumwandler  ist  bei 
mir  eingekehrt.*  ,Unmöglich,*  meinte  der  Wach- 
mann:   ,einer  von  den  Kerlen  hat  ein  Rad  ge- 

57 


stöhlen  und  es  dann  übers  Dach  laufend,  bei 
Ihnen  eingeschmuggelt.'  ,Nein,  es  ist  kein  Kerl, 
sondern  der  Graf  San  Zanipolo;  sein  Rad  ist 
ihm  durch  die  Luft  gefolgt,  wollen  sie  sich  über- 
zeugen?' ,Danke  bestens!'  Rief  der  Wachmann 
und  stürzte  über  die  Treppe  dem  Ausgang  zu; es 
war,  als  fürchtete  er,  der  Graf  aus  Livorno 
käme  hintendrein.  Noch  bevor  Rodolfo  zum 
Grafen  zurückkonnte,  begegnete  ihm  auf  dem 
Flur  seine  Giulia.  ,Ich  war  in  tiefsten  Schlaf 
verfallen,  Francesco  muß  mich  gebraucht  haben, 
ich  fühlte  es  genau,  weiß  es  jetzt  ganz  klar!'  So 
redete  sie  ihn  an.  ,Nun  komm  nur  in  mein  Zim- 
mer, da  liegt  er  schon  wohlbehalten  ausgestreckt,' 
sagte  fast  sieghaft  lächelnd  Herr  Bastiani.  Als  der 
Graf  diesen  Bericht  über  sich,  ziemlich  gefaßt, 
angehört  hatte,  griff  er  nach  seiner  Uhr:  ,Acht 
Uhr  fünfzehn  Minuten!'  Waren  seine  ersten 
Worte  nach  dem  haarsträubenden  Abenteuer. 
Bastiani  schmunzelte:  ,Ich  habe  festgestellt,  daß 
Sie  mir  um  punkt  acht  Uhr  zugeflogen  kamen; 
unsre  Uhren  gehen  beide  genau.'  , Folglich  habe 
ich  zwanzig  Minuten  von  Livorno  bis  Florenz  ge- 
braucht,'  meinte,  nicht  ohne  Stolz,  San  Zanipolo. 

58 


,Em  Beweis  dafür,  daß  Sie  getragen  wurden: 
nicht  aber  durch  die  vierte  Ebne,  wie  Sie  da- 
mals beim  Offiziersessen,  befördert  wurden; 
sonst  hätten  Sie  keine  Sekunde  für  die  Zurück- 
legung der  hundert  Kilometer  gebraucht.  Viel^ 
leicht  sind  Sie  entmateriahsiert  und  wieder  mate- 
rialisiert  worden!*  Dies  war  der  Bescheid  Bastia- 
nis.**  —  Ich  kann  nicht  leugnen,  daß  mich  diese 
unglaubliche  Erzählung  des  Herrn  Atala  aufge- 
regt hatte.  Es  ist  keine  Kleinigkeit,  gegen  einen 
solchen  Grafen  kämpfen  zu  müssen;  übrigens 
ich  habe  ihm,  meinen  Spielgefährten,  doch  nicht 
Fehde  angesagt!  Wie  käme  ich  dazu?  Costa- 
nova aber  behauptete,  wir  hätten  einander  aufs 
Korn  genommen.  Bastianis  und  er  selbst  wären 
meine  Bundesgenossen;  ich  sollte  mutig  den 
Strauß  für  die  drei  unglücklichen  Kinder  aus- 
fechten. Atala  verließ  uns;  er  mußte  zurück  nach 
Livorno,  hatte  mir  übrigens  auch  keine  Hilfe 
spontan  angeboten;  ich  aber  war  vielleicht  zu 
ungeschickt,  ihn  darum  zu  bitten.  Ich  hatte  drei 
Wochen  bis  zu  meinem  Bekanntwerden  mit 
Amedeo  vor  mir.  Ich  schneide  nicht  auf,  wenn 
ich  feststelle,  daß  ich  sie  bei  Tag  und  Nacht  ganz 

59 


ruhig  verlebte.  Costanova  war  darüber  sehr  er- 
staunt; er  sagte  aber  schKeßKch  sich  und  mir: 
,,Sie  dürfen  auch  ruhig  sein,  höhere  Gew^alten  be- 
schützen Sie/*  Einen  Tag  vor  dem  angesagten  Kon- 
zert des  jungen  Triestiners  Amedeo  de 
Carpegna  bekam  ich  mehrere  Eintrittsscheine 
für  mich  und  meine  Freunde,  wie  vereinbart 
und  versprochen,  zugestellt.  Der  Saal  war  voll 
besetzt.  San  Zanipolos  Frau,  die  einem  Floren- 
tiner Geschlecht  entstammte,  hatte  für  bestes, 
gutgewilltes  Publikum  gesorgt.  Der  junge  Mann, 
den  ich  seit  so  langer  Zeit  nicht  gesehn  hatte, 
erschien.  Fort  war  die  auffallende  Schönheit  des 
Kindes!  Er  sah  nicht  bedeutend,  aber  auch  nicht 
unangenehm  aus.  Seine  Haare  waren  immer 
noch  hellblond,  wie  die  seiner  Mutter,  die  Augen 
ebenfalls  glutvoll,  wie  dereinst.  Eigentlich  wäre  er 
ganz  hübsch  gewesen,  nur  verunstalteten  ihn  ein 
paar  Schnitte  am  Hals  und  über  den  Backen- 
knochen :  Amedeo  war  skrofulös.  Er  spielte  wirk- 
lich gut,  nicht  hervorragend,  aber  er  berechtigte 
zu  schönen  Hoffnungen.  Sein  Programm  zeugte 
von  Geschmack;  man  wagte  es,  dem  an  leichteste 
Kost     gewöhnten    Florentiner     eine    Folge     von 

40 


Stücken  wie  für  die  ernsten  Kunststädte  Bologna, 
Turin,  Mailand  zu  bieten.  —  Amedeo  brachte 
Scarlatti,  Corelli,  Leonardo  Leo. 

Nach  den  Vorführungen,  als  der  brausende 
Beifall  verrauscht  war,  wurde  mir  vom  Grafen 
San  Zanipolo  sein  Vetter  vorgestellt.  Ich  wollte 
ihn  vor  allem  beglückwünschen;  er  hatte  mir 
aber  strahlend  die  Hände  entgegengestreckt:  ,,Ein 
Landsmann,  ein  Triestiner!**  Das  war  seine  Be- 
grüßung. Wir  sprachen  nur  ein  paar  Worte 
über  PoUtik,  dann  bat  ich  ihn  mit  mir,  wie  verab- 
redet, in  ein  stilles  Cafe  gehn  zu  wollen.  Er 
stimmte  zu,  und  wir  setzten  uns  bald  in  einen 
ganz  leeren  Raum,  wo  uns  keine  Seele  belauschen 
konnte. 

„Amedeo,  ich  darf  Sie  wohl  so  nennen,**  be- 
gann ich:  „Ich  kannte  Sie  und  Ihre  Familie  in 
Triest  sehr  gut;  ich  weiß,  Sie  haben  viel  durch- 
gemacht.** „Gewiß,  mein  armer  Vater  ist  mir 
gestorben,  das  war  das  aller  schwerste!**  Antwor- 
tete er.  „Und  Ihre  unglückliche  Mutter,  denken 
Sie  nie  an  Mutter  und  Schwester?**  Warf  ich 
ein.  „Meine  Mutter  ist  eine  häßHche  Österreiche- 
rin,   ein   böses    Weib;    die   Wiener    Großmutter 

41 


eine  Kupplerin,  und  um  Rita  bleibt  es  schade, 
daß  sie  dort  verderben  muß."  Diese  Antwort 
Amedeos  war  schroff.  „Wissen  Sie  das  ganz 
genau?'*  Fragte  ich  weiter.  „Um  es  kurz  zu 
sagen:  Ja!  Hören  Sie!**  Erzählte  er  nun  wild  er- 
regt: „Rita  und  ich,  Marcella  war  noch  zu  klein, 
wurden  zuerst  ausgeschickt,  Streichhölzer  zu  ver- 
kaufen. Wenn  wir  wenig  verdienten,  schlug 
uns  die  BTutter.  Später,  als  wir  heranwuchsen, 
griff  man  zu  noch  abscheulichem  Mitteln,  um 
durch  uns  etwas  Geld  zu  verdienen;  Rita  und  ich 
wurden  mit  Ansichtskarten  von  Triest,  Miramar, 
Abbazia,  zu  Kavalieren  in  die  Wohnung  geschickt. 
Wir  mußten  einen  Brief  vorzeigen,  drin  stand 
ungefähr:  ,Hochgeborner  Herr,  ich  bin  die  miß- 
handelte Gattin  eines  Edelmannes;  ich  weiß  nicht 
wie  ich  meine  schönen  Kinder  ernähren  soll,  hel- 
fen Sie  mir,  nehmen  Sie  sich  ihrer  auch  ein 
wenig,  wenn  Sie  Liebe  zu  Kindern  haben,  an. 
Hochachtungsvollst,  dankbarst  Ada  von  Carpegna.* 
Finden  Sie  das  nicht  schauderhaft?"  „Amedeo, 
Ihre  Schwester  Rita  hat  mir  nichts  davon  gesagt, 
sie  behauptete,  das  Verhalten  Ihrer  Mutter  sei 
einwandfrei  gewesen;   Sie  oder  Ihre  Schwester, 

42 


einer  von  Euch  muß  gelogen  haben.*'  Auf  diesen 
Angriff  antwortete  Amedeo:  „Ich  habe  die 
Wahrheit  gesprochen.  Rita  steht  unterm  Einfluß 
von  JTutter  und  Großmutter,  die  eine  Hexe  ist.** 
„Und  Sie,  wissen  Sie  bestimmt,  daß  Sie  ganz 
frei  urteilen,  verurteilen?  Fluchen  Sie  nicht; 
vielleicht  ist  die  Mutter  doch  schuldloser  als  Sie 
denken.**  So  setzte  ich  ihm  zu,  vorläufig  ohne 
Erfolg.  Er  griff  zu  folgendem  Beweismittel: 
„Wir  gingen  ruhig  in  Bologna  zur  Schule,  plötz- 
lich kommt  die  Mutter,  schafft  uns  in  einen 
Wagen,  entführt  uns  nach  Wien;  wer  so  etwas 
zu  tun  imstande  ist,  muß  verrückt  sein,  beson- 
ders wenn  er  einem  statt  einer  guten  Erziehung 
nur  Elend  und  Verworfenheit  zu  bieten  hat.** 
„Nein,  Amedeo,**  warf  ich  ein:  „Es  steht  min- 
destens fest,  daß  auch  die  Großmutter,  die  Mar- 
chesa  Albano-Cariati,  zu  diesem  Gewaltmittel  ge- 
griffen hat;  sie  hat  Euch,  Marcella  und  Sie,  in 
Wien  geraubt.**  „Eine  Lüge!**  Rief  der  wild- 
erregte Junge. ,, Keine  Lüge!**  Erwiderte  ich  sicher: 
„Ihr  Vetter  gibt  zu,  daß  ein  Raub  in  Wien,  ebenso 
wie  in  Bologna,  ausgeführt  wurde,  überdies  ist 
der  Vorfall  polizeilich,  und  auch  auf  dem  italie- 

45 


nischen  Konsulat  in  Wien,  festgestellt  worden. 
Amedeo,  Sie  sind  beeinflußt,  schwer  beeinflußt. 
Sie  lügen  vielleicht  nicht  bewußt;  sollte  man 
ganze  Strecken  Ihres  Leben  aus  Ihrem  Gedächt- 
nis forthypnotisiert  haben?  Hat  man  Ihnen  die 
bösen  Dinge,  die  Sie  erzählten,  nicht  vielleicht 
auch  eingeredet?*'  Amedeo  war  verblüfft,  er 
seufzte,  dachte  angestrengt  nach,  sagte  dann: 
,, Unmöglich,  man  hat  mich  nie  zu  beeinflussen 
gesucht,  und  wozu?  Wenn  die  Mutter  anständig 
gewesen  wäre,  so  hätte  sie  zu  uns  nach  Bologna 
kommen  können.*'  „Das  denken  Sie,  Ihre  Eltern 
waren  verzankt,  sie  begannen  sich  zu  hassen  und 
überdies  —  mir  fiel  eine  List,  als  ich  so  sprach, 
ein  —  sie  sind  vielleicht  nicht  unvermögend!  Ihr 
Vater  muß  aus  Triest  noch  Geld  bezogen  haben.** 
Amedeo  sali  mich  sprachlos  an;  er  hatte  im  Nu 
zu  mir  Vertraun  gewonnen:  „So  lang  der  Vater 
lebte,  kamen  allmonatlich  Beträge  an;  seitdem 
nichts.  Ich  fragte  einmal  danach,  Tante  Eletta 
schien  mir  besonders  verlegen,  und  Francesco 
sagte:  diese  kleinen  Beträge  schickte  ein  Freund 
Deinem  Vater;  seitdem  er  tot  ist,  hat  er  die  Sen- 
dungen eingestellt.**  „Es  mag  sich  wohl  um  wenig 

44 


gehandelt  haben,**  erwiderte  ich:  ,,  Immerhin 
können  Sie  mir  einen  andern  Anhaltspunkt  geben, 
es  schwebten  noch  Prozesse;  es  kann  so  oder  so 
gewesen  sein?**  „Einmal  sah  ich  den  Namen 
des  Absenders:  J.  Carpeles!**  Ergänzte  Amedeo. 
„Stimmt,  Herr  Carpeles  aus  Prag  war  der  Pro- 
kurist des  großen  Holzgeschäfts  ihres  Großonkels. 
Ich  kannte  ihn  wohl.  Vielleicht  erinnern  Sie  sich 
auch  noch  an  ihn.  Als  Sie  einmal,  in  schlimm- 
ster Not,  von  Triest  nach  Bologna  zur  Marchesa 
fahren  mußten,  besaß  Ihr  Vater  bloß  das  Reise- 
geld bis  zur  Grienz Stadt  Udine.  Er  hatte  nach 
Bologna  telegraphiert;  erhielt  keine  Antwort, 
wollte  eben  die  Polizei  auffordern.  Euch  alle 
auf  dem  Dienstweg  weiter  zu  befördern,  da  trat 
zufällig  dieser  Herr  Carpeles  in  den  Wartesaal. 
Er  gab  Euch  gleich  das  nötige  Reisegeld!'*  „Ein 
kleiner,  dicker  Herr  mit  schwarzem  Bart?** 
Forschte  Amedeo.  ,,So  sah  er  ausl  Soll  ichs 
versuchen,  mich  an  ihn  zu  wenden?  Sie  müs- 
sen mir  aber  versprechen,  alles  zu  tun,  um  über 
Ihre  STutter  gerechter  zu  urteilen.  Wahrschein- 
lich ist  sie  viel  unschuldiger  als  man  Ihnen  über 
sie   zu   denken   beigebracht   hat.**    Während   ich 

45 


Amedeo  so  zusetzte,  schien  ich  vorläufig  gewon- 
nenes Spiel  zu  haben;  ich  fühlte,  daß  er  mir 
bereits  zu  glauben  begann,  mir  ein  Versprechen 
geben  wollte,  als  die  Tür  des  verlassnen  Cafes 
aufgerissen  wurde.  Herein  stürmte  der  Graf  San 
Zanipolo.  „Unerhört!*'  Brüllte  er:  „Solche  Mit- 
tel sind  schamlos,  so  war  es  nicht  gemeint.  Sie 
verleumden  uns,  Sie  wollen  den  Jungen  auf 
falsche  Wege  bringen!'*  Alles  hätte  ich  eher  er- 
wartet, als  das  Hereinstürmen  dieses  fürchter- 
lichen Menschen.  Ich  war  wie  gelähmt.  Amedeo 
stand  wortlos  auf,  griff  beinahe  mechanisch  nach 
Hut  und  Mantel,  machte  sich  zum  Weggehn  be- 
reit, folgte  widerstandslos  seinem  Vetter,  der  ihn 
süßlich  anlächelte  und  hinaus,  ohne  ein  Wort 
des  Abschieds,   von  mir   fortführte. 

So  endete  mein  Versuch,  ins  Geschick  einer 
schwerbelasteten  Familie  einzugreifen;  ich  sah, 
da  war  für  mich  keine  Möglichkeit,  etwas  zu 
erreichen.  Ich  unternahm  nichts  mehr  in  dieser 
verzwickten  Geschichte.  Costanova  sagte  mir, 
Amedeo  sei  noch  am  selben  Abend  mit  seinem 
Vetter  abgereist,  die  Bastianis  wären  glücklich, 
daß  wenigstens  mir  nichts  geschehen  sei.  Amedeo 

46 


und  Marcella  würden  sie  versuchen,  von  der 
Astralefane  aus,  frei  zu  machen.  In  dieser  höhern 
Welt  hoffte  das  Ehepaar  auch  Rita  aufspüren  zu 
können,  um  ihr  seelisch  behilflich  zu  sein.  Den 
Grafen  hielten  sie  für  verloren,  der  schwarzen 
Hexerei  verfallen. 

Ich  habe  über  die  ganze  Sippschaft  nur  noch 
eines  erfahren :  etwa  ein  Jahr  später,  ist  bei  einem 
Eisenbahnunglück,  zwischen  Treviglio  und  Mai- 
land, der  Graf  Francesco  San  Zanipolo,  als  ein- 
ziges   Opfer,    ums    Leben    gekommen. 


47 


DER     WERWOLF 


Es  kam  einmal  so,  daß  ich  von  Paris  aufbre- 
chen und  mich  nach  Florenz  begeben  mußte. 
Geld  besaß  ich  sehr  wenig  und  Aussichten,  bald 
einiges  zu  bekommen,  waren  nicht  vorhanden. 
Ich  hatte  daher  eine  wirkUche  und  wichtige  Sorge : 
in  Florenz  billige  Unterkunft  zu  finden.  Durch 
einen  Bekannten  wurde  ich  einem  Wirt  im  Mittel- 
punkt der  Stadt  empfohlen,  und  der  gab  mir 
auch  sofort  eine  Auskunft.  In  einem  alten  Palast 
aus  dem  vierzehnten  Jahrhundert  sollte  ich  Woh- 
nung finden.  Ich  ging  sogleich  hin ;  eine  sauber  ge- 
kleidete Frau  von  etwa  fünfzig  Jahren  empfing 
mich  ausnehmend  freundlich:  ,,Also  Sie  sind  der 
Herr  aus  Paris,  der  zu  mir  ziehen  möchte?  Das 
Zimmer  ist  sehr  billig!*'  Ich  trat  ein.  Die  Stube 
war  etwas  dunkel,  schien  mir  aber  behaglich  ein- 
gerichtet und  sauber  gehalten  zu  sein;  man  hatte 
mir  bereits  in  der  Kneipe  gesagt,  daß  bestimmt 
kein  Ungeziefer,  weder  in  den  Wänden  noch 
in  den  Betten  sein  dürfte.  Es  fiel  mir  allerdings 
auf,  daß  der  Hausfrau  sehr  viel  daran  lag,  das 
Zimmer  zu  vermieten;  sie  erwähnte  immer  wie- 
der, es  sei  sehr  billig;  aber  auch  mir  war  es 
nicht  weniger   wichtig  unterzukommen,   und  so 

51 


nahm  ich  denn  die  Stube  für  fünfzehn  Franken 
im  Monat,   Frühstück  miteinbegriffen. 

Ich  fühlte  mich  gleich  sehr  behaglich.  Die 
Wirtin  trug  Fürsorge  für  allerhand,  behandelte 
mich  besser  als  es  jemals  eine  Zimmervermieterin 
getan  hatte;  ihr  Mann,  ein  recht  wohlbeleibter 
Fünfziger,  etwas  schweratmig,  wie  ich  aus  seinen 
Gesprächen  vernahm  pensionierter  Polizeibeam- 
ter, mißfiel  mir  auch  nicht.  Oft  wollte  er  aller- 
hand aus  seinem  bewegten  Leben  erzählen,  die 
Frau  war  aber  immer  anwesend,  und  es  gelang 
ihr,  längere  Gespräche  zu  vermeiden.  Sie  hieß 
Ermenegilda,  er  Marcantonio  mit  dem  Familien- 
namen Braccioletti. 

Eines  Morgens,  als  die  Frau  mit  dem  Kaffee 
zu  mir  in  die  Stube  trat,  fragte  sie,  ob  ich  mich 
bei  ihr  wohl  fühlte.  Auf  meine  Versicherung, 
daß  dies  der  Fall,  strahlte  sie  und  sagte:  „Das 
Zimmer  ist  sehr  billig.*'    Dann  ging  sie  wieder. 

Ich  hatte  ungefähr  zwei  Wochen  dort  gewohnt, 
da  ereignete  sich  folgendes:  ich  kam  ziemlich 
spät  nach  Haus  und  wunderte  mich,  daß  ich 
bellen  hörte.  Meine  Wirtsleute  schienen  also  seit 
jenem    Tag     einen    Hund     zu    besitzen!       An- 

5» 


scheinend  mußte  er  recht  groß  und  etwas  heiser 
sein.  Ich  schloß  die  Tür  auf  und  merkte,  dias 
Gebell  kam  aus  der  Schlafstube;  also  im  Vor- 
zimmer brauchte  ich  mich  nicht  zu  fürchten, 
etwa  als  Unbekannter  angefallen  zu  werden.  Sig- 
nora  Ermenegildas  Anwesenheit  bemerkte  ich 
auch,  sie  stöhnte.  Der  Köter  schien  ihr  vorläu- 
fig keine  ungetrübte  Freude  zu  bereiten.  Nun, 
ich  trat  in  meine  Stube.  Vielleicht  hatte  das  Vieh 
mich  kommen  gehört,  nun  würde  sichs  jeden- 
falls beruhigen!  Doch  nichts  davon,  das  Bellen 
ging  weiter,  aber  das  Ächzen  der  Frau,  das  zu- 
erst zugenommen  hatte,  ließ  schließlich  nach, 
übrigens  war  ich  sehr  müde  und  schlief  ein. 

Am  nächsten  Morgen  kam  mirs  wunderlich 
vor,  daß  ich  den  Kaffee  so  lange  nicht,  wie 
üblich,  ans  Bett  bekam.  Löffel-  und  Tellergeklap- 
pcir  hörte  ich  wohl  draußen,  aber  die  gute  Frau 
erschien  nicht.  Ich  hatte  den  Eindruck,  sie 
könne  sich  nicht  entschließen,  bei  mir  einzutre- 
ten. Endlich,  wohl  nach  einer  Stunde,  tat  sie  es 
doch.  Etwas  ängstlich.  Auch  guten  Morgen 
wünschte  sie  mir,  wie  soll  ich  sagen:  schuldbe- 
wußt. Statt  Brot  und  Butter  gab  es  Rosinen- 
kuchen.  Ich  dankte  schön. 

65 


Die  Frau  wußte  nicht  recht,  sollte  sie  schnell 
verschwinden  oder  gezwungen  lächelnd  ein  Ge- 
spräch beginnen.  Da  entschloß  ich  mich  dazu, 
etwas  zu  sagen;  der  Hund  fiel  mir  ein.  Kaum 
hatte  ich  ihn  genannt,  als  dem  armen  Weib  die 
Hände  in  den  Schoß  sanken.  Gut,  daß  der 
Kaffee  schon  auf  dem  Tisch  stand.  Sie  schien 
fassungslos:  „Hat  Sie  das  Bellen  sehr  gestört?" 
Brachte  sie  hervor.  „Er  wird  sich  ans  Haus  ge- 
wöhnen und  dann  still  bleiben!"  Gab  ich  zur 
Antwort.  Sie  aber  schlich  hinaus. 

Ich  habe  Hunde  sehr  gern  und  freute  mich, 
das  Tier  zu  sehn.  Als  ich  aufgestanden  war, 
suchte  ich  es,  fand  aber  keine  Spur  von  ihm. 
Auch  die  Frau  war  fort.  Spät  abends  kam 
ich  nach  Haus;  ich  hörte,  genau  wie  in 
der  vorhergegangnen  Nacht,  Bellen;  als  ich 
aufgeschlossen  hatte,  auch  Stöhnen,  dann  noch- 
mals Bellen,  bis  ich  eingeschlafen  war.  Es  kam 
mir  aber  etwas  weniger  laut  vor,  und  so  dachte 
ich  mir:  Das  Biest  wird  sich  schon  gewöh- 
nen. Am  nächsten  Morgen  pünktlich,  in  aller 
Eile,  Kaffee  mit  Kuchen  und  obendrein  Obst. 
Dazu  sehr  freundhches  Gutenmorgen.    Doch  die 

54 


Frau,  die  zum  Ausfliegen  bereits  angezogen,  ein- 
getreten war,  raste  sogleich  davon.  Mir  gings 
durch  den  Kopf:  die  will  nicht  befragt  sein! 
Übrigens  fühlte  ich,  daß  ich  zwei  Nächte  weniger 
geschlafen  hatte  und  entschloß  mich,  am  Abend 
früher  nach  Haus  zu  gehn.  Schon  auf  der 
Treppe  hörte  ich  stärkstes  Bellen,  aber  es  klang 
eigentümlich  heiser.  Das  war  doch  kein  Hund! 
Ich  blieb  stehn  und  lauschte:  diesmal  stöhnte 
die  Frau  nicht  mit.  Ich  schloß  auf.  Gleich  dar- 
auf wurde  in  der  Tür  der  Wirtsleute  der  Schlüs- 
sel umgedreht.  Man  hatte  mich  also  gehört. 
Seufzen  folgte  diesmal  nicht.  Das  Gebell  blieb 
aber  bis  in  die  Morgenstunden  so  stark  und  un- 
heimlich, daß  ich  beschloß,  am  nächsten  Tage 
ein  Verhör  vorzunehmen.  Endlich  muß  ich  doch 
eingeschlafen  sein;  als  ich  aber  erwachte,  war 
es  spät,  fast  Mittag.  Nichts  rührte  sich,  kein 
Kaffee  stand  bei  meinem  Bett,  die  Wirtin  war 
fort,  der  Herr  Braccioletti  ebenfalls.  Alles  leer. 
Man  wich  einer  Begegnung  mit  mir  aus.  Etwas 
Geheimnisvolles  lag  vor,  aber  was? 

In  der  folgenden  Nacht  alles  still.    Kein    Bel- 
len, kein  Stöhnen,   in  der  Früh  der  Kaffee  im 

55 


Zimmer  bereits  kalt  geworden.  Man  hatte  ihn 
ganz  leise,  als  ich  wohl  noch  schlief,  neben  das 
Bett  gesetzt.  Auch  in  den  nächsten  Nächten  kein 
Bellen,  in  der  Früh  vier  Tage  lang  Kaffee  mit 
Kuchen,  dann  aber  wie  ausbedungen,  Kaffee  mit 
Buttersemmel.  Die  Frau  war  sehr  freundlich, 
und  ich  fragte  um  nichts.  So  ging  es  mindestens 
einen  Monat  lang. 

Eines  Tages  wieder  sehr  freundlich  Guten 
Morgen.  Dazu  plötzliches  Auftauchen  von  Ro- 
sinenkuchen. Mir  gings  gleich  durch  den  Kopf: 
wird   das    Gebell   wieder   losgehen? 

Zwei  Tage  darauf,  als  ich  spät  nach  Haus 
kam,  hörte  ich  es  tatsächlich  schon  auf  der 
Treppe.  Es  war  die  ganze  Nacht  über  so  laut, 
daß  ich  mich  oft  versucht  fühlte,  aufzustehn 
und  nachzufragen.  Ich  tat  es  aber  doch  nicht. 
Gegen  Morgen  hörte  das  Bellen  auf.  Ich  schlief 
jedoch  nicht  mehr  ein  und  rief  nach  der  Wirtin. 
Sie  kam  ganz  verweint  herein  und  fragte:  „Sie 
haben  wohl  die  ganze  Nacht  nicht  schlafen  kön- 
nen?** Worauf  ich  nickte  und:  „Allerdings!'*  Sehr 
entschlossen  aussprach.  ,, Entschuldigen  Sie,*'  er- 
widerte Frau  Ermenegilda:    „Ich   selbst  bin  das 

36 


Opfer  eines  Betruges  und  wäre  ich  nicht  eine 
strenge  Katholikin,  so  hätte  ich  meinen  Mann 
längst  verlassen,  freilich,  auch  er  ist  kreuzun- 
glücklich!** Nun  weinte  sie  und  schluchzte  wie 
besessen.  ,, Beruhigen  Sie  sich,**  sagte  ich  ihr: 
,,LInd  dann  erzählen  Sie  mir!**  Gleich  war  sie 
ruhiger.  „Nicht  wahr,  Sie  verlassen  mich  nicht? 
Das  Zimmer  ist  ja  sauber  und  sehr  billig,  und 
er  bellt  nur  selten;  noch  zwei  Nächte,  dann  ist 
did  Krise  vorüber.**  „Ich  werde  bleiben,**  sagte 
ich: ,, Aber  Sie  müssen  mir  alles  erzählen?** ,, Ja,** 
sagte  sie:  „Es  wird  mich  auch  erleichtern.  Er 
schläft  ja  fest.  Also  hören  Sie:  mein  Mann  ist 
pensionierter  Polizist.  Eines  Tages  lief  er  einem 
Dieb  bis  in  den  vierten  Stock  eines  Wohnhauses 
nach.  Oben  angelangt,  sah  der  Dieb,  da  gibt 
es  kein  Entkommen,  es  sei  denn,  er  überwältigte 
seinen  Verfolger.  Und  so  drehte  er  sich  rasch 
um,  packte  meinen  Mann  an  der  Gurgel  und 
warf  ihn  die  Treppe  hinunter.  Der  Dieb  ent- 
kam. Mein  Mann  blieb  bewußtlos  liegen.  Erst 
im  Krankenhaus,  viele  Stunden  später,  erwachte 
er  wieder  zum  Bewußtsein.  Die  Verletzungen 
waren   schwer,    aber    nicht   unheilbar.     In    einer 

57 


Nacht  fing  er  aber  plötidich  an  zu  bellen,  furcht- 
bar zu  bellen,  wie  es  heißt,  viel  schlimmer  als 
jetzt."  Frau  Ermenegilda  weinte  wieder  laut  und 
rief:  „Der  Unglückliche,  aber  er  hätte  es  mir 
auch  sagen  müssen!  Ich  bin  erst  seit  ein  paar 
Jahren  mit  ihm  verheiratet  und  schon  viel  länger 
ist  er  ein  Werwolf/'  Die  Frau  konnte  nicht 
weiter.  Sie  mußte  aus  dem  Zimmer.  Sie  schloß 
sich  ab,  und  erst  drei  Tage  später,  nachdem  in 
der  Nacht  von  Herrn  Braccioletti  ganz  wild  ge- 
bellt wurde,  bat  ich  sie,  die  Erzählung  fortzu- 
setzen. Nun  tat  sie  es  viel  stiller  und  gefaßter: 
„Mein  Mann  wurde  aus  dem  Hospital  entlassen, 
man  stellte  ihn  abermals  als  Wache  ein.  Oft 
aber  bellte  er  wieder  des  Nachts.  In  der  Wacht- 
stube  entsetzte  man  sich  darüber,  niemand  konnte 
schlafen.  Mein  Mann  wußte  am  Morgen  nichts 
davon.  Man  fing  an,  ihn  für  einen  Schwindler 
zu  halten.  Er  kam  zurück  ins  Lazarett.  Da  er 
nur  bei  raschen  Witterungsumschlägen  und  jedes 
Mal  zur  Tag-  und  Nachtgleiche  bellt,  so  ent- 
ließ man  ihn.  Er  kam  zurück  in  seinen  Beruf; 
nachdem  er  weiter  bellte,  wieder  ins  Lazarett; 
schließlich  ergab  es  sich,  daß  er  auch  dort  bellte. 

58 


Es  war  wie  diesmal  um  den  einundzwanzigsten 
März/'  (Als  mir  Frau  Braccioletti  dieses  erzählte, 
schrieben  wir  tatsächlich  den  24.  März.)  „In  kei- 
nem Buch  der  Wissenschaft  weiß  man  etwas  vom 
Werwolf.  Trotzdem  behaupteten  viele,  die  ihn 
bellen  hörten,  er  sei  davon  besessen.  Die  Ärzte 
aber  hielten  ihn  für  einen  Simulanten.  Schließ- 
lich wurde  der  Arme  ohne  Pension  entlassen.  In 
keiner  Stellung  konnte  er  jedoch  verbleiben.  Zwei 
Jahre  lang  lebte  er  in  ärgster  Not.  Einmal,  zu 
einer  Parade,  die  der  Graf  von  Turin  auf  dem 
Marsfelde  abnahm,  übergab  er  eine  Bittschrift 
dem  hohen  Herrn.  Er  wurde  von  den  Um- 
stehenden zurückgestoßen.  Nach  ein  paar  Tagen 
aber  wurde  auf  allerhöchsten  Befehl  das  Ver- 
fahren wieder  aufgenommen.  Es  wurde  festge- 
stellt, daß  er  kein  Simulant  war.  Er  bekam  eine 
Pension,  und  das  machte  ihn  übermütig.  Beinahe 
sechzig  jährig,  wollte  er  heiraten.  Er  lernte  mich 
kennen,  und  ich  nahm  ihn.  Er  hatte  mir  früher 
nichts  gesagt.  Denken  Sie,  wie  er  mich  entsetzt 
hat,  als  er  zum  erstenmal  anfing  zu  bellen  und 
zu  Schrein.  Hörten  Sie  nicht,  wie  er  durch  das 
Gebell  immer  wieder  den  Ruf  ,sicuro*    hervor- 

59 


stößt?*'  Ich  tröstete  die  aufgeregte  Frau,  so  gut 
ich  konnte  und  versprach  ihr  auf  ihre  Bitte  vor- 
läufig bei  ihr  bleiben  zu  wollen,  w^orauf  sie  mir 
die  Hände  küssen  w^oUte  und  herzlich  dankte. 
„Sie  sehen,**  fügte  sie  hinzu:  „Ich  überlasse 
Ihnen  das  Zimmer  sehr  billig  und  verpflege  Sie 
so  gut  ich  nur  kann/' 

Ich  hielt  es  auch  beim  Ehepaar  Braccioletti 
jahrelang  aus.  Allmählich  gew^öhnte  ich  mich 
an  das  Bellen,  Stöhnen  und  Rufen,  sprach 
schheßlich  auch  mit  Herrn  Braccioletti  selbst.  Er 
versicherte  mir,  er  sähe  seinen  Fehler  vollkom- 
men ein;  nie  hätte  er  heiraten  sollen,  ohne  vor- 
her seiner  Frau  eine  Bellvorstellung  bei  stür- 
mischer Nacht  gegeben  zu  haben.  Tatsächlich 
bellte  er  auch  nur  bei  Witterungsumschlag  oder, 
wie  Frau  Ermenegilda  sagte,  um  Tag-  und  Nacht- 
gleiche und  jedesmal  um  die  Sonnenwenden. 

Einmal,  kurz  vor  Weihnachten,  war  es  recht 
arg.  Ich  konnte  tatsächlich  nächtelang  nicht 
schlafen,  überlegte  mir,  ob  ich  nicht  doch  aus- 
ziehen sollte,  dann  kamen  aber  die  Feiertage, 
und  alles  wurde  wieder  gut.  Ein  paar  Tage  nach- 
her, noch  vor  Neujahr,  ereignete  sich  das  furcht- 

60 


bare  Erdbeben  zu  Messina.  Viele  meiner  Be- 
kannten, darunter  auch  zwei  Mediziner  und  ein 
Geologe,  fuhren  auf  den  Schauplatz  der  Welt- 
katastrophe. Ungefähr  vierzehn  Tage  später 
schrieben  sie,  sie  kämen  zurück,  wir  sollten  sie 
erwarten.  In  unserm  Stammlokal  fanden  wir 
uns  vollzählig  ein,  und  was  wir  da  erfuhren, 
war  selbstverständlicherweise  grauenerregend. 
Schheßlich  fragten  wir,  ob  man  in  Gegenden,  die 
Erdbeben  besonders  ausgesetzt  sind,  nicht  doch  da- 
zu bestimmte  Signale  anbringen  könnte,  die  das 
Eintreten  des  Ereignisses  irgendwie  melden.  Die 
Antwort  war  einstimmig,  daß  man  über  Erd- 
beben nichts  vorher  wissen  kann,  zumal  der  Geo- 
loge blieb  ganz  skeptisch,  auch  was  ein  diesbe- 
zügliches Verfahren  für  die  Zukunft  anging.  Die 
Mediziner  meinten,  die  Bevölkerung  behaupte  viel- 
fach, Irrsinnige  hätten  vom  Untergang  gefaselt. 
Auch  eine  Dame  der  Gesellschaft  in  Rom  hätte 
das  Erdbeben  für  den  8.,  i8.,  oder  28.  Dezember 
vorausgesehn  und  den  König  angefleht,  Messina 
zu  räumen.  Die  Ärzte  taten  aber  das  gleiche,  was 
in  Rom  geschehen  war.  Niemand  maß  diesen  War- 
nungen eine  Bedeutung  zu.  Das  Erdbeben  war 

61 


wohl  am  28.  Dezember  eingetreten,  aber  man  er- 
fuhr von  der  Voraussage  erst  später  und  glaubte 
daher  nicht  daran.  Einer  der  Herren,  die  bei  der 
Reltungsreise  dabei  gewesen,  meinte  allerdings, 
ein  Mittel  gäbe  es:  Tiere,  zumal  Hunde  würden 
ein  paar  Minuten  vor  dem  Eintreten  der  Stöße 
unruhig.  Vielleicht  handele  es  sich  nicht  um  Mi- 
nuten, sondern  nur  um  Sekunden.  Immerhin 
auch  Sekunden  können  nützen.  Lange  und  auf- 
geregt sprachen  wir  über  die  Schrecken  von 
Messina  und  Calabrien.  Ganz  spät  erst  gingen 
wir  heim. 

Als  ich  in  meine  Haustür  trat,  hörte  ich  bel- 
len. Schon  wieder,  dachte  ich  mir,  und  noch  dazu 
so  stark.  Wie  ich  über  die  Treppe  hinaufstieg, 
merkte  ich  immer  mehr,  daß  es  stärker  war  als 
jemals.  Grauenhaft  war  dieses  Bellen,  ein  un- 
nachahmbares  Wau  Wau,  unterbrochen  vom  Ruf 
„sicuro**  Trotzdem  ich  nun  doch  schon  ge- 
wöhnt war,  stundenlanges  Gebell  zu  hören,  so 
war  ich  doch  an  dem  Tag  geradezu  bestürzt 
über  dieses  neue  Gebrause  von  Wau  Wau.  Nur 
weil  es  eisig  kalt  war,  entschloß  ich  mich  doch, 
in  mein  Zimmer  zu  treten,   sonst  wäre  ich  die 

62 


Nacht  herumgerannt.  Frau  Braccioletti  mußte 
mein  Kommen  trotz  des  Wau  Wau  bemerkt 
haben;  sie  klopfte  gleich  an  die  Tür  und  kam, 
schwer  verhüllt,  weinend  und  schluchzend  zu  mir 
und  bat  mich  um  Hilfe.  „Wollen  wir  nicht  zu- 
sammen beten?'*  Fragte  sie:  „Mein  Mann  muß 
in  der  Vorhölle  sein.  Das  ist  ein  Höllenhund, 
kein  Werwolf  mehr.  Hören  Sie  nur,  wie  er  bellt 
und  heult;  er  ist  bewußtlos  und  macht  beim 
Wau  Wau  furchtbare  Sätze  mit  seinem  schweren 
Leibe  im  Bett.**  Ich  tröstete  nur  sehr  schwer 
Frau  Braccioletti.  Es  war  ihr  aber  schon  eine 
Beruhigung,  bei  mir,  und  nicht  im  Zimmer  des 
Unglücklichen  zu  sein.  Sie  wimmerte  immer  wie- 
der: „Madonna,  wie  danke  ich  dir,  eine  mensch- 
liche Seele!** 

Das  Wau  Wau  steigerte  sich  rastlos.  Fast 
rhythmisierend,  aufsteigend.  Mir  schwebte  der 
Vergleich  mit  den  Sof fioni  in  den  Maremmen  vor 
den  Sinnen.  So  eine  Art  Gejser  von  Au-  und 
Waulauten  betäubte  uns  geradezu.  Wie  konnte 
ein  menschlicher  Körper  das  aushalten?  Auf  ein- 
mal stieg  sein  Schreien  in  die  schrillste  Stimmlage, 
deren  ein  solches  Gebell,  mit  äußerster  Heftigkeit, 

65 


nur  fähig  sein  kann !  Noch  erschrak  Frau  Ermene- 
gilda.  Mitschreiend  klajnmerte  sie  sich  an  mich.  Ihr 
Ruf  „aiuto!"  mischte  sich  in  das  Wau  Wau  Wau 
ihres  Mannes.  Ich  selbst  schien  mir  schmerzhaft 
von  Schreien,  Bellen  und  Umklammert  sein  von 
der  Verängstigten  emporgerissen,  nicht  herabge- 
zerrt?  Wie  kam  das?  Das  Gebell  klapperte, 
schrillte  und  zerrte  an  den  Möbeln,  der  Spiegel 
klirrte:  Wau!  Äußerstes  Wau,  riß  Möbel,  Frau 
Braccioletti  und  mich  schräg  aus  dem  Gleichge- 
wicht. Es  klapperte:  Erdbeben  fühlte  ich,  Erd- 
beben, dachte  ich,  Erdbeben  wußte  und  schrie 
ich  zugleich.  Das  Gebell  hatte  aufgehört.  Da^ 
Ziiyimer  kam  wieder  v^e  in  Pendelschwingungen 
zur  Ruhe.  Frau  Braccioletti  war  ohnmächtig. 
Stille.  Hilferufe.  Kein  Licht  auf  der  Straße. 
Rufe:  Erdbeben!  Ein  zweiter  Stoß.  Frau  Braccio- 
letti wie  tod.  Ich  und  die  Möbel  in  einen 
Schwindel- Wirbel  hineingerissen.  Kein  Gebell. 
Höchst  verwunderlich.  Man  stürzte  auf  die 
Straße.  Der  Lärm  von  der  Gasse  wurde  un- 
heimlich. Immer  angsterfüllter.  Erdbeben!  Erd- 
beben! Der  Beller  im  Nebenzimmer  hatte  das 
Erdbeben  in  seinen  Wau  Wau-Rufen  vorherge- 

64 


spürt,  in  meinem  Gefühl  mit  hervorgerufen. 
Nun  war  der  Werwolf  stumm.  Auf  der  Straße 
schrie  man   die  ganze   Nacht. 


5  Der  unheimliche  Graf 


65 


DIE  FLIEGENDEN  LICHTER 


In  einer  sehr  schwer  verwickelten  Angelegen- 
heit wurde  ich  von  meinen  Eltern  nach  Wien 
berufen.  Sofort  brach  ich  von  Neapel  auf;  wurde 
aber  dann  durch  ein  sehr  großes  Unglück  sechs 
Wochen  in  Rom  festgehalten:  unterdessen  ereig- 
nete sich,  was  ich  in  Wien  hätte  ablenken  sollen, 
vielleicht  können.  Jedenfalls  stand  meine  Fami- 
lie gerade  damals  unter  einem  Unheilsstern.  Nie 
mehr  gelang  es  uns  seitdem,  und  es  sind  mehr 
als  zwanzig  Jahre  vergangen,  —  was  damals  zu- 
sammenbrach, wieder  aufzurichten.  Eines  Abends 
hatte  ich  endlich  vollkommene  Sicherheit,  ab- 
fahren zu  können.  Sofort  kaufte  ich  mir  einen 
Fahrschein  von  Rom  bis  an  die  Grenzstation 
Pontafel.  Die  Reise  brachte  ich  in  so  großer 
Nervosität  zu,  daß  ich  beschloß,  irgendwo  zu 
übernachten.  Zuerst  sollte  es  Venedig  sein,  dann 
dachte  ich  an  Pontafel,  schließlich  fiel  mir  Vil- 
lach in  Kärnten  ein;  endlich  entschloß  ich  mich 
zu  einem  Abstecher  zu  Verwandten  und  zwar  von 
Villach  aus.  In  der  kleinen  Stadt  Völkermarkt  in 
Unierkärnten  lebte  eine  Schwester  meiner  Mut- 
ter; sie  war  mit  einem  Beamten  verheiratet.  Ich 
hing  sehr  an  dieser  Frau,  hatte  ihren  Mann  gern, 

69 


und  war  ganz  glücklich  über  den  Einfall,  vor 
Wien  erst  dorthin  zu  fahren.  Kaum  hatte  ich 
diesen  Entschluß  fassen  können,  als  sich  schon 
meine  Erregtheit  anfing  zu  legen.  Frohgemut 
setzte  ich  nunmehr  meine  Reise  fort,  es  dürfte 
von  Udine  an  gev^esen  sein. 

Ich  blieb  zwei  Tage  bei  Tante  und  Onkel !  Dann 
mußte  ich  mit  einem  Schnellzug,  der  von  Vil- 
lach über  Marburg  a.  D.  nach  Wien  fährt,  ab- 
reisen. Er  kam  gegen  ein  Uhr  nachts  in  Völker- 
markt durch.  Der  Bahnhof  liegt  vom  Städtchen 
mehrere  Kilometer  entfernt:  ich  sollte  ihn  im 
Wagen  erreichen.  Etwa  eine  Viertelstunde  vor 
Mitternacht  gings  ab.  Ich  hatte  sehr  herzlich  Ab- 
schied genommen!  In  einer  großen  Schleife  fuhr 
ich  nun  durchs  Dunkel,  um  Völkermarkt  herum, 
talwärts.  Es  war  eine  kühle  Frühlingsnacht:  der 
Wind  rauschte  in  den  Pappeln,  tief  unten  brauste 
hörbar  die  Drau.  Wir  mußten  über  die  hinweg, 
auf  der  andern  Seite  wiederum  in  einer  Schleife 
empor,  dem  Bahnhof  zu.  Keine  zehn  Minuten 
Einsamkeit,  liebe  Stille  im  Wagen  mochte  ich  ge- 
kostet haben,  als  der  Kutscher  mir  plötzlich  in 
seiner  angenehmen  Kärntner  Mundart  zurief,  ich 

70 


sollte  mich  umdrehn  und  sehn,  was  da  kommt! 
Er  schlug  recht  stark  aufs  Pferd  ein:  ich  sah, 
wie  uns  ein  Licht  nachjagte. 

,,Das  ist  ein  Landauer!**  Meinte  ich.  „Gott 
gäbs!**  Antwortete  der  Kutscher:  „Es  wird  aber 
wohl  anders  sein.**  Ich  blieb  umgewendet.  Eine 
zweite,  eine  dritte,  eine  vierte,  fünfte,  sogar  eine 
sechste,  schließlich  eine  siebente,  wie  ich  meinte, 
Laterne  folgten  uns.  Nun,  die  werden  uns  gleich 
eingeholt  haben,  dachte  ich:  wir  waren  unter- 
dessen zu  einer  Biegung  gekommen  und  fuhren 
nun  auch  sehr  schnell,  in  neuer  Richtung,  der  Drau 
zu.  Etwa  fünf  hundert  Meter  Pappelallee  mochten 
es  noch  bis  zur  Brücke  sein.  ,, Merken  Sie  nicht, 
daß  die  Lichter  in  verschiedner  Höhe  daherge- 
fahren  kommen?  Übrigens  ist  keines  auf  der 
Landstraße,  und  andre  Wege  gibt  es  dort  nicht!** 
Sagte  der  Kutscher.  Das  stimmte:  mir  begann 
unheimlich  zu  werden.  Trotzdem  folgten  die 
Lichter  irgendwo  der  Landstraße;  sie  waren  ganz 
naturgemäß,  einen  Augenblick  lang  alle  sieben 
mit  der  Straßeneinbuchtung,  durch  die  wir  vor 
ein  paar  Minuten  gefahren  waren,  verschwunden. 
PlötzHch  stand  ein  tanzendes  Siebengestirn  über 

71 


der  Straße;  einige  hundert  Meter  hinter  uns, 
ungefähr  dort,  von  wo  aus  der  Kutscher  das  erste 
Licht  erblickt  hatte.  Dieses  rhythmisch  bewegte 
Sternbild  überragte  in  seinen  höchsten  Lichtern 
beträchtlich  Wald  und  Hügel.  Es  war  eine  herr- 
Hche  Erscheinung.  Wie  verzückt  blickte  ich  hin, 
der  Kutscher  ebenfalls,  ganz  starr,  obschon  er 
bloß  aufs  Pferd  hätte  achten  sollen.  Wir  waren 
voT'  der  Brücke  angelangt:  sie  mußte  erst  ge- 
öffnet werden.  Ein  kleines  Mädchen  huschte 
aus  dem  Brückenwächterhäuschen  und  ließ  die 
Schranke  hochgehn.  „Blicken  Sie  dorthin!*'  Rief 
der  Kutscher.  „Hilfe!''  Schrie  das  erschreckte 
Kind  und  stürzte  ins  Haus  zurück. 

Unser  Wagen  holperte  über  die  Holzbrücke: 
unter  uns  ging  die  Drau  hoch.  Die  Nacht  war 
sternlos.  Wir  blickten  auf  das  prachtvolle  und 
rätselhafte  Lichtspiel.  Mit  ausgereckten  Hälsen, 
jeder  auf  seinem  Sitz  umgewendet.  Das  Pferd 
fuhr  uns  ahnungslos  und  sicher  über  Bretter, 
dann  geräuschloser  auf  der  Landstraße  dem 
Bahnhof  zu.  Plötzlich  schössen  die  sieben  Lich- 
ter in  eines  zusammen  und  hetzten  als  solches 
riesengroß  der  Drau  entlang.   Gleich  darauf  war 

72 


der  Spuk  verschwunden.  Ich  hoffte,  wir  würden 
uns  nun  erholen.  Der  Wagen  fuhr  langsam  die 
Schleife  bergan.  „Das  bedeutet  was!  Nichts 
Gutes,  vermute  ich.*'  Begann  der  Kutscher  zu  er- 
zählen: „Vor  etwa  zwei  Jahren  ist  mir  etwas 
Ähnliches  geschehn!  Damals  holte  ich  eine 
Dame  aus  Völkermarkt,  die  in  Klagenfurt  Ein- 
käufe gemacht  hatte,  zum  gleichen  Zug  ab.  Als 
wir  schon  über  der  Brücke,  durch  die  Pappel- 
allee, durch  waren,  sahen  wir,  es  dürfte  kurz 
vor  ein  Uhr  gewesen  sein,  —  uns  ein  Licht  ent- 
gegenkommen. Gleich  darauf  ein  zweites.  Mir 
mochte  es  wohl  aufgefallen  sein,  daß  die  Lich- 
ter in  verschiednen,  nicht  der  Landstraße  ent- 
sprechenden Höhen  erschienen  waren;  dachte  mir 
aber  nichts  dabei.  Die  Dame  auch  nicht.  Als 
wir  etwas  später  durch  die  innre  Schleife 
hinauffuhren,  meinte  sie:  ,Nun  müßten  wir  aber 
den  Wagen  begegnen,  man  sieht  sie  gar  nicht, 
wo  mögen  sie  hin  sein?*  Auch  ich  war  erstaunt, 
da  doch  kein  Fahrweg  irgendwo  dort  von  der 
Landstraße  abbiegt.  ,Sie  werden  umgekehrt  sein!* 
Vermutete  und  antwortete  ich.  Ein  paar  Minuten 
später  leuchtete  es  knapp  vor  mir,   etwa  einen 

75 


Meter  über  meinem  Kopfe,  ganz  hell  auf.  Das 
Pferd  bäumte  sich  furchtbar  erschreckt.  Die 
Frau  und  ich  schrien  vor  Entsetzen.  Eine  Hand 
ohne  Arm,  mit  einer  Landauerlaterne  flog  über 
uns,  neben  uns  her.  Vielleicht  so  lang,  bis  man 
von  zwanzig  bis  dreißig  zählen  kann:  etw^a  zehn 
Sekunden.  Dann  löschte  sie  aus.  Alles  finster!** 
Nach  dem,  was  ich  soeben  erlebt  hatte,  konnte 
ich  fürwahr  nicht  ungläubig  sein.  „Und  dann?" 
fragte  ich  atemlos.  ,,Das  Licht  war  weg;  ich 
hab  auch  bis  heute  keins  mehr  gesehen,  nur  der 
Brücken  Wärter  und  seine  kleine  Tochter  haben 
auch  einmal  so  eine  ähnliche  Lichtjagd  erlebt. 
Ein  paar  Tage  darauf  ist  ihnen  ein  Verwandter 
gestorben.  Nun,  und  mir,  als  ich  damals  nach 
Hause  kam,  lag  meine  Mutter  zu  Bett.  Während 
ich  zur  Bahn  war,  hat  sie  der  Schlag  gerührt. 
Zwei  Tasje  darauf  ist  sie  verschieden.  Der  Frau, 
mit  der  ich  die  Laterne  gesehn  habe,  ist  der 
Mann  bald  darnach  auf  einer  Hochtour  in  den 
Karawanken  verunglückt:  also  auch  dort  ein 
Todesfall!**  Von  da  an  schwiegen  wir  beide. 
Zuerst  gings  ein  Weilchen  langsam  bergan,  dann 
noch  eine  Strecke,  ganz  leicht  und  schnell  dem 

74 


Bahnhof  zu.  „Grüßen  Sie  in  Völkermarkt,  kom- 
men Sie  gut  nach  Hause!*'  Verabschiedete  ich  mit 
Händedruck  den  Kutscher.  Am  nächsten  Morgen 
war  ich  in  Wien. 

Nach  etwa  einem  Jahr  kam  ich  wiederum  in 
Völkermarkt  an.  Bei  Tag.  Am  Bahnhof  erwar- 
tete mich  ein  Wagen:  der  gleiche  Kutscher.  Ich 
erkannte  ihn  sofort,  obschon  ich  ihn  erst  da- 
mals bei  Sonnenlicht  genau  besehn  konnte.  Er 
war  noch  sehr  jung,  hochaufgeschossen,  nervös: 
das  Auge  verriet  Geisterseherei.  Sofort  gab  ich 
ihm  die  Hand.  Er  bUckte  mich  sehr  wehmütig 
an.  „Ihre  Frau  Tante!**  Lispelte  er.  Mir  wnrde 
dabei  ein  Zusammenhang,  den  ich  früher  nicht 
beachtet  hatte,  klar.  Meine  Tante  war,  nach 
jenem  gespenstischen  Erlebnis  gestorben.  Da  ich 
krank  zu  Bett  lag,  konnte  ich  nicht  zu  ihrer 
Beerdigung.  Erst  damals  war  es  mir  möglich  ge- 
worden, ihr  Grab  zu  besuchen.  „Ja,  meine  arme 
Tante!**  Gab  ich  zur  Antwort  und  blickte  ihn 
fest  an.  Eine  Träne  stand  in  jedem  seiner  merk- 
würdigen Augen  und  er  schluchzte,  brachte  nur 
atemlos  hervor:  ,,Noch  eine  Woche,  bevor  Ihre 
Frau  Tante  von  uns  gegangen  ist,  habe  ich  meine 
einzige   Schwester  verloren!** 

75 


ALS  VORZUGSAÜSGABE  WURDEN  HUNDERT 
EXEMPLARE  AUF  BÜTTEN  ABGEZOGEN  / 
VOM  DICHTER  SIGNIERT  UND  NUMERIERT 

DIESES  BUCH  TRÄGT 
DIE  NUMMER 


DEN  DRUCK  BESORGTE  DIE  BUCH- 
DRUCKEREI C.  G.  NAUMANN  G.  M.  B.  H. 
IN  LEIPZIG 


0 

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PT     Daubler,  Theodor 

2607      Der  unheiinlichG  Graf 

A25U5