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Full text of "Der Wahn und die Träume in W. Jensens "Gradiva""

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HARVARD UNIVERSITY 




DEPARTMENT 



PJHILOSOPHY 




SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE 

HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIOM. FREUD 

ERSTES HEFT 



DER WAHN UND DIE TRAUME 



IN 



W. JENSENS „GRADIVA" 

VON 

Prof. Dr. SIGM. FREUD 
WIEN 



LEIPZIG UND WIEN 
FRANZ DEUTICKE 

1908 



Verlags-Nr. 1455 



Im Verlage ron Franz Deuticke in Leipzig und Wien er- 
scheinen: 

Schriften 
zur angewandten Seelenkunde 

herausgegeben von 

Prot Dr. Si«ni. Freud 

in Wien. 

I. Heft: 

Der Wahn und die Träume in W. Jensens ^Gradiva^ Von Prot 
Dr. Sigm. Freud in Wien. Preis M. 2.50 = K 8.—. 

n. Heft: 

WunseherfQUung und Symbolik im Märchen. Eine Studie ron 

Dr. Franz Riküa, Sekundararzt in Rheinau (Schweiz). 

Preis M. 3.- = K 3.60. 

m. Heft: 

Der Inhalt der Psychose. Von Dr. C. 6. Jung, Privatdozent in Zürich. 

In Vorbereitung. 



Die „Schiiften zur angewandten Seelenkunde^ wenden sich an jenen 
weiteren Kreis von Gebildeten, die, ohne gerade Philosophen oder Medi- 
zmer zu sein, doch die Wissenschaft vom Seelischen des Menschen nach 
ihrer Bedeutung für das Verständnis und die Vertiefung unseres Lebens 
zu würdigen wissen. Die Hefte werden in zwangloser Folge erscheinen 
und zumeist eine einzige Arbeit bringen, welche die Anwendung ps^cho- 
lo^cher Erkenntnisse auf Themata der Kunst und Literatur, Kultur« 
und Beligionsgeschichte und analoger Grebiete unternimmt. 



SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKÜNDE 

HEEAUSGEGEBEN VON PeOF. De. SIGM. FKEÜD 
BESTES HEFT 



DER WAHN UND DIE TRÄUME 
W. JENSENS „GRADIVA« 

VON 

Prof. De. SIGM. FREUD 

WIEN 



WIEN UND LEIPZIG 

HUGO HELLER & CIE. 

1907 



HARVARD UNIVERSmf. 

Philos. Oeofc Ubrarji 

vor i^»4-6» 



" HARVARD A 

UNIVERSITY I 

LIBRARY I 



K. a. R. Bofbucfadnxckerej Karl Prochaska in Tecehea. 



In einem Kreise von Männern, denen es als ausgemacht 
gilt, daß die wesentlichsten Bätsei des Traumes durch die 
Bemiihimg des Verfassers*) gelöst worden sind, erwachte eines 
Tages die Neugierde, sich um jene Traume zu kümmern, die 
überhaupt niemals geträumt worden, die von Dichtern geschaffen 
imd erfundenen Personen im Zusammenhange einer Erzählung 
beigelegt werden. Der Vorschlag, diese Gattung von Träumen 
einer Untersuchimg zu unterziehen, mochte müßig und be- 
fremdend erscheinen; von einer Seite her konnte man ihn als 
berechtigt hinstellen. Es wird ja keineswegs allgemein geglaubt, 
daß der Traum etwas Sinnvolles und Deutbares ist. Die Wissen- 
schaft imd die Mehrzahl der Gebildeten lächeln, wenn man 
ihnen die Aufgabe einer Traumdeutung stellt; nur das am 
Aberglauben hängende Volk, das hierin die Überzeugungen 
des Altertums fortsetzt, will von der Deutbarkeit der Träume 
nicht ablassen, imd der Verfasser der Traumdeutung hat es 
gewagt, gegen den Einspruch der gestrengen .Wissenschait 
Partei für die Alten und für den Aberglauben zu nehmen. 
Er ist allerdings weit davon entfernt, im Traume eine An- 
kündigung der Zukunft anzuerkennen, nach deren Enthüllung 
der Mensch seit jeher mit allen unerlaubten Mitteln vergeb- 
lich strebt. Aber völlig konnte auch er nicht die Beziehung 
des Traumes zur Zukunft verwerfen, denn nach Vollendung 
einer mühseligen Übersetzungsarbeit erwies sich ihm der Traum 
als ein erfüllt dargestellter Wunsch des Träumers, und 
wer könnte bestreiten, daß Wünsche sich vorwiegend der Zu- 
kunft zuzuwenden pflegen. 

Ich sagte eben: der Traum sei ein erfüllter Wunsch. Wer 
sich nicht scheut, ein schwieriges Buch durchzuarbeiten, wer 



•) Freud, Die Traumdeatang^ 1900. 
Freud, Der Wfthn und die Trfttune. 



DBB WAHN UND DIE TRÄUME 



mcht fordert, daß ein verwickeltes Problem zur Schonung sei- 
ner Bemühung und auf Kosten von Treue und Wahrheit ihm 
als leicht imd einfach vorgehalten werde, der mag in der er- 
wähnten „Traumdeutung" den weitläufigen Beweis für diesen 
Satz aufsuchen und bis dahin die ihm sicherlich aufsteigen- 
den Einwendungen gegen die Gleichstellung von Traum und 
.Wunscherfüllung zur Seite drängen. 

Aber wir haben weit vorgegriffen. Es handelt sich noch 
gar nicht darum, festzustellen, ob der Sinn eines Traumes in 
jedem Falle durch einen erfüllten Wunsch wiederzugeben sei> 
oder nicht auch ebenso häufig durch eine ängstliche Erwar- 
tung, einen Vorsatz, eine Überlegimg u. s. w. Vielmehr steht 
erst in Frage, ob der Traum überhaupt einen Sinn habe, ob 
man ihm den Wert eines seelischen Vorganges zugestehen 
solle. Die Wissenschaft antwortet mit Nein, sie erklärt das 
Träumen für einen bloß physiologischen Vorgang, hinter dem 
man also Sinn, Bedeutung, Absicht nicht zu suchen brauche. 
Körperliche Reize spielten während des Schlafes auf dem see- 
lischen Instrument und brächten so bald diese, bald jene der 
alles seelischen Zusammenhaltes beraubten Vorstellungen zum 
Bewußtsein. Die Träume wären nur Zuckungen, nicht aber 
Ausdrucksbewegungen des Seelenlebens vergleichbar. 

In diesem Streite über die Würdigung des Traumes 
scheinen nun die Dichter auf derselben Seite zu stehen wie 
die Alten, wie das abergläubische Volk und wie der Ver- 
fasser der „Traumdeutung". Denn wenn sie die von ihrer Phaur 
tasie gestalteten Personen träumen lassen, so folgen sie der 
alltäglichen Erfahrung, daß das Denken und Fühlen der Men- 
schen sich in den Schlaf hinein fortsetzt, und suchen nichts 
anderes, als die Seelenzustände ihrer Helden durch deren 
Träume zu schildern. Wertvolle Bundesgenossen sind aber die 
Dichter imd ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pfle- 
gen eine Menge von Dingen zwischen Himmel imd Erde zu 
wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träu- 
men läßt. In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmen- 
schen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche 
wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben. Wäre 
diese Parteinahme der Dichter für die sinnvolle Natur der 



IN W. JENSENS „GRäDIVA" 



Träume nur unzweideutiger! Eine schärfere Kritik könnte ja 
einwenden, der Dichter nehme weder für noch gegen die psy- 
chische Bedeutung des einzelnen Traumes Partei; er begnüge 
sich zu zeigen, wie die schlafende Seele unter den Erregungen 
aufzuckt, die als Ausläufer des Wachlebens in ihr kräftig ver- 
blieben sind. 

Unser Interesse für die Art, wie sich die Dichter des Trau- 
mes bedienen, ist indes auch durch diese Ernüchterung nicht 
gedämpft. Wenn uns die Untersuchung auch nichts Neues über 
das Wesen der Träume lehren sollte, vielleicht gestattet sie 
uns von diesem Winkel aus einen kleinen Einblick in die Na- 
tur der dichterischen Produktion. Die wirklichen Träume gelten 
zwar bereits als zügellose und regelfreie Bildungen, und nxm 
erst die freien Nachbildungen solcher Träume! Aber es gibt 
viel weniger Freiheit und Willkür im Seelenleben, als wir 
geneigt sind anzunehmen; vielleicht überhaupt keine. Was 
wir in der Welt draußen Zufälligkeit heißen, löst sich be- 
kanntermaßen in Gesetze auf; auch was wir im Seelischen 
Willkür heißen, ruht auf — derzeit erst dunkel geahnten — 
Gesetzen. Sehen wir also zu ! 

Es gäbe zwei Wege für diese Untersuchung. Der eine wäre 
die Vertiefung in einen Spezialfall, in die Traumschöpfungen 
eines Dichters in einem seiner Werke. Der andere bestünde im 
Zusammentragen imd Gegeneinanderhalten all der Beispiele, 
die sich in den Werken verschiedener Dichter von der Ver- 
wendung der Träume finden lassen. Der zweite Weg scheint der 
bei weitem trefflichere zu sein, vielleicht der einzig berechtigte, 
denn er befreit uns sofort von den Schädigungen, die mit der 
Aufnahme des künstlichen Einheitsbegriffes „der Dichter" ver- 
bunden sind. Diese Einheit zerfällt bei der Untersuchung in 
die so sehr verschiedenwertigen Dichterindividuen, unter denen 
wir in einzelnen die tiefsten Kenner des menschlichen Seelen- 
lebens zu verehren gewohnt sind. Dennoch aber werden diese 
Blätter von einer Untersuchung der ersten Art ausgefüllt sein. 
Es hatte sich in jenem Kreise von Männern, unter denen die 
Anregung auftauchte, so gefügt, daß jemand sich besann, in 
dem Dichtwerke, das zuletzt sein Wohlgefallen erweckt, wären 
mehrere Träume enthalten gewesen, die ihn gleichsam mit ver- 



DEE WAHN UND DIB TRÄUME 



trauten Zügen angeblickt hätten und ihn einlüden, die Me- 
thode der „Traumdeutung" an ihnen zu versuchen. Er gestand 
zu, Stoff und örtlichkeit der kleinen Dichtung wären wohl 
an der Entstehung seines Wohlgefallens hauptsächlich be- 
teiligt gewesen, denn die Geschichte spiele auf dem Boden von 
Pompeji und handle von einem jungen Archäologen, der das Inter- 
esse für das Leben gegen das an den Besten der klassischen Ver- 
gangenheit hingegeben hätte und nun auf einem merkwürdigen, 
aber völlig korrekten Umwege ins Leben zurückgebracht werde. 
Während der Behandlung dieses echt poetischen Stoffes rege 
sich allerlei Verwandtes und dazu Stimmendes im Leser. Die 
Dichtimg aber sei die kleine Novelle „Gradiva" von Wil- 
helm Jensen, vom Autor selbst als „pompe janisches Phan- 
tasiestück" bezeichnet. 

Und nun müßte ich eigentlich alle meine Leser bitten, 
dieses Heft aus der Hand zu legen und es für eine ganze 
Weile durch die 1903 im Buchhandel erschienene „Gradiva" 
zu ersetzen, damit ich mich im weiteren auf Bekanntes be- 
ziehen kann. Denjenigen aber, welche die „Gradiva" bereits 
gelesen haben, will ich den Inhalt der Erzählung durch einen 
kurzen Auszug ins Gedächtnis zurückrufen, und rechne darauf, 
daß ihre Erinnerung allen dabei abgestreiften Reiz aus eige- 
nem wiederherstellen wird. 

Ein junger Archäologe, Norbert Hanoi d, hat in einer 
Antikensammlung Boms ein Beliefbild entdeckt, das ihn so 
ausnehmend angezogen, daß er sehr erfreut gewesen ist, einen 
vortrefflichen Gipsabguß davon erhalten zu können, den er in 
seiner Studierstube in einer deutschen Universitätsstadt auf- 
hängen imd mit Interesse studieren kann. Das Bild stellt ein 
reifes jimges Mädchen im Schreiten dar, welches ihr reichfal- 
tiges Gewand ein wenig aufgerafft hat, so daß die Füße in 
den Sandalen sichtbar werden. Der eine Fuß ruht ganz auf 
dem Boden, der andere hat sich zum Nachfolgen vom Boden 
abgehoben und berührt ihn nur mit den Zehenspitzen, während 
Sohle und Ferse sich fast senkrecht emporheben. Der hier dar- 
gestellte ungewöhnliche und besonders reizvolle Gang hatte 
wahrscheinlich die Aufmerksamkeit des Künstlers erregt imd 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 



fesselt nach so viel Jahrhunderten nun den Blick unseres 
archäologischen Beschauers. 

Dies Interesse des Helden der Erzählung für das geschil- 
derte Beliefbild ist die psychologische Grundtatsache unserer 
Dichtung. Es ist nicht ohne weiteres erklärbar. „Doktor Nor- 
bert Hanold, Dozent der Archäologie, fand eigentlich für seine 
Wissenschaft an dem Eelief nichts sonderlich Beachtenswertes.^^ 
(Gradiva p. 3.) „Er wußte six^h nicht klarzustellen, was daran seine 
Aufmerksamkeit erregt habe, nur daß er von etwas angezogen 
worden und diese Wirkung sich seitdem unverändert forterhalten 
habe." Aber seine Phantasie läßt nicht ab, sich mit dem Bilde 
zu beschäftigen. Er findet etwas „Heutiges" darin, als ob der 
Künstler den Anblick auf der Straße „nach dem Leben" fest- 
gehalten habe. Er verleiht dem im Schreiten dargestellten 
Mädchen einen Namen: „Gradiva", die „Vorschreitende"; er 
fabuliert, sie sei gewiß die Tochter eines vornehmen Hauses, 
vielleicht „eines patrizischen Aedilis, der sein Amt im Na- 
men der Ceres ausübte", und befinde sich auf dem Wege zum 
Tempel der Göttin. Dann widerstrebt es ihm, ihre ruhige 
stille Art in das Getriebe einer Großstadt einzufügen, viel- 
mehr erschafft er sich die Überzeugung, daß sie nach Pom- 
peji zu versetzen sei imd dort irgendwo auf den wieder aus- 
gegrabenen eigentümlichen Trittsteinen schreite, die bei reg- 
nerischem Wetter einen trockenen Übergang von einer Seite 
der Straße zur anderen ermöglicht und doch auch Durchlaß 
für Wagenräder gestattet hatten. Ihr Gesichtsschnitt dünkt 
ihm griechischer Art, ihre hellenische Abstammung unzwei- 
felhaft; seine ganze Altertumswissenschaft stellt sich allmäh- 
lich in den Dienst dieser und anderer auf das Urbild des Re- 
liefs bezüglichen Phantasien. 

Dann aber drängt sich ihm ein angeblich wissenschaftliches 
Problem auf, das nach Erledigimg verlangt. Es handelt sich 
für ihn um eine kritische Urteilsabgabe, „ob der Künstler den 
Vorgang des Ausschreitens bei der Gradiva dem Leben ent- 
sprechend wiedergegeben habe". Er selbst vermag ihn an sich 
nicht hervorzurufen; bei der Suche nach der „Wirklichkeit" 
dieser Gangart gelangt er nun dazu, „zur Aufhellung der Sache 
selbst Beobachtungen nach dem Leben anzustellen". (G. p. 9.) 



DER WAHN UND DIE TRÄUME 



Das nötigt ihn allerdings zu einem ihm dnrchaiis fremdartigen 
Tun. „Das weibliche Geschlecht war bisher für ihn nur ein 
Begriff aus Marmor oder Erzguß gewesen, und er hatte seinen 
zeitgenössischen Vertreterinnen desselben niemals die geringste 
Beachtimg geschenkt." Pflege der Gesellschaft war ihm immer 
nur als unabweisbare Plage erschienen ; jimge Damen, mit denen 
er dort zusammentraf, sah und hörte er so wenig, daß er bei 
einer nächsten Begegnung grußlos an ihnen vorüberging, was 
ihn natürlich in kein günstiges Licht bei ihnen brachte. Nun 
aber nötigte ihn die wissenschaftliche Aufgabe, die er sich 
gestellt, bei trockener, besonders aber bei nasser "Witterimg 
eifrig nach den sichtbar werdenden Füßen der Frauen und 
Mädchen auf der Straße zu schauen, welche Tätigkeit ihm 
manchen unmutigen und manchen ermutigenden Blick der so 
Beobachteten eintrug; „doch kam ihm das eine so wenig zum 
Verständnis wie das andere". (G. p. 10.) Als Ergebnis dieser 
sorgfältigen Studien mußte er finden, daß die Gangart der Gra- 
diva in der Wirklichkeit nicht nachzuweisen war, was ihn 
mit Bedauern und Verdruß erfüllte. 

Bald nachher hatte er einen schreckvoll beängstigenden 
Traum, der ihn in das alte Pompeji am Tage des Vesuvausbru- 
ches versetzte uud zum Zeugen des Unterganges der Stadt machte. 
„Wie er so am Bande des Forums neben dem Jupitertempel 
stand, sah er plötzlich in geringer Entfernung die Gradiva 
vor sich; bis dahin hatte ihn kein Gedanke an ihr Hiersein 
angerührt, jetzt aber ging ihm auf einmal und als natürlich 
auf, da sie ja eine Pompejanerin sei, lebe sie in ihrer Vaterstadt 
und, ohne daß er's geahnt habe, gleichzeitig mit 
ihm." (G.p. 12;) Angst um das ihr bevorstehende Schicksal ent- 
lockte ihm einen Warnruf, auf den die gleichmütig fortschrei- 
tende Erscheinung ihm ihr Gesicht zuwendete. Sie setzte aber 
dann unbekümmert ihren Weg bis zum Portikus des Tempels 
fort, setzte sich dort auf eine Treppenstufe und legte langsam 
den Kopf auf diese nieder, während ihr Gesicht sich immer 
blasser färbte, als ob es sich zu weißem Marmor umwandle. 
Als er ihr nacheilte, fand er sie mit ruhigem Ausdruck wie 
schlafend auf der breiten Stufe hingestreckt, bis dann der 
Aschenregen ihre Gestalt begrub. 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 



Als er erwachte, glaubte er noch das verworrene Geschrei 
der nach Bettung suchenden Bewohner Pompejis und die dumpl' 
dröhnende Brandung der erregten See im Ohre zu haben. Aber 
auch nachdem die wiederkehrende Besinnung diese Geräusche 
als die weckenden Lebensäußerungen der lärmenden Großstadt 
erkannt hatte, behielt er für eine lange Zeit den Glauben an 
die Wirklichkeit des G^träiunten ; als er sich endlich von der Vor- 
stellimg frei gemacht, daß er selbst vor bald zwei Jahrtausenden 
dem Untergang Pompejis beigewohnt, verblieb ihm doch wie 
eine wahrhafte Überzeugung, daß die Gradiva in Pompeji ge- 
lebt und dort im Jahre 79 mit verschüttet worden sei. Solche 
Portsetzung fanden seine Phantasien über die Gradiva durch 
die Nachwirkimg dieses Traumes, daß er sie jetzt erst wie 
eine Verlorene betrauerte. 

.Während «r, von diesen Gedanken befangen, aus dem 
Fenster lehnte, zog ein Kanarienvogel seine Aufmerksam- 
keit auf sich, der an einem offenstehenden Fenster des 
Hauses gegenüber im Käfig sein Lied schmetterte. Plötz- 
lich durchfuhr etwas wie ein Euck den, wie es scheint, 
noch nicht völlig aus seinem Traum Erwachten. Er glaubte, 
auf der Straße eiii(B Gestalt wie die seiner Gradiva ge- 
sehen und selbst den für sie charakteristischen Gang er- 
kannt zu haben, eilte unbedenklich auf die Straße, um sie 
einztiholen, imd erst das Lachen und Spotten der Leute über 
seine unschickliche Morgenkleidung trieb ihn rasch wieder in 
seine Wohnung zurück. In seinem Zimmer war es wieder der 
singende Kanarienvogel im Käfig, der ihn beschäftigte tmd 
ihn zum Vergleiche mit seiner eigenen Person anregte. Auch 
er sitze wie im Käfig, iand er, doch habe er es leichter, 
seinen Käfig zu verlassen. Wie in weiterer Nachwirkung des 
Traumes, vielleicht auch imter dem Einflüsse der linden Früh- 
lingsluft gestaltete sich in ihm der Entschluß einer Frühjahrs- 
reise nach Italien, für welche ein wissenschaftlicher Vorwand 
bald gefunden wurde, wenn auch „der Antrieb zu dieser 
Keise ihm aus einer unbenennbaren Empfindung entsprun- 
gen war". (G. p. 24.) 

Bei dieser merkwürdig locker motivierten Beise wollen wir 
einen Moment Halt machen imd die Persönlichkeit wie das 



DER WAHN UND DIB TRÄUME 



Treiben unseres Helden näher ins Auge fa43sen. Er erscheint 
uns noch unverständlich und töricht; wir ahnen nicht, auf 
welchem Wege seine besondere Torheit sich mit der Mensch- 
lichkeit verknüpfen wird, um unsere Teilnahme zu erzwingen. 
Es ist das Vorrecht des Dichters, uns in solcher Unsicherheit 
belassen zu dürfen; mit der Schönheit seiner Sprache, der Sin- 
nigkeit seiner Einfälle lohnt er uns vorläufig das Vertrauen, 
das wir ihm schenken, und die Sympathie, die wir, noch un- 
verdient, für seinen Helden bereithalten. Von diesem teilt er 
uns noch mit, daß er schon durch die Familientradition zum 
Altertumsforscher bestimmt, sich in seiner späteren Verein- 
samung und Unabhängigkeit ganz in seine .Wissenschaft ver- 
senkt imd ganz vom Leben und seinen Oenüssen abgewendet hat. 
Marmor und Bronze waren für sein Gefühl das einzig wirk- 
lich Lebendige, den Zweck und Wert des Menschenlebens zum 
Ausdruck Bringende. Doch hatte vielleicht in wohlmeinender 
Absicht die Natur ihm ein Korrektiv durchaus unwissenschaft- 
licher Art ins Blut gelegt, eine überaus lebhafte Phantasie, 
die sich nicht nur in Träumen, sondern auch oft im Wachen 
zur Geltung bringen konnte. Durch solche Absondertmg der 
Phantasie vom Denkvermögen mußte er zum Dichter oder zum 
Neurotiker bestimmt sein, gehörte er jenen Menschen an, deren 
Reich nicht von dieser Welt ist. So konnte es sich ihm er- 
eignen, daß er mit seinem Interesse an einem Reliefbild hän- 
gen blieb, welches ein eigentümlich schreitendes Mädchen dar- 
stellte, daß er dieses mit seinen Phantasien umspann, ihm Na- 
men imd Herkimft fabulierte, tmd die von ihm geschaffene 
Person in das vor mehr als 1800 Jahren verschüttete Pompeji 
versetzte, endlich nach einem merkwürdigen Angsttraum die 
Phantasie von der Existenz und dem Untergang des Oradiva 
genannten Mädchens zu einem Wahn erhob, der auf sein Han- 
deln Einfluß gewann. Sonderbar und undurchsichtig würden 
uns diese Leisttmgen der Phantasie erscheinen, wenn wir ihnen 
bei einem wirklich Lebenden begegnen würden. Da unser 
Held Norbert Hanold ein Geschöpf des Dichters ist, möchten 
wir etwa an diesen die schüchterne Frage richten, ob seine 
Phantasie von anderen Mächten als von ihrer eigenen Willkür 
bestimmt worden ist. 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 



Unseren Helden hatten wir verlassen, als er sich anschei- 
nend durch das Singen eines Kanarienvogels zu einer Beise 
nach Italien bewegen ließ, deren Motiv ihm offenbar nicht 
klar war. Wir erfahren weiter, daß auch Ziel und Zweck dieser 
Reise ihm nicht feststand. Eine innere Unruhe und Unbefrie- 
digung treibt ihn von Bom nach Neapel und von da weiter 
weg. Er gerät in den Schwärm der Hochzeitsreisenden und 
genötigt, sich mit den zärtlichen „August" und „Grete" zu 
beschäftigen, findet er sich ganz außer stände, das Tun tmd 
Treiben dieser Paare zu verstehen. Er kommt zu dem Er- 
gebnis, unter allen Torheiten der Menschen „nehme jedenfalls 
das Heiraten, als die größte und unbegreiflichste, den obersten 
Rang ein, und ihre sinnlosen Hochzeitsreisen nach Italien 
setzten gewissermaßen dieser Narretei die Krone auf". (G. p. 27.) 
In Rom durch die Nähe eines zärtlichen Paares in seinem Schlaf 
gestört, flieht er alsbald nach Neapel, nur um dort andere 
„August und Grete" wiederzufinden. Da er aus deren Gesprä- 
chen zu entnehmen glaubt, daß die Mehrheit dieser Vogelpaare 
nicht im Sinne habe, zwischen dem Schutt von Pompeji zu 
nisten, sondern den Flug nach Capri zu richten, beschließt 
er, das zu tun, was sie nicht täten, und befindet sich „wider 
Erwarten und Absicht" wenige Tage nach seiner Abreise in 
Pompeji. 

Ohne aber dort die Ruhe zu finden, die er gesucht. Die 
Rolle, welche bis dahin die Hochzeitspaare gespielt, die sein Ge- 
müt beunruhigt und seine Sinne belästigt hatten, wird jetzt von 
den Stubenfliegen übernommen, in denen er die Verkörperung 
des absolut Bösen und Überflüssigen zu erblicken geneigt wird. 
Beiderlei Quälgeister verschwimmen ihm zu einer Einheit; 
manche Fliegenpaare erinnern ihn an Hochzeitsreisende, reden 
sich vermutlich in ihrer Sprache auch „mein einziger August" 
und „meine süße Grete" an. Er kann endlich nicht umhin zu 
erkennen, „daß seine Unbefriedigung nicht allein durch das 
um ihn herum Befindliche verursacht werde, sondern etwas 
ihren Ursprung auch aus ihm selbst schöpfe". (G. p. 42.) Er fühlt, 
„daß er mißmutig sei, weil ihm etwas fehle, ohne daß er sich 
aufhellen könne, was". 

Am nächsten Morgen begibt er sich durch den „Ingresso" 



10 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

nach Pompeji und durchstreift nach Verabschiedung des Füh- 
rers planlos die Stadt, merkwürdigerweise ohne sich dabei zu 
erinnern, daß er vor einiger Zeit im Traume bei der Ver- 
schütttmg Pompejis zugegen gewesen. Als dann in der „heißen, 
heiligen" Mittagsstunde, die ja den Alten als Geisterstunde 
galt, die anderen Besucher sich geflüchtet haben, und die 
Trümmerhaufen verödet und sonnenglanzübergossen vor ihm 
liegen, da regt sich in ihm die Fähigkeit, sich in das ver- 
sunkene Leben zurückzuversetzen, aber nicht mit Hilfe der 
.Wissenschaft. „Was diese lehrte, war eine leblose archäolo- 
gische Anschauung, und was ihr vom Mund kam, eine tote, 
philologische Sprache. Die verhalfen zu keinem Begreifen 
mit der Seele, dem Gemüt, dem Herzen, wie man's nennen 
wollte, sondern wer danach Verlangen in sich trug, der mußte 
als einzig Lebendiger allein in der heißen Mittagsstille hier 
zwischen den Überresten der Vergangenheit stehen, um nicht 
mit den körperlichen Augen zu sehen und nicht mit den leib- 
lichen Ohren zu hören. Dann .... wachten die Toten auf 
und Pompeji fing an, wieder zu leben." (G. p. 55.) 

Während er so die Vergangenheit mit seiner Phantasie be- 
lebt, sieht er plötzlich die unverkennbare Gradiva seines Ee- 
liefs aus einem Hause heraustreten und leichtbehend über die 
Lavatrittsteine zur anderen Seite der Straße schreiten, ganz 
so, wie er sie im Traume jener Nacht gesehen, als sie sich 
wie zum Schlafen auf die Stufen des Apollotempels hingelegt 
hatte. „Und mit dieser Erinnerung zusammen kommt ihm noch 
etwas anderes zum erstenmal zum Bewußtsein: Er sei, ohne 
selbst von dem Antrieb in seinem Innern zu wissen, deshalb 
nach Italien und ohne Aufenthalt von Rom und Neapel bis 
Pompeji weitergefahren, um danach zu suchen, ob er hier 
Spuren von ihr auffinden könne. Und zwar im wörtlichen 
Sinne, denn bei ihrer besonderen Gangart mußte sie in der 
Asche einen von allen übrigen sich unterscheidenden Abdruck 
der Zehen hinterlassen haben." (G. p. 58.) 

Die Spannung, in welcher der Dichter uns bisher erhalten 
hat, steigert sich hier an dieser Stelle für einen Augenblick 
zu peinlicher Verwirrung. Nicht nur, daß unser Held offen- 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 11 

bar aus dem Gleichgewicht geraten ist, auch wir finden uns 
angesichts der Erscheinung der Gradiva, die bisher ein Stein- 
und dann ein Phantasiebild war, nicht zurecht. Ist's eine 
Halluzination unseres vom Wahn betörten Helden, ein „wirk- 
liches" Gespenst oder eine leibhaftige Person? Nicht daß wir 
an Gespenster ^u glauben brauchten, um diese Eeihe aufzu- 
stellen. Der Dichter, der seine Erzählung ein „Phantasiestück" 
benannte, hat ja noch keinen Anlaß gefunden uns aufzuklären, 
ob er uns in unserer, als nüchtern verschrieenen, von den Ge- 
setzen der Wissenschaft beherrschten Welt belassen oder in 
eine andere phantastische Welt führen will, in der Geistern 
und Gespenstern Wirklichkeit zugesprochen wird. Wie das 
Beispiel des Hamlet, des Macbeth, beweist, sind wir ohne 
Zögern bereit, ihm in eine solche zu folgen. Der iWahn des 
phantasievollen Archäologen wäre in diesem Falle an einem 
anderen Maßstabe zu messen. Ja, wenn wir bedenken, wie un- 
wahrscheinlich die reale Existenz einer Person sein muß, die 
in ihrer Erscheinung jenes antike Steinbild getreulich wieder- 
holt, 80 schrumpft tmsere Beihe zu einer Alternative ein : Hallu- 
zination oder Mittagsgespenst. Ein kleiner Zug der Schilderung 
streicht dann bald die erstere Möglichkeit. Eine große Eidechse 
liegt bewegungslos im Sonnenlicht ausgestreckt, die aber vor 
dem herannahenden Fuß der Gradiva entflieht und sich über 
die Lavaplatten der Straße davonringelt. Also keine Hallu- 
zination, etwas außerhalb der Sinne unseres Träumers. Aber 
sollte die Wirklichkeit einer Eediviva eine Eidechse stören 
können? 

Vor dem Hause des Meleager verschwindet die Gradiva. 
Wir verwundern uns nicht, daß Norbert Hanold seinen Wahn 
dahin fortsetzt, daß Pompeji in der Mittagsgeisterstunde 
rings* um ihn her wieder zu leben begonnen habe, und so sei 
auch die Gradiva wieder aufgelebt und in das Haus gegangen, 
das sie vor dem verhängnisvollen Augusttage des Jahres 79 
bewohnt hatte. Scharfsinnige Vermutungen über die Persön- 
lichkeit des Eigentümers, nach dem dies Haus benannt sein 
mochte, tmd über die Beziehung der Gradiva zu ihm schießen 
durch seinen Kopf und beweisen, daß sich seine Wissenschaft 
nun völlig in den Dienst seiner Phajitasie begeben hat. Ins 



12 DEB WAHN UND DIE TRÄUME 

Innere dieses Hauses eingetreten, entdeckt er die Erscheinung 
plötzlich wieder auf niedrigen Stufen zwischen zweien der 
gelben Säulen sitzend. „Auf ihren Knien lag etwas Weißes 
ausgebreitet, das sein Blick klar zu unterscheiden nicht fähig 
war; ein Papyrusblatt schien's zu sein " Unter den Vor- 
aussetzungen seiner letzten Kombination über ihre Her- 
kunft spricht er sie griechisch an, mit Zagen die Entscheidung 
erwartend, ob ihr in ihrem Scheindasein wohl Sprachvermögen 
gegönnt sei. Da sie nicht antwortet, vertauscht er die An- 
rede mit einer lateinischen. Da klingt es von lächelnden Lip- 
pen: „Wenn Sie mit mir sprechen wollen, müssen Sie's auf 
Deutsch tun." 

Welche Beschämung für uns, die Leser! So hat der Dich- 
ter also auch unser gespottet und ims wie durch den Wider- 
schein der Sonnenglut Pompejis in einen kleinen Wahn gelockt, 
damit wir den Armen, auf den die wirkliche Mittagssonne 
brennt, milder beurteilen müssen. Wir aber wissen jetzt, von 
kurzer Verwirrung geheilt, daß die Gradiva ein leibhaftiges 
deutsches Mädchen ist, was wir gerade als das Unwahrschein- 
lichste von uns weisen wollten. In ruhiger Überlegenheit dürfen 
wir nun zuwarten, bis wir erfahren, welche Beziehung zwischen 
dem Mädchen und ihrem Bild in Stein besteht, und wie unser 
junger Archäologe zu den Phantasien gelangt ist, die auf ihre 
reale Persönlichkeit hinweisen. 

Nicht so rasch wie wir wird imser Held aus seinem Wahn 
gerissen, denn „wenn der Glaube selig machte", sagt der 
Dichter, „nahm er überall eine erhebliche Summe von Unbegreif- 
lichkeiten in den Kauf", (G. p. 140) und überdies hat dieser Wahn 
wahrscheinlich Wurzeln in seinem Innern, von denen wir nichts 
wissen, und die bei uns nicht bestehen. Es bedarf wohl bei 
ihm einer eingreifenden Behandlimg, um ihn zur Wirkli<9ikeit 
zTirückzuführen. Gegenwärtig kann er nicht anders, als den 
Wahn der eben gemachten wunderbaren Erfahnmg anpassen. 
Die Gradiva, die bei der Verschüttung Pompejis mit unter- 
gegangen, kann nichts, anderes sein als ein Mittagsgespenst, 
das für die kurze Geisterstunde ins Leben zurückkehrt. Aber 
warum entfährt ihm nach jener in deutscher Sprache gegebenen 
Antwort der Ausruf: „Ich wußte es, so klänge deine Stimme"? 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 18 

Nicht wir allein, auch das Mädchen selbst muß so fragen, und 
Hanold muß zugeben, daß er die Stimme noch nie gehört, 
aber sie zu hören erwartet, damals im Traum, als ^r sie an- 
rief, während sie sich auf den Stufen des Tempels zum Schla- 
fen hinlegte. Er bittet sie, es wieder zu tun wie damals, aber 
da erhebt sie sich, richtet ihm einen befremdenden Blick ent- 
gegen und verschwindet nach wenigen Schritten zwischen den 
Säulen des Hofes» Ein schöner Schmetterling hatte sie kurz 
vorher einigemal umflattert; in seiner Deutung war es ein 
Bote des Hades gewesen, der die Abgeschiedene an ihre Bück- 
kehr mahnen sollte, da die Mittagsgeistersttmde abgelaufen. 
Den Ruf: „Kehrst du morgen in der Mittagssttmde wieder hie- 
her?'^ kann Hanold der Verschwindenden noch nachsenden. 
Uns aber, die wir uns jetzt mehr nüchterner Deutungen ge- 
trauen, will es scheinen, als ob die junge Dame in der Auf- 
fordenmg, die Hanold an sie gerichtet, etwas Ungehöriges 
erblickte und ihn darum beleidigt verließ, da sie doch von 
seinem Traum nichts wissen konnte. Sollte ihr Feingefühl 
nicht die erotische Natur des Verlangens herausgespürt haben, 
das sich für Hanold durch die Beziehung auf seinen Traum 
motivierte? 

Nach dem Verschwinden der Gradiva mustert unser Held 
sämtliche bei der Tafel anwesenden Gäste des Hotels Diomede 
imd darauf ebenso die des Hotels Suisse und kann sich dann 
sagen, daß in keiner der beiden ihm allein bekannten Unter- 
kunftsstätten Pompejis eine Person zu finden sei, die mit der 
Gradiva die entfernteste Ähnlichkeit besitze. Selbstverständ- 
lich hätte er die Erwartung als widersinnig abgewiesen, daß 
er die Gradiva wirklich in einer der beiden ."Wirtschaften an- 
treffen könne. Der auf dem heißen Boden des Vesuvs ge- 
kelterte Wein hilft dann den Taumel verstärken, in dem er 
den Tag verbracht. 

Vom nächsten Tage stand nur fest, daß Hanold wieder 
um die Mittagsstunde im Hause des Meleager sein müsse, und 
diese Zeit erwartend, dringt er auf einem nicht vorschrifts- 
mäßigen Wege über die alte Stadtmauer in Pompeji ein. Ein 
mit weißen Glockenkelchen behängter Asphodelosschaft er- 



14 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

scheint ihm als Blume der Unterwelt bedeuttmgsvoll genug, 
um ihn zu pflücken und mit sich zu tragen* Die gesamte 
Altertumswissenschaft aber dünkt ihm während seines Wartens 
das Zweckloseste und Gleichgültigste von der Welt, denn ein 
anderes Interesse hat sich seiner bemächtigt, das Problem: „von 
welcher Beschaffenheit die körperliche Erscheinung eines We- 
sens wie der Oradiva sei, das zugleich tot, und, wenn auch nur 
in der Mittagsgeisterstunde, lebendig war." (G. p. 80.) Auch bangt 
er davor, die Gesuchte heute nicht anzutreffen, weil ihr viel- 
leicht die Wiederkehr erst nach langen Zeiten verstattet sein 
könne, tmd hält ihre Erscheinung, als er ihrer wieder zwischen 
den Säulen gewahr wird, für ein Gaukelspiel seiner Phantasie, 
welches ihm den schmerzlichen Ausruf entlockt: „0, daß du 
noch wärest und lebtest!" Allein diesmal war er offenbar zu 
kritisch gewesen, denn die Erscheinung verfügt über eine 
Stimme, die ihn fragt, ob er ihr die weiße Blume bringen 
wolle, und zieht den wiederum Fassungslosen in ein langes 
Gespräch. Uns Lesern, welchen die Gradiva bereits als lebende 
Persönlichkeit interessant geworden ist, teilt der Dichter mit, 
daß das Unmutige und Zurückweisende, das sich tags zuvor 
in ihrem Blick geäußert, einem Ausdruck von suchender Neu- 
gier oder Wißbegierde gewichen war. Sie forscht ihn auch 
wirklich aus, verlangt die Aufklärung seiner Bemerkung vom 
vorigen Tag, wann er bei ihr gestanden, als sie sich zum 
Schlafen hingelegt, erfährt so vom Traum, in dem sie mit ihrer 
Vaterstadt imtergangen, dann vom Keliefbild und der Stellung 
des Fu^es, die den Archäologen so angezogen. Nim läßt sie 
sich auch bereit finden, ihren Gang zu demonstrieren, wobei 
als einzige Abweichung vom Urbild der Gradiva der Ersatz 
der Sandalen durch sandfarbig helle Schuhe von feinem Leder 
festgestellt wird, den sie als Anpassung an die Gegenwart auf- 
klärt. Offenbar geht sie auf seinen Wahn ein, dessen ganzen 
Umfang sie ihm entlockt, ohne je zu widersprechen. Ein ein- 
ziges Mal scheint sie durch einen eigenen Affekt aus ihrer 
Bolle gerissen zu werden, als er, den Sinn auf ihr Keliefbild 
gerichtet, behauptet, daß er sie auf den ersten Blick erkannt 
habe. Da sie an dieser Stelle des Gespräches noch nichts von 
dem Eelief weiß, muß ihr ein Mißverständnis der Worte Hanolds 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 16 

nahe liegen, aber alsbald hat sie sich wieder gefaßt, und nur uns 
will es scheinen, als ob manche ihrer Keden doppelsinnig klingen, 
außer ihrer Bedeutiuig im Zusammenhang des .Wahnes auch 
etwas Wirkliches und Gegenwärtiges meinen, so z. B. wenn 
sie bedauert, daß ihm damals die Feststellung der Gradiva- 
gangart auf der Straße nicht gelimgen sei. „Wie schade, du hät- 
test vielleicht die weite Beise hieher nicht zu machen gebraucht." 
(G. p. 89.) Sie erfährt auch, daß er ihr EeUefbild „Gradiva" 
benannt, und sagt ihm ihren wirklichen Namen Zoe. „Der 
Name steht dir schön an, aber er klingt mir als ein bitterer 
Hohn, denn Zoe heißt das Leben." — „Man muß sich in das 
Unabänderliche fügen",i entgegnet sie, „imd ich habe mich 
schon lange daran gewöhnt, tot zu sein." Mit dem Versprechen, 
morgen um die Mittagsstunde wieder an demselben Orte zu 
sein, nimmt sie von ihm Abschied, nachdem sie sich noch die 
Asphodelosstaude von ihm erbeten. „Solchen, die besser daran 
sind, gibt man im Frühling Bösen, doch für mich ist die Blume 
der Vergessenheit aus deiner Hand die richtige," (G. p. 90.) Weh- 
mut schickt sich wohl für eine so lang Verstorbene, die nun auf 
kurze Stunden ins Leben zurückgekehrt ist. 

Wir fangen nun an zu verstehen und eine Hoffnung zu 
fassen. Wenn die junge Dame, in deren Gestalt die Gradiva 
wieder aufgelebt ist, Hanolds Wahn so voll aufnimmt, so tut 
sie es wahrscheinlich, um ihn von ihm zu befreien. Es gibt 
keinen anderen Weg dazu; durch Widerspruch versperrte man 
sich die Möglichkeit. Auch die ernsthafte Behandlung eines 
wirklichen solchen Krankheitszustandes könnte nicht anders, 
als sich zunächst auf den Boden des Wahngebäudes stellen 
und dieses dann möglichst vollständig erforschen. Wenn Zoe 
die richtige Person dafür ist, werden wir wohl erfahren, wie man 
einen Wahn wie den unseres Helden heilt. Wir wollten auch 
gern wissen, wie ein solcher Wahn entsteht. Es träfe sich 
sonderbar und wäre doch nicht ohne Beispiel und Gegenstück, 
wenn Behandlung tmd Erforschung des Wahnes zusammenfielen 
und die Aufklärung der Entstehimgsgeschichte desselben sich 
gerade während seiner Zersetztmg ergäbe. Es ahnt uns frei- 
lich, daß unser Krankheitsfall dann in eine „gewöhnliche" Lie- 
besgeschichte auflaufen könnte, aber man darf die Liebe als 



16 DEB WAHN UND DIE TRÄUME 

Heilpotenz gegen den Wahn nicht verachten, und war unseres 
Helden Eingenommensein von seinem Gradivabild nicht auch 
eine volle Verliebtheit, allerdings noch aufs Vergangene und 
Leblose gerichtet? 

Nach dem Verschwinden der Gradiva schallt es nur noch 
einmal aus der Entfernung wie ein lachender Ruf eines über 
die Trümmerstadt hinfliegenden Vogels. Der Zurückgebliebene 
nimmt etwas Weißes auf, das die Gradiva zurückgelassen, kein 
Papyrusblatt, sondern ein Skizzenbuch mit Bleistiftzeichnungen 
verschiedener Motive aus Pompeji. Wir würden sagen, es sei 
ein Unterpfand ihrer Wiederkehr, daß sie das kleine Buch an 
dieser Stelle vergessen, denn wir behaupten, man vergißt nichts 
ohne geheimen Grund oder verborgenes Motiv. 

Der Best des Tages bringt unserem Hanold allerlei merk- 
würdige Entdeckimgen und Feststellungen, die er zu einem 
Ganzen zusammenzufügen verabsäumt. In der Mauer des 
Portikus, wo die Gradiva verschwunden, nimmt er heute einen 
schmalen Spalt gewahr, der doch breit genug ist, um eine 
Person von ungewöhnlicher Schlankheit durchzulassen. Er er- 
kennt, die Zoe-Gradiva brauche hier nicht in den Boden zu 
versinken, was auch so vernunftwidrig sei, daß er sich dieses 
nun abgelegten Glaubens schämt, sondern sie benütze diesen 
Weg, um sich in ihre Gruft zu begeben. Ein leichter Schatten 
scheint ihm am Ende der Gräberstraße vor der sogen. Villa 
des Diomedes zu zergehen. Im Taumel wie am Vortage und 
mit denselben Problemen beschäftigt, treibt er sich nun in der 
Umgebung Pompejis herum. Von welcher leiblichen Beschaf- 
fenheit wohl die 2joe-Gradiva sein möge, und ob man etwas 
verspüren würde, wenn man ihre Hand berührte. Ein eigen- 
tümlicher Drang trieb ihn zum Vorsatze, dieses Experiment 
zu unternehmen, und doch hielt ihn eine ebenso große Scheu 
auch in der Vorstellung davon zurück. An einem heißbesonnten 
Abhänge traf er einen älteren Herrn, der nach seiner Aus- 
rüstung ein Zoologe oder Botaniker sein mußte und mit 
einem Fange beschäftigt schien. Der wandte sich nach ihm 
um und sagte dann: „Interessieren Sie sich auch für die Fara- 
glionensis? Das hätte ich kaum vermutet, aber rnir ist es 
durchaus wahrscheinlich, daß sie sich nicht nur auf den Fara- 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 17 

glionen bei Capri aufhält, sondern sich mit Ausdauer auch 
am Festland finden lassen muß. Das vom Kollegen Eimer 
angegebene Mittel ist wirklich gut; ich habe es schon mehr- 
fach mit bestem Erfolge angewendet. Bitte» halten Sie sich ganz 
ruhig — ." (G. p. 96.) Der Sprecher brach dann ab und hielt eine 
aus einem langen Orashalm hergestellte Schlinge vor eine Fels- 
ritze, aus der das bläulich schillernde Köpfchen einer Eidechse 
hervorsah. Hanold verließ den Lacertenjäger mit der kri- 
tischen Idee, es sei kaum glaublich, was für närrisch merk- 
würdige Vorhaben Leute zu der weiten Fahrt nach Pompeji ver- 
anlassen konnten, in welche Ejritik er sich und seine Absicht, in 
der Asche Pompejis nach den Fußabdrücken der Gradiva zu 
forschen, natürlich nicht einschloß. Das Gesicht des Herrn kam 
ihm übrigens bekannt vor, als hätte er es flüchtig in einem 
der beiden Gasthöfe bemerkt, auch war dessen Anrede wie an 
einen Bekannten gerichtet gewesen. Auf seiner weiteren Wan- 
derung brachte ihn ein Seitenweg zu einem bisher von ihm 
nicht entdeckten Haus, welches sich als ein drittes Wirtshaus, 
der „Albergo del Sole" herausgtellte. Der unbeschäftigte Wirt 
benützte die Gelegenheit, sein Haus und die darin enthaltenen 
ausgegrabenen Schätze bestens zu empfehlen. Er behauptete, 
daß er auch zugegen gewesen sei, als man in der Gegend des 
Forums das junge Liebespaar aufgefunden, das sich bei der 
Erkenntnis des unabwendbaren Unterganges fest mit den Ar- 
men umschlungen und so den Tod erwartet habe. Davon hatte 
Hanold schon früher gehört und darüber als über eine Fabel- 
erfindung irgend eines phantasiereichen Erzählers die Achsel 
gezuckt, aber heute erweckten die Reden des Wirtes bei ihm 
eine Gläubigkeit, die sich auch weiter erstreckte, als dieser 
eine mit grüner Patina überzogene Metallspange herbeiholte, 
die in seiner Gegenwart neben den Überresten des Mädchens 
aus der Asche gesammelt worden sei. Er erwarb diese Spange 
ohne weitere kritische Bedenken, und als er beim Verlassen 
des Albergo an einem offenstehenden Fenster einen mit weißen 
Blüten besetzten Asphodelosschaft herabnicken sah, durchdrang 
ihn der Anblick der Gräberblume wie eine Beglaubigung für 
die Echtheit seines neuen Besitztums. 

Freud, Der Wehn und die Tiftnme. ^ 



18 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

Mit dieser Spange hatte aber ein neuer Wahn von ihm 
Besitz ergriffen oder vielmehr der alte ein Stückchen Fort- 
setzung getrieben, anscheinend kein gutes Vorzeichen für die 
eingeleitete Therapie. Unweit des Forums hatte man ein jun- 
ges Liebespaar in solcher ümschlingung ausgegraben, und er 
hatte im Traume die Gradiva in eben dieser Gegend beim 
Apollotempel sich zum Schlafe niederlegen gesehen. Wäre es 
nicht möglich, daß sie in Wirklichkeit vom Forum noch weiter 
gegangen sei, um mit jemand zusammenzutreffen, mit dem sie 
dann gemeinsam gestorben? Ein quälendes Gefühl, das wir 
vielleicht der Eifersucht gleichstellen können, entsprang aus 
dieser Vermutung. Er beschwichtigte es durch den Hinweis auf 
die Unsicherheit der Kombination und brachte sich wieder so 
weit zurecht, daß er die Abendmahlzeit im Hotel Diomede ein- 
nehmen konnte. Zwei neueingetroffene Gäste, ein Er und eine 
Sie, die er nach einer gewissen Ähnlichkeit für Geschwister 
halten mußte, — trotz ihrer verschiedenen Haarfärbung, — zo- 
gen dort seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Beiden waren die 
ersten ihm auf seiner Eeise Begegnenden, von denen er einen 
sympathischen Eindruck empfing. Eine rote Sorrentiner Eose, 
die das junge Mädchen trug, weckte irgend eine Erinnerung 
in ihm, er konnte sich nicht besinnen, welche. Endlich ging 
er zu Bett und träumte ; es war merkwürdig unsinniges Zeug, 
aber offenbar aus den Erlebnissen des Tages zusammengebraut- 
„Irgendwo in der Sonne saß die Gradiva, machte aus einem 
Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse drin zu fangen imd 
sagte dazu: »Bitte, halte dich ganz ruhig — die Kollegin hat 
recht, das Mittel ist wirklich gut und sie hat es mit bestem 
Erfolge angewendet.*" Gegen diesen Traum wehrte er sich 
noch im Schlafe mit der Kritik, das sei ja vollständige Ver- 
rücktheit, und es gelang ihm, den Traum loszuwerden mit Hilfe 
eines unsichtbaren Vogels, der einen kurzen lachenden Euf aus- 
stieß und die Eidechse im Schnabel forttrug. 

Trotz all dieses Spuks erwachte er eher geklärt und ge- 
festigt. Ein Eosenstrauch, der Blumen von jener Art trug, 
wie er sie gestern an der Brust der jungen Dame bemerkt 
hatte, brachte ihm ins Gedächtnis zurück, daß in der Nacht 
jemand gesagt hatte, im Frühling gäbe man Eosen. Er pflückte 



IN W, JENSENS „GBADIVA" 1» 

unwillkürlich einige der Bösen ab, und an diese mußte sich 
etwas knüpfen, was eine lösende Wirkung in seinem Kopf aus- 
übte. Seiner Menschenscheu erledigt, begab er sich auf dem ge- 
wöhnlichen "Wege nach Pompeji, mit den Eosen, der Metall- 
spange und dem Skizzenbuch beschwert und mit verschiedenen 
Problemen, welche die Gradiva betrafen, beschäftigt. Der alte 
.Wahn war rissig geworden, er zweifelte bereits, ob sie sich 
nur in der Mittagsstunde, nicht auch zu anderen Zeiten in 
Pompeji aufhalten dürfe. Der Akzent hatte sich dafür auf 
das zuletzt angefügte Stück verschoben, und die an diesem 
hängende Eifersucht quälte ihn in allerlei Verkleidungen. Bei- 
nahe hätte er gewünscht, daß die Erscheinung nur seinen Augen 
sichtbar bleibe und sich der Wahrnehmung anderer entziehe; 
so dürfte er sie doch als sein ausschließliches Eigentum be- 
trachten. Während seiner Streifungen im Erwarten der Mit- 
tagsstunde hatte er eine überraschende Begegnung. In der 
Casa del fauno traf er auf zwei Gestalten, die sich in einem 
Winkel unentdeckbar glauben mochten, denn sie hielten sich 
mit den Armen umschlungen imd ihre Lippen zusammenge- 
schlossen. Mit Verwimderung erkannte er in ihnen das sym- 
pathische Paar von gestern abend. Aber für zwei Geschwister 
bedünkten ihn ihr gegenwärtiges Verhalten, die Umarmung 
und der Kuß von zu langer Andauer; also war es doch ein 
Liebes- und vermutlich junges Hochzeitspaar, auch ein August 
und eine Grete. Merkwürdigerweise erregte dieser Anblick 
jetzt nichts anderes als Wohlgefallen in- ihm, und scheu, als 
hätte er eine geheime Andachtsübxing gestört, zog er sich im- 
gesehen zurück. Ein Bespekt, der ihm lange gefehlt hatte, 
war in ihm wiederhergestellt. 

Vor dem Hause des Meleager angekommen, überfiel ihn 
die Angst, die Gradiva in Gesellschaft eines Anderen anzu- 
treffen, noch einmal so heftig, daß er für ihre Erscheintmg 
keine andere Begrüßung fand, als die Frage: Bist du allein? 
Mit Schwierigkeit läßt er sich von ihr zum Bewußtsein brin- 
gen, daß er die Bösen für sie gepflückt, beichtet ihr den 
letzten Wahn, daß sie das Mädchen gewesen, das man am 
Forum in Liebesumarmung gefunden, und dem die grüne Spange 
gehört hatte. Nicht ohne Spott fragt sie, ob er das Stück etwa 

2» 



so DER WAHN UND DIE TRÄUME 

in der Sonne gefunden. Diese — hier Sole genannt — bringe 
allerlei derart zu stände. Zur Heilung des Schwindels im 
Kopfe, den er zugesteht, schlägt sie ihm vor, ihre kleine Mahl- 
zeit mit ihr zu teilen, und bietet ihm die eine Hälfte eines 
in Seidenpapier eingewickelten Weißbrotes an, dessen andere 
sie selbst mit sichtlichem Appetit verzehrt. Dabei blitzen 
ihre tadellosen Zähne zwischen den Lippen auf und verur- 
sachen beim Durchbeißen der Binde einen leicht krachenden 
Ton. Auf ihre Bede: „Mir ist's, als hätten wir schon vor 
zweitausend Jahren einmal so zusammen unser Brot gegessen. 
Kannst du dich nicht darauf besinnen?" (G. p. 118) wußte er keine 
Antwort, aber die Stärkung seines Kopfes durch das Nährmittel 
und all die Zeichen von Gegenwärtigkeit, die sie gab, ver- 
fehlten ihre Wirkung auf ihn nicht. Die Vernunft erhob sich 
in ihm und zog den ganzen Wahn, daß die Gradiva nur ein 
Mittagsgespenst sei, in Zweifel; dagegen ließ sich freilich 
einwenden, daß sie soeben selbst gesagt, sie habe schon vor 
zweitausend Jahren die Mahlzeit mit ihm geteilt. In solchem 
Konflikt bot sich ein Experiment als Mittel der Entscheidung, 
das er mit Schlauheit und wiedergefundenem Mute ausführte. 
Ihre linke Hand lag mit den schmalen Fingern ruhig auf 
ihren Knien, und eine der Stubenfliegen, über deren Frechheit 
und Nutzlosigkeit er sich früher so entrüstet hatte, ließ sich 
auf dieser Hand nieder. Plötzlich fuhr Hanolds Hand in 
die Höh' und klatschte mit einem keineswegs gelinden Schlag 
auf die Fliege und die Hand der Gradiva herunter. 

Zweierlei Erfolg trug ihm dieser kühne Versuch ein, zu- 
nächst die freudige Überzeugung, daß er eine unzweifelhaft 
wirkliche, lebendige und warme Menschenhand berührt, dann 
aber einen Verweis, vor dem er erschrocken von seinem Sitr 
auf der Stufe aufflog. Denn von den Lippen der Gradiva 
tönte es, nachdem sie sich von ihrer Verblüffung erholt hatte: 
„Du bist doch offenbar verrückt, Norbert Hanold." 

Der Buf beim eigenen Namen ist bekanntlich das beste 
Mittel, einen Schläfer oder Nachtwandler aufzuwecken. Welche 
Folgen die Nennung seines Namens, von dem er niemand in 
Pompeji Mitteilung gemacht, durch die Gradiva für Norbert 
Hanold mit sich gebracht hatte, ließ sich leider nicht beob- 



IN W. JENSENS „GRADIVA'* %1 

achten. Denn in diesem kritischen Augenblick tauchte das 
sympathische Liebespaar aus der Casa di fauno auf, und die 
junge Dame rief mit einem Ton fröhlicher Überraschung : „Zoe ! 
du auch hier? Und auch auf der Hochzeitsreise? Davon hast 
du mir ja kein Wort geschrieben!" Vor diesem neuen Beweis 
der Lebenswirklichkeit der Gradiva ergriff Hanold die Flucht. 
Die Zoe-Gradiva war durch den unvorhergesehenen Be- 
such, der sie in einer, wie es scheint, wichtigen Arbeit störte, 
auch nicht aufs angenehmste überrascht. Aber bald gefaßt, 
beantwortet sie die Frage mit einer geläufigen Antwortsrede, 
in der sie der Freundin, aber mehr noch uns, Auskünfte über 
die Situation gibt, und mittels welcher sie sich des jungen 
Paares zu entledigen weiß. Sie gratuliert, aber sie ist nicht 
auf der Hochzeitsreise. „Der junge Herr, der eben fortging, 
laboriert auch an einem merkwürdigen Hirngespinst, mir scheint, 
er glaubt, daß ihm eine Fliege im Kopfe summt; nun, irgend 
eine Kerbtierart hat wohl Jeder drin. Pflichtmäßig verstehe 
ich mich etwas auf Entomologie und kann deshalb bei solchen 
Zuständen ein bißchen von Nutzen sein. Mein Vater und ich 
wohnen im Sole, er bekam auch einen plötzlichen Anfall und 
dazu den guten Einfall, mich mit hieher zu nehmen, wenn ich 
mich auf meine eigene Hand in Pompeji unterhalten und an ihn 
keinerlei Anforderungen stellen wollte. Ich sagte mir, irgenid 
etwas Interessantes würde ich wohl schon allein hier ausgra- 
ben. Freilich, auf den Fund, den ich gemacht, — ich meine das 
Glück, dich zu treffen, Gisa, hatte ich mit keinem Gedanken ge- 
rechnet." (G. p. 124.) Aber nun muß sie eilig fort, ihrem Vater am 
Sonnentisch Gesellschaft leisten. Und so entfernt sie sich, nach- 
dem sie sich uns als die Tochter des Zoologen und Eidechsen- 
fängers vorgestellt und in allerlei doppelsinnigen Reden sich 
zur Absicht der Therapie und zu anderen geheimen Absichten 
bekannt hat. Die Richtung, die sie einschlug, war aber nicht 
die des Gasthofes zur Sonne, in dem ihr Vater sie erwartete, 
sondern auch ihr wollte scheinen, als ob in der Umgegend 
der Villa des Diomedes eine Schattengestalt ihren Tumulus auf- 
suche und unter einem der Gräberdenkmäler verschwinde, und 
darum richtete sie ihre Schritte mit dem jedesmal beinahe senk- 
recht aufgestellten Fuß nach der Gräberstraße. Dorthin hatte 



«2 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

sich in seiner Beschämung und Verwirrung Hanold geflüchtet 
und wanderte im Portikus des Gartenraumes unablässig auf 
und ab, beschäftigt, den Rest seines Problems durch Denk- 
anstrengung zu erledigen. Eines war ihm unanfechtbar klar 
geworden, daß er völlig ohne Sinn und Verstand gewesen zu 
glauben, daß er mit einer mehr oder weniger leiblich wiedel* 
lebendig gewordenen jungen Pompejanerin verkehrt habe, und 
diese deutliche Einsicht seiner Verrücktheit bildete unstreitig 
einen wesentlichen Fortschritt auf dem Rückweg zur gesunden 
Vernunft. Aber anderseits war diese Lebende, mit der auch 
Andere wie mit einer ihnen gleichartigen Leibhaftigkeit ver- 
kehrten, die Gradiva, und sie wußte seinen Namen, und dieses 
Rätsel zu lösen, war seine kaum erwachte Vernunft nicht 
stark genug. Auch war er im Gefühl kaum ruhig genug, um 
sich solcher schwierigen Aufgabe gewachsen zu zeigen, denn 
am liebsten wäre er vor zweitausend Jahren in der Villa des 
Diomedes mitverschüttet worden, um nur sicher zu sein, der 
Zoe-Gradiva nicht wieder zu begegnen. 

Eine heftige Sehnsucht, sie wiederzusehen, stritt indessen ge- 
gen den Rest von Neigung zur Flucht, der sich in ihm er- 
halten hatte. 

Um eine der vier Ecken des Pfeilerganges biegend, prallte 
er plötzlich zurück. Auf einem abgebrochenen Mauerstücke 
saß da eines der Mädchen, die hier in der Villa des Diomedes 
ihren Tod gefunden hatten. Aber das war ein bald abgewie- 
sener letzter Versuch, in das Reich des Wahnsinns zu flüch- 
ten; nein, die Gradiva war es, die offenbar gekommen war, 
ihm das letzte Stück ihrer Behandlung zu schenken. Sie deutete 
seine erste instinktive Bewegung ganz richtig als einen Ver- 
such, den Raum zu vetlassen, und bewies ihm, daß er nicht 
entrinnen könne, denn draußen hatte ein fürchterlicher Wasser- 
sturz zu rauschen begonnen. Die Unbarmherzige begann das 
Examen mit der Frage, was er mit der Fliege auf ihrer 
Hand gewollt. Er fand nicht den Mut, sich eines bestimmten 
Pronomens zu bedienen, wohl aber den wertvolleren, die ent- 
scheidende Frage zu stellen : 

„Ich war — wie jemand sagte — etwas verwirrt im Kopf 
und bitte um Verzeihung, daß ich die Hand derartig — wie 



IN W. JENSENS „GRADIVA« 23 

ich so sinnlos sein konnte, ist mir nicht begreiflich — aber 
ich bin auch nicht im stände, zu begreifen, wie ihre Besitzerin 
mir meine — meine Unvernunft mit meinem Namen vorhalten 
konnte." (G. p. 134.) 

„So weit ist dein Begreifen also noch nicht vorgeschritten, 
Norbert Hanold. Wunder nehmen kann's mich allerdings 
nicht, da du mich lange daran gewöhnt hast. Um die Er- 
fahrung wieder zu machen, hätte ich nicht nach Pompeji zu 
kommen gebraucht, und du hättest sie mir um gut hundert 
Meilen näher bestätigen können." 

„Um hundert Meilen näher; deiner Wohnung schräg ge- 
genüber, in dem Eckhaus; an meinem Fenster steht ein Käfig 
mit einem Kanarienvogel," eröffnet sie jetzt dem noch immer 
Verständnislosen. 

Dies letzte Wort berührt den Hörer wie eine Erinnerung 
aus einer weiten Feme. Das ist doch derselbe Vogel, dessen 
Gesang ihm den Entschluß zur Reise nach Italien eingegeben. 

„In dem Hause wohnt mein Vater, der Professor der 
Zoologie Richard Bertgang." 

Als seine Nachbarin kannte sie also seine Person und 
seinen Namen. Uns droht es wie eine Enttäuschung durch 
eine seichte Lösung, die unserer Erwartungen nicht würdig ist. 

Norbert Hanold zeigt noch keine wiedergewonnene Selb- 
ständigkeit des Denkens, wenn er wiederholt: „Dann sind 
Sie — sind Sie Fräulein Zoe Bertgang? Die sah aber doch 
ganz anders aus . . . ." 

Die Antwort des Fräuleins Bertgang zeigt dann, daß 
doch noch andere Beziehungen als die der Nachbarschaft zwi- 
schen den beiden bestanden hatten. Sie weiß für das trauliche 
„du" einzutreten, das er dem Mittagsgespenst natürlich ge- 
boten, vor der Lebenden wieder zurückgezogen hatte, auf das 
sie aber alte Rechte geltend macht. „Wenn du die Anrede 
passender zwischen uns findest, kann ich sie ja auch anwen- 
den, mir la^ nur die andere natürlicher auf der Zunge. Ich 
weiß nicht mehr, ob ich früher, als wir täglich freundschaft- 
lich miteinander herumliefen, gelegentlich uns zur Abwechslung 
auch knufften und pufften, anders ausgesehen habe. Aber wenn 
Sie in den letzten Jahren einmal mit einem Blick auf mich 



24 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

Acht gegeben hätten, wäre Ihren Augen vielleicht aufgegangen, 
daß ich schon seit längerer Zeit so aussehe/' 

Eine Kinderfreundschaft hatte also zwischen den beiden 
bestanden, vielleicht eine Kinderliebe, aus der das „Du" seine 
Berechtigung ableitete. Ist diese Lösung nicht vielleicht ebenso 
seicht wie die erst vermutete? Es trägt aber doch wesentlich 
zur Vertiefung bei, daß uns einfällt, dies Kinderverhältnis er- 
kläre in unvermuteter Weise so manche Einzelheit von dem, 
was während ihres jetzigen Verkehrs zwischen den Beiden vor- 
gefallen. Jener Schlag auf die Hand der Zoe-Gradiva, den 
sich Norbert Hanold so vortrefflich mit dem Bedürfnis mo- 
tiviert, durch eine experimentelle Entscheidung die Frage nach 
der Leiblichkeit der Erscheinung zu lösen, sieht er nicht an- 
derseits einem Wiederaufleben des Impulses zum „Knuffen und 
Puffen" merkwürdig ähnlich, dessen Herrschaft in der Kind- 
heit uns die Worte Zoes bezeugt haben? Und wenn die Gra- 
diva an den Archäologen die Frage gerichtet, ob ihm nicht 
vorkomme, daß sie schon einmal vor zweitausend Jahren so 
die Mahlzeit miteinander geteilt hätten, wird diese unverständ- 
liche Frage nicht plötzlich sinnvoll, wenn wir anstatt jener 
geschichtlichen Vergangenheit die persönliche einsetzen, die 
Kind er zeit wiederum, deren Erinnerungen bei dem Mädchen 
lebhaft erhalten, bei dem jungen Manne aber vergessen zu sein 
scheinen? Dämmert uns nicht plötzlich die Einsicht, daß die 
Phantasien des jungen Archäologen über seine Gradiva ein 
Nachklang dieser vergessenen Kindheitserinnerungen sein könn-. 
ten? Dann wären sie also keine willkürlichen Produktionen 
seiner Phantasie, sondern bestimmt, ohne daß er darum wüßte, 
durch das von ihm vergessene, aber noch wirksam in ihm 
vorhandene Material von Kindheitseindrücken. Wir müßten 
diese Abkunft der Phantasien im einzelnen nachweisen können, 
wenn auch nur durch Vermutungen. Wenn z. B. die Gradiva 
durchaus griechischer Abkunft sein muß, die Tochter eines 
angesehenen Mannes, vielleicht eines Priesters der Ceres, so 
stimmte das nicht übel zu einer Nachwirkung der Kenntnis 
ihres griechischen Namens Zoe und ihrer Zugehörigkeit zur 
Familie eines Professors der Zoologie. Sind aber die Phanta- 
sien Hanolds umgewandelte Erinnerungen, so dürfen wir er- 



IN W. JENSENS „GRADIVA" U 

warten, in den Mitteilungen der Zo'e Bertgang den Hin- 
weis auf die Quellen dieser Phantasien zu finden. Horchen 
wir auf; sie erzählte uns von einer intimen Freundschaft der 
Kinderjahre, wir werden nun erfahren, welche weitere Ent- 
wicklung diese Kinderbeziehung bei den Beiden genommen hat. 
„Damals, so bis um die Zeit, in der man uns, ich weiß 
nicht weshalb, Backfische tituliert, hatte ich mir eigentlich 
eine merkwürdige Anhänglichkeit an Sie angewöhnt und glaubte, 
ich könnte nie einen mir angenehmeren Freund auf der Welt 
finden. Mutter und Schwester oder Bruder hatte ich ja nicht, 
meinem Vater war eine Blindschleiche in Spiritus bedeutend 
interessanter als ich, und etwas muß man, wozu ich ^auch ein 
Mädchen rechne, wohl haben, womit man seine Gedanken und 
was sonst mit ihnen zusammenhängt, beschäftigen kann. Das 
waren also Sie damals ; doch als die Altertumswissenschaft über 
Sie gekommen war, machte ich die Entdeckung, daß aus dir 
— entschuldigen Sie, aber Ihre schickliche Neuerung klingt 
mir doch zu abgeschmackt und paßt auch nicht zu '4em, was 
ich ausdrücken will — ich wollte sagen, da stellte sich heraus, 
daß aus dir ein unausstehlicher Mensch geworden war, der, 
wenigstens für mich, keine Augen mehr im Kopf, keine iZunge 
mehr im Mund und keine Erinnerung mehr da hatte, ^wo sie 
mir an unsere Kinderfreundschaft sitzen geblieben war. Dar- 
um sah ich wohl anders aus als früher, denn wenn ich ab und 
zu in einer Gesellschaft mit dir zusammenkam, noch im letz- 
ten "Winter einmal, sahst du mich nicht, tind noch weniger 
bekam ich deine Stimme zu hören, worin übrigens keine Aus- 
zeichnung für mich lag, weil du's mit allen Andern ebenso 
machtest. Ich war Luft für dich, tind du warst, mit deinem 
blonden Haarschopf, an dem ich dich früher oft gezaust, so 
langweilig, vertrocknet und mundfaul wie ein ausgestopfter 
Kakadu und dabei so großartig wie ein — Archäopteryx heißt 
das ausgegrabene vorsintflutliche Vogelungetüm ja wohl. Nur 
daß dein Kopf eine ebenfalls so großartige Phantasie beher- 
bergte, hier in Pompeji mich auch für etwas Ausgegrabenes 
und wieder lebendig Gewordenes anzusehen, — das hatte ich 
nicht bei dir vermutet, und als du auf einmal ganz uner- 
wartet vor mir standest, kostete es mich zuerst ziemliche Mühe, 



M BEB WAHN UND DIE TBAUME. 

dahinter zu kommen, was für ein unglaubliches EUmgespinst 
deine Einbildung sich zurechtgearbeitet hatte. Dann machte 
mir's Spaß und gefiel mir auch trotz seiner Tollhäusigkeit 
nicht so übel. Denn, wie gesagt, das hatte ich bei dir nicht 
vermutet." 

So sagt sie uns also deutlich genug, was aus der Kinder- 
freundschaft mit den Jahren bei ihnen Beiden geworden war. 
Bei ihr steigerte sich dieselbe zu einer herzlichen Verliebtheit, 
denn etwas muß man ja haben, woran man als Mädchen sein 
Herz hängt. Fräulein Zoe, die Verkörperung der Klugheit und 
Klarheit, macht uns auch ihr Seelenleben ganz durchsichtig. 
.Wenn es schon allgemeine Begel für das normal geartete Mäd- 
chen ist, daß sie ihre Neigung zunächst dem Vater zuwende, 
so war sie ganz besonders dazu bereit, die keine andere Per- 
son als den Vater in ihrer Familie fand. Dieser Vater aber 
hatte für sie nichts übrig, die Objekte seiner Wissenschaft 
hatten all sein Interesse mit Beschlag belegt. So mußte sie 
nach einer anderen Person Umschau halten imd hing sich mit 
besonderer Innigkeit an ihren Jugendgespielen. Als auch dieser 
keine Augen mehr für sie hatte, störte es ihre Liebe nicht, 
steigerte sie vielmehr, denn er war ihrem Vater gleich gewor- 
den, wie dieser von der Wissenschaft absorbiert und durch sie 
vom Leben und von Zoe femgehalten. So war es ihr gestattet, 
in der Untreue noch treu zu sein, im Geliebten den Vater 
wiederzufinden, mit dem gleichen Gefühl die Beiden zu um- 
fassen oder, wie wir sagen können, die Beiden in ihrem Fühlen 
zu identifizieren. Woher nehmen wir die Berechtigung zu 
dieser kleinen psychologischen Analyse, die leicht als selbst- 
herrlich erscheinen könnte? In einem einzigen, aber höchst 
charakteristischen Detail hat sie der Dichter uns gegeben. Wenn 
Zoe die für sie so betrübende Verwandlung ihres Jugendge- 
spielen schildert, so beschimpft sie ihn durch einen Vergleich 
mit dem Archäopteryx, jenem Vogelungetüm, das der Archäo- 
logie der Zoologie angehört. So hat sie für die Indentifizierung 
der beiden Personen einen einzigen konkreten Ausdruck ge- 
funden; ihr Groll trifft den Greliebten wie den Vater mit 
demselben Worte. Der Archäopteryx ist sozusagen die Kom- 
promiß- oder Mittelvorstellung, in welcher der Gedanke an die 



IN W. JENSENS „GKADIVA" 27 

Torheit ihres Geliebten mit dem an die analoge ihres Vaters 
zusammenkommt. 

Anders hatte es sich bei dem jungen Manne gewendet. Öie 
Altertumswissenschaft kam über ihn und ließ ihm nur Inter- 
esse für Weiber aus Stein und Bronze übrig. Die Kinder- 
freundschaft ging unter, anstatt sich zu einer Leidenschaft zu 
verstärken, und die Erinnerungen an sie gerieten in so tiefe 
Vergessenheit, daß er seine Jugendgenossin nicht erkannte und 
nicht beachtete, wenn er sie in der Gesellschaft traf. Zwar, 
wenn wir das weitere überblicken, dürfen wir in Zweifel ziehen, 
ob „Vergessenheit" die richtige psychologische Bezeichnung für 
das Schicksal dieser Erinnerungen bei unserem Archäologen ist. 
Es gibt eine Art von Vergessen, welche sich durch die Schwie- 
rigkeit auszeichnet, mit welcher die Erinnerung auch durch 
starke äußere Anrufungen erweckt wird, als ob ein innerer 
Widerstand sich gegen deren Wiederbelebung sträubte. Solches 
Vergessen hat den Namen „Verdrängung" in der Psychopatho- 
logie erhalten; der Fall, den unser Dichter uns vorgeführt, 
scheint ein solches Beispiel von Verdrängung zu sein. Nun 
wissen wir ganz allgemein nicht, ob das Vergessen eines Ein- 
druckes mit dem Untergang von dessen Erinnerungsspur im 
Seelenleben verbunden ist; von der „Verdrängung" können wir 
aber mit Bestimmtheit behaupten, daß sie nicht mit dem Unter- 
gang, dem Auslöschen der Erinnerung zusammenfällt. Das Ver- 
drängte kann zwar in der Regel sich nicht ohne weiteres als 
Erinnerung durchsetzen, aber es bleibt leistungs- und wirkungs- 
fähig, es läßt eines Tages unter dem Einfluß einer i^äußeren" 
Einwirkung psychische Abfolgen entstehen, die man als Ver- 
wandlungsprodukte und Abkömmlinge der vergessenen Erinne- 
rung ftuffassen kann, imd die unverständlich bleiben, wenn 
man sie nicht so auffaßt. In den Phantasien Norbert Ha- 
nolds über die Gradiva glaubten wir bereits die Abkömmlinge 
seiner verdrängten Erinnerungen an seine Kinderfreundschaft 
mit der Zoe Bertgang zu erkennen. Mit besonderer Gesetz- 
mäßigkeit darf man eine derartige Wiederkehr des Verdrängten 
erwarten, wenn an den verdrängten Eindrücken das erotische 
Fühlen eines Menschen haftet, wenn sein Liebesleben von der 
Verdrängung betroffen worden ist. Dann behält der alte latei- 



28 DEB WAHN UND DIE TRÄUME 

nische Spruch recht, der vielleicht ursprünglich auf Austrei- 
bung durch äußere Einflüsse, nicht auf innere Konflikte ge- 
münzt ist: Naturam furca expellas, semper redibit. Aber er 
sagt nicht alles, kündigt nur die Tatsache der "Wiederkehr des 
Stückes verdrängter Natur an, und beschreibt nicht die höchst 
merkwürdige Art dieser Wiederkehr, die sich wie durch eine;ii 
tückischen Verrat vollzieht. Grerade dasjenige, was zum Mittel 
der Verdrängung gewählt worden ist — wie die „furca" des 
Spruches — , wird der Träger des Wiederkehrenden; in imd 
hinter dem Verdrängenden macht sich endlich siegreich das 
Verdrängte geltend. Eine bekannte Radierung von Felicien 
Brops illustriert diese wenig beachtete und der Würdigung 
so sehr bedürftige Tatsache eindrucksvoller, als viele Erläu- 
terungen es vermöchten, und zwar an dem vorbildlichen Falle 
der Verdrängung im Leben der Heiligen und Büßer. Ein as- 
ketischer Mönch hat sich — gewiß vor den Versuchungen der 
Welt — zum Bild des gekreuzigten Erlösers geflüchtet. Da 
sinkt dieses Kreuz schattenhaft nieder und strahlend erhebt 
sich an seiner Stelle, zu seinem Ersätze, das Bild eines üppi- 
gen nackten Weibes in der gleichen Situation der Kreuzigung. 
Andere Maler von geringerem psychologischen Scharfblick ha- 
ben in solchen Darstellungen der Versuchung die Sünde frech 
und triumphierend an irgend eine Stelle neben dem Erlöser am 
BIreuze gewiesen. Rops allein hat sie den Platz des Erlösers 
selbst am Kreuze einnehmen lassen ; er scheint gewußt zu haben, 
daß das Verdrängte bei seiner Wiederkehr aus dem Verdrän- 
genden selbst hervortritt. 

Es ist des Verweilens wert, sich in Krankheitsfällen zu 
überzeugen, wie feinfühlig im Zustande der Verdrängung das 
Seelenleben eines Menschen für die Annäherung des Verdräng- 
ten wird, imd wie leise und geringfügige Ähnlichkeiten ge- 
nügen, damit dasselbe hinter dem Verdrängenden und durch 
dieses zur Wirkung gelange. Ich hatte einmal Anlaß, mich 
ärztlich um einen jungen Mann, fast noch Knaben, zu küm- 
mern, der nach der ersten imerwünschten Kenntnisnahme von 
den sexuellen Vorgängen die Flucht vor allen in ihm auf- 
steigenden Gelüsten ergriffen hatte imd sich verschiedener 
Mittel der Verdrängung dazu bediente, seinen Lerneifer stei- 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 29 

gerte, die kindliche Anhänglichkeit an die Mutter übertrieb 
und im ganzen ein kindisches Wesen annahm. Ich will hier 
nicht ausführen, wie gerade im Verhältnis zur Mutter die 
verdrängte Sexualität wieder durchdrang, sondern den selte- 
neren und fremdartigeren Fall beschreiben, wie ein anderes 
seiner Bollwerke bei einem kaum als zureichend zu erkennen- 
den Anlasse zusammenbrach. Als Ablenkimg vom Sexuellen 
genießt die Mathematik den größten Kuf ; schon J. J. Rous- 
seau hatte sich von einer Dame, die mit ihm unzufrieden 
war, raten lassen müssen: Lascia le donne e studia la mate- 
matica. So warf sich auch unser Flüchtling mit besonderem 
Eifer auf die in der Schule gelehrte Mathematik und Geo- 
metrie, bis seine Fassungskraft eines Tages plötzlich vor eini- 
gen scheinbar harmlosen Aufgaben erlahmte. Von zweien dieser 
Aufgaben ließ sich noch der Wortlaut feststellen: Zwei Kör- 
per stoßen aufeinander, der eine mit der Geschwindigkeit . . . 
u. s. w. — Und : Einem Zylinder vom Durchmesser der «Grund- 
fläche m ist ein Kegel einzuschreiben u. s. w. Bei diesen 
für einen anderen gewiß nicht auffälligen Anspielungen an 
das sexuelle Geschehen fand er sich auch von der Mathematik 
verraten und ergriff auch vor ihr die Flucht. 

Wenn Norbert Hanold eine aus dem Leben geholte 
Persönlichkeit wäre, die so die Liebe und die Erinnenmg 
an seine Kinderfreundschaft durch die Archäologie vertrieben 
hätte, so wäre es nur gesetzmäßig und korrekt, daß gerade 
ein antikes Eelief die vergessene Erinnerung an die mit kind- 
lichen Gefühlen Geliebte in ihm erweckt; es wäre sein wohl- 
verdientes Schicksal, daß er sich in das Steinbild der Gradiva 
verliebt, hinter welchem vermöge einer nicht aufgeklärten Ähn- 
lichkeit die lebende und von ihm vernachlässigte Zoe zur Wir- 
kung kommt. 

Fräulein Zoe scheint selbst unsere Auffassung von dem 
Wahn des jungen Archäologen zu teilen, denn das Wohlge- 
fallen, dem sie am Ende ihrer „rückhaltlosen, ausführlichen 
und lehrreichen Strafrede" Ausdruck gegeben, läßt sich kaum 
anders als durch die Bereitwilligkeit begründen, sein Literesse 
für die Gradiva von allem Anfang an auf ihre Person zu 
beziehen. Dieses war es eben, was sie ihm nicht zugetraut 



80 DEB WAHN UND DIE TBÄÜME 

hatte, und was sie trotz aller .Wahnverkleidung doch als sol- 
ches erkannte. An ihm aber hatte nun die psychische Be- 
handlung von ihrer Seite ihre wohltätige .Wirkung vollbracht; 
er fühlte sich frei, da nun der Wahn durch dasjenige ersetzt 
war, wovon er doch nur eine entstellte und ungenügende Ab- 
bildung sein konnte. Er zögerte jetzt auch nicht, sich zu er-,. 
Innern und sie als seine gute, fröhliche, klugsinnige Kameradin 
zu erkennen, die sich im Grunde gar nicht verändert habe. 
Aber etwas anderes fand er höchst sonderbar — 

„Daß jemand erst sterben muß, um lebendig zu werden", 
meinte das Mädchen. „Aber für die Archäologen ist das wohl 
notwendig." (G. p. 141.) Sie hatte ihm offenbar den Umweg noch 
nicht verziehen, den er von der Kinderfreundschaft bis zu dem 
neu sich knüpfenden Verhältnis über die Altertumswissenschaft 
eingeschlagen hatte. 

„Nein, ich meine dein Name . . . Weil Bertgang mit 
Gradiva gleichbedeutend ist und ,die im Schreiten Glänzende' 
bezeichnet." (G. p. 142.) 

Darauf waren nun auch wir nicht vorbereitet. Unser Held 
beginnt sich aus seiner Demütigung zu erheben und eine aktive 
Eolle zu spielen. Er ist offenbar von seinem Wahn völlig 
geheilt, über ihn erhoben, und beweist dies, indem er die 
letzten Fäden des Wahngespinstes selbständig zerreißt. Ge- 
nau so benehmen sich auch die Kranken, denen man den Zwang 
ihrer wahnhaften Gedanken durch Aufdeckung des dahinter- 
steckenden Verdrängten gelockert hat. Haben sie begriffen, so 
bringen sie für die letzten und bedeutsamsten Eätsel ihres 
sonderbaren Zustandes selbst die Lösungen in plötzlich auf- 
tauchenden Einfällen. Wir hatten ja bereits vermutet, daß 
die griechische Abkunft der fabelhaften Gradiva eine dunkle 
Nachwirkung des griechischen Namens Zoe sei, aber an den 
Namen „Gradiva" selbst hatten wir uns nicht herangewagt, 
ihn hatten wir als freie Schöpfung der Phantasie Norbert 
Hanolds gelten lassen. Und siehe da, gerade dieser Name 
erweist sich nun als Abkomme, ja eigentlich als Übersetzung 
des verdrängten Familiennamens der angeblieh vergessenen Kin- 
dergeliebten ! 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 31 

Die Herleitung und die Auflösung des "Wahnes sind nun 
vollendet. .Was noch beim Dichter folgt, darf wohl dem har- 
monischen Abschluß der Erzählimg dienen. Es kann uns im 
Hinblick auf Zukünftiges nur wohltuend berühren, wenn die 
Rehabilitierung des Mannes, der früher eine so klägliche Rolle 
als Heilungsbedürftiger spielen mußte, weiterschreitet und es 
ihm nun gelingt, etwas von den Affekten, die er bisher er- 
duldet, bei ihr zu erwecken. So trifft es sich, daß er sie 
eifersüchtig macht durch die Erwähnung der sympathischen 
jungen Dame, die vorhin ihr Beisammensein im Hause des 
Meleager gestört, und durch das Geständnis, daß diese die 
erste gewesen, die ihm vortrefflich gefallen hat. Wenn Zoe 
dann einen kühlen Abschied mit der Bemerkung nehmen will: 
jetzt sei ja alles wieder zur Vernunft gekommen, sie selbst 
nicht am wenigsten; er könne Gisa Hartleben, oder wie sie 
jetzt heiße, wieder aufsuchen, um ihr bei dem Zweck ihres 
Aufenthaltes in Pompeji wissenschaftlich behilflich zu sein; 
sie aber müsse jetzt in den Albergo del Sole, wo der Vater 
mit dem Mittagessen auf sie wartet; vielleicht sähen sie sich 
beide noch einmal in einer tJesellschaft in Deutschland oder 
auf dem Monde: so mag er wieder die lästige Fliege zum 
Vorwand nehmen, um sich zuerst ihrer Wange und dann ihrer 
Lippen zu bemächtigen und die Aggression, die nun einmal 
Pflicht des Mannes im Liebesspiel ist, ins Werk zu setzen. 
Ein einziges Mal noch scheint ein Schatten auf ihr Glück zu 
fallen, als Zoe mahnt, jetzt müsse sie aber wirklich zu ihrem 
Vater, der sonst im Sole verhungert. „Dein Vater — was wird 
der — ?" (G. p. 147.) Aber das kluge Mädchen weiß die Sorge raset 
zu beschwichtigen: „Wahrscheinlich wird er nichts, ich bin 
kein unentbehrliches Stück in seiner zoologischen Sammlung; 
war' ich das, hätte sich mein Herz vielleicht nicht so unklug 
an dich gehängt." Sollte der Vater aber ausnahmsweise an- 
derer Meinung sein wollen als sie, so gäbe es ein sicherem 
Mittel. Hanold brauchte nur nach Capri hinüberzufahren, 
dort eine Lacerta faraglionensis zu fangen, wofür er die Tech-^ 
nik an ihrem kleinen Finger einüben könne, das Tier dann 
hier freizulassen, vor den Augen des Zoologen wieder einzu- 
fangen und ihm die Wahl zu lassen zwischen der Faraglio* 



3« DER WAHN UND DIE TRÄUME 

ncnsis auf dem Festlande imd der Tochter. Ein Vorschlag, 
in dem der Spott, wie man leicht merkt, mit Bitterkeit ver- 
mengt ist, eine Mahnung gleichsam an den Bräutigam, sich 
nicht allzu getreu an das Vorbild zu halten, nach dem ihn 
die Geliebte ausgewählt hat. Norbert Hanold beruhigt uns 
auch hierüber, indem er die große Umwandlung, die mit ihm 
vorgefallen ist, in allerlei scheinbar kleinen Anzeichen zum 
Ausdruck bringt. Er spricht den Vorsatz aus, die Hochzeits- 
reise mit seiner Zoe nach Italien und nach Pompeji zu ma- 
chen, als hätte er sich niemals über die Hochzeitsreisenden 
August und Grete entrüstet. Es ist ihm ganz aus dem Ge- 
dächtnis geschwunden, was er gegen diese glücklichen Paare ge- 
fühlt, die sich so überflüssigerweise mehr als hundert Meilen von 
ihrer deutschen Heimat entfernt haben. Gewiß hat der Dichter 
recht, wenn er solche Gedächtnisschwächung als das wertvollste 
Zeichen einer Sinnesänderung aufführt. Zoe erwidert auf 
den kundgegebenen Reisezielwunsch ihres „gewissermaßen 
gleichfalls aus der Verschüttung wieder ausge- 
grabenen Kindheitsfreundes" (G. p. 150), sie fühle sich 
zu solcher geographischen Entscheidung doch noch nicht völlig 
lebendig genug. 

Die schöne Wirklichkeit hat nun den Wahn besiegt, doch 
harrt des letzteren, ehe die Beiden Pompeji verlassen, noch 
■eine Ehrung. An dem Herkulestor angekommen, wo am An- 
fang der Strada consolare alte Trittsteine die Straße über- 
kreuzen, hält Norbert Hanold an und bittet das Mädchen 
voranzugehen. Sie versteht ihn, „und mit der Linken das 
Kleid ein wenig raffend, schreitet die Gradiva rediviva 
Zoe Bertgang von ihm mit traumhaft dreinblickenden 
Augen umfaßt, in ihrer ruhig-behenden Gangart durch den 
Sonnenglanz über die Trittsteine zur anderen Straßenseite hin- 
über". Mit dem Triumph der Erotik kommt jetzt zur An- 
erkennung, was auch am Wahne schön und wertvoll war. 

Mit dem letzten Gleichnis von dem „aus der Verschüttung 
ausgegrabenen Kindheitsfreunde" hat tins aber der Dichter den 
Schlüssel zur Symbolik in die Hand gegeben, dessen sich der 
Wahn des Helden bei der Verkleidung der verdrängten Er- 
innerung bediente. Es gibt wirklich keine bessere Analogie für 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 83 

die Verdrängung, die etwas Seelisches zugleich unzugänglich 
macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji 
zum Schicksal geworden ist, und aus der die Stadt durch 
die Arbeit des Spatens wieder erstehen konnte. Darum mußte 
der junge Archäologe das Urbild des Beliefs, welches ihn an 
seine vergessene Jugendgeliebte mahnte, in der Phantasie nach 
Pompeji versetzen. Der Dichter aber hatte ein gutes Hecht, 
bei der wertvollen Ähnlichkeit zu verweilen, die sein feiner 
Sinn zwischen einem Stück des seelischen Geschehens beim Ein- 
zelnen und einem vereinzelten historischen Vorgang in der Ge- 
schichte der Menschheit aufgespürt. 

n. 

Es war doch eigentlich nur unsere Absicht, die zwei oder 
drei Träume, die sich in der Erzählung „Gradiva" eingestreut 
finden, mit Hilfe gewisser analytischer Methoden zu unter- 
suchen; wie kam es denn, daß wir uns zur Zergliederimg der 
ganzen Geschichte imd zur Prüfung der seelischen Vorgänge bei 
den beiden Hauptpersonen fortreißen ließen? Nim, das war 
kein überflüssiges Stück Arbeit, sondern eine notwendige Vor- 
arbeit. Auch wenn wir die wirklichen Träume einer realen 
Person verstehen wollen, müssen wir ims intensiv um den 
Charakter imd die Schicksale dieser Person kümmern, nicht 
nur ihre Erlebnisse kurz vor dem Traume, sondern auch solche 
in entlegener Vergangenheit in Erfahrung bringen. Ich meine 
sogar, wir sind noch immer nicht frei, uns unserer eigentlichen 
Aufgabe zuzuwenden, müssen noch bei der Dichtung selbst ver- 
weilen und weitere Vorarbeiten erledigen. 

Unsere Leser werden gewiß mit Befremden bemerkt ha- 
ben, daß wir Norbert Hanold imd Zoe Bertgang in allen 
ihren seelischen Äußerungen imd Tätigkeiten bisher behandelt 
haben, als wären sie wirkliche Individuen und nicht Geschöpfe 
eines Dichters, als wäre der Sinn des Dichters ein absolut 
durchlässiges, nicht ein brechendes oder trübendes Medium. Und 
um so befremdender muß imser Vorgehen erscheinen, als der 
Dichter auf die "Wirklichkeitsschilderung ausdrücklich ver- 
zichtet, indem er seine Erzählung ein „Phantasiestück" be- 
nennt. Wir finden aber alle seine Schilderimgen der "Wirk- 

Frend, Dtr Wfthn und die Trtame. 3 



34 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

lichkeit so getreulich nachgebildet, daß wir keinen Widerspruch 
äußern würden, wenn die „Gradiva" nicht ein Phantasiestück, 
sondern eine psychiatrische Studie hieße. Nur in zwei Punkten 
Hat sich der Dichter der ihm zustehenden Freiheit bedient, um 
Voraussetzungen zu schaffen, die nicht im Boden der realen 
Gesetzmäßigkeit zu wurzeln scheinen. Das erstemal, indem er 
den jungen Archäologen ein unzweifelhaft antikes Reliefbildnis 
finden läßt, welches nicht nur in der Besonderheit der Fuß- 
stellung beim Schreiten, sondern in allen Details der Gesichts- 
bildung und Körperhaltung eine so viel später lebende Person 
nachahmt, so daß er die leibliche Erscheinung dieser Person 
für das lebend gewordene Steinbild halten kann. Das zweite- 
mal, indem er ihn die Lebende gerade in Pompeji treffen läßt, 
wohin nur seine Phantasie die Verstorbene versetzte, während 
er sich eben durch die Reise nach Pompeji von der Lebenden, 
die er auf der Straße seines Wohnortes bemerkt hatte, ent- 
fernte. Allein diese zweite Verfügung des Dichters ist keine 
gewaltsame Abweichung von der Lebensmöglichkeit; sie nimmt 
eben nur den Zufall zur Hilfe, der unbestritten bei so vielen 
menschlichen Schicksalen mitspielt, und verleiht ihm überdies 
einen guten Sinn, da dieser Zufall das Verhängnis widerspie- 
gelt, welches bestimmt hat, daß man gerade durch das Mittel 
der Flucht sich dem ausliefert, vor dem man flieht. Phan- 
tastischer und völlig der Willkür des Dichters entsprungen er- 
scheint die erste Voraussetzung, welche alle weiteren Bege- 
benheiten trägt, die so weitgehende Ähnlichkeit des Stein- 
bildes mit dem lebenden Mädchen, wo die Nüchternheit die 
Übereinstimmung auf den einen Zug der Fußhaltung beim 
Schreiten einschränken möchte. Man wäre versucht, hier zur 
Anknüpfung an die Realität die eigene Phantasie spielen zu 
lassen. Der Name Bertgang könnte darauf deuten, daß sich 
die Frauen dieser Familie schon in alten Zeiten durch solche 
Eigentümlichkeit des schönen Ganges ausgezeichnet haben, und 
durch Geschlechtsabfolge hingen die germanischen Bertgang 
mit jenen Römern zusammen, von deren Stamm eine Frau den an- 
tiken Künstler veranlaßt hatte, die Eigentümlichkeit ihres Gan- 
ges im Steinbild festzuhalten. Da aber die einzelnen Variationen 
der menschlichen Gestaltung nicht imabhängig von einander 



IN W. JENSENS „GBADIVA" 35 

sind, und tatsächlich auch in unserer Mitte immer wieder die 
antiken Typen auftauchen, die wir in den Sammlungen antref- 
fen, so wäre es nicht ganz unmöglich, daß eine moderne Bert- 
gang diß Gestalt ihrer antiken Ahnfrau auch in allen an- 
diBren Zügen ihrer körperlichen Bildung wiederholte. Klüger 
als solche Spekulation dürfte wohl sein, sich bei dem Dichter 
selbst nach den Quellen zu erkundigen, aus denen ihm dieses 
Stück seiner Schöpfung erflossen ist; es ergäbe sich uns dann 
eine gute Aussicht, wiederum ein Stück vermeintlicher "Willkür 
in Gesetzmäßigkeit aufzulösen. Da uns aber der Zugang zu 
den Quellen im Seelenleben des Dichters nicht frei steht, so 
lassen wir ihm das Becht ungeschmälert, eine durchaus lebens- 
wahre Entwicklung auf eine unwahrscheinliche Voraussetzung 
aufzubauen, ein Becht, das z. B. auch Shakespeare im 
„King Lear" in Anspruch genommen hat. 

Sonst aber, das wollen wir wiederholen, hat uns der 
Dichter eine völlig korrekte psychiatrische Studie geliefert, an 
welcher wir unser Verständnis des Seelenlebens messen dürfen, 
eine Kranken- und Heilungsgeschichte, wie zur Einschärfung 
gewisser fundamentaler Lehren der ärztlichen Seelenkunde be- 
stimmt. Sonderbar genug, daß der Dichter dies getan haben 
sollte! Wie nun, wenn er auf Befragen diese Absicht ganz 
und gar in Abrede stellte? Es ist so leicht anzugleichen und 
unterzulegen; sind es nicht vielmehr wir, die in die schöne 
poetische Erzählimg einen Sinn hineingeheimnissen, der dem 
Dichter sehr ferne liegt? Möglich; wir wollen später noch 
darauf zurückkommen. Vorläufig aber haben wir versucht, uns 
vor solch tendenziöser Ausdeutung selbst zu bewahren, indem 
wir die Erzählung fast durchwegs aus den eigenen Worten des 
Dichter wiedergaben, Text wie Kommentar von ihm selbst be- 
sorgen ließen. Wer unsere Beproduktion mit dem Wortlaut 
der „Gradiva" vergleichen will, wird uns dies zugestehen müssen. 

Vielleicht erweisen wir unserem Dichter auch einen schlech- 
ten Dienst im Urteil der allermeisten, wenn wir sein Werk 
für eine psychiatrische Studie erklären. Der Dichter soll der 
Berührung mit der Psychiatrie aus dem Wege gehen, hören 
wir sagen, und die Schilderung krankhafter Seelenzustände den 
Äizten überlassen. In Wahrheit hat kein richtiger Dichter je 

3* 



86 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

dieses Gkbot geachtet. Die Schilderung des menschlichen Seelen- 
lebens ist ja seine eigentlichste Domäne; er war jederzeit der 
Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen 
Psychologie. Die Grenze aber zwischen den normal und krank- 
haft benannten Seelenzuständen ist zum Teil eine konventio- 
nelle, zum anderen eine so fließende, daß wahrscheinlich jeder 
von uns sie im Laufe eines Tages mehrmals überschreitet. 
Anderseits täte die Psychiatrie unrecht, wenn sie sich dauernd 
auf das Studium jener schweren und düsteren Erkrankungen 
einschränken wollte, die durch grobe Beschädigungen des 
feinen Seelenapparats entstehen. Die leiseren imd ausgleichs- 
fähigen Abweichungen vom Gestinden, die wir heute nicht 
weiter als bis zu Störungen im psychischen BIräftespiel zurück- 
verfolgen können, fallen nicht weniger unter ihr Interesse; ja 
erst mittels dieser kann sie die Gesundheit wie die Erschei- 
nungen der schweren Krankheit verstehen. So kann der Dichter 
dem Psychiater, der Psychiater dem Dichter nicht ausweichen, 
und die poetische Behandlung eines psychiatrischen Themas darf 
ohne Einbuße an Schönheit korrekt ausfallen. 

Korrekt ist nun wirklich diese dichterische Darstellung 
einer Krankheits- und Behandlungsgeschichte, die wir nach 
Abschluß der Erzählimg und Sättigung der eigenen Spannung 
besser übersehen können und nun mit den technischen Aus- 
drücken unserer Wissenschaft reproduzieren wollen, wobei uns 
die Nötigung zur Wiederholung von bereits Gesagtem nicht 
stören soll. 

Der Zustand Norbert Hanolds wird vom Dichter oft 
genug ei^ „Wahn" genannt, und auch wir haben keinen Grund, 
diese Bezeichnimg zu verwerfen. Zwei Hauptcharaktere können 
wir vom „Wahn" angeben, durch welche er zwar nicht er- 
schöpfend beschrieben, aber doch von anderen Störimgen kennt- 
lich gesondert ist. Er gehört erstens zu jener Gruppe von 
Krankheitszuständen, denen eine unmittelbare Einwirkimg aufs 
Körperliche nicht zukommt, sondern die sich nur durch see- 
lische Anzeichen ausdrücken, und er ist zweitens durch die 
Tatsache gekennzeichnet, daß bei ihm „Phantasien" zur Ober- 
herrschaft gelangt sind, d. h. Glauben gefimden und Einfluß 
auf das Handeln genommen haben. Erinnern wir uns der Beise 



IN W. JENSENS „GRADIVA« 87 

nach Pompeji, um in der Asche nach den besonders gestalteten 
Fnßabdrücken der Gradiva zu suchen, so haben wir in ihr 
ein prächtiges Beispiel einer Handlung unter der Herrschaft 
des Wahnes. Der Psychiater würde den Wahn Norbert Hanolds 
vielleicht der großen Gruppe Paranoia zurechnen und etwa als 
eine „fetischistische Erotomanie" bezeichnen, weil ihm die Ver- 
liebtheit in das Steinbild das Auffälligste wäre, und weil seiner 
alles vergröbernden Auffassung das Interesse des jungen Ar- 
chäologen für die Füße und Fußstellungen weiblicher Personen 
als ,^Fetischismus" verdächtig erscheinen muß. Indes haben alle 
solche Benennungen und Einteilungen der verschiedenen Arten 
von Wahn nach ihrem Inhalt etwas Mißliches und Unfrucht- 
bares an sich.*) 

Der gestrenge Psychiater würde femer unseren Helden als 
Person, die fähig ist, auf Grund so sonderbarer Vorliebe einen 
Wahn zu entwickeln, sofort zum Degenere stempeln und nach 
der Heredität forschen, die ihn unerbittlich in solches Schick- 
sal getrieben hat. Hierin folgt ihm aber der Dichter nicht; 
mit gutem Grunde. Er will uns ja den Helden näher bringen, 
uns die ,^Einfühlung" erleichtem; mit der Diagnose ,^Degenere", 
mag sie nun wissenschaftlich zu rechtfertigen sein oder nicht, 
ist uns der junge Archäologe sofort ferne gerückt; denn wir 
Leser sind ja die Normalmenschen und das Maß der Mensch- 
heit. Auch die hereditären und konstitutionellen Vorbedingun- 
gen des Zustandes kümmern den Dichter wenig; dafür vertieft 
er sich in die persönliche seelische Verfassung, die einem sol- 
chen Wahn den Ursprung geben kann. 

Norbert Hanold verhält sich in einem wichtigen Punkte 
ganz anders als ein gewöhnliches Menschenkind. Er hat kein 
Interesse für das lebende Weib; die Wissenschaft, der er dient, 
hat ihm dieses Interesse genommen und es auf die Weiber von 
Stein oder Bronze verschoben. Man halte dies nicht für eine 
gleichgültige Eigentümlichkeit; sie ist vielmehr die Grund- 
voraussetzung der erzählten Begebenheit, denn eines Tages er- 
eignet es sich, daß ein einzelnes solches Steinbild alles Inter- 



*) Der FaU N. H. mfkAte in WirkUcbkeit alt hyrteriMher, nicht als paia- 
noiieliflr Wahn bezeichnet werden. Die Kennzeichen der Paranoia werden 
hier TermiSt 



DER WAHN UND DIE TRÄUHE 



für sich beansprucht, das sonst nur dem lebenden Weib 
gebührt, und damit ist der Wahn gegeben. Vor unseren Augen 
entrollt sich dann, wie dieser Wahn durch eine glückliche 
Fügung geheilt, das Interesse vom Stein wieder auf eine Le- 
bende zurückgeschoben wird. Durch welche Einwirkungen unser 
Held in den Zustand der Abwendung vom Weibe geraten ist, 
laßt uns der Dichter nicht verfolgen; er gibt uns nur an, 
solches Verhalten sei nicht durch seine Anlage erklart, die 
vielmehr ein Stück phantastisches — wir dürfen ergänzen : ero- 
tisches — Bedürfnis mit einschließt. Auch ersehen wir von 
später her, daß er in seiner Kindheit nicht von anderen Kin- 
dern abwich; er hielt damals eine Kinderfreundschaft mit 
einem kleinen Mädchen, war unzertrennlich von ihr, teilte mit 
ihr seine kleinen Mahlzeiten, puffte sie auch und ließ sich 
von ihr zausen. In solcher Anhänglichkeit, solcher Vereinigung 
von Zärtlichkeit und Aggression äußert sich die unfertige 
Erotik des Kinderlebens, die ihre Wirkungen erst nachträglich, 
aber dann unwiderstehlich äußert, und die während der Kinder- 
zeit selbst nur der Arzt und der Dichter als Erotik zu er- 
kennen pflegen. Unser Dichter gibt uns deutlich zu verstehen, 
daß auch er es nicht anders meint, denn er läßt bei seinem 
Helden bei geeignetem Anlaß plötzlich ein lebhaftes Interesse 
für Gang imd Fußhaltimg der Frauen erwachen, das ihn bei 
der Wissenschaft wie bei den Frauen seines Wohnortes in den 
Verruf eines Fußfetischisten bringen muß, das sich uns aber 
notwendig aus der Erinnerung an diese Kindergespielin ab- 
leitet. Dieses Mädchen zeigte gewiß schon als Kind die Eigen- 
heit des schönen Ganges mit fast senkrecht aufgestellter Fuß- 
spitze beim Schreiten, und durch die Darstellung eben dieses 
Ganges gewinnt später ein antikes Steinrelief für Norbert 
Hanold jene große Bedeutung. Fügen wir übrigens gleich 
hinzu, daß der Dichter sich bei der Ableitung der merkwür- 
digen Erscheinung des Fetischismus sich in voller Überein- 
stimmung mit der Wissenschaft befindet. Seit A. Binet 
versuchen wir wirklich, den Fetischismus auf erotische Eind- 
heitseindrücke zurückzuführen. 

Der Zustand der dauernden Abwendimg vom Weibe er- 
gibt die persönliche Eignung, wie wir zu sagen pflegen: die 



IN W. JENSENS „GBADIVA" 39 

Disposition für die Bildung eines Wahnes. Die Entwicklung 
der Seelenstömng setzt mit dem Momente ein, da ein zufälli- 
ger Eindruck die vergessenen und wenigstens spurweise ero- 
tisch betonten Kindererlebnisse aufweckt. Aufweckt ist aber 
gewiß nicht die richtige Bezeichnung, wenn wir, was weiter 
erfolgt, in Betracht ziehen. Wir müssen die korrekte Darstel- 
limg des Dichters in kunstgerechter psychologischer Ausdrucks- 
weise wiedergeben. Norbert Hanold erinnert sich nicht beim 
Anblick des Beliefs, daß er solche Fußstellung schon bei seiner 
Jugendfreundin gesehen hat; er erinnert sich überhaupt nicht, 
und doch rührt alle Wirkung des Beliefs von solcher Anknüpfung 
an den Eindruck in der Kindheit her. Der Kindheitseindruck 
wird also rege, wird aktiv gemacht, so daß er Wirkungen zu 
äußern beginnt, er kommt aber nicht zum Bewußtsein, er 
bleibt „unbewußt", wie wir mit einem in der Psychopatho- 
logie unvermeidlich gewordenen Terminus heute zu sagen pfle- 
gen. Dieses Unbewußte möchten wir allen Streitigkeiten der 
Philosophen und Naturphilosophen, die oft nur etymologische 
Bedeutung haben, entzogen sehen. Für psychische Vorgänge, 
die sich aktiv benehmen und dabei doch nicht zum Bewußtsein 
der betreffenden Person gelangen, haben wir vorläufig keinen 
besseren Namen, und nichts anderes meinen wir mit unserem 
„Unbewußtsein". Wenn manche Denker uns die Existenz eines 
solchen Unbewußten als widersinnig bestreiten wollen, so glau* 
ben wir, sie hätten sich niemals mit den entsprechenden seeli- 
schen Phänomenen beschäftigt, stünden im Banne der regel* 
mäßigen Erfahrung, daß alles Seelische, was aktiv und inten- 
siv wird, damit gleichzeitig auch bewußt wird, und hätten 
eben noch zu lernen, was unser Dichter sehr wohl weiß, /laß 
es allerdings seelische Vorgänge gibt, die, trotzdem sie inten- 
siv sind und energische Wirkungen äußern, dennoch dem Be- 
wußtsein ferne bleiben. 

Wir haben vorhin einmal ausgesprochen, die Erinnerungen 
an den Kinderverkehr mit Zoe befinden sich bei Norbert Ha- 
nold im Zustande der „Verdrängung"; nun haben wir sie 
„unbewußte" Erinnerungen geheißen. Da müssen wir wohl 
dem Verhältnis der beiden Kunstworte, die ja im Sinne zu- 
sammenzufallen scheinen, einige Aufmerksamkeit zuwenden. Es 



40 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

ißt nicht schwer, darüber Aufklärung zu geben. „Unbewußt" 
ißt der weitere Begriff, „verdrängt" der engere. Alles was 
verdrängt ist, ist unbewußt; aber nicht von allem Unbewußten 
können wir behaupten, daß es verdrängt sei. Hätte Hanold 
beim Anblick des Eeliefs sich der Gangart seiner Zoe erinnert, 
so wäre eine früher unbewußte Erinnerung bei ihm gleichzeitig 
aktiv und bewußt geworden und hätte so gezeigt, daß sie 
früher nicht verdrängt war- „Unbewußt" ist ein rein deskrip- 
tiver, in mancher Hinsicht unbestimmter, ein sozusagen sta- 
tischer Terminus, „verdrängt" ist ein dynamischer Ausdruck, 
der auf das seelische Kräftespiel Bücksicht nimmt und be- 
sagt, es sei ein Bestreben vorhanden, alle psychischen Wir- 
kungen, darunter auch die des Bewußtwerdens, zu äußern, aber 
auch eine Gregenkraft, ein Widerstand, der einen Teil dieser 
psychischen "Wirkungen, darunter wieder das Bewußtwerden, zu 
verhindern vermöge. Kennzeichen des Verdrängten bleibt eben, 
daß es sich trotz seiner Intensität nicht zum Bewußtsein zu 
bringen vermag. In dem Falle Hanolds handelt es sich also 
von dem Auftauchen des Eeliefs an um ein verdrängtes Un- 
bewußtes, kurzweg um ein Verdrängtes. 

Verdrängt sind bei Norbert Hanold die Erinnerungen 
an seinen IQnderverkehr mit dem schön schreitenden Mädchen, 
aber dies ist noch nicht die richtige Betrachtung der psycho- 
logischen Sachlage. Wir bleiben an der Oberfläche, so lange 
wir nur von Erinnerungen und Vorstellungen handeln. Das 
einzig Wertbare im Seelenleben sind vielmehr die Gefühle; alle 
Seelenkräfte sind nur durch ihre Eignung, Gefühle zu erwecken, 
bedeutsam. Vorstellungen werden nur verdrängt, weil sie an 
Gefühlsentbindungen geknüpft sind, die nicht zu stände kom- 
men sollen; es wäre richtiger zu sagen, die Verdrängung be- 
treffe die Gefühle, nur sind uns diese nicht anders als in 
ihrer Bindung an Vorstellungen faßbar. Verdrängt sind bei 
Norbert Hanold also die erotischen Gefühle, und da seine 
Erotik kein anderes Objekt kennt oder gekannt hat, als in 
seiner Kindheit die Zoe Bertgang, so sind die Erinnerungen 
an diese vergessen. Das antike Eeliefbild weckt die schlum- 
mernde Erotik in ihm auf und macht die Kindheitserinnenm- 
gen aktiv. Wegen eines in ihm bestehenden Widerstandes ge- 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 41 

gen die Erotik können, diese Erinnerungen nur als anbewußte 
wirksam werden. .Was sich nun weiter in ihm abspielt, ist 
ein Kampf zwischen der Macht der Erotik und den sie ver- 
drängenden Ejräften; was sich von diesem Kampf äußert, ist 
ein ."Wahn. ^ 

Unser Dichter hat zu motivieren unterlassen, woher die 
Verdrängung des Liebeslebens bei seinem Helden rührt; die 
Beschäftigung mit der Wissenschaft ist ja nur das Mittel, 
dessen sich die Verdrängung bedient; der Arzt müßte hier 
tiefer gründen, vielleicht ohne in seinem Falle auf den Orund 
zu geraten. Wohl aber hat der Dichter, wie wir mit Bewun- 
derung hervorgehoben haben, uns darzustellen nicht versäumt, 
wie die Erweckung der verdrängten Erotik gerade aus dem 
Kreise der zur Verdrängung dienenden Mittel erfolgt. Es ist 
mit Eecht eine Antike, das Steinbild eines Weibes, durch wel- 
ches imser Archäologe aus seiner Abwendung von der Liebe 
gerissen und gemahnt wird, dem Leben die Schuld abzutragen, 
mit der wir von unserer Geburt an belastet sind. 

Die ersten Äußerungen des nun in Hanold durch das 
Beliefbild angeregten Prozesses sind Phantasien, welche mit 
der so dargestellten Person spielen. Als etwas „Heutiges'^ 
im besten Sinne erscheint ihm das Modell, als hätte der Künst- 
ler die auf der Straße Schreitende „nach dem Leben" fest- 
gehalten. Den Namen „Gradiva" verleiht er dem antiken 
Mädchen, den er nach dem Beiwort des zum Kampfe ausschrei- 
tenden Kriegsgottes, des Mars Gradivus, gebildet; mit immer 
mehr Bestimmungen stattet er ihre Persönlichkeit aus. Sie mag 
die Tochter eines angesehenen Mannes sein, vielleicht eines Pa- 
triziers, der mit dem Tempeldienst einer Gottheit in Ver- 
bindung stand, griechische Herkunft glaubt er ihren Zü- 
gen abzusehen, und endlich drängt es ihn, sie ferne vom Gte- 
triebe einer Großstadt in das stillere Pompeji zu versetzen, 
wo er sie über die Lavatrittsteine schreiten läßt, die den 
Übergang von einer Seite der Straße zur anderen ermöglichen. 
Willkürlich genug erscheinen diese Leistungen der Phantasie 
und doch wieder harmlos unverdächtig. Ja noch dann, als sich aus 
ihnen zum erstenmal ein Antrieb zum Handeln ergibt, als der 
Archäologe von dem Problem bedrückt, ob solche Fußstellung 



4« DER WAHN UND DIE TRÄUME 

auch der Wirklichkeit entspreche, Beobachtungen nach dem 
Leben anzustellen beginnt, um den zeitgenössischen Frauen und 
Mädchen auf die Füße zu sehen, deckt sich dieses Tun durch ihm 
bewußte wissenschaftliche Motive, als wäre alles Interesse 
für das Steinbild der Gradiva aus dem Boden seiner fachlichen 
Beschäftigung mit der Archäologie entsprossen. Die Frauen 
und Mädchen auf der Straße, die er zu Objekten seiner Unter- 
suchung nimmt, müssen freilich eine andere, grob erotische 
Auffassung seines Treibens wählen, und wir müssen ihnen recht 
geben. Für uns leidet es keinen Zweifel, daß Hanold die Mo- 
tive seiner Forschung so wenig kennt wie die Herkunft seiner 
Phantasien über die Gradiva. Diese letzteren sind, wie wir 
später erfahren, Anklänge an seine Erinnerungen an die Ju- 
gendgeliebte, Abkömmlinge dieser Erinnerungen, Umwandlun- 
gen und Entstellungen derselben, nachdem es ihnen nicht ge^ 
lungen ist, sich in unveränderter Form zum Bewußtsein zu 
bringen. Das vorgeblich ästhetische Urteil, das Steinbild stelle 
etwas „Heutiges" dar, ersetzt das Wissen, daß solcher Gang 
einem ihm bekannten, in der Gegenwart über die Straße 
schreitenden Mädchen angehöre; hinter dem Eindruck „nach 
dem Leben" und der Phantasie ihres Griechentums verbirgt sich 
die Erinnerung an ihren Namen Zoe, der auf Griechisch Leben 
bedeutet; Gradiva ist, wie uns der am Ende vom Wahn Ge- 
heilte aufklärt, eine gute Übersetzung ihres Familiennamens 
Bertgang, welcher so viel bedeutet wie „im Schreiten glän- 
zend oder prächtig" ; die Bestimmungen über ihren Vater stam- 
men von der Kenntnis, daß Zoe Bertgang die Tochter eines 
angesehenen Lehrers der Universität sei, die sich wohl als 
Tempeldienst in die Antike übersetzen läßt. Nach Pompeji end- 
lich versetzt sie seine Phantasie, nicht „weil ihre ruhige, stille 
Art es zu fordern schien", sondern weil sich in seiner Wissen- 
schaft keine andere imd keine bessere Analogie mit dem merk- 
würdigen Zustand finden läßt, in dem er durch eine dunkle 
Kundschaft seine Erinnerungen an seine Kinderfreundschaft ver- 
spürt. Hat er einmal, was ihm so nahe liegt, die eigene Kind- 
heit mit der klassischen Vergangenheit zur Deckung gebracht, 
so ergibt die Verschüttung Pompejis, dies Verschwinden mit 
Erhaltung des Vergangenen, eine treffliche Ähnlichkeit mit der 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 43 

Verdrängung, von der er durch sozusagen „endopsychische" 
Wahrnehmung Kenntnis hat. Es arbeitet dabei in ihm die^ 
selbe Symbolik, die zum Schlüsse der Erzählung der Dichter 
das Mädchen bewußterweise gebrauchen läßt. 

„Ich sagte mir, irgend etwas Interessantes würde ich wohl 
schon allein hier ausgraben. Freilich auf den Fund, den ich 

gemacht, hatte ich mit keinem Gedanken gerechnet." 

(G. p. 124.) — Zu Ende (G. p. 150) antwortet dann das Mädchen auf 
den Beisezielwunsch „ihres gewissermaßen gleichfalls aus der 
Verschüttung wieder ausgegrabenen Kindheitsfreundes". 

So finden wir also schon bei den ersten Leistungen von 
Hanolds Wahnphantasien und Handlungen eine zweifache 
Determinierung, eine Ableitbarkeit aus zwei verschiedenen 
Quellen. Die eine Determinierung ist die, welche Hanold 
selbst erscheint, die andere die, welche sich uns bei der Nach- 
prüfung seiner seelischen Vorgänge enthüllt. Die eine ist, auf 
die Person Hanolds bezogen, die ihm bewußte, die andere, die 
ihm völlig unbewußte. Die eine stammt ganz aus dem Vor- 
stellungskreis der archäologischen Wissenschaft, die andere 
aber rührt von dem in ihm rege gewordenen verdrängten 
IQndheitserinnerungen und den an ihnen haftenden Gefühls- 
tricben her. Die eine ist wie oberflächlich imd verdeckt die 
andere, die sich gleichsam hinter ihr verbirgt. Man könnte 
sagen, die wissenschaftliche Motivierung diene der unbewußten 
erotischen zum Vorwand, imd die Wissenschaft habe sich ganz 
in den Dienst des Wahnes gestellt. Aber man darf auch nicht 
vergessen, daß die unbewußte Determinierung nichts anderes 
durchziusetzen vermag, als was gleichzeitig der bewußten wissen- 
schaftlichen genügt. Die Symptome des Wahnes — Phantasien 
wie Handlungen — sind eben Ergebnisse eines Kompromisses 
zwischen den beiden seelischen Strömungen, und bei einem Kom- 
promiß ist den Anforderungen eines jeden der beiden Teile 
Bechnung getragen worden; ein jeder Teil hat aber auch auf 
ein Stück dessen, was er durchsetzen wollte, verzichten müssen. 
Wo ein Kompromiß zu stände gekommen, da gab es einen Kampf, 
hier den von uns angenommenen Konflikt zwischen der unter- 
drückten Erotik und den sie in der Verdrängung erhaltenden 
Mächten. Bei der Bildung eines Wahnes geht dieser Kampf 



44 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

eigentlich nie zu Ende. Ansturm und Widerstand erneuern sich 
nach jeder Kompromißbildung, die sozusagen niemals voll ge- 
nügt. Dies weiß auch unser Dichter und darum läßt er ein 
Gefühl der Unbefriedigung, eine eigentümliche Unruhe dieses 
Stadium der Störung bei seinem Helden beherrschen, als Vor- 
läufer und als Bürgschaft weiterer Entwicklungen. 

Diese bedeutsamen Eigentümlichkeiten der zweifachen De- 
terminierung für Phantasien und Entschlüsse, der Bildung von 
bewußten Vorwänden für Handlungen, zu deren Motivierimg 
das Verdrängte den größeren Beitrag geliefert hat, werden ims 
im weiteren Fortschritt der Erzählung noch öfters, vielleicht 
noch deutlicher, entgegentreten. Und dies mit vollem Eechte, 
denn der Dichter hat hiemit den niemals fehlenden Haupt- 
charakter der krankhaften Seelenvorgänjge erfaßt und zur Dar- 
stellung gebracht. 

Die Entwicklung des .Wahnes bei Norbert Hanold 
schreitet mit einem Traume weiter, der, durch kein neues Er- 
eignis veranlaßt, ganz aus seinem von einem Konflikt erfüllten 
Seelenleben zu rühren scheint. Doch halten wir ein, ehe wir 
daran gehen zu prüfen, ob der Dichter auch bei der Bildung 
seiner Träume unserer Erwartung eines tieferen Verständnisses 
entspricht. Fragen wir uns vorher, was die psychiatrische 
Wissenschaft zu seinen Voraussetzungen über die Entstehung 
eines Wahnes sagt, wie sie sich zur EoUe der Verdrängung 
und des Unbewußten, zum Konflikt und zur Kompromißbildung 
stellt. Im kurzen, ob die dichterische Darstellung der Genese 
eines Wahnes vor dem Bichtspruch der Wissenschaft bestehen 
kann. ^^ 

Und da müssen wir die vielleicht unerwartete Antwort 
geben, daß es sich in Wirklichkeit leider ganz umgekehrt ver* 
hält: die Wissenschaft besteht nicht vor der Leistung des 
Dichters. Zwischen den hereditär-konstitutionellen Vorbedin- 
gungen und den als fertig erscheinenden Schöpfungen des Wahnes 
läßt sie eine Lücke klaffen, die wir beim Dichter ausgefüllt 
finden. Sie ahnt noch nicht die Bedeutung der Verdrängung, 
erkennt nicht, daß sie zur Erklärung der Welt psychopatho- 
logischer Erscheinungen durchaus des Unbewußten bedarf, sie 
sucht den Grand des Wahnes nicht in einem psychischen Kon- 



IN W. JENSENS „GBADIVA" 45 

flikt und erfaßt die Symptome desselben nicht als Kompro- 
mißbildung. So stünde denn der Dichter allein gegen die ge- 
samte "Wissenschaft? Nein, dies nicht, — wenn der Verfasser 
nämlich seine eigenen Arbeiten auch der Wissenschaft zu- 
rechnen darf. Denn er selbst vertritt seit einer Eeihe von 
Jahren — und bis in die letzte Zeit ziemlich vereinsamt*) — 
alle die Anschauungen, die er hier aus der „Gradiva" von 
W. Jensen herausgeholt imd in den Fachausdrücken darge- 
stellt hat. Er hat, am ausführlichsten für die als Hysterie 
und Zwangsvorstellen bekannten Zustände, als individuelle Be- 
dingung der psychischen Störung die Unterdrückung eines 
Stückes des Trieblebens und die Verdrängung der Vorstellun- 
gen, durch die der unterdrückte Trieb vertreten ist, aufgezeigt, 
und die gleiche Auffassung bald darauf für manche Formen 
des Wahnes wiederholt.**) Ob die für diese Verursachung in 
Betracht kommenden Triebe jedesmal Komponenten des Sexual- 
triebes sind oder auch andersartige sein können, das ist ein Pro- 
blem, welches nur gerade für die Analyse der „Gradiva" gleich- 
gültig bleiben darf, da es sich in dem vom Dichter gewählten 
Falle sicherlich um nichts als um die Unterdrückung des ero- 
tischen Empfindens handelt. Die Gesichtspunkte des psychi- 
schen Konflikts und der Symptombildung durch Kompromisse 
zwischen den beiden miteinander ringenden Seelenströmungen 
hat der Verfasser an wirklich beobachteten und ärztlich behan- 
delten Krankheitsfällen in ganz gleicher Weise zur Geltimg 
gebracht, wie er es an den Vom Dichter erfundenen Norbert 
Hanold tun konnte.***) Die Rückführung der nervösen, spe- 
ziell der hysterischen Krankheitsleistungen auf die Macht un- 
bewußter Gedanken hatte vor dem Verfasser schon P. Jan et, 
der Schüler des großen Charcot, und im Vereine mit dem 
Verfasser Josef Breuer in Wien untemommen.f) 

Es war dem Verfasser, als er sich in den auf 1893 fol- 
genden Jahren in solche Forschungen über die Entstehung der 

*) Siehe die wichtige Schrift Ton £. Bleuler, AffekÜTit&t, Suggestibilität, 
Paranoia und die DiagnostiBchen ABSosiationsstudien yon C« G. Jung, beide ans 
Zürich, 1906. 

**) Vgl. des Verfassers : Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre 1906. 
***) ^e^' Bruchstück einer Hjeterie-Analyse 1906. 
t) Tgl. Breuer u. Freud, Studien über Hysterie, 1895. 



46 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

Seelenstörungen vertiefte, wahrlich nicht eingefallen, Bekräf- 
tigung seiner Ergebnisse bei Dichtern zu suchen, und darum 
war seine Überraschung nicht gering, als er an der 1903 ver- 
öffentlichten „Gradiva" merkte, daß der Dichter seiner Schöp- 
fimg das nämliche zu Grunde lege, was er aus den Quellen 
ärztlicher Erfahrung als neu zu schöpfen vermeinte. Wie kam 
der Dichter nur zu dem gleichen Wissen wie der Arzt, oder 
wenigstens zum Benehmen, als ob er das gleiche wisse? — 

Der Wahn Norbert Hanolds, sagten wir, erfahre eine 
weitere Entwicklung durch einen Traum, der sich ihm mitten 
in seinen Bemühungen ereignet, eine Gangart wie die der Gra- 
diva in den Straßen seines Heimatsortes nachzuweisen. Den In- 
halt dieses Traumes können wir leicht in Kürze darstellen. Der 
Träumer befindet sich in Pompeji an jenem Tage, welcher der 
unglücklichen Stadt den Untergang brachte, macht die Schreck- 
nisse mit, ohne selbst in Gefahr zu geraten, sieht dort plötz- 
lich die Gradiva schreiten und versteht mit einem Male als 
ganz natürlich, da sie ja eine Pompejanerin sei, lebe sie in 
ihrer Vaterstadt und, „ohne daß er's geahnt habe, gleichzeitig 
mit ihm". Er wird von Angst um sie ergriffen, ruft sie an, 
worauf sie ihm flüchtig ihr Gesicht zuwendet. Doch geht sie, 
ohne auf ihn zu achten, weiter, legt sich an den Stufen des 
Apollotempels nieder, und wird vom Aschenregen verschüttet, 
nachdem ihr Gesicht sich entfärbt, wie wenn es sich zu wei- 
ßem Marmor umwandelte, bis es völlig einem Steinbild gleicht. 
Beim Erwachen deutet er noch den Lärm der Großstadt, der 
an sein Bett dringt, in das .Hilfegeschrei der verzweifelten Be- 
wohner Pompejis und in das Gretöse des wild erregten Meeres 
um. Das Gefühl, daß das, was er geträumt, sich wirklich mit 
ihm zugetragen, will ihm noch längere Zeit nach dem Er- 
wachen nicht verlassen, und die Überzeugung, daß die Gra- 
diva in Pompeji gelebt und an jenem XJnglückstage gestorben 
sei, bleibt als neuer Ansatz an seinen Wahn von diesem Traum© 
übrig. 

Weniger bequem wird es uns zu sagen, was der Dichter 
mit diesem Traum gewollt, und was ihn veranlaßt hat, die Ent- 
wicklung des Wahnes gerade an einen Traum zu knüpfen. 
Emsige Traumforscher haben zwar Beispiele genug gesammelt. 



IN W. JENSENS „GßADIVA" 47 

wie Geistesstörung an Träume anknüpft und aus Träumen her- 
vorgeht,*) und auch in der Lebensgeschichte einzelner hervor- 
ragender Menschen sollen Impulse zu wichtigen Taten und 
Entschließungen durch Träume erzeugt worden sein. Aber 
unser Verständnis gewinnt gerade nicht viel durch diese Ana- 
logien; bleiben wir darum bei unserem Falle, bei dem vom 
Dichter fingierten Falle des Archäologen Norbert Hanold. 
An welchem Ende muß man einen solchen Traum wohl an- 
fassen, um ihn in den Zusammenhang einzuflechten, wenn er 
nicht ein unnötiger Zierat der Darstellung bleiben soll? 

Ich kann mir etwa denken, daß ein Leser an dieser Stelle 
ausruft: Der Traum ist ja leicht zu erklären. Ein einfacher 
Angsttraum, veranlaßt durch den Lärm der Großstadt, der von 
dem mit seiner Pompejanerin beschäftigten Archäologen auf 
den Untergang Pompejis umgedeutet wird! Bei der allgemein 
herrschenden Geringschätzung für die Leistungen des Traumes 
pflegt man nämlich den Anspruch auf die Traumerklärung da- 
hin einzuschränken, daß man für ein Stück des geträumten 
Inhaltes einen äußeren Eeiz sucht, der sich etwa mit ihm 
deckt. Dieser äußere Anreiz zum Träumen wäre durch den 
Lärm gegeben, welcher den Schläfer weckt; das Interesse an 
diesem Traume wäre damit erledigt. Wenn wir nur einen 
Grund hätten anzunehmen, daß die Großstadt an diesem Mor- 
gen lärmender gewesen als sonst, wenn z. B. der Dichter nicht 
versäumt hätte, uns mitzuteilen, daß Hanold diese Nacht ge- 
gen seine Gewohnheit bei geöffnetem Fenster geschlafen. 
Schade, daß der Dichter sich diese Mühe nicht gegeben hat! 
Und wenn ein Angsttraum nur etwas so Einfaches wäre! Nein, 
so einfach erledigt sich dies Interesse nicht. 

Die Anknüpfung an einen äußeren Sinnesreiz ist nichts 
"Wesentliches für die Traumbildung. Der Schläfer kann diesen 
Reiz aus der Außenwelt vernachlässigen, er kann sich durch 
ihn, ohne einen Traum zu bilden, wecken lassen, er kann ihn 
auch in seinen Traum verweben, wie es hier geschieht, wenn 
es ihm aus irgend welchen anderen Motiven so taugt, und 
es gibt reichlich Träume, für deren Inhalt sich eine solche 
Determinierung durch einen an die Sinne des Schlafenden ge- 

'^) Santo de Sanctii, Die Träome, 1901. 



48 DER WAHN UND DIB TRÄUME 

langenden Beiz nicht erweisen läßt. Nein, versuchen wir's auf 
einem anderen Wege. 

Vielleicht knüpfen wir an den Bückstand an, den der 
Traum im wachen Leben Hanolds zurückläßt. Es war bisher 
eine Phantasie von ihm gewesen, daß die Gradiva eine Pom- 
pejanerin gewesen sei. Jetzt wird ihm diese Annahme zur 
Gewißheit, imd die zweite Gewißheit schließt sich daran, daß 
sie dort im Jahre 79 mit verschüttet worden sei.*) Wehmütige 
Empfindungen begleiten diesen Fortschritt der .Wahnbildung, 
wie ein Nachklang der Angst, die den Traum erfüllt hatte. 
Dieser neue Schmerz. um die Gradiva will uns nicht recht be- 
greiflich erscheinen; die Gradiva wäre doch heute auch seit 
vielen Jahrhunderten tot, selbst wenn sie im Jahre 79 ihr 
Leben vor dem Untergänge gerettet hätte, oder sollte man in 
solcher "Weise weder mit Norbert Hanold noch mit dem 
Dichter selbst rechten dürfen? Auch hier scheint kein Weg 
zur Aufklärung zu führen. Immerhin wollen wir uns anmer- 
ken, daß dem Zuwachs, den der Wahn aus diesem Traum be- 
zieht, eine stark schmerzliche Gefühlsbetonung anhaftet. 

Sonst aber wird an unserer Batlosigkeit nichts gebessert. 
Dieser Traum erläutert sich nicht von selbst; wir müssen uns 
entschließen, Anleihen bei der „Traumdeutung" des Verfassers 
zu machen und einige der dort gegebenen Begeln zur Auflösung 
der Träume hier anzuwenden. 

Da lautet eine dieser Begeln, daß ein Traum regelmäßig 
mit den Tätigkeiten am Tage vor dem Traum zusammenhängt. 
Der Dichter scheint andeuten zu wollen, daß er diese Begel be- 
folgt habe, indem er den Traum unmittelbar an die „pede- 
strischen Prüfimgen" Hanolds anknüpft. Nun bedeuten letz- 
tere nichts anderes als ein Suchen nach der Gradiva, die er 
an ihrem charakteristischen Gange erkennen will. Der Traum 
sollte also einen Hinweis darauf, wo die Gradiva zu finden 
sei, enthalten. Er enthält ihn wirklich, indem er sie in Pom- 
peji zeigt, aber das ist noch keine Neuigkeit für uns. 

Eine andere Begel besagt: wenn nach einem Traum der 
Glaube an die Bealität der Traumbilder imgewöhnlich lange 
anhält, so daß man sich nicht aus dem Traume losreißen kann, 

♦) Vgl. den Text der ^Gradiva« p. 15. 



m,W. JENSENS „GKADIVA" 49 

SO ist dies nicht etwa eine ürteilstäuschung, hervorgerufen 
durch die Lebhaftigkeit der Traumbilder, sondern es ist ein 
psychischer Akt für sich, eine Versicherung, die sich auf den 
Trauminhalt bezieht, daß etwas darin wirklich so ist, wie man 
es geträumt hat, und man tut recht daran, dieser Versicherung 
Glauben zu schenken. Halten wir uns an diese beiden Begeln, 
so müssen wir schließen, der Traum gebe eine Auskunft über 
den Verbleib der gesuchten Gradiva, die sich mit der Wirk- 
lichkeit deckt. Wir kennen nun den Traum Hanolds; führt 
die Anwendung der beiden Regeln auf ihn zu irgend einem 
vernünftigen Sinne? 

•Merkwürdigerweise ja. Dieser Sinn ist nur auf eine be- 
sondere Art verkleidet, so daß man ihn nicht sogleich erkennt. 
Hanold erfährt im Traume, daß die Gesuchte in einer Stadt 
und gleichzeitig mit ihm lebe.^ Das ist ja von der Zoe 
Bertgang richtig, nur daß diese Stadt im Traum nicht die 
deutsche Universitätsstadt, sondern Pompeji, die Zeit nicht die 
Gegenwart, sondern das Jahr 79 unserer Zeitrechnung ist. Es ist 
wie eine Entstellung durch Verschiebung, nicht die Gradiva ist 
in die Gegenwart, sondern der Träumer ist in die Vergangenheit 
versetzt; aber das Wesentliche und Neue, daß er mit der Ge- 
suchten Ort und Zeit teile, ist auch so gesagt. Woher wohl 
diese Verstellung und Verkleidung, die. uns sowie den Träumer 
selbst über den eigentlichen Sinn und Inhalt des Traumes 
täuschen muß? Nun wir haben bereits die Mittel in der Hand, 
um eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben. 

Erinnern wir uns an all das, was wir über die Natur 
und Abkunft der Phantasien, dieser Vorläufer des Wahnes, 
gehört haben. Daß sie Ersatz und Abkömmlinge von ver- 
drängten Erinnerungen sind, denen ein Widerstand nicht 
gestattet, sich unverändert zum Bewußtsein zu bringen, die 
sich aber das Bewußtwerden dadurch erkaufen, daß sie durch 
Veränderungen und Entstellungen der Zensur des Widerstandes 
Rechnung tragen. Nachdem dieses Kompromiß vollzogen ist, 
sind jene Erinnerungen nun zu diesen Phantasien geworden, 
die von der bewußten Person leicht mißverstanden, d. h. im 
Sinne der herrschenden psychischen Strömung verstanden wer- 
den können. Nun stelle man sich vor, die Traumbilder seien 

Freud, Der Wahn und die Tiftume. 4 



M> DEB WAHN UND DES TRIUHE 

die tosnsagen physiologischen .Wahnschöpfungen des Menschen, 
die Kompromißergebnisse jenes Kampfes zwischen Verdrängtem 
und Herrschendem, den es wahrscheinlich bei jedem, anch tags- 
^Mr völlig geistesgesnnden Menschen gibt. Dann versteht man, 
da0 man die Traumbilder als etwas Entstelltes zu betrachten 
hat, hinter dem etwas anderes, nicht Entstelltes, aber in ge- 
wissem Sinne Anstößiges zu suchen ist, wie die verdrängten 
Erinnerungen Hanolds hinter seinen Phantasien. Dem so er- 
kannten Gegensatz wird man etwa Ausdruck schaffen, indem 
man das, was der Träumer beim Erwachen erinnert, als mani- 
festen Trauminhalt unterscheidet von dem, was die 
Grundlage des Traumes vor der Zensurentstellung ausmachte, 
dtti latenten Traumgedanken. Einen Tramn deuten heißt 
dann so viel als den manifesten Trauminhalt in die latenten 
Traumgedanken übersetzen, die Entstellimg rückgängig machen, 
welche sich letztere von der Widerstandszensur gefallen lassen 
mußten. Wenden wir diese Erwägungen auf den uns beschäf- 
tigenden Traum an, so finden wir, die latenten Traumgedanken 
können nur gelautet haben: Das Mädchen, das jenen schönen 
Gang hat, nach dem du suchst, lebt wirklich in dieser Stadt 
mit dir. Aber in dieser Form konnte der Gedanke nicht be- 
wußt werden; es stand ihm ja im Wege, daß eine Phantasie 
als Ergebnis eines früheren Kompromisses festgestellt hatte, 
die Gradiva sei eine Pompejanerin, folglich blieb nichts übrig, 
wenn die wirkliehe Tatsache des Lebens am gleichen Orte und 
zur gleichen Zeit gewahrt werden sollte, als die Entstellimg 
vorzunehmen : du lebst ja in Pompeji zur Zeit der Gradiva, 
und dies ist dann die Idee, welche der manifeste Trauminhalt 
realisiert, als eine Gegenwart, die man durchlebt, darstellt. 

Ein Traum ist nur selten die Darstellung, man könnte 
sagen : Inszenierung eines einzigen Gedankens, meist einer Beihe 
von solchen, eines Gedankengewebes. Aus dem Traume Ha- 
nolds läßt sich noch ein anderer Bestandteil des Inhaltes her- 
vorheben, dessen Entstellung leicht zu beseitigen ist, so daß 
man die durch ihn vertretene latente Idee erfährt. Es ist dies 
ein Stück des Traumes, auf welches man, auch noch die Ver- 
sicherung der Wirklichkeit ausdehnen kann, mit welcher der 
Traum abschloßt Im Traiun verwandelt sich nämlich die 



IK W. JENSENS „ÖBADIVA*^ 51 

schreitende Gradiva in ein Steinbild. Das ist ja nichts an- 
deres als eine sinnreiche und poetische Darstellung des wirk- 
lichen Herganges. Hanold hatte in der Tat sein Interesse 
von der Lebenden auf das Steinbild übertragen ; die Geliebte 
hatte sich ihm in ein steinernes Belief verwandelt. Die laten- 
ten Tranmgedanken, die nnbewufit bleiben müssen, wollen dies 
Bild in die Lebende znrückverwandeln ; sie sagen ihm etwa 
im Zusammenhalt mit dem vorigen: Du interessierst dich doch 
nur für das Belief der Gradiva, weil es dich an die gegen- 
wärtige, hier lebende Zoe erinnert. Aber diese Einsicht würde, 
wenn sie bewußt werden könnte, das Ende des Wahnes be- 
deuten. 

Obliegt uns etwa die Verpflichtung, jedes einzelne Stück 
des manifesten Trauminhaltes in solcher Weise durch imbe- 
wußte Gedanken zu ersetzen? Strenggenommen, ja; bei der 
Deutung eines wirklich geträumten Traumes würden wir uns 
dieser Pflicht nicht entziehen dürfen. Der Träumer müßte uns 
dann auch in ausgiebigster Weise Bede stehen. Es ist be- 
greiflich, daß wir solche Forderung bei dem Greschöpf des 
Diehters nicht durchführen können ; wir wollen aber doch nicht 
übersehen, daß wir den Hauptinhalt dieses Traumes noch ilicht 
der Deutungs- oder TJbersetzungsarbeit unterzogen haben. 

Der Traum Hanolds ist ja ein Angsttraum. Sein Inhalt 
ist schreckhaft, Angst wird vom Träumer im Schlafe verspürt 
und schmerzliche Empfindungen bleiben nach ihm übrig. Das 
ist nun gar nicht bequem für unseren Erklärungsversuch; wir 
sind wiederum zu großen Anleihen bei der Lehre von der 
Traumdeutung genötigt. Diese mahnt uns dann, doch ja nicht 
in den Irrtum zu verfallen, die Angst, die man in einem 
Traum empfindet, voü dem Inhalt des Traumes abzuleiten, den 
Trauminhalt doch nicht so zu behandeln wie einen Vorstellungs- 
inhalt des wachen Lebens. Sie macht uns darauf aufmerksam, 
wie oft wir die gräßlichsten Dinge träumen, ohne daß eine 
Spur von Angst dabei empfunden wird. Vielmehr sei der wahre 
Sachverhalt ein ganz anderer, der nicht leicht zu erraten, aber 
sicher zu beweisen ist. Die Angst des Angsttraumes entspreche 
einem sexuellen Affekt, einer libidinösen Empfindung, wie 
überhaupt jede nervöse Angst, und sei durch den Prozeß der 



iS I^ WAHS USD DIE TBÜLCMB 

VerdsiUkgitMkg ans dar Libido h ei vut gegaagau^j Bei der Den- 
iung des TramneB mnaae man ako die Angst durch BBTuelle 
EmgÜkeit eaetzen. Die ao entatandaie Angst übe nim — 
nicht regelmäßig, zbar liä.i|fig — ^nen aoswäUenden KinflnB 
auf doi Tramniiihalt ans und hrmge VorsielliingaelaiMnite in 
den Traum, welche für die bewußte und mißvergtindliehe Anf - 
faarang des Traumes zum Angstaf f ekt paiwend erscheinen. 
Dies sei, wie gesagt, keinesw^^s regelmäßig der Fall, denn 
es gebe gmng Angsttramne, in denen der Inhalt gar nidit 
sdireckhaft ist, wo man sich also die verspürte Angst nidit 
bewoßterweise erklaren könne. 

Ich weiß, daß diese AnOdärong der Angst im Traume 
sehr befremdlich klingt nnd nicht leicht Glauben findet; aber 
ich kann nur raten, sich mit ihr zu befreunden. Es wäre 
übrigirais recht merkwürdig, wenn der Traum Norbert Har 
nolds sich mit dieser Auffassung der Angst vereinen und 
aus ihr erklaren ließe. Wir würden dann sagen, beim Träu- 
mer rühre sich nachtlicberweise die Loebessehnsucht, mache 
einen kräftigen Vorstoß, um ihm die Erinnerung an die Ge- 
liebte bewußt zu machen und ihn so aus dem Wahn zu reißen, 
erfahre aber neuerliche Ablehnung und Verwandlung in Angst, 
die nun ihrerseits die schreckhaften Bilder aus der Schul- 
erinnerung des Träumers in den Trauminhalt bringe. Auf diese 
Weise werde der eigentliche unbewußte Inhalt des Traumes, 
die verliebte Sehnsucht nach der einst gekannten Zoe, in den 
manifesten Inhalt vom Untergang Pompejis und vom Verlust 
der Gradiva umgestaltet. 

Ich meine, das klingt so weit ganz plausibel. Man könnte 
aber mit Becht die Fordenmg aufstellen, wenn erotische 
Wünsche den unentstellten Inhalt dieses Traumes bilden, so 
müsse man auch im umgeformten Traum wenigstens einen 
kenntlichen Best derselben irgendwo versteckt aufzeigen kön- 
nen. Nun, vielleicht gelingt selbst dies mit Hilfe eines Hin- 
weises aus der später folgenden Erzählung. Beim ersten Zu- 
sammentreffen mit der vermeintlichen Gradiva gedenkt Ha- 
nold dieses Traumes und richtet an die Erscheinung die Bitte, 

*) Tgl. Sammlang kL Schriften rar Nearoflenlehre, V., und Trmamdeataiig' 
p. 344. 



IN W. JENSENS „GBADIVA" 63 

sich wieder so hinzulegen, wie er es damals gesehen.*) Darauf- 
hin aber erhebt sich die junge Dame entrüstet und verläßt 
ihren sonderbaren Partner, aus dessen wahnbeherrschten Beden 
sie den unziemlichen erotischen Wunsch herausgehört hat. 
Ich glaube, wir dürfen uns die Deutung der Gradiva zu eigen 
machen; eine größere Bestimmtheit für die Darstellung des 
erotischen .Wunsches wird man auch von einem realen Traume 
nicht immer fordern dürfen. 

Somit hatte die Anwendung einiger Begeln der Traum- 
deutung auf den ersten Traum Hanolds den Erfolg gehabt, 
uns diesen Traum in seinen Hauptzügen verständlich zu ma- 
chen und ihn in den Zusammenhang der Erzählung einzufügen. 
Er muß also wohl vom Dichter unter Beachtung dieser Begeln 
geschaffen worden sein? Man könnte nur noch eine Frage 
aufwerfen, warum der Dichter zur weiteren Entwicklung des 
•Wahnes überhaupt einen Traum einführe. Nun, ich meine, das 
ist recht sinnreich komponiert und hält wiederum der Wirk- 
lichkeit die Treue. Wir haben schon gehört, daß in realen 
Krankheitsfällen eine W^Jinbildung recht häufig an ein^ 
Traum anschließt, brauchen aber nach unseren Aufklärungen 
über das Wesen des Traumes kein neues Bätsei in diesem Sach- 
verhalt zu finden. Traum und Wahn stammen aus derselben 
Quelle, vom Verdrängten her; der Traum ist der sozusagen 
physiologische Wahn des normalen Menschen. Ehe das Ver- 
drängte stark genug geworden ist, um sich im Wachleben als 
Wahn durchzusetzen, kann es leicht seinen ersten Erfolg unter 
den günstigeren umständen des Schlafzustandes in Gestalt 
eines nachhaltig wirkenden Traumes errungen haben. Während 
des Schlafes tritt nämlich, mit der Herabsetzung der seelischen 
Tätigkeit überhaupt, auch ein Nachlaß in der Stärke des Wider- 
standes ein, den die herrschenden psychischen Mächte dem Ver- 
drängten entgegensetzen. Dieser Nachlaß ist es, der die Traum- 
bildung ermöglicht, und darum wird der Traum für uns der 
beste Zugang zur Kenntnis des unbewußten Seelischen. Nur, 



*) O. p. 70: Nein, gesprochen nicht. Aber ich rief dir so, als da dich 
anm Schlafen hinlegtest, nnd stand dann bei dir — dein Gesicht war so rahig- 
sdta wie TOD ICannor. Darf ich dich bitten — leg' es noch einmal wiedv so 
anf die Stofo sorilck. 



DER WAHN UND DIB TRÄUME 



daß für gewöhnlich mit der Herstellung der psychischen Be- 
setzungen des Wachens der Traum wieder verfliegt, der vom 
Unbewußten gewonnene Boden wieder geräumt wird. 

m. 

Im weiteren Verlaufe der Erzählung findet sich noch ein 
anderer Traum, der uns vielleicht noch mehr als der erste 
verlocken kann, seine Übersetzung und Einfügung iil den Zu- 
sammenhang des seelischen Greschehens beim Helden zu ver- 
suchen. Aber wir ersparen wenig, wenn wir hier die Darstellung 
des Dichters verlassen, um direkt zu diesem zweiten Traum 
zu eilen, denn wer den Traum eines anderen deuten will, der 
kann nicht umhin, sich möglichst ausführlich um alles zu be- 
kümmern, was der Träumer äußerlich und innerlich erlebt hat. 
Somit wäre es fast das beste, wenn wir beim Faden der Er- 
zählung verblieben und diese fortlaufend mit unseren Glossen 
versähen. 

Die Wahnneubildung vom Tode derGradivä beim Untergang 
Pompejis im Jahre 79 ist nicht die einzige Nachwirkung des 
von uns analysierten ersten Traumes. Unmittelbar nachher ent- 
schließt sich Hanold zu einer Reise nach Italien, die ihn 
endlich nach Pompeji bringt. Vorher aber begibt sich noch 
etwas anderes mit ihm; aus dem Fenster lehnend, glaubt er 
auf der Straße eine Gestalt mit der Haltung und dem Gange 
seiner Gradiva zu bemerken, eilt ihr trotz seiner mangelhaften 
Bekleidung nach, erreicht sie aber nicht, sondern wird durch 
den Spott der Leute auf der Straße zurückgetrieben. Nachdem 
er wieder in sein Zimmer zurückgekehrt ist, ruft das Singen 
eines Kanarienvogels, dessen Käfig an einem Fenster des Hauses 
gegenüber hängt, eine Stimmung in ihm hervor, als ob auch 
er aus der Gefangenschaft in die Freiheit wollte, und die 
Frühjahrsreise ist ebenso schnell beschlossen wie ausgeführt. 

Der Dichter hat diese Beise Hanolds in ganz besonder^ 
scharfes Licht gerückt tmd ihm selbst teilweise Klarheit über 
seine inneren Vorgänge gegönnt. Hanold hat sich selbstver- 
ständlich einen wissenschaftlichen Vprwand für sein Bc^isen 
angegeben, aber dieser; hält nicht vor. Er weiß doch eigent- 
lich, daß „ihm der Antrieb zur Beise aus einer unnennbaren 



IN W. JENSENS „GRADIVA" S& 

Empfindung entsprungen war''. Eine eigentümliche Unruhe hd£t 
ihn mit allem, was er antrifft, imzufrieden sein und treibt 
ihn von Bom nach Neapel, von dort nach Pompeji, ohne daß 
er sich, auch nicht in dieser letzten Station, in seiner Stimmung 
zurechtfände. Er ärgert sich über die Torheit der Hochzeits- 
reisenden und ist empört über die Frechheit der Stubenfliegen, 
die Pompejis Gasthäuser bevölkern. Aber endlich täuscht er 
sich nicht darüber, „daß seine ünbefriedigung wohl nicht allein 
durch das um ihn herum Befindliche verursacht werde, son- 
dern etwas ihren Ursprung auch aus ihm selbst schöpfe". Er 
hält sich für überreizt, fühlt, „daß er mißmutig sei, weil ihm 
etwas fehle, ohne daß er sich aufhellen könne, was. Und diese 
Mißstimmung bringt er überallhin mit sich". In solcher Ver- 
fassung empört er sich sogar gegen seine Herrscherin, die 
Wissenschaft; wie er das erstemal in der Mittagssonnenglut 
durch Pompeji wandelt, „hatte seine ganze Wissenschaft ihn 
nicht allein verlassen, sondern ließ ihn auch ohne das geringste 
Begehren, sie wieder aufzufinden; er erinnerte sich ihrer nur 
wie aus einer weiten Feme, und in seiner Empfindung war 
sie eine alte, eingetrocknete, langweilige Tante gewesen, das 
ledernste und überflüssigste Geschöpf auf der Welt". (G. p. 56.) 

In diesem unerquicklichen und verworrenen Gemütszustand 
löst sich ihm dann das eine der Bätsei, welche an dieser Beise 
hängen, in dem Moment, da er zuerst die Gradiva durch 
Pompeji sehreiten sieht. Es kommt ihm „zum erstenmal zum 
Bewußtwerden: Er sei, ohne selbst von dem Antrieb in seinem 
Innern zu wissen, deshalb nach Italien tmd ohne Aufenthalt 
von Bom und Neapel bis Pompeji weitergefahren, um danach 
zu suchen, ob er hier Spuren von ihr auffinden könne. Und 
zwar im wörtlichen Sinne, denn bei ihrer besonderen Gangart 
mußte sie in der Asche einen von allen übrigen sich unt^- 
scheidenden Abdruck der Zehen hinterlassen haben". (G.p.58.) 

Da der Dichter so viel Sorgfalt auf die Darstellung ditaer 
Beise verwendet, muß es auch uns der Mühe wert sein, deren 
Veriiältnis zum Wahn Hanolds und deren Stellung im Zu- 
sammenhang der Begebenheiten zu erläutern. Die Beise ist 
ein Untemdimen aus Motiven, welche die Person zunächst nidit 
erkenat imd erst später sich eingesteht, Motiven, welche der 



56 DER WAHN UND DIB TRÄUME 

Dichter direkt als „unbewußte" bezeichnet. Dies ist gewiß 
dem Leben abgelauscht; man braucht nicht im Wahn zu sein, 
um so zu handeln; vielmehr ist es ein alltägliches Vorkomm- 
nis, selbst bei Gresunden, daß sie sich über die Motive ihres 
Handelns täuschen und ihrer erst nachträglich bewußt werden, 
wenn nur ein Konflikt mehrerer Gefühlsströmungen ihnen die 
Bedingung für solche Verworrenheit herstellt. Die Eeise Ha- 
nolds war also von Anfang an daratif angelegt, dem Wahne 
zu dienen, und sollte ihn nach Pompeji bringen, um die Nach- 
forschung nach der Gradiva dort fortzusetzen. Wir erinnern, 
daß vor und unmittelbar nach dem Traum diese Nachforschung 
ihn erfüllte, und daß der Traum selbst nur eine von seinem 
Bewußtsein erstickte Antwort auf die Frage nach dem Auf- 
enthalt der Gradiva war. Irgend eine Macht, die wir nicht er- 
kennen, hemmt aber zunächst auch das Bewußtwerden des wahn- 
haften Vorsatzes, so daß zur bewußten Motivierung der Eeise 
nur unzulängliche, streckenweise zu erneuernde Vorwände erübri- 
gen. Ein anderes Rätsel gibt ims der Dichter auf, indem er 
den Traum, die Entdeckung der vermeintlichen Gradiva auf 
der Straße imd die Entschließung zur Eeise durch den Ein- 
fluß des singenden Kanarienvogels wie Zufälligkeiten ohne 
innere Beziehung aufeinander folgen läßt. 

Mit Hilfe der Aufklärungen, die wir den späteren Eeden 
der Zoe Bertgang entnehmen, wird dieses dunkle Stück der 
Erzählung für unser Verständnis erhellt. Es war wirklich das 
Urbild der Gradiva, Fräulein Zoe selbst, das Hanold von 
seinem Fenster aus auf der Straße schreiten sah (G. p. 89) und 
das er bald eingeholt hätte. Die Mitteilung des Traumes: sie 
lebt ja am heutigen. Tage in der nämlichen Stadt wie du, 
hätte so durch einen glücklichen Zufall eine unwiderstehliche 
Bekräftigimg erfahren, vor welcher sein inneres Sträuben zu- 
sammengebrochen wäre. Der Kanarienvogel aber, dessen Ge- 
sang Hanold in die Feme trieb, gehörte Zoe, und sein Käfig 
stand an ihrem Fenster, dem Hause Hanolds schräg gegen- 
über. (G. p. 135.) Hanold, der nach der Anklage des Mädchens 
die Gabe der „negativen Halluzination" besaß, die Kirnst ver- 
stand, auch gegenwärtige Pers'5nen nicht zu sehen und nicht 
zu erkennen, muß von Anfang an die unbewußte Kenntnis 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 57 

dessen gehabt habeiij was wir erst spät erfahren. Die Zeichen 
der Nähe Zoes, ihr Erscheinen auf der Straße und der Ge- 
sang ihres Vogels so nahe seinem Penster, verstärken die Wir- 
kung des Traumes, und in dieser für seinen Widerstand gegen 
die Erotik so gefährlichen Situation — ergreift er die Flucht. 
Die Beise entspringt einem Aufraffen des Widerstandes nach 
jenem Vorstoß der Liebessehnsucht im Traum, einem Fluchtver- 
such von der leibhaftigen und gegenwärtigen Geliebten weg. Sie 
bedeutet praktisch einen Sieg der Verdrängung, die diesmal im 
Wahne die Oberhand behält, wie bei seinem früheren Tun, den 
„pedestrischen Untersuchungen" an Frauen und Mädchen, die 
Erotik siegreich gewesen war. Überall aber ist in . diesem 
Schwanken des Kampfes die Kompromißnatur der Entscheidun- 
gen gewahrt; die Beise nach Pompeji, die von der lebenden 
Zoe wegführen soll, führt wenigstens zu ihrem Ersatz, zur 
Gradiva. Die Beise, die den latenten Traumgedanken zum 
Trotze tmternommen wird, folgt doch der Weisung des mani- 
festen Trauminhaltes nach Pompeji. So triumphiert der Wahn 
von neuem, jedesmal wenn Erotik und Widerstand von neuem 
streiten. 

Diese Auffassung der Beise Hanolds als Flucht vor der 
in ihm erwachenden Liebessehnsucht nach der so nahen Ge- 
liebten harmoniert allein mit den bei ihm geschilderten Ge- 
mütszuständen während seines Atifenthaltes in Italien. Die ihn 
beherrschende Ablehnung der Erotik drückt sich dort in seiner 
Verabscheuung der Hochzeitsreisenden aus. Ein kleiner Traum 
im Albergo in Bom, veranlaßt durch die Nachbarschaft eines 
deutschen Liebespaares, „August und Grete", deren Abend- 
gespräch er durch die dünne Zwischenwand belauschen muß, wirft 
wie nachträglich ein Licht auf die erotischen Tendenzen seines 
ersten großen Traumes. Der neue Traum versetzt ihn wieder nach 
Pompeji, wo eben wieder der Vesuv ausbricht, und knüpft so 
an den während der Beise fortwirkenden Traum an. Aber unter 
den gefährdeten Personen gewahrt er diesmal — nicht wie 
früher sich und die Gradiva — , sondern den Apoll von Belve- 
dere und die kapitolinische Venus, wohl als ironische Er- 
höhungen des Paares im Nachbarraum. Apoll hebt die Venus 
auf, trägt sie fort und legt sie auf einen Gegenstand im Dun- 



DER WAHN UND DIE TRÄUME 



kein hin, der ein Wagen oder Karren zu sein scheint, denn 
ein „knarrender Ton" schallt davon her. Der Traum bedarf 
sonst keiner besonderen Kunst zu seiner Deutung. (G. p. 31.) 

Unser Dichter, dem wir langst zutrauen, daß er auch 
keinen einzelnen Zug müßig und absichtslos in seiner Schil- 
derung aufträgt, hat uns noch ein anderes Zeugnis für die 
Hanold auf der Reise beherrschende asexuelle Strömung ge- 
geben. Wahrend des stundenlangen ümherwandems in Pom- 
peji kommt es ihm „merkwürdigerweise nicht ein einziges Mal 
in Erinnerung, daß er vor einiger Zeit einmal geträumt habe, 
bei der Verschüttung Pompejis durch den Kraterausbruch im 
Jahre 79 zugegen gewesen zu sein^^ (O. p. 47.) Erst beim Anblick 
der Gradiva besinnt er sich plötzlich dieses Traumes, wie ihm 
auch gleichzeitig das wahnhafte Motiv seiner rätselhaften Reise 
bewußt wird. Was könnte nun dies Vergessen des Traumes, 
diese Verdrängungsschranke zwischen dem Traum und dem 
Seelenzustand auf der Reise anders bedeuten, als daß die Reise 
nicht auf direkte Anreg^ung des Traumes erfolgt ist, sondern 
in der Auflehnung gegen denselben, als Ausfluß einer seeli- 
schen Macht, die vom geheimen Sinne des Traumes nichts 
wissen will? 

Anderseits aber wird Hanold dieses Sieges über seine 
Erotik nicht froh. Die unterdrückte seelische Regung bleibt 
stark genug, um sich durch Mißbehagen imd Hemmung an 
der unterdrückenden zu rächen. Seine Sehnsucht hat sieh in 
Unruhe und Unbefriedigung verwandelt, die ihm die Reise 
sinnlos erscheinen läßt; gehemmt ist die Einsicht in die Moti> 
vierung der Reise im Dienste des Wahnes, gestört sein Ver- 
hältnis zu seiner Wissenschaft, die an solchem Orte all aeÜL 
Interesse rege machen sollte. So zeigt uns der Dichter seinen 
Helden nach seiner Fludit vor der Liebe in einer Art von 
Krisis, in einem gänzlich verworrenen und zerfahrenen Zu- 
stand, in einer Zerrüttung, wie sie auf der Höhe der Krank- 
heitszustände vorzukommen pflegt, wenn keine der beid^i 
streitenden Mächte mehr um so viel stärker ist als die andere, 
daß die Differenz ein strammes, seelisches Regime begründen 
könnte. Hier greift dann der Dichter helfend und schlichtend 
ein, denn an dieser Stelle läßt er die Gradiva auftreten, welche 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 59 

die Heilung des Wahnes unternimmt. Mit seiner Macht, die 
Schicksale der von ihm geschaffenen Menschen zum Outen zu 
lenken, trotz all der Notwendigkeiten, denen er sie gehorchen 
läßt, versetzt er das Mädchen, vor dem Hanold nach Pom*- 
peji geflohen ist, ebendahin und korrigiert so die Torheit, die 
der Wahn den jungen Mann begehen ließ, sich von dem Wohn- 
ort der leibhaftigen Greliebten zur Todesstätte der sie in der 
Phantasie ersetzenden zu begeben. 

Mit dem Erscheinen der Zoe Bertgang als Gradiva, wel- 
ches den Höhepunkt der Spannung in der Erzählung bezeichnet, 
tritt bald auch eine Wendung in unserem Interesse ein. Haben 
wir bisher die Entwicklung eines Wahnes miterlebt, so sollen 
wii* jetzt Zeugen seiner Heilung werden und dürfen ims fra- 
gen, ob der Dichter den Hergang dieser Heilung bloß fabu- 
liert oder im Anschluß an wirklich vorhandene Möglichkeiten 
gebildet hat. Nach Zoes eigenen Worten in der Unterhaltung 
mit der Freundin haben wir entschieden das Recht, ihr solche 
Heilungsabsicht zuzuschreiben. (G. p. 124.) Wie schickt sie sich 
aber dazu an? Nachdem sie die Entrüstung zurückgedrängt, 
welche die Zumutung, sich wieder wie „damals" zum Schlafen 
hinzulegen, bei ihr hervorgerufen, findet sie sich zur gleichen 
Mittagsstunde des nächsten Tages am nämlichen Orte ein und 
entlockt nun Hanold all das geheime Wissen, das ihr zum 
Verständnis seines Benehmens am Vortage gefehlt hat. Sie er- 
fährt von seinem Traum, vom Reliefbild der Gradiva und von 
der Eigentümlichkeit des Ganges, welche sie mit diesem Bilde 
teilt. Sie akzeptiert die Bolle des für eine kurze Stunde zum 
Leben erwachten Gespenstes, welche, wie sie merkt, sein Wahn 
ihr zugeteilt, und weist ihm leise in mehrdeutigen Worten 
eine neue Stellung an, indem sie die Gräberblume von ihm 
annimmt, die er ohne bewußte Absicht mitgebracht, und das 
Bedauern ausspricht, daß er ihr nicht Bösen gegeben hat. 
(G. p. 90.) 

Unser Interesse für das Benehmen des überlegen klugen 
Mädchens, welches beschlossen hat, sich den Jugendgeliebten zum 
Manne zu gewinnen, nachdem sie hinter seinem Wahn seine 
Liebe als treibende Kraft erkannt, wird aber an dieser Stelle 
wahrscheinlich von dem Befremden zurückgedrängt, welches 



60 DER WAHN UND DIE TBÄUME 

dieser Wahn selbst bei uns erregen kann. Dessen letzte Aus- 
gestaltung, daß die im Jahre 79 verschüttete Gradiva nun 
als Mittagsgespenst für eine Stunde mit ihm Bede tauschen 
könne, nach deren Ablauf sie versinke oder ihre Gruft wieder 
aufsuche, dieses Hirngespinst, welches weder durch die Wahr- 
nehmung ihrer modernen Fußbekleidung noch durch ihre Un- 
kenntnis der alten Sprachen und ihre Beherrschung des damals 
nicht existierenden Deutschen beirrt wird, scheint wohl die Be- 
Zeichnung des Dichters „Ein pompe janisches Phantasiestück'^ 
zu rechtfertigen, aber jedes Messen an der klinischen Wirk- 
lichkeit auszuschließen. Und doch scheint mir bei näherer Er- 
wägung die UnWahrscheinlichkeit dieses Wahnes zum größeren 
Teile zu zergehen. Einen Teil der Verschuldung hat ja der 
Dichter auf sich genommen und in der Voraussetzung der Er- 
zählung, daß Zoe in allen Zügen das Ebenbild des Steinreliefs 
sei, mitgebracht. Man muß sich also hüten, die Unwahrschein- 
lichkeit von dieser Voraussetzung auf deren Konsequenz, daß 
Hanold das Mädchen für die belebte Gradiva hält, zu ver- 
schieben. Die wahnhafte Erklärung wird hier dadurch im 
Wert gehoben, daß auch der Dichter uns keine rationelle zur 
Verfügimg gestellt hat. In der Sonnenglut Kampaniens und 
in der verwirrenden Zauberkraft des Weines, der am Vesuv 
wächst, hat der Dichter ferner andere helfende und mildernde 
Umstände für die Ausschreitung des Helden herangezogen. Das 
wichtigste aller erklärenden und entschuldigenden Momente 
bleibt aber die Leichtigkeit, mit welcher unser Denkvermögen 
sich zur Annahme eines absurden Inhaltes entschließt, wenn 
stark affektbetonte Kegungen dabei ihre Befriedigung finden. 
Es ist erstaunlich und findet meist viel zu geringe Würdigung* 
wie leicht imd häufig selbst intellige^zstarke Personen unter 
solchen psychologischen Konstellationen die Reaktionen par- 
tiellen Schwachsinnes geben, und wer nicht allzu eingebildet 
ist, mag dies auch beliebig oft an sich selbst beobachten. Und 
nun erst dann, wenn ein Teil der in Betracht kommenden Denk- 
vorgänge an unbewußten oder verdrängten Motiven haftete 
Ich zitiere dabei gern die Worte eines Philosophen, der mir 
schreibt: „Ich habe auch angefangen, mir selbsterlebte Fälle 
von frappanten Irrtümern zu notieren, gedankenloser Handlun- 



IN W, JENSENS „GRADIVA" 61 

gen, die man sich nachträglich motiviert (in sehr unvernünftiger 
Weise). Es ist erschreckend, aber typisch, wieviel Dummheit 
dabei zu Tage kommt.^^ und nun nehme man dazu, daß der 
Glaube an Geister und Gespenster und wiederkehrende Seelen, 
der so viel Anlehnungen in den ^ligionen findet, denen wir 
alle wenigstens als Kinder angehängt haben, keüieswegs bei 
allen Gebildeten untergegangen ist, daß so viele sonst Ver- 
nünftige die Beschäftigung mit dem Spiritismus mit der Ver- 
nunft vereinbar finden. Ja selbst der nüchtern und ungläubig 
Gewordene mag mit Beschämung wahrnehmen, wie leicht er 
sich für einen Moment zum Geisterglauben zurückwendet, wenn 
Ergriffenheit und Batlosigkeit bei ihm zusammentreffen. Ich 
weiß von einem Arzt, der einmal eine seiner Patientinnen an 
der Basedowschen Krankheit verloren hatte und einen leisen 
Verdacht nicht bannen konnte, daß er durch unvorsichtige 
Medikation vielleicht zum unglücklichen Ausgange beigetragen 
habe. Eines Tages, mehrere Jahre später, trat ein Mädchen 
in sein ärztliches Zimmer, in dem er, trotz alles Sträubens, 
die Verstorbene erkennen mußte. Er konnte keinen anderen 
Gedanken fassen als, es sei doch wahr, daß die Toten wieder- 
kommen können, und sein Schaudern wich erst der Scham, als 
die Besucherin sich als die Schwester jener an der gleichen 
Krankheit Verstorbenen vorstellte. Die Basedowsche Krankheit 
verleiht den von ihr Befallenen eine oft bemerkte, weitgehende 
Ähnlichkeit der Gesichtszüge, und in diesem Falle war die 
typische Ähnlichkeit über der schwesterlichen aufgetragen. Der 
Arzt aber, dem sich dies ereignet, war ich selbst, und darum 
bin gerade ich nicht geneigt, dem Norbert Hanold die 
klinische Möglichkeit seines kurzen Wahnes von der ins Leben 
zurückgekehrten Gradiva zu bestreiten. Daß in ernsten Fällen 
chronischer Wahnbildung (Paranoia) das Äußerste an geistreich 
alisgesponnenen und gut vertretenen Absurditäten geleistet wird, 
ist endlich jedem Psychiater wohlbekannt. — 

Nach der ersten Begegnung mit der Gradiva hatte Nor- 
bert Hanold zuerst in dem einen und dann im anderen der 
ihm bekannten Speisehäuser Pompejis seinen Wein getrunken, 
während die anderen Besucher mit der Hauptmahlzeit beschäf- 
tigt waren. „Selbstverständlich war ihm mit keinem Gedanken 



•8 DER WAHN UND DIE TBÄÜME 

die widersinnige Annahme in den Sinn gekommenes er tue so, 
lun zu erfahren, in welchem Gasthof die Gradiva wohne und 
ihre Mahlzeiten einnehme, aber es ist schwer zu sagen, wel- 
chen anderen Sinn dies sein Tun sonst hätte haben können. Am 
Tage nach dem zweiten Beisammensein im Hause des Meleager 
erlebt er allerlei merkwürdige und scheinbar unzusammenhän- 
gende Dinge: er findet einen engen Spalt in der Mauer des 
Portikus, dort, wo die Gradiva verschwunden war, begegnet 
einem närrischen Eidechsenfänger, der ihn wie einen Bekannten 
anredet, entdeckt ein drittes, versteckt gelegenes Wirtshaus, 
den „Albergo del Sole", dessen Besitzer ihm eine grünpati- 
nierte Metallspange als Fundstück bei den Überresten eines 
pompe janischen Mädchens aufschwatzt, und wird endlich in 
seinem eigenen Gasthof auf ein neu angekommenes junges 
Menschenpaar aufmerksam, welches er als Geschwisterpaar dia- 
gnostiziert, und dem er seine Sympathie schenkt. Alle diese 
Eindrücke verweben sich dann zu einem „merkwürdig unsin- 
nigen" Traum, der folgenden Wortlaut hat: 

„Irgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva, macht aus 
einem Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse darin zu fan- 
gen, und sagt dazu: ,Bitte, halte dich ganz ruhig — die Kolle- 
gin hat recht, das Mittel ist wirklich gut, und sie hat es 
mit bestem Erfolge angewendet*." 

Gegen diesen Traum wehrt er sich noch im Schlafe mit 
der Kritik, das sei in der Tat vollständige Verrücktheit, und 
wirft sich herum, um von ihm loszukommen. Dies gelingt 
ihm auch mit Beihilfe eines unsichtbaren Vogels, der einen 
kurzen, lachenden ßuf ausstößt und die Lacerte im Schnabel 
fortträgt. 

Wollen wir den Versuch wagen, auch diesen Traum zu 
deuten, d. h. ihn durch die latenten Gedanken zu ersetzen, 
aus deren Entstellung er hervorgegangen sein muß? Er ist 
so unsinnig, wie man es nur von einem Traume erwarten kann, 
und diese Absurdität der Träume ist ja die Hauptstütze der 
Anschauung, welche dem Traum den Charakter eines voll- 
giltigen psychischen Aktes verweigert und ihn aus einer plan- 
losen Erregung der psychischen Elemente hervorgehen läßt. 



IN W. Jia^SEN» „GRADIVA" 68 

Wir können auf diesen Traum die Technik anwenden, 
welche als das reguläre Verfahren der Traumdeutung bezeich- 
net werden kann. Es besteht darin, sich um den scheinbaren 
Zusammenhang im manifesten Traum nicht zu bekümmern, 
sondern jedes Stück des Inhaltes für sich ins Auge zu fassen 
und in den Eindrücken, Erinnerungen und freien Einfällen des 
Trämners die Ableitung desselben zu suchen. Da wir aber 
Hanold nicht examinieren können, werden wir uns mit der 
Beziehung auf seine Eindrücke zufrieden geben müssen, und 
nur ganz schüchtern xmsere eigenen Einfälle an die Stelle der 
seinigen setzen dürfen. 

, Jrgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva, fängt Eidechsen 
und spricht dazu'^ — an welchen Eindruck des Tages klingt 
dieser Teil des Traumes an? Unzweifelhaft an die Begegnung 
mit dem älteren Herrn, dem Eidechsenfänger, der also im 
Traum durch die Gradiva ersetzt ist. Der saß oder lag an 
„einem heiBbesonnten" Abhang und sprach auch Hanold an. 
Auch die Beden der Gradiva im Traum sind nach der Bede 
jenes Mannes kopiert. Man vergleiche: „Das vom Kollegen 
Eimer angegebene Mittel ist wirklich gut, ich habe es schon 
mehrmals mit bestem Erfolg angewendet. Bitte, halten 8^ 
sich ganz ruhig — ." Ganz ähnlich spricht die Gradiva im 
Traum, nur daß der Kollege Eimer durch eine imbenannte 
Kollegin ersetzt ist; auch ist das „mehrmals^* aus der Bede 
des 2«oologen im Traume weggeblieben und die Bindung der 
Sätze etwas geändert worden. Es scheint also, daß dieses Er- 
lebnis des Tages durch einige Abänderungen imd Entstellimgen 
zum Traume umgewandelt worden ist. "Warum gerade dieses, 
und was bedeuten die Entstellungen, der Ersatz des alten 
Herrn durch die Gradiva und die Einführung der rätselhaften 
„Kollegin"? 

Es gibt eine Begel der Traumdeutung, welche lautet: 
Eine im Traum gehörte Bede stammt immer von einer im 
Wachen gehörten oder selbst gehaltenen Bede ab. Nun, diese 
Begel scheint hier befolgt, die Bede der Gradiva ist nur eine 
Modifikation der bei Tag gehörten Bede des alten Zoologen. 
Sine andere Begel der Traumdeutung würde uns sagen, die 
Ersetzung einer Person durch eine andere oder die VermengUBg 



64 DEB WAHN UND DIE TRÄUME 

zweier Personen, indem etwa die eine in einer Situation ge- 
zeigt wird, welche die andere charakterisiert, bedeutet eine 
Gleichstellung der beiden Personen, eine Übereinstimmung zwi- 
schen denselben, Wagen wir es, auch diese Hegel duf unseren 
Traum anzuwenden, so ergäbe sich die Übersetzung: die Gra- 
diva fängt Eidechsen wie jener Alte, versteht sich auf den 
Eidechsenfang wie er. Verständlich ist dieses Ergebnis gerade 
noch nicht, aber wir haben ja noch ein anderes Eätsel vor 
uns. Auf welchen Eindruck des Tages sollen wir die „Kolle- 
gin" beziehen, die im Traum den berühmten Zoologen Eimer 
ersetzt? Wir haben da zum Glück nicht viel Auswahl, es 
kann nur ein anderes Mädchen als Kollegin gemeint sein, also 
jene sympathische junge Dame, in der Hanold eine in Ge- 
sellschaft ihres Bruders reisende Schwester erkannt hatte. 
„Sie trug eine rote Sorrentiner ßose am Kleid, deren Anblick 
an etwas im Gedächtnis des aus seiner Stubenecke Hinüber- 
schauenden rührte, ohne daß er sich darauf besinnen konnte, 
was es sei." Diese Bemerkung des Dichters gibt uns wohl 
das Brecht, sie für die „Kollegin" im Traume in Anspruch zu 
nehmen. Das, was Hanold nicht erinnern konnte, war gewiß 
nichts anderes als das Wort der vermeintlichen Gradiva, glück- 
licheren Mädchen bringe man im Frühling Bösen, als sie die 
weiße Gräberblume von ihm verlangte. In dieser Bede lag 
aber eine Werbung verborgen. Was mag das nun für ein 
Eidechsenfang sein, der dieser glücklicheren Kollegin so gut 
gelungen? 

Am nächsten Tage überrascht Hanold das vermeintliche 
Geschwisterpaar in zärtlicher Umarmung und kann so seinen 
Irrtum vom Vortage berichtigen. Es ist wirklich ein Liebes- 
paar, und zwar auf der Hochzeitsreise begriffen, wie wir später 
erfahren, als die beiden das dritte Beisammensein Hanolds 
mit der Zoe so unvermutet stören. Wenn wir nun annehmen 
wollen, daß Hanold, der sie bewußt für Geschwister hält, 
in seinem Unbewußten sogleich ihre wirkliche Beziehung er- 
kannt hat, die sich tags darauf so unzweideutig verrät, so 
ergibt sich allerdings ein guter Sinn für die Bede der Gra- 
diva im Traume. Die rote Böse wird dann zum Symbol der 
Liebesbeziehung; Hanold versteht, daß die beiden das sind, 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 65 

WOZU er und die Gradiva erst werden sollen, der Eidechsen- 
fang bekommt die Bedeutung des Männerfanges, und die Bede 
der Gradiva heißt etwa: Laß mich nur machen, ich verstehe 
es ebenso gut, mir einen Mann zu gewinnen wie dieses andere 
Mädchen. 

Warum mußte aber dieses Durchschauen der Absichten der 
Zoe durchaus in der Form der Bede des alten Zoologen im 
Traume erscheinen? .Warum die Geschicklichkeit Zoes im 
Männerfang durch die des alten Herrn im Eidechsenfang dar- 
gestellt werden? Nun, wir haben es leicht, diese Frage zu be- 
antworten; wir haben längst erraten, daß der Eidechsenfänger 
kein anderer ist als der Zoologieprofessor Bertgang, Zoes 
Vater, der ja auch Hanold kennen muß, so daß sich verstehen 
läßt, daß er Hanold wie einen Bekannten anredet* Nehmen 
wir von neuem an, daß Hanold im Unbewußten den Pro- 
fessor gleichfalls sofort erkannt habe, — „Ihm war's dunkel, 
das Gesicht des Lacerten Jägers sei schon einmal, wahrscheinlich 
in einem der beiden Gasthöfe, an seinen Augen vorübergegan- 
gen — ", so erklärt sich die sonderbare Einkleidung des der 
Zoe beigelegten Vorsatzes. Sie ist die Tochter des Eidechsen- 
fängers, sie hat diese Geschicklichkeit von ihm. 

Die Ersetzung des Eidechsenfängers durch die Gradiva im 
Trauminhalt ist also die Darstellung für die im Unbewußten 
erkannte Beziehung der beiden Personen; die Einführung der 
„Kollegin" an Stelle des Kollegen Eimer gestattet es dem 
Traum, das Verständnis ihrer .Werbung um den Mann zum 
Ausdruck zu bringen. Der Traum hat bisher zwei der Er- 
lebnisse des Tages zu einer Situation zusammengeschweißt, 
„verdichtet", wie wir sagen, um zwei Einsichten, die nicht 
bewußt werden durften, einen allerdings sehr unkenntlichen 
Ausdruck zu verschaffen. Wir können aber weiter gehen, die 
Sonderbarkeit des Traumes noch mehr verringern und den Ein- 
fluß auch der anderen Tageserlebnisse auf die Gestaltung des 
manifesten Traumes nachweisen. 

Wir könnten uns unbefriedigt durch die bisherige Auskunft 
erklären, weshalb gerade die Szene des Eidechsenfanges zum 
Kern des Traumes gemacht worden ist, und vermuten, daß 
noch andere Elemente in den Traumgedanken für die Aus- 
Fr end, D«r W»hn und di« Trftame. 5 



66 DEB WAHN UND DIE TRÄUME 

zeiclmung der „Eidechse" im manifesten Traum mit ihrem 
Einfluß eingetreten sind. Es könnte wirklich leicht so sein. 
Erinnern wir uns, daß Hanold einen Spalt in der Mauer 
entdeckt hatte, an der Stelle, wo ihm die Gradiva zu ver- 
schwinden schien, der „immerhin breit genug war, um eine 
Oestalt von ungewöhnlicher Schlankheit" durchschlüpfen zu 
lassen. Durch diese Wahrnehmung wurde er bei Tag zu einer 
Abänderung in seinem Wahn veranlaßt, die Gradiva versinke 
nicht im Boden, wenn sie seinen Blicken entschwinde, sondern 
begebe sich auf diesem Wege in ihre Gruft zurück. In seinem 
unbewußten Denken mochte er sich sagen, er habe jetzt die 
natürliche Erklärung für das überraschende Verschwinden des 
Mädchens gefunden. Muß aber nicht das sich durch enge 
Spalten Zwängen imd das Verschwinden in solchen Spalten an 
das Benehmen von Lacerten erinnern? Verhält sich die Gradiva 
dabei nicht selbst wie ein flinkes Eidechslein? Wir meinen also, 
diese Entdeckung des Spaltes in der Mauer habe mitbestimmend 
auf die Auswahl des Elementes „Eidechse" für den manifesten 
Trauminhalt gewirkt, die Eidechsensituation des Traumes ver~ 
trete ebensowohl diesen Eindruck des Tages wie die Begegnimg 
mit dem Zoologen, Zoes Vater. 

Und wenn wir nun, kühn geworden, versuchen wollten, auch 
für das eine, noch nicht verwertete Erlebnis des Tages, die Ent- 
deckung des dritten Albergo „del Sole", eine Vertretung im 
Trauminhalt zu finden? Der Dichter hat diese Episode so 
ausführlich behandelt und so vielerlei an sie geknüpft, daß 
wir uns verwundem müßten, wenn sie allein keinen Beitrag 
zur Traumbildung abgegeben hätte. Hanold tritt in dieses Wirts- 
haus, welches ihm wegen seiner abgelegenen Lage und Entfernung 
vom Bahnhofe unbekannt geblieben war, um sich eine Flasche 
kohlensauren Wassers gegen seinen Blutandrang geben zu 
lassen. Der Wirt benützt diese Gelegenheit, um seine Anti- 
quitäten anzupreisen, und zeigt ihm eine Spange, die angeb- 
lich jenem pompejanischen Mädchen angehört hatte, das in der 
Nähe des Forums in inniger ümschlingung mit seinem Geliebten 
aufgefunden wurde. Hanold, der diese oft wiederholte Erzäh- 
lung bisher niemals geglaubt, wird jetzt durch eine ihm unbe- 
kannte Macht genötigt, an die Wahrheit dieser rührenden Ge- 



IN W. JENSENS „GRADIVA^* 67 

schichte imd an die Echtheit des Fundstückes zu glauben, er- 
wirbt die Fibula und verläßt mit seinem Erwerb den Gast- 
hof. Im Fortgehen sieht er an einem der Fenster einen in 
ein Wasserglas gestellten, mit weißen Blüten behängten As- 
phodelosschaft herabnicken und empfindet diesen Anblick als 
eine Beglaubigung der Echtheit seines neuen Besitztums. Die 
wahrhafte Überzeugung durchdringt ihn jetzt, die grüne Spange 
habe der Gradiva angehört, und sie sei das Mädchen gewesen, 
das in der Umarmung ihres Geliebten gestorben sei. Die quä- 
lende Eifersucht, die ihn dabei erfaßt, beschwichtigt er durch 
den Vorsatz, sich am nächsten Tage bei der Gradiva selbst 
durch das Vorzeigen der Spange Sicherheit wegen seines Arg- 
wohnes zu holen. Dies ist doch ein sonderbares Stück neuer 
Wahnbildung, und es sollte keine Spur im Traume der nächst- 
folgenden Nacht darauf hinweisen! 

Es wird uns wohl der Mühe wert sein, iins die Entstehimg 
dieses Wahnzuwachses verständlich zu machen, das neue Stück 
unbewußter Einsicht aufzusuchen, das sieh durch das neue 
Stück Wahn ersetzt. Der Wahn entsteht unter dem Einfluß 
des Wirtes vom Sonnenwirtshaus, gegen den sich Hanold so 
merkwürdig leichtgläubig benimmt, als hätte er eine Suggestion 
von ihm empfangen. Der Wirt zeigt ihm eine metallene Ge- 
wandfibel als echt und als Besitztum jenes Mädchens, das in 
den Armen seines Geliebten verschüttet aufgefunden wurde, und 
Hanold, der kritisch genug sein könnte, um die Wahrheit d^r 
Geschichte sowie die Echtheit der Spange zu bezweifeln, ist 
sofort gläubig gefangen und erwirbt die mehr als zweifelhafte 
Antiquität. Es ist ganz unverständlich, warum er sich so be- 
nehmen sollte, und es deutet nichts darauf, daß die Person- 
lichkeit des Wirtes selbst uns dieses Bätsei lösen könnte. Es 
ist aber noch ein anderes Bätsei in dem Vorfall, und zwei 
Bätsei lösen sich gern miteinander. Beim Verlassen des Al- 
bergo erblickt er einen Asphodelosschaft im Glase an einem 
Fenster und findet in ihm eine Beglaubigung für die Echt- 
heit der Metallspange. Wie kann das nur zugehen? Dieser 
letzte Zug ist zum Glück der Lösung leicht zugänglich. Die 
weiße Blume ist wohl dieselbe, die er zu Mittag der Gradiva 
geschenkt, und es ist ganz richtig, daß durch ihren Anblick 

6* 



68 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

an einem der Fenster dieses Gasthofes etwas bekräftigt wird. 
Freilich nicht die Echtheit der Spange, aber etwas anderes, 
was ihm schon bei der Entdeckung dieses bisher übersehenen 
Albergo klar geworden. Er hatte bereits am Vortage sich so be- 
nommen, als suchte er in den beiden Gasthöfen Pompejis, wo 
die Person wohne, die ihm als Gradiva erscheine. Nun, da 
er so unvermuteterweise auf einen dritten stößt, muß er sich 
im Unbewußten sagen: Also hier wohnt sie; und dann beim 
Weggehen: Eichtig, da ist ja die Asphodelosblume, die ich 
ihr gegeben; das ist also ihr Fenster. Dies wäre also die 
neue Einsicht, die sich durch den "Wahn ersetzt, die nicht be- 
wußt werden kann, weil ihre Voraussetzung, die Gradiva sei 
eine Lebende, von ihm einst gekannte Person, nicht bewußt 
werden konnte. 

"Wie soll nun aber die Ersetzung der neuen Einsicht durch 
den Wahn vor sich gegangen sein? Ich meine so, daß das 
Überzeugungsgefühl, welches der Einsicht anhaftete, sich be- 
haupten konnte und erhalten blieb, während für die bewußt- 
seinsunfähige Einsicht selbst ein anderer, aber durch Denk- 
verbindung mit ihr verknüpfter Vorstellungsinhalt eintrat. 
So geriet nun das Überzeugungsgefühl in Verbindung mit einem 
ihm eigentlich fremden Inhalt, und dieser letztere gelangte als 
Wahn zu einer ihm selbst nicht gebührenden Anerkennung. 
Hanold überträgt seine Überzeugung, daß die Gradiva in die- 
sem Hause wohne, auf andere Eindrücke, die er in diesem 
Hause empfängt, wird auf solche Weise gläubig für <lie Ee- 
den des Wirtes, die Echtheit der Metallspange und die Wahr- 
heit der Anekdote von dem in Umarmung aufgefundenen Lie- 
bespaar, aber nur auf dem Wege, daß er das in diesem Hause 
Gehörte mit der Gradiva in Beziehung bringt. Die in ihm 
bereitliegende Eifersucht bemächtigt sich dieses Materials, und 
es entsteht, selbst im Widerspruch mit seinem ersten Traum, 
der Wahn, daß die Gradiva jenes in den Armen ihres Lieb- 
habers verstorbene Mädchen war, und daß ihr jene von ihm 
erworbene Spange gehört hat. 

Wir werden aufmerksam darauf, daß das Gespräch mit 
der Gradiva und ihre leise Werbung „durch die Blume" be- 
reits wichtige Veränderungen bei Hanold hervorgerufen ha-» 



IN W. JENSENS „GRADIVA*' 69 

ben. Züge von männlicher Begehrlichkeit, Komponenten der 
Libido, sind bei ihm erwacht, die allerdings der Verhüllung 
durch bewußte Vorwände noch nicht entbehren können. Aber 
das Problem der „leiblichen Beschaffenheit'^ der Oradiva, das 
ihn diesen ganzen Tag über verfolgt, kann doch seine Ab- 
stammung von der erotischen Wißbegierde des Jünglings nach 
dem Körper des Weibes nicht verleugnen, auch wenn es durch 
die bewußte Betonung des eigentümlichen Schwebens der Gra- 
diva zwischen Tod und Leben ins Wissenschaftliche gezogen 
werden soll. Die Eifersucht ist ein weiteres Zeichen der er- 
wachenden Aktivität Hanolds in der Liebe; er äußert diese 
Eifersucht zu Eingang der Unterredung am nächsten Tage 
und setzt es dann mit Hilfe eines neuen Vorwandes durch, 
den Körper des Mädchens zu berühren und sie, wie in längst 
vergangenen Zeiten, zu schlagen. 

Nun aber ist es Zeit, uns zu fragen, ob denn der Weg 
der Wahnbildung, den wir aus der Darstellung des Dichters 
erschlossen haben, ein sonst bekannter oder ein überhaupt mög- 
licher sei. Aus imserer ärztUchen Kenntnis können wir nur die 
Antwort geben, es sei gewiß der richtige Weg, vielleicht der 
einzige, auf dem überhaupt der Wahn zu der unerschütter- 
lichen Anerkennung gelangt, die zu seinen klinischen Charak- 
teren gehört. Wenn der Kranke so fest an seinen Wahn 
glaubt, so geschieht dies nicht durch eine Verkehrung seines 
Urteilsvermögens, imd rührt nicht von dem her, was am Wahne 
irrig ist. Sondern in jedem Wahn steckt auch ein Kömchen 
Wahrheit, es ist etwas an ihm, was wirklich den Glauben 
verdient, und dieses ist die Quelle der also so weit berech- 
tigten Überzeugung des Kranken. Aber dieses Wahre war 
lange Zeit verdrängt; wenn es ihm endlich gelingt, diesmal 
in entstellter Form zum Bewußtsein durchzudringen, so ist 
das ihm anhaftende Überzeugungsgefühl wie zur Entschädigung 
überstark, haftet nun am Entstelltmgsersatz des verdrängten 
Wahren und schützt denselben gegen jede kritische Anfech- 
tung. Die Überzeugung verschiebt sich gleichsam von dem 
unbewußten Wahren auf das mit ihm verknüpfte, bewußte 
Irrige, und bleibt gerade infolge dieser Verschiebung dort 
fixiert. Der Fall von Wahnbildung, der sich aus Hanolds 



70 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

erstem Traum ergab, ist nichts als ein ähnliches, wenn 
auch nicht identisches Beispiel einer solchen Verschiebung. Ja, 
die geschilderte Entstehungsweise der Überzeugung beim Wahne 
ist nicht einmal grundsätzlich von der Art verschieden, wie 
sich Überzeugung in normalen Fällen bildet, wo die Verdrän- 
gung nicht im Spiele ist. Wir alle heften unsere Überzeugung 
an Denkinhalte, in denen Wahres mit Falschem vereint ist, 
und lassen sie vom ersteren aus sich über das letztere er- 
strecken. Sie diffundiert gleichsam von dem Wahren her über 
das assoziierte Falsche imd schützt dieses, wenn auch nicht 
80 imabänderlich wie beim Wahn, gegen die verdiente Kritik. 
Beziehimgen, Protektion gleichsam, können auch in der Nor- 
malpsychologie den eigenen Wert ersetzen. — 

Ich will nun zum Traum zurückkehren und einen kleinen, 
aber nicht uninteressanten Zug hervorheben, der zwischen zwei 
Anlässen des Traumes eine Verbindung herstellt. Die Gradiva 
Hatte die weiße Asphodelosblüte in einen gewissen Gegen- 
satz zur roten Rose gebracht; das Wiederfinden des Asphodels 
am Fenster des Albergo del Sole wird zu einem wichtigen Be- 
weisstück für die unbewußte Einsicht Hanolds, die sich im 
neuen Wahn ausdrückt, und dem reiht sich an, daß die rote 
Böse am Kleid des sympathischen jungen Mädchens Hanold 
im Unbewußten zur richtigen Würdigung ihres Verhältnisses 
zu ihrem Begleiter verhilft, so daß er sie im Traum als 
„Kollegin" auftreten lassen kann. 

Wo findet sich nun aber im manifesten Trauminhalt die 
Spur uiid Vertretung jener Entdeckung Hanolds, welche wir 
durch den neuen Wahn ersetzt fanden, der Entdeckung, daß 
die Gradiva mit ihrem Vater in dem dritten versteckten Gast- 
hof Pompejis, im Albergo del Sole wohne? Nun, es steht ganz 
und nicht einmal sehr entstellt im Traume drin; ich scheue 
mich nur darauf hinzuweisen, denn ich weiß, selbst bei den 
Lesern, deren Geduld so weit bei mir ausgehalten hat, wird sich 
nun ein starkes Sträuben gegen meine Deutungsversuchei re- 
gen. Die Entdeckimg Hanolds ist im Trauminhalt, wieder- 
hole ich, voll mitgeteilt, aber so geschickt versteckt, daß man 
isie notwendig übersehen muß. Sie ist dort hinter einem Spiel 
mit Worten, einer Zweideutigkeit geborgen. „Irgendwo in der 



IN W. JENSENS „GEADIVA** 71 

Sonne sitzt die Gradiva," das haben wir mit Becht auf die 
Ortlichkeit bezogen, an welcher Hanold den Zoologen, ihren 
Vater, traf. Aber soll es nicht auch heißen können: in der 
„Sonne", d. i. im Albergo del Sole, im Gasthaus zur Sonne 
wohnt die Gradiva? Und klingt das „Irgendwo", welches auf 
die Begegnung mit dem Vater keinen Bezug hat, nicht gerade 
darum so heuchlerisch unbestimmt, weil es die bestimmte Aus- 
kunft über den Aufenthalt der Gradiva einleitet? Ich bin 
nach meiner sonstigen Erfahrung in der Deutung realer Träume 
eines solchen Verständnisses der Zweideutigkeit ganz sicher, 
aber ich getraute mich wirklich nicht, dieses Stückchen Deu- 
tungsarbeit meinen Lesern vorzulegen, wenn der Dichter mir 
nicht hier seine mächtige Hilfe leihen würde. Am nächsten 
Tage legt er dem Mädchen beim Anblick der Metallspange 
das nämliche "Wortspiel in den Mund, welches wir für 
die Deutung der Stelle im Trauminhalt annehmen. „Hast 
du sie vielleicht in der Sonne gefunden, die macht hier 
solche Kunststücke." Und da Hanold diese Eede nicht ver- 
steht, erläutert sie, sie meine den Gasthof zur Sonne, die sie 
hier „Sole" heißen, von woher auch ihr das angebliche Fund- 
stück bekannt ist. 

Und nun möchten wir den Versuch wagen, den „merk- 
würdig unsinnigen" Traum Hanolds durch die hinter ihm 
verborgenen, ihm möglichst unähnlichen, unbewußten Gedan- 
ken zu ersetzen. Etwa so: „Sie wohnt ja in der Sonne mit 
ihrem Vater, warum spielt sie solches Spiel mit mir? "Will 
sie ihren Spott mit mir treiben? Oder sollte es möglich sein, 
daß sie mich liebt und mich zum Manne nehmen will?" — 
Auf diese letztere Möglichkeit erfolgt wohl noch im Schlaf 
die abweisende Antwort: das sei ja die reinste Verrücktheit, 
die sich scheinbar gegen den ganzen manifesten Traum richtet. 

Kritische Leser haben nun das Becht, nach der Herkunft 
jener bisher nicht begründeten Einschaltung zu fragen, die 
sich auf das Verspottetwerden durch die Gradiva bezieht. 
Darauf gibt die „Traumdeutung" die Antwort, wenn in den 
Traumgedanken Spott, Hohn, erbitterter .Widerspruch vor- 
kommt, so wird dies durch die unsinnige Gestaltung des mani- 
festen Traumes, durch die Absurdität im Traume ausgedrückt. 



72 DER WAHN UND DIB TRÄUME 

Letztere bedeutet also kein Erlahmen der psychischen Tätigkeit, 
sondern ist eines der Darstellnngsmittel, deren sich die Traum- 
arbeit bedient. .Wie immer an besonders schwierigen Stellen 
kommt uns auch hier der Dichter zu Hilfe. Der imsinnige 
Traum hat noch ein kurzes Nachspiel, in dem ein Vogel einen 
lachenden Buf ausstößt und die Lacerte im Schnabel davonträgt. 
Einen solchen lachenden Euf hatte Hanold aber nach dem 
Verschwinden der Gradiva gehört. Er kam wirklich von der 
Zoe her, die den düsteren Ernst ihrer Unterweltsrolle mit die- 
sem Lachen von sich abschüttelte. Die Gradiva hatte ihn wirk- 
lich ausgelacht. Das Traumbild aber, wie der Vogel die Lacerte 
davonträgt, mag an jenes andere in einem früheren Traum 
erinnern, in dem der Apoll von Belvedere die kapitolinische 
Venus davontrug. 

Vielleicht besteht noch bei manchem Leser der Eindruck, 
daß die Übersetzung der Situation des Eidechsenfanges durch 
die Idee der Liebeswerbung nicht genügend gesichert sei. Da 
mag denn der Hinweis zur Unterstützimg dienen, daß Zoe in 
dem Gespräch mit der Kollegin das nämliche von sich be- 
kennt, was Hanolds Gedanken von ihr vermuten, indem sie 
mitteilt, sie sei sicher gewesen, sich in Pompeji etwas Inter- 
essantes „auszugraben". Sie greift dabei in den archäologischen 
Vorstellungskreis, wie er mit seinem Gleichnis vom Eidechsen- 
fang in den zoologischen, als ob sie einander entgegenstreben 
würden und jeder die Eigenart des anderen annehmen wollte. 

So hätten wir die Deutung auch dieses zweiten Traumes 
erledigt. Beide sind unserem Verständnis zugänglich geworden 
unter der Voraussetzung, daß der Träumer in seinem unbe- 
wußten Denken all das weiß, was er im bewußten vergessen 
hat, all das dort richtig beurteilt, was er hier wahnhaft ver- 
kennt. Dabei haben wir freilich manche Behauptung aufstellen 
müssen, die dem Leser, weil fremd, auch befremdlich klang, 
und wahrscheinlich oft den Verdacht erweckt, daß wir für den 
Sinn des Dichters ausgeben, was nur imser eigener Sinn ist. 
Wir sind alles zu tun bereit, um diesen Verdacht zu zer- 
streuen, und wollen darum einen der heikelsten Funkte — ich 
meine die Verwendimg zweideutiger Worte und Reden wie im 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 78 

Beispiele: Irgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva — gern 
ausführlicher in Betrachtung ziehen. 

Es muß jedem Leser der „Gradiva" auffallen, wie häufig 
der Dichter seinen beiden Hauptpersonen Beden in den Mund 
legt, die zweierlei Sinn ergeben. Bei Hanold sind diese Ke- 
den eindeutig gemeint, und nur seine Partnerin, die Gradiva, 
wird von deren anderem Sinn ergriffen. So, wenn er nach 
ihrer ersten Antwort ausruft: Ich wußte es, so klänge deine 
Stimme, imd die noch unaufgeklärte Zoe fragen muß, wie das 
möglich sei, da er sie noch nicht sprechen gehört habe. In der 
zweiten Unterredung wird das Mädchen für einen Augenblick 
an seinem Wahne irre, da er .versichert, er habe sie sofort 
erkannt. Sie muß diese Worte in dem Sinne verstehen, der 
für sein Unbewußtes richtig ist als Anerkennung ihrer in 
die Kindheit zurückreichenden Bekanntschaft, während er na- 
türlich von dieser Tragweite seiner Bede nichts weiß und sie 
auch nur durch Beziehung auf den ihn beherrschenden Wahn 
erläutert. Die Beden des Mädchens hingegen, in deren Person 
die hellste Greistesklarheit dem Wahn entgegengestellt wird, 
sind mit Absicht zweideutig gehalten. Der eine Sinn derselben 
schmiegt sich dem Wahne Hanolds an, um in sein bewußtes 
Verständnis dringen zu können, der andere erhebt sich über 
den Wahn und gibt uns in der Begel die Übersetzung des- 
selben in die von ihm vertretene unbewußte Wahrheit. Es 
ist ein Triumph des Witzes, den Wahn und die Wahrheit in 
der nämlichen Ausdrucksform darstellen zu können. 

Durchsetzt von solchen Zweideutigkeiten ist die Bede der 
Zoe, in welcher sie der Freundin die Situation aufklärt und 
sich gleichzeitig von ihrer störenden Gesellschaft befreit; sie 
ist eigentlich aus dem Buche herausgesprochen, mehr für uns 
Leser als für die glückliche Kollegin berechnet. In den Ge- 
sprächen mit Hanold ist der Doppelsinn meist dadurch her- 
gestellt, daß Zoe sich der Symbolik bedient, welche wir im 
ersten Traume Hanolds befolgt fanden, der Gleichstellung 
von Verdrängung und Verschüttung, Pompeji und Kindheit. 
So kann sie mit ihren Beden einerseits in der Bolle verbleiben, 
die ihr der Wahn Hanolds anweist, anderseits an die wirk- 



74 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

liehen Verhältnisse rühren und im Unbewußten Hanolds das 
Verständnis für dieselben wecken. 

„Ich habe mich schon lange daran gewöhnt, tot zu sein." 
(G. p. 90.) — »Für mich ist die Blume der Vergessenheit aus 
deiner Hand die richtige." (G. p. 90.) In diesen Beden meldet 
sich leise der Vorwurf, der dann in ihrer letzten Strafpredigt 
deutlich genug hervorbricht, wo sie ihn mit dem Archäopteryx 
vergleicht. „Daß jemand erst sterben muß, um lebendig zu 
werden. Aber für die Archäologen ist das wohl notwendig" 
(G. p. 141), sagt sie noch nachträglich nach der Lösung des 
.Wahnes, wie um den Schlüssel zu ihren zweideutigen Beden 
zu geben. Die schönste Anwendung ihrer Symbolik gelingt ihr 
aber in der Frage : (G. p. 118) „Mir ist's, als hätten wir schon 
vor zweitausend Jahren einmal so zusammen unser Brot ge- 
gessen. Kannst du dich nicht darauf besinnen?", in welcher 
Bede die Ersetzung der Kindheit durch die historische Vorzeit 
und das Bemühen, die Erinnerung an die erstere zu erwecken, 
ganz unverkennbar sind. 

Woher nun diese auffällige Bevorzugung der zweideutigen 
Beden in der „Gradiva"? Sie erscheint uns nicht als Zufällig- 
keit, sondern als notwendige Abfolge aus den Voraussetzungen 
der Erzählung. Sie ist nichts anderes als das Seitenstück zur 
zweifachen Determinierung der Symptome, insofern die Beden 
selbst Symptome sind und wie diese aus Kompromissen zwi- 
schen Bewußtem und Unbewußtem hervorgehen. Nur daß man 
den Beden diesen doppelten Ursprung leichter anmerkt als etwa 
den Handlungen, und wenn es gelingt, was die Schmiegsamkeit 
des Materials der Bede oftmals ermöglicht, in der nämlichen 
Fügung von Worten jedem der beiden Bedeabsichten guten 
Ausdruck zu verschaffen, dann liegt das vor, was wir eine 
„Zweideutigkeit" heißen. 

Während der psychotherapeutischen Behandlung eines 
Wahnes oder einer analogen Stönmg entwickelt man häufig 
solche zweideutige Beden beim Kranken, als neue Symptome 
von flüchtigstem Bestand, und kann auch selbst in die Lage 
kommen, sich ihrer zu bedienen, wobei man mit dem für das 
Bewußtsein des Kranken bestinunten Sinn nicht selten das Ver- 
ständnis für den im Unbewußten giltigen anregt. Ich weiß aus 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 75 

Erfahrung, daß diese Bolle der Zweideutigkeit bei den Un- 
eingeweihten den größten Anstoß zu erregen und die gröbsten 
Mißverständnisse zu verursachen pflegt, aber der Dichter hatte 
jedenfalls recht, auch diesen charakteristischen Zug der Vor- 
gänge bei der Traum- und Wahnbildung in seiner Schöpfung 
zur Darstellung zu bringen. 

IV. 

Mit dem Auftreten der Zoe als Arzt erwache bei uns, 
* sagten wir bereits, ein neues Interesse. Wir würden gespannt 
sein zu erfahren, ob eine solche Heilung, wie sie von ihr an 
Hanold vollzogen wird, begreiflich oder überhaupt möglich 
ist, ob der Dichter die Bedingungen für das Schwinden eines 
Wahnes ebenso richtig erschaut hat wie die seiner Ent- 
stehung. 

Ohne Zweifel wird uns hier eine Anschauung entgegen- 
treten, die dem vom Dichter geschilderten Falle solches prin- 
zipielle Interesse abspricht und kein der Aufklärung bedürf- 
tiges Problem anerkennt. Dem Hanold bleibe nichts anderes 
übrig, als seinen Wahn wieder aufzulösen, nachdem das Objekt 
desselben, die vermeintliche „Gradiva" selbst, ihn der Unrich- 
tigkeit all seiner Aufstellungen überführe und ihm die natür- 
lichsten Erklärungen für alles Kiätselhafte, z. B. woher sie 
seinen Namen wisse, gebe. Damit wäre die Angelegenheit logisch 
erledigt; da aber das Mädchen ihm in diesem Zusammenhange 
ihre Liebe gestanden, lasse der Dichter, gewiß zur Befriedigung 
seiner Leserinnen, die sonst nicht uninteressante Erzählung 
mit dem gewöhnlichen glücklichen Schluß, der Heirat, enden. 
Konsequenter und ebenso möglich wäre der andere Schluß 
gewesen, daß der junge Grelehrte nach der Aufklärung seines 
Irrtums mit höflichem Danke von der jungen Dame Abschied 
nehme und die Ablehnung ihrer Liebe damit motiviere, daß 
er zwar für antike Frauen aus Bronze oder Stein und deren 
Urbilder, wenn sie dem Verkehr erreichbar wären, ein inten- 
sives Interesse aufbringen könne, mit einem zeitgenössischen 
Mädchen aus Fleisch und Bein aber nichts anzufangen wisse. 
Das archäologische Phantasiestück sei eben vom Dichter recht 
willkürlich mit einer Liebesgeschichte zusammengekittet worden. 



76 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

Indem wir diese Auffassung als unmöglich abweisen, wer- 
den wir erst aufmerksam gemacht, daß wir die an Hanold 
eintretende Veränderung nicht nur in den Verzicht auf den 
Wahn zu verlegen haben. Gleichzeitig, ja noch vor der Auf- 
lösung des letzteren, ist das Erwachen des Liebesbedürfnisses 
bei ihm unverkennbar, das dann wie selbstverständlich in die 
Werbung um das Mädchen ausläuft, welches ihn von seinem 
"Wahn befreit hat. Wir haben bereits hervorgehoben, unter 
welchen Vorwänden und Einkleidungen die Neugierde nach 
ihrer leiblichen Beschaffenheit, die Eifersucht und der brutale 
männliche Bemächtigungstrieb sich bei ihm mitten im Wahne 
äußern, seitdem die verdrängte Liebessehnsucht ihm den ersten 
Traum eingegeben hat. Nehmen wir als weiteres Zeugnis hinzu, 
daß am Abend nach der zweiten Unterredung mit der Gradiva 
ihm zuerst ein lebendes weibliches Wesen sympathisch er- 
scheint, obwohl er noch seinem früheren Abscheu vor Hoch- 
zeitsreisenden die Konzession macht, die Sympathische nicht 
als Neuvermählte zu erkennen. Am nächsten Vormittag aber 
macht ihn ein Zufall zum Zeugen des Austausches von Zärt- 
lichkeiten zwischen diesem Mädchen und seinem vermeintUchen 
Bruder, und da zieht er sich scheu zurück, als hätte er eine 
heilige Handlung gestört. Der Hohn auf „August und Grete" 
ist vergessen, der Respekt vor dem Liebesleben bei ihm her- 
gestellt. 

So hat der Dichter die Lösung des Wahnes und das Her- 
vorbrechen des Liebesbedürfnisses innigst miteinander ver- 
knüpft, den Ausgang in eine Liebeswerbung als notwendig vor- 
bereitet. Er kennt das Wesen des Wahnes eben besser als 
seine Kritiker, er weiß, daß eine Komponente von verliebter 
Sehnsucht mit einer Komponente des Sträubens zur Entstehung 
des Wahnes zusammengetreten sind, und er läßt das Mädchen, 
welches die Heilung unternimmt, die ihr genehme Komponente 
im Wahne Hanolds herausfühlen. Nur diese Einsicht kann 
sie bestimmen, sich seiner Behandlung zu widmen, nur 
die Sicherheit, sich von ihm geliebt zu wissen, sie bewegen, 
ihm ihre Liebe zu gestehen. Die Behandlung besteht darin, 
ihm die verdrängten Erinnerungen, die er von innen her nicht 
freimachen kann, von außen her wiederzugeben; sie würde 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 77 

aber keine Wirkung äußern, wenn die Therapeutin dabei nicht 
auf die Gefühle Eücksicht nehmen, und die Übersetzung 
des Wahnes nicsht schließlich lauten würde : Sieh', das bedeutet 
doch alles nur, daß du mich liebst. 

Das Verfahren, welches der Dichter seine Zoe zur Heilung 
des Wahnes bei ihrem Jugendfreunde einschlagen läßt, zeigt 
eine weitgehende Ähnlichkeit, nein, eine volle Übereinstinunung 
im Wesen, mit einer therapeutischen Methode, welche Dr. J. 
Breuer imd der Verfasser im Jahre 1895 in die Medizin ein- 
geführt haben, und deren Vervollkommnung sich der letztere 
seitdem gewidmet hat. Diese Behandlungsweise, von Breuer 
zuerst die „kathartische" genannt, vom Verfasser mit VorKebe 
als „analytische" bezeichnet, besteht darin, daß man bei den 
Kranken, die an analogen Störungen wie der Wahn Hanolds 
leiden, das Unbewußte, unter dessen Verdrängung sie erkrankt 
sind, gewissermaßen gewaltsam zum Bewußtsein bringt, ganz 
so wie es die Gradiva mit den verdrängten Erinnerungen an 
ihre Kinderbeziehungen tut. PreiKch, die Gradiva hat die Er- 
füllung dieser Aufgabe leichter als der Arzt, sie befindet sich 
dabei in einer nach mehreren Eichtungen ideal zu nennenden 
Position. Der Arzt, der seinen Kranken nicht von vornherein 
durchschaut und nicht als bewußte Erinnerung in sich trägt, 
was in jenem unbewußt arbeitet, muß eine komplizierte Tech- 
nik zu Hilfe nehmen, um diesen Nachteil auszugleichen. Er 
muß es lernen, aus den bewußten Einfällen und Mitteiltmgen 
des Kranken mit großer Sicherheit auf das Verdrängte in ihm 
zu schließen, das Unbewußte zu erraten, wo es sich hinter 
den bewußten Äußerungen und Handlungen des Kranken ver- 
rät. Er bringt dann Ähnliches zu stände, wie es Norbert 
Hanold am Ende der Erzählimg selbst versteht, indem er 
sich den Namen „Gradiva" in „Bertgang" rückübersetzt. Die 
Störung schwindet dann, während sie auf ihren Ursprung zu- 
rückgeführt wird; die Analyse bringt auch gleichzeitig die 
Heilung. 

Die Ähnlichkeit zwischen dem Verfahren der Gradiva und 
der analytischen Methode der Psychotherapie, beschränkt sich 
aber nicht auf diese beiden Punkte, das Bewußtmachen des Ver- 
drängten und das Zusammenfallen von Aufklärung und Hei- 



78 DEB WAHN UND DIE TBÄUME 

liing. Sie erstreckt sich auch auf das, was sich als das We- 
sentliche der ganzen Veränderung herausstellt, auf die Er- 
weckung der Grefühle. Jede dem Wahne Hanolds analoge 
Störung, die wir in der Wissenschaft als Fsychoneurose zu 
bezeichnen gewohnt sind, hat die Verdrängung eines Stückes 
des Trieblebens, sagen wir getrost des Sexualtriebes, zur Vor- 
aussetzung, und bei Jedem Versuch, die unbewußte und ver- 
drängte Krankheitsursache ins Bewußtsein einzuführen, er- 
wacht notwendig die betreffende Triebkomponente zu erneutem 
Kampf mit den sie verdrängenden Mächten, um sich mit ihnen 
oft unter heftigen Eeaktionserscheinungen zum endlichen Aus- 
gang abzugleichen. In einem Liebesrezidiv vollzieht sich der 
Prozeß der Genesung, wenn wir alle die mannigfaltigen Kom- 
ponenten des Sexualtriebes als „Liebe" zusammenfassen, und 
dies Bezidiv ist unerläßlich, denn die Sjnnptome, wegen deren 
die Behandlung untemonunen wurde, sind nichts anderes als 
Niederschläge früherer Verdrängungs- oder Wiederkehrkämpfe 
imd können nur von einer neuen Hochflut der nämlichen Leiden- 
schaften gelöst und weggeschwemmt werden. Jede psycho- 
analytische Behandlung ist ein Versuch, verdrängte Liebe zu 
befreien, die in einem Symptom einen kümmerlichen Kompro- 
mißausweg gefunden hatte. Ja, die Übereinstimmung mit dem 
vom Dichter geschilderten Heilungsvorgang in der „Gradiva" 
erreicht ihre Höhe, wenn wir hinzufügen, daß auch in der ana- 
lytischen Psychotherapie die wiedergeweckte Leidenschaft, sei 
sie Liebe oder Haß, jedesmal die Person des Arztes zu ihrem 
Objekte wählt. 

Dann setzen freilich die Unterschiede ein, welche den Fall 
der Gradiva zum Idealfall machen, den die ärztliche Technik 
nicht erreichen kann. Die Gradiva kann die aus dem Unbe- 
wußten zum Bewußtsein durchdringende Liebe erwidern, der 
Arzt kann es nicht; die Gradiva ist selbst das Objekt der 
früheren, verdrängten Liebe gewesen, ihre Person bietet der be- 
freiten Liebesstrebung sofort ein begehrenswertes Ziel. Der 
Arzt ist ein Fremder gewesen und muß trachten, nach der 
Heilung wieder ein Fremder zu werden; er weiß den Geheilten 
oft nicht zu raten, wie sie ihre wiedergewonnene Liebesfähig- 
keit im Leben verwenden können. Mit welchen Auskunfts- 



IN W. JENSENS „GRADIVA" 79 

mitteln und Siirrogaten sich dann der Arzt behilft, um sich 
dem Vorbild einer Liebesheiltmg, das uns der Dichter ge- 
zeichnet, mit mehr oder weniger Erfolg zu nähern, das an- 
zudeuten, würde uns viel zu weit weg von der uns vorliegen- 
den Aufgabe führen. — 

Nun aber die letzte Frage, deren Beantwortung wir be- 
reits einigemal aus dem Wege gegangen sind. Unsere An- 
schauungen über die Verdrängung, die Entstehung eines Wahnes 
und verwandter Störungen, die Bildung und Auflösung von 
Träumen, die Bolle des Liebeslebens und die Art der Heilung 
bei solchen Störungen sind ja keineswegs Gemeingut der Wissen- 
schaft, geschweige denn bequemer Besitz der Gebildeten zu 
^nennen. Ist die Einsicht, welche den Dichter befähigt, sein 
„Phantasiestück" so zu schaffen, daß wir es wie eine reale 
Ejrankengeschichte zergliedern können, von der Art einer Kennt- 
nis, so wären wir begierig, die Quellen dieser Kenntnis kennen 
zu lernen. Einer aus dem Kreise, der, wie eingangs ausge- 
führt, an den Träumen in der „Gradiva" und deren möglichen 
Deutung Interesse nahm, wandte sich an den Dichter mit der 
direkten Anfrage, ob ihm von den so ähnlichen Theorien in 
der Wissenschaft etwas bekannt worden sei. Der Dichter ant- 
wortete, wie vorauszusehen war, verneinend und sogar etwas 
unwirsch. Seine Phantasie habe ihm die „Gradiva" eingegeben, 
an der er seine Freude gehabt habe; wem sie nicht gefalle, 
der möge sie eben stehen lassen. Er ahnte nicht, wie sehr sie 
den Lesern gefallen hatte. 

Es ist sehr leicht möglich, daß die Ablehnung des Dich- 
ters nicht dabei Halt macht. Vielleicht stellt er überhaupt 
die Kenntnis der Begeln in Abrede, deren Befolgung wir bei 
ihm nachgewiesen haben, und verleugnet alle die Absichten, 
die wir in seiner Schöpfung erkannt haben. Ich halte dies 
nicht für unwahrscheinlich; dann aber sind nur zwei Fälle 
möglich. Entweder wir haben ein rechtes Zerrbild der Inter- 
pretation geliefert, indem wir in ein harmloses Kunstwerk Ten- 
denzen verlegt haben, von denen dessen Schöpfer keine Ahnung 
hatte, und haben damit wieder einmal bewiesen, wie leicht 
es ist, das zu finden, was man sucht, und wovon man selbst 
erfüllt ist, eine Möglichkeit, für die in der Literaturgeschichte 



80 DER WAHN UND DIE TRÄUME 

die seltsamsten Beispiele verzeichnet sind» Mag nun jeder Leser 
selbst mit sich einig werden, ob er sich dieser Aufklärung 
anzuschließen vermag; wir halten natürlich an der anderen, 
noch erübrigenden Auffassung fest. Wir meinen, daß der 
Dichter von solchen Regeln und Absichten nichts zu wissen 
brauche, so daß er sie in gutem Glauben verleugnen könne, 
und daß wir doch in seiner Dichtung nichts gefunden haben, 
was nicht in ihr enthalten ist. "Wir schöpfen wahrscheinlich 
auQ der gleichen Quelle, bearbeiten das nämliche Objekt, ein 
jeder von uns mit einer anderen Methode, und die Überein- 
stimmung im Ergebnis scheint dafür zu bürgen, daß beide 
richtig gearbeitet haben. Unser Verfahren besteht in der be- 
wußten Beobachtung der abnormen seelischen Vorgänge bei 
Anderen, um deren Gesetze erraten und aussprechen zu 
können. Der Dichter geht wohl anders vor; er richtet seine 
Aufmerksamkeit auf das Unbewußte in seiner eigenen Seele, 
lauscht den Entwicklungsmöglichkeiten desselben und gestattet 
ihnen den künstlerischen Ausdruck, anstatt sie mit bewußter 
Kritik zu unterdrücken. So erfährt er aus sich, was wir bei 
Anderen erlernen, welchen Gesetzen die Betätigung dieses Un- 
bewußten folgen muß, aber er braucht diese Gesetze nicht aus- 
zusprechen, nicht einmal sie klar zu erkennen, sie sind infolge der 
Duldung seiner Intelligenz in seinen Schöpfungen verkörpert ent- 
halten. Wir entwickeln diese Gesetze durch Analyse aus sei- 
nen Dichtungen, wie wir sie aus den Fällen realer Erkrankung 
herausfinden, aber der Schluß scheint unabweisbar, entweder 
haben beide, der Dichter wie der Arzt, das Unbewußte in glei- 
cher Weise mißverstanden, oder wir haben es beide richtig 
verstanden. Dieser Schluß ist uns sehr wertvoll; um seinet- 
wegen war es uns der Mühe wert, die Darstellimg der Wahn- 
bildung und Wahnheilung sowie die Träume in Jensens 
„Gradiva" mit den Methoden der ärztlichen Psychoanalyse zu 
untersuchen. — 

Wir wären am Ende angelangt. Ein aufmerksamer Leser 
könnte ims noch mahnen, wir hätten eingangs hingeworfen, 
Träume seien als erfüllt dargestellte Wünsche, und wären dann 
den Beweis dafür schuldig geblieben. Nun, wir erwidern, un- 
sere Ausführungen könnten wohl zeigen, wie ungerechtfertigt. 



IN W. JENSENS „GRADIVA- 81 

es wäre, die Aufklärungen, die wir über den Traum zu geben 
biaben, mit der einen Formel, der Traum sei eine Wunscherfül- 
lung, decken zu wollen. Aber die Behauptung besteht und ist 
auch für die Träume in der Oradiva leicht zu erweisen. Die 
latenten Traumgedanken — wir wissen jetzt, was darunter ge- 
meint ist — können von der mannigfaltigsten Art sein; in der 
Gradiva sind es „Tagesreste", Oedanken, die ungehört und un- 
erledigt vom seelischen Treiben des "Wachens übrig gelassen sind. 
Damit aber aus ihnen ein Traum entstehe, wird die Mitwirkung 
eines — meist unbewußten — Wunsches erfordert; dieser stellt 
die Triebkraft für die Traumbildung her, die Tagesreste ge- 
ben das Material dazu. Im ersten Traume Norbert Hanolds 
konkurrieren zwei Wünsche miteinander, um den Traum zu 
schaffen, der eine selbst ein bewußtseinsfähiger, der andere 
freilich dem Unbewußten angehörig imd aus der Verdrängung 
wirksam. Der erste wäre der bei jedem Archäologen begreif- 
liche Wimsch, Augenzeuge jener Katastrophe des Jahres 79 
gewesen zu sein. Welches Opfer wäre einem Altertumsforscher 
wohl zu groß, wenn dieser Wunsch noch anders als auf dem 
Wege des Traumes zu verwirklichen wäre! Der andere Wunsch 
imd Traumbildner ist erotischer Natur; dabei zu sein, wenn 
die Geliebte sich zum Schlafen hinlegt, könnte man ihn in 
grober oder auch unvollkommener Fassung aussprechen. Er ist 
es, dessen Ablehnung den Traum zum Angsttraum werden läßt. 
Minder augenfällig sind vielleicht die treibenden Wünsche des 
zweiten Traumes, aber wenn wir uns an dessen Übersetzung er- 
innern, werden wir nicht zögern, sie gleichfalls als erotische 
anzusprechen. Der Wunsch, von der Geliebten gefangen genom- 
men zu werden, sich ihr zu fügen und zu unterwerfen, wie er 
hinter der Situation des Eidechsenfanges konstruiert werden 
darf, hat eigentlich passiven, masochistischen Charakter. Am 
nächsten Tage schlägt der Träumer die Geliebte, wie unter 
der Herrschaft der gegensätzlichen erotischen Strömung. Aber 
wir müssen hier innehalten, sonst vergessen wir vielleicht wirk- 
lich, daß" Hanold und die Gradiva nur Geschöpfe des Dich- 
ters ßind. 



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Die „Schriften zur angewandten Seelenkunde^ deren erstes 
Heft hiemit vor die öffentliclikeit tritt, wenden sich an jenen 
weiteren Kreis von Gebildeten, die, ohne gerade Philosophen oder 
Mediziner zu sein, doch die Wissenschaft vom Seelischen des 
Menschen nach ihrer Bedeutung für das Verständnis und die 
Vertiefung unseres Lebens zu würdigen wissen. Die Abhand- 
lungen werden in zwangloser Folge erscheinen und jedesmal eine 
einzige Arbeit bringen, welche die Anwendung psychologischer 
Erkenntnisse auf Themata dier Kunst und Literatur, Kultur- 
und Religionsgeschichte und analoger Gebiete unternimmt. Diese 
Arbeiten werden bald den Charakter einer exakten Unter- 
suchung, bald den einer spekulativen Bemühung an sich tra- 
gen, das eine Mal ein größeres Problem zu umfassen, das andere 
Mal ein beschränkteres zu durchdringen versuchen; in allen 
Fällen aber werden sie von der Natur originajer Leistungen sein 
und es vermeiden, bloßen Referaten oder Kompilationen zu 
gleichen. 

^Der Herausgeber fühlt sich verpflichtet, für die Origina- 
lität und die allgemeine .Würdigkeit der in dieser Sammlung 
erscheinenden Aufsätze einzustehen. Im übrigen will er weder 
die Unabhängigkeit seiner Beiträger antasten, noch für die 
Äußerungen derselben verantwortlich gemacht werden. Daß die 
ersten Nummern der Sammlung besondere Rücksicht auf die 
von ihm selbst in der Wissenschaft vertretenen Lehren neh- 
men, soll für die Auffassung des Unternehmens nicht bestim- 
mend werden. Die Sammlung steht vielmehr den Vertretern 
abweichender Meinungen offen und hofft, der Mannigfaltigkeit 
von Gesichtspunkten und Prinzipien in der heutigen Wissen- 
schaft Ausdruck geben zu können. 



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