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HARVARD UNIVERSITY
DEPARTMENT
PJHILOSOPHY
SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKUNDE
HERAUSGEGEBEN VON PROF. DR. SIOM. FREUD
ERSTES HEFT
DER WAHN UND DIE TRAUME
IN
W. JENSENS „GRADIVA"
VON
Prof. Dr. SIGM. FREUD
WIEN
LEIPZIG UND WIEN
FRANZ DEUTICKE
1908
Verlags-Nr. 1455
Im Verlage ron Franz Deuticke in Leipzig und Wien er-
scheinen:
Schriften
zur angewandten Seelenkunde
herausgegeben von
Prot Dr. Si«ni. Freud
in Wien.
I. Heft:
Der Wahn und die Träume in W. Jensens ^Gradiva^ Von Prot
Dr. Sigm. Freud in Wien. Preis M. 2.50 = K 8.—.
n. Heft:
WunseherfQUung und Symbolik im Märchen. Eine Studie ron
Dr. Franz Riküa, Sekundararzt in Rheinau (Schweiz).
Preis M. 3.- = K 3.60.
m. Heft:
Der Inhalt der Psychose. Von Dr. C. 6. Jung, Privatdozent in Zürich.
In Vorbereitung.
Die „Schiiften zur angewandten Seelenkunde^ wenden sich an jenen
weiteren Kreis von Gebildeten, die, ohne gerade Philosophen oder Medi-
zmer zu sein, doch die Wissenschaft vom Seelischen des Menschen nach
ihrer Bedeutung für das Verständnis und die Vertiefung unseres Lebens
zu würdigen wissen. Die Hefte werden in zwangloser Folge erscheinen
und zumeist eine einzige Arbeit bringen, welche die Anwendung ps^cho-
lo^cher Erkenntnisse auf Themata der Kunst und Literatur, Kultur«
und Beligionsgeschichte und analoger Grebiete unternimmt.
SCHRIFTEN ZUR ANGEWANDTEN SEELENKÜNDE
HEEAUSGEGEBEN VON PeOF. De. SIGM. FKEÜD
BESTES HEFT
DER WAHN UND DIE TRÄUME
W. JENSENS „GRADIVA«
VON
Prof. De. SIGM. FREUD
WIEN
WIEN UND LEIPZIG
HUGO HELLER & CIE.
1907
HARVARD UNIVERSmf.
Philos. Oeofc Ubrarji
vor i^»4-6»
" HARVARD A
UNIVERSITY I
LIBRARY I
K. a. R. Bofbucfadnxckerej Karl Prochaska in Tecehea.
In einem Kreise von Männern, denen es als ausgemacht
gilt, daß die wesentlichsten Bätsei des Traumes durch die
Bemiihimg des Verfassers*) gelöst worden sind, erwachte eines
Tages die Neugierde, sich um jene Traume zu kümmern, die
überhaupt niemals geträumt worden, die von Dichtern geschaffen
imd erfundenen Personen im Zusammenhange einer Erzählung
beigelegt werden. Der Vorschlag, diese Gattung von Träumen
einer Untersuchimg zu unterziehen, mochte müßig und be-
fremdend erscheinen; von einer Seite her konnte man ihn als
berechtigt hinstellen. Es wird ja keineswegs allgemein geglaubt,
daß der Traum etwas Sinnvolles und Deutbares ist. Die Wissen-
schaft imd die Mehrzahl der Gebildeten lächeln, wenn man
ihnen die Aufgabe einer Traumdeutung stellt; nur das am
Aberglauben hängende Volk, das hierin die Überzeugungen
des Altertums fortsetzt, will von der Deutbarkeit der Träume
nicht ablassen, imd der Verfasser der Traumdeutung hat es
gewagt, gegen den Einspruch der gestrengen .Wissenschait
Partei für die Alten und für den Aberglauben zu nehmen.
Er ist allerdings weit davon entfernt, im Traume eine An-
kündigung der Zukunft anzuerkennen, nach deren Enthüllung
der Mensch seit jeher mit allen unerlaubten Mitteln vergeb-
lich strebt. Aber völlig konnte auch er nicht die Beziehung
des Traumes zur Zukunft verwerfen, denn nach Vollendung
einer mühseligen Übersetzungsarbeit erwies sich ihm der Traum
als ein erfüllt dargestellter Wunsch des Träumers, und
wer könnte bestreiten, daß Wünsche sich vorwiegend der Zu-
kunft zuzuwenden pflegen.
Ich sagte eben: der Traum sei ein erfüllter Wunsch. Wer
sich nicht scheut, ein schwieriges Buch durchzuarbeiten, wer
•) Freud, Die Traumdeatang^ 1900.
Freud, Der Wfthn und die Trfttune.
DBB WAHN UND DIE TRÄUME
mcht fordert, daß ein verwickeltes Problem zur Schonung sei-
ner Bemühung und auf Kosten von Treue und Wahrheit ihm
als leicht imd einfach vorgehalten werde, der mag in der er-
wähnten „Traumdeutung" den weitläufigen Beweis für diesen
Satz aufsuchen und bis dahin die ihm sicherlich aufsteigen-
den Einwendungen gegen die Gleichstellung von Traum und
.Wunscherfüllung zur Seite drängen.
Aber wir haben weit vorgegriffen. Es handelt sich noch
gar nicht darum, festzustellen, ob der Sinn eines Traumes in
jedem Falle durch einen erfüllten Wunsch wiederzugeben sei>
oder nicht auch ebenso häufig durch eine ängstliche Erwar-
tung, einen Vorsatz, eine Überlegimg u. s. w. Vielmehr steht
erst in Frage, ob der Traum überhaupt einen Sinn habe, ob
man ihm den Wert eines seelischen Vorganges zugestehen
solle. Die Wissenschaft antwortet mit Nein, sie erklärt das
Träumen für einen bloß physiologischen Vorgang, hinter dem
man also Sinn, Bedeutung, Absicht nicht zu suchen brauche.
Körperliche Reize spielten während des Schlafes auf dem see-
lischen Instrument und brächten so bald diese, bald jene der
alles seelischen Zusammenhaltes beraubten Vorstellungen zum
Bewußtsein. Die Träume wären nur Zuckungen, nicht aber
Ausdrucksbewegungen des Seelenlebens vergleichbar.
In diesem Streite über die Würdigung des Traumes
scheinen nun die Dichter auf derselben Seite zu stehen wie
die Alten, wie das abergläubische Volk und wie der Ver-
fasser der „Traumdeutung". Denn wenn sie die von ihrer Phaur
tasie gestalteten Personen träumen lassen, so folgen sie der
alltäglichen Erfahrung, daß das Denken und Fühlen der Men-
schen sich in den Schlaf hinein fortsetzt, und suchen nichts
anderes, als die Seelenzustände ihrer Helden durch deren
Träume zu schildern. Wertvolle Bundesgenossen sind aber die
Dichter imd ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pfle-
gen eine Menge von Dingen zwischen Himmel imd Erde zu
wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träu-
men läßt. In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmen-
schen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche
wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben. Wäre
diese Parteinahme der Dichter für die sinnvolle Natur der
IN W. JENSENS „GRäDIVA"
Träume nur unzweideutiger! Eine schärfere Kritik könnte ja
einwenden, der Dichter nehme weder für noch gegen die psy-
chische Bedeutung des einzelnen Traumes Partei; er begnüge
sich zu zeigen, wie die schlafende Seele unter den Erregungen
aufzuckt, die als Ausläufer des Wachlebens in ihr kräftig ver-
blieben sind.
Unser Interesse für die Art, wie sich die Dichter des Trau-
mes bedienen, ist indes auch durch diese Ernüchterung nicht
gedämpft. Wenn uns die Untersuchung auch nichts Neues über
das Wesen der Träume lehren sollte, vielleicht gestattet sie
uns von diesem Winkel aus einen kleinen Einblick in die Na-
tur der dichterischen Produktion. Die wirklichen Träume gelten
zwar bereits als zügellose und regelfreie Bildungen, und nxm
erst die freien Nachbildungen solcher Träume! Aber es gibt
viel weniger Freiheit und Willkür im Seelenleben, als wir
geneigt sind anzunehmen; vielleicht überhaupt keine. Was
wir in der Welt draußen Zufälligkeit heißen, löst sich be-
kanntermaßen in Gesetze auf; auch was wir im Seelischen
Willkür heißen, ruht auf — derzeit erst dunkel geahnten —
Gesetzen. Sehen wir also zu !
Es gäbe zwei Wege für diese Untersuchung. Der eine wäre
die Vertiefung in einen Spezialfall, in die Traumschöpfungen
eines Dichters in einem seiner Werke. Der andere bestünde im
Zusammentragen imd Gegeneinanderhalten all der Beispiele,
die sich in den Werken verschiedener Dichter von der Ver-
wendung der Träume finden lassen. Der zweite Weg scheint der
bei weitem trefflichere zu sein, vielleicht der einzig berechtigte,
denn er befreit uns sofort von den Schädigungen, die mit der
Aufnahme des künstlichen Einheitsbegriffes „der Dichter" ver-
bunden sind. Diese Einheit zerfällt bei der Untersuchung in
die so sehr verschiedenwertigen Dichterindividuen, unter denen
wir in einzelnen die tiefsten Kenner des menschlichen Seelen-
lebens zu verehren gewohnt sind. Dennoch aber werden diese
Blätter von einer Untersuchung der ersten Art ausgefüllt sein.
Es hatte sich in jenem Kreise von Männern, unter denen die
Anregung auftauchte, so gefügt, daß jemand sich besann, in
dem Dichtwerke, das zuletzt sein Wohlgefallen erweckt, wären
mehrere Träume enthalten gewesen, die ihn gleichsam mit ver-
DEE WAHN UND DIB TRÄUME
trauten Zügen angeblickt hätten und ihn einlüden, die Me-
thode der „Traumdeutung" an ihnen zu versuchen. Er gestand
zu, Stoff und örtlichkeit der kleinen Dichtung wären wohl
an der Entstehung seines Wohlgefallens hauptsächlich be-
teiligt gewesen, denn die Geschichte spiele auf dem Boden von
Pompeji und handle von einem jungen Archäologen, der das Inter-
esse für das Leben gegen das an den Besten der klassischen Ver-
gangenheit hingegeben hätte und nun auf einem merkwürdigen,
aber völlig korrekten Umwege ins Leben zurückgebracht werde.
Während der Behandlung dieses echt poetischen Stoffes rege
sich allerlei Verwandtes und dazu Stimmendes im Leser. Die
Dichtimg aber sei die kleine Novelle „Gradiva" von Wil-
helm Jensen, vom Autor selbst als „pompe janisches Phan-
tasiestück" bezeichnet.
Und nun müßte ich eigentlich alle meine Leser bitten,
dieses Heft aus der Hand zu legen und es für eine ganze
Weile durch die 1903 im Buchhandel erschienene „Gradiva"
zu ersetzen, damit ich mich im weiteren auf Bekanntes be-
ziehen kann. Denjenigen aber, welche die „Gradiva" bereits
gelesen haben, will ich den Inhalt der Erzählung durch einen
kurzen Auszug ins Gedächtnis zurückrufen, und rechne darauf,
daß ihre Erinnerung allen dabei abgestreiften Reiz aus eige-
nem wiederherstellen wird.
Ein junger Archäologe, Norbert Hanoi d, hat in einer
Antikensammlung Boms ein Beliefbild entdeckt, das ihn so
ausnehmend angezogen, daß er sehr erfreut gewesen ist, einen
vortrefflichen Gipsabguß davon erhalten zu können, den er in
seiner Studierstube in einer deutschen Universitätsstadt auf-
hängen imd mit Interesse studieren kann. Das Bild stellt ein
reifes jimges Mädchen im Schreiten dar, welches ihr reichfal-
tiges Gewand ein wenig aufgerafft hat, so daß die Füße in
den Sandalen sichtbar werden. Der eine Fuß ruht ganz auf
dem Boden, der andere hat sich zum Nachfolgen vom Boden
abgehoben und berührt ihn nur mit den Zehenspitzen, während
Sohle und Ferse sich fast senkrecht emporheben. Der hier dar-
gestellte ungewöhnliche und besonders reizvolle Gang hatte
wahrscheinlich die Aufmerksamkeit des Künstlers erregt imd
IN W. JENSENS „GRADIVA"
fesselt nach so viel Jahrhunderten nun den Blick unseres
archäologischen Beschauers.
Dies Interesse des Helden der Erzählung für das geschil-
derte Beliefbild ist die psychologische Grundtatsache unserer
Dichtung. Es ist nicht ohne weiteres erklärbar. „Doktor Nor-
bert Hanold, Dozent der Archäologie, fand eigentlich für seine
Wissenschaft an dem Eelief nichts sonderlich Beachtenswertes.^^
(Gradiva p. 3.) „Er wußte six^h nicht klarzustellen, was daran seine
Aufmerksamkeit erregt habe, nur daß er von etwas angezogen
worden und diese Wirkung sich seitdem unverändert forterhalten
habe." Aber seine Phantasie läßt nicht ab, sich mit dem Bilde
zu beschäftigen. Er findet etwas „Heutiges" darin, als ob der
Künstler den Anblick auf der Straße „nach dem Leben" fest-
gehalten habe. Er verleiht dem im Schreiten dargestellten
Mädchen einen Namen: „Gradiva", die „Vorschreitende"; er
fabuliert, sie sei gewiß die Tochter eines vornehmen Hauses,
vielleicht „eines patrizischen Aedilis, der sein Amt im Na-
men der Ceres ausübte", und befinde sich auf dem Wege zum
Tempel der Göttin. Dann widerstrebt es ihm, ihre ruhige
stille Art in das Getriebe einer Großstadt einzufügen, viel-
mehr erschafft er sich die Überzeugung, daß sie nach Pom-
peji zu versetzen sei imd dort irgendwo auf den wieder aus-
gegrabenen eigentümlichen Trittsteinen schreite, die bei reg-
nerischem Wetter einen trockenen Übergang von einer Seite
der Straße zur anderen ermöglicht und doch auch Durchlaß
für Wagenräder gestattet hatten. Ihr Gesichtsschnitt dünkt
ihm griechischer Art, ihre hellenische Abstammung unzwei-
felhaft; seine ganze Altertumswissenschaft stellt sich allmäh-
lich in den Dienst dieser und anderer auf das Urbild des Re-
liefs bezüglichen Phantasien.
Dann aber drängt sich ihm ein angeblich wissenschaftliches
Problem auf, das nach Erledigimg verlangt. Es handelt sich
für ihn um eine kritische Urteilsabgabe, „ob der Künstler den
Vorgang des Ausschreitens bei der Gradiva dem Leben ent-
sprechend wiedergegeben habe". Er selbst vermag ihn an sich
nicht hervorzurufen; bei der Suche nach der „Wirklichkeit"
dieser Gangart gelangt er nun dazu, „zur Aufhellung der Sache
selbst Beobachtungen nach dem Leben anzustellen". (G. p. 9.)
DER WAHN UND DIE TRÄUME
Das nötigt ihn allerdings zu einem ihm dnrchaiis fremdartigen
Tun. „Das weibliche Geschlecht war bisher für ihn nur ein
Begriff aus Marmor oder Erzguß gewesen, und er hatte seinen
zeitgenössischen Vertreterinnen desselben niemals die geringste
Beachtimg geschenkt." Pflege der Gesellschaft war ihm immer
nur als unabweisbare Plage erschienen ; jimge Damen, mit denen
er dort zusammentraf, sah und hörte er so wenig, daß er bei
einer nächsten Begegnung grußlos an ihnen vorüberging, was
ihn natürlich in kein günstiges Licht bei ihnen brachte. Nun
aber nötigte ihn die wissenschaftliche Aufgabe, die er sich
gestellt, bei trockener, besonders aber bei nasser "Witterimg
eifrig nach den sichtbar werdenden Füßen der Frauen und
Mädchen auf der Straße zu schauen, welche Tätigkeit ihm
manchen unmutigen und manchen ermutigenden Blick der so
Beobachteten eintrug; „doch kam ihm das eine so wenig zum
Verständnis wie das andere". (G. p. 10.) Als Ergebnis dieser
sorgfältigen Studien mußte er finden, daß die Gangart der Gra-
diva in der Wirklichkeit nicht nachzuweisen war, was ihn
mit Bedauern und Verdruß erfüllte.
Bald nachher hatte er einen schreckvoll beängstigenden
Traum, der ihn in das alte Pompeji am Tage des Vesuvausbru-
ches versetzte uud zum Zeugen des Unterganges der Stadt machte.
„Wie er so am Bande des Forums neben dem Jupitertempel
stand, sah er plötzlich in geringer Entfernung die Gradiva
vor sich; bis dahin hatte ihn kein Gedanke an ihr Hiersein
angerührt, jetzt aber ging ihm auf einmal und als natürlich
auf, da sie ja eine Pompejanerin sei, lebe sie in ihrer Vaterstadt
und, ohne daß er's geahnt habe, gleichzeitig mit
ihm." (G.p. 12;) Angst um das ihr bevorstehende Schicksal ent-
lockte ihm einen Warnruf, auf den die gleichmütig fortschrei-
tende Erscheinung ihm ihr Gesicht zuwendete. Sie setzte aber
dann unbekümmert ihren Weg bis zum Portikus des Tempels
fort, setzte sich dort auf eine Treppenstufe und legte langsam
den Kopf auf diese nieder, während ihr Gesicht sich immer
blasser färbte, als ob es sich zu weißem Marmor umwandle.
Als er ihr nacheilte, fand er sie mit ruhigem Ausdruck wie
schlafend auf der breiten Stufe hingestreckt, bis dann der
Aschenregen ihre Gestalt begrub.
IN W. JENSENS „GRADIVA"
Als er erwachte, glaubte er noch das verworrene Geschrei
der nach Bettung suchenden Bewohner Pompejis und die dumpl'
dröhnende Brandung der erregten See im Ohre zu haben. Aber
auch nachdem die wiederkehrende Besinnung diese Geräusche
als die weckenden Lebensäußerungen der lärmenden Großstadt
erkannt hatte, behielt er für eine lange Zeit den Glauben an
die Wirklichkeit des G^träiunten ; als er sich endlich von der Vor-
stellimg frei gemacht, daß er selbst vor bald zwei Jahrtausenden
dem Untergang Pompejis beigewohnt, verblieb ihm doch wie
eine wahrhafte Überzeugung, daß die Gradiva in Pompeji ge-
lebt und dort im Jahre 79 mit verschüttet worden sei. Solche
Portsetzung fanden seine Phantasien über die Gradiva durch
die Nachwirkimg dieses Traumes, daß er sie jetzt erst wie
eine Verlorene betrauerte.
.Während «r, von diesen Gedanken befangen, aus dem
Fenster lehnte, zog ein Kanarienvogel seine Aufmerksam-
keit auf sich, der an einem offenstehenden Fenster des
Hauses gegenüber im Käfig sein Lied schmetterte. Plötz-
lich durchfuhr etwas wie ein Euck den, wie es scheint,
noch nicht völlig aus seinem Traum Erwachten. Er glaubte,
auf der Straße eiii(B Gestalt wie die seiner Gradiva ge-
sehen und selbst den für sie charakteristischen Gang er-
kannt zu haben, eilte unbedenklich auf die Straße, um sie
einztiholen, imd erst das Lachen und Spotten der Leute über
seine unschickliche Morgenkleidung trieb ihn rasch wieder in
seine Wohnung zurück. In seinem Zimmer war es wieder der
singende Kanarienvogel im Käfig, der ihn beschäftigte tmd
ihn zum Vergleiche mit seiner eigenen Person anregte. Auch
er sitze wie im Käfig, iand er, doch habe er es leichter,
seinen Käfig zu verlassen. Wie in weiterer Nachwirkung des
Traumes, vielleicht auch imter dem Einflüsse der linden Früh-
lingsluft gestaltete sich in ihm der Entschluß einer Frühjahrs-
reise nach Italien, für welche ein wissenschaftlicher Vorwand
bald gefunden wurde, wenn auch „der Antrieb zu dieser
Keise ihm aus einer unbenennbaren Empfindung entsprun-
gen war". (G. p. 24.)
Bei dieser merkwürdig locker motivierten Beise wollen wir
einen Moment Halt machen imd die Persönlichkeit wie das
DER WAHN UND DIB TRÄUME
Treiben unseres Helden näher ins Auge fa43sen. Er erscheint
uns noch unverständlich und töricht; wir ahnen nicht, auf
welchem Wege seine besondere Torheit sich mit der Mensch-
lichkeit verknüpfen wird, um unsere Teilnahme zu erzwingen.
Es ist das Vorrecht des Dichters, uns in solcher Unsicherheit
belassen zu dürfen; mit der Schönheit seiner Sprache, der Sin-
nigkeit seiner Einfälle lohnt er uns vorläufig das Vertrauen,
das wir ihm schenken, und die Sympathie, die wir, noch un-
verdient, für seinen Helden bereithalten. Von diesem teilt er
uns noch mit, daß er schon durch die Familientradition zum
Altertumsforscher bestimmt, sich in seiner späteren Verein-
samung und Unabhängigkeit ganz in seine .Wissenschaft ver-
senkt imd ganz vom Leben und seinen Oenüssen abgewendet hat.
Marmor und Bronze waren für sein Gefühl das einzig wirk-
lich Lebendige, den Zweck und Wert des Menschenlebens zum
Ausdruck Bringende. Doch hatte vielleicht in wohlmeinender
Absicht die Natur ihm ein Korrektiv durchaus unwissenschaft-
licher Art ins Blut gelegt, eine überaus lebhafte Phantasie,
die sich nicht nur in Träumen, sondern auch oft im Wachen
zur Geltung bringen konnte. Durch solche Absondertmg der
Phantasie vom Denkvermögen mußte er zum Dichter oder zum
Neurotiker bestimmt sein, gehörte er jenen Menschen an, deren
Reich nicht von dieser Welt ist. So konnte es sich ihm er-
eignen, daß er mit seinem Interesse an einem Reliefbild hän-
gen blieb, welches ein eigentümlich schreitendes Mädchen dar-
stellte, daß er dieses mit seinen Phantasien umspann, ihm Na-
men imd Herkimft fabulierte, tmd die von ihm geschaffene
Person in das vor mehr als 1800 Jahren verschüttete Pompeji
versetzte, endlich nach einem merkwürdigen Angsttraum die
Phantasie von der Existenz und dem Untergang des Oradiva
genannten Mädchens zu einem Wahn erhob, der auf sein Han-
deln Einfluß gewann. Sonderbar und undurchsichtig würden
uns diese Leisttmgen der Phantasie erscheinen, wenn wir ihnen
bei einem wirklich Lebenden begegnen würden. Da unser
Held Norbert Hanold ein Geschöpf des Dichters ist, möchten
wir etwa an diesen die schüchterne Frage richten, ob seine
Phantasie von anderen Mächten als von ihrer eigenen Willkür
bestimmt worden ist.
IN W. JENSENS „GRADIVA"
Unseren Helden hatten wir verlassen, als er sich anschei-
nend durch das Singen eines Kanarienvogels zu einer Beise
nach Italien bewegen ließ, deren Motiv ihm offenbar nicht
klar war. Wir erfahren weiter, daß auch Ziel und Zweck dieser
Reise ihm nicht feststand. Eine innere Unruhe und Unbefrie-
digung treibt ihn von Bom nach Neapel und von da weiter
weg. Er gerät in den Schwärm der Hochzeitsreisenden und
genötigt, sich mit den zärtlichen „August" und „Grete" zu
beschäftigen, findet er sich ganz außer stände, das Tun tmd
Treiben dieser Paare zu verstehen. Er kommt zu dem Er-
gebnis, unter allen Torheiten der Menschen „nehme jedenfalls
das Heiraten, als die größte und unbegreiflichste, den obersten
Rang ein, und ihre sinnlosen Hochzeitsreisen nach Italien
setzten gewissermaßen dieser Narretei die Krone auf". (G. p. 27.)
In Rom durch die Nähe eines zärtlichen Paares in seinem Schlaf
gestört, flieht er alsbald nach Neapel, nur um dort andere
„August und Grete" wiederzufinden. Da er aus deren Gesprä-
chen zu entnehmen glaubt, daß die Mehrheit dieser Vogelpaare
nicht im Sinne habe, zwischen dem Schutt von Pompeji zu
nisten, sondern den Flug nach Capri zu richten, beschließt
er, das zu tun, was sie nicht täten, und befindet sich „wider
Erwarten und Absicht" wenige Tage nach seiner Abreise in
Pompeji.
Ohne aber dort die Ruhe zu finden, die er gesucht. Die
Rolle, welche bis dahin die Hochzeitspaare gespielt, die sein Ge-
müt beunruhigt und seine Sinne belästigt hatten, wird jetzt von
den Stubenfliegen übernommen, in denen er die Verkörperung
des absolut Bösen und Überflüssigen zu erblicken geneigt wird.
Beiderlei Quälgeister verschwimmen ihm zu einer Einheit;
manche Fliegenpaare erinnern ihn an Hochzeitsreisende, reden
sich vermutlich in ihrer Sprache auch „mein einziger August"
und „meine süße Grete" an. Er kann endlich nicht umhin zu
erkennen, „daß seine Unbefriedigung nicht allein durch das
um ihn herum Befindliche verursacht werde, sondern etwas
ihren Ursprung auch aus ihm selbst schöpfe". (G. p. 42.) Er fühlt,
„daß er mißmutig sei, weil ihm etwas fehle, ohne daß er sich
aufhellen könne, was".
Am nächsten Morgen begibt er sich durch den „Ingresso"
10 DER WAHN UND DIE TRÄUME
nach Pompeji und durchstreift nach Verabschiedung des Füh-
rers planlos die Stadt, merkwürdigerweise ohne sich dabei zu
erinnern, daß er vor einiger Zeit im Traume bei der Ver-
schütttmg Pompejis zugegen gewesen. Als dann in der „heißen,
heiligen" Mittagsstunde, die ja den Alten als Geisterstunde
galt, die anderen Besucher sich geflüchtet haben, und die
Trümmerhaufen verödet und sonnenglanzübergossen vor ihm
liegen, da regt sich in ihm die Fähigkeit, sich in das ver-
sunkene Leben zurückzuversetzen, aber nicht mit Hilfe der
.Wissenschaft. „Was diese lehrte, war eine leblose archäolo-
gische Anschauung, und was ihr vom Mund kam, eine tote,
philologische Sprache. Die verhalfen zu keinem Begreifen
mit der Seele, dem Gemüt, dem Herzen, wie man's nennen
wollte, sondern wer danach Verlangen in sich trug, der mußte
als einzig Lebendiger allein in der heißen Mittagsstille hier
zwischen den Überresten der Vergangenheit stehen, um nicht
mit den körperlichen Augen zu sehen und nicht mit den leib-
lichen Ohren zu hören. Dann .... wachten die Toten auf
und Pompeji fing an, wieder zu leben." (G. p. 55.)
Während er so die Vergangenheit mit seiner Phantasie be-
lebt, sieht er plötzlich die unverkennbare Gradiva seines Ee-
liefs aus einem Hause heraustreten und leichtbehend über die
Lavatrittsteine zur anderen Seite der Straße schreiten, ganz
so, wie er sie im Traume jener Nacht gesehen, als sie sich
wie zum Schlafen auf die Stufen des Apollotempels hingelegt
hatte. „Und mit dieser Erinnerung zusammen kommt ihm noch
etwas anderes zum erstenmal zum Bewußtsein: Er sei, ohne
selbst von dem Antrieb in seinem Innern zu wissen, deshalb
nach Italien und ohne Aufenthalt von Rom und Neapel bis
Pompeji weitergefahren, um danach zu suchen, ob er hier
Spuren von ihr auffinden könne. Und zwar im wörtlichen
Sinne, denn bei ihrer besonderen Gangart mußte sie in der
Asche einen von allen übrigen sich unterscheidenden Abdruck
der Zehen hinterlassen haben." (G. p. 58.)
Die Spannung, in welcher der Dichter uns bisher erhalten
hat, steigert sich hier an dieser Stelle für einen Augenblick
zu peinlicher Verwirrung. Nicht nur, daß unser Held offen-
IN W. JENSENS „GRADIVA" 11
bar aus dem Gleichgewicht geraten ist, auch wir finden uns
angesichts der Erscheinung der Gradiva, die bisher ein Stein-
und dann ein Phantasiebild war, nicht zurecht. Ist's eine
Halluzination unseres vom Wahn betörten Helden, ein „wirk-
liches" Gespenst oder eine leibhaftige Person? Nicht daß wir
an Gespenster ^u glauben brauchten, um diese Eeihe aufzu-
stellen. Der Dichter, der seine Erzählung ein „Phantasiestück"
benannte, hat ja noch keinen Anlaß gefunden uns aufzuklären,
ob er uns in unserer, als nüchtern verschrieenen, von den Ge-
setzen der Wissenschaft beherrschten Welt belassen oder in
eine andere phantastische Welt führen will, in der Geistern
und Gespenstern Wirklichkeit zugesprochen wird. Wie das
Beispiel des Hamlet, des Macbeth, beweist, sind wir ohne
Zögern bereit, ihm in eine solche zu folgen. Der iWahn des
phantasievollen Archäologen wäre in diesem Falle an einem
anderen Maßstabe zu messen. Ja, wenn wir bedenken, wie un-
wahrscheinlich die reale Existenz einer Person sein muß, die
in ihrer Erscheinung jenes antike Steinbild getreulich wieder-
holt, 80 schrumpft tmsere Beihe zu einer Alternative ein : Hallu-
zination oder Mittagsgespenst. Ein kleiner Zug der Schilderung
streicht dann bald die erstere Möglichkeit. Eine große Eidechse
liegt bewegungslos im Sonnenlicht ausgestreckt, die aber vor
dem herannahenden Fuß der Gradiva entflieht und sich über
die Lavaplatten der Straße davonringelt. Also keine Hallu-
zination, etwas außerhalb der Sinne unseres Träumers. Aber
sollte die Wirklichkeit einer Eediviva eine Eidechse stören
können?
Vor dem Hause des Meleager verschwindet die Gradiva.
Wir verwundern uns nicht, daß Norbert Hanold seinen Wahn
dahin fortsetzt, daß Pompeji in der Mittagsgeisterstunde
rings* um ihn her wieder zu leben begonnen habe, und so sei
auch die Gradiva wieder aufgelebt und in das Haus gegangen,
das sie vor dem verhängnisvollen Augusttage des Jahres 79
bewohnt hatte. Scharfsinnige Vermutungen über die Persön-
lichkeit des Eigentümers, nach dem dies Haus benannt sein
mochte, tmd über die Beziehung der Gradiva zu ihm schießen
durch seinen Kopf und beweisen, daß sich seine Wissenschaft
nun völlig in den Dienst seiner Phajitasie begeben hat. Ins
12 DEB WAHN UND DIE TRÄUME
Innere dieses Hauses eingetreten, entdeckt er die Erscheinung
plötzlich wieder auf niedrigen Stufen zwischen zweien der
gelben Säulen sitzend. „Auf ihren Knien lag etwas Weißes
ausgebreitet, das sein Blick klar zu unterscheiden nicht fähig
war; ein Papyrusblatt schien's zu sein " Unter den Vor-
aussetzungen seiner letzten Kombination über ihre Her-
kunft spricht er sie griechisch an, mit Zagen die Entscheidung
erwartend, ob ihr in ihrem Scheindasein wohl Sprachvermögen
gegönnt sei. Da sie nicht antwortet, vertauscht er die An-
rede mit einer lateinischen. Da klingt es von lächelnden Lip-
pen: „Wenn Sie mit mir sprechen wollen, müssen Sie's auf
Deutsch tun."
Welche Beschämung für uns, die Leser! So hat der Dich-
ter also auch unser gespottet und ims wie durch den Wider-
schein der Sonnenglut Pompejis in einen kleinen Wahn gelockt,
damit wir den Armen, auf den die wirkliche Mittagssonne
brennt, milder beurteilen müssen. Wir aber wissen jetzt, von
kurzer Verwirrung geheilt, daß die Gradiva ein leibhaftiges
deutsches Mädchen ist, was wir gerade als das Unwahrschein-
lichste von uns weisen wollten. In ruhiger Überlegenheit dürfen
wir nun zuwarten, bis wir erfahren, welche Beziehung zwischen
dem Mädchen und ihrem Bild in Stein besteht, und wie unser
junger Archäologe zu den Phantasien gelangt ist, die auf ihre
reale Persönlichkeit hinweisen.
Nicht so rasch wie wir wird imser Held aus seinem Wahn
gerissen, denn „wenn der Glaube selig machte", sagt der
Dichter, „nahm er überall eine erhebliche Summe von Unbegreif-
lichkeiten in den Kauf", (G. p. 140) und überdies hat dieser Wahn
wahrscheinlich Wurzeln in seinem Innern, von denen wir nichts
wissen, und die bei uns nicht bestehen. Es bedarf wohl bei
ihm einer eingreifenden Behandlimg, um ihn zur Wirkli<9ikeit
zTirückzuführen. Gegenwärtig kann er nicht anders, als den
Wahn der eben gemachten wunderbaren Erfahnmg anpassen.
Die Gradiva, die bei der Verschüttung Pompejis mit unter-
gegangen, kann nichts, anderes sein als ein Mittagsgespenst,
das für die kurze Geisterstunde ins Leben zurückkehrt. Aber
warum entfährt ihm nach jener in deutscher Sprache gegebenen
Antwort der Ausruf: „Ich wußte es, so klänge deine Stimme"?
IN W. JENSENS „GRADIVA" 18
Nicht wir allein, auch das Mädchen selbst muß so fragen, und
Hanold muß zugeben, daß er die Stimme noch nie gehört,
aber sie zu hören erwartet, damals im Traum, als ^r sie an-
rief, während sie sich auf den Stufen des Tempels zum Schla-
fen hinlegte. Er bittet sie, es wieder zu tun wie damals, aber
da erhebt sie sich, richtet ihm einen befremdenden Blick ent-
gegen und verschwindet nach wenigen Schritten zwischen den
Säulen des Hofes» Ein schöner Schmetterling hatte sie kurz
vorher einigemal umflattert; in seiner Deutung war es ein
Bote des Hades gewesen, der die Abgeschiedene an ihre Bück-
kehr mahnen sollte, da die Mittagsgeistersttmde abgelaufen.
Den Ruf: „Kehrst du morgen in der Mittagssttmde wieder hie-
her?'^ kann Hanold der Verschwindenden noch nachsenden.
Uns aber, die wir uns jetzt mehr nüchterner Deutungen ge-
trauen, will es scheinen, als ob die junge Dame in der Auf-
fordenmg, die Hanold an sie gerichtet, etwas Ungehöriges
erblickte und ihn darum beleidigt verließ, da sie doch von
seinem Traum nichts wissen konnte. Sollte ihr Feingefühl
nicht die erotische Natur des Verlangens herausgespürt haben,
das sich für Hanold durch die Beziehung auf seinen Traum
motivierte?
Nach dem Verschwinden der Gradiva mustert unser Held
sämtliche bei der Tafel anwesenden Gäste des Hotels Diomede
imd darauf ebenso die des Hotels Suisse und kann sich dann
sagen, daß in keiner der beiden ihm allein bekannten Unter-
kunftsstätten Pompejis eine Person zu finden sei, die mit der
Gradiva die entfernteste Ähnlichkeit besitze. Selbstverständ-
lich hätte er die Erwartung als widersinnig abgewiesen, daß
er die Gradiva wirklich in einer der beiden ."Wirtschaften an-
treffen könne. Der auf dem heißen Boden des Vesuvs ge-
kelterte Wein hilft dann den Taumel verstärken, in dem er
den Tag verbracht.
Vom nächsten Tage stand nur fest, daß Hanold wieder
um die Mittagsstunde im Hause des Meleager sein müsse, und
diese Zeit erwartend, dringt er auf einem nicht vorschrifts-
mäßigen Wege über die alte Stadtmauer in Pompeji ein. Ein
mit weißen Glockenkelchen behängter Asphodelosschaft er-
14 DER WAHN UND DIE TRÄUME
scheint ihm als Blume der Unterwelt bedeuttmgsvoll genug,
um ihn zu pflücken und mit sich zu tragen* Die gesamte
Altertumswissenschaft aber dünkt ihm während seines Wartens
das Zweckloseste und Gleichgültigste von der Welt, denn ein
anderes Interesse hat sich seiner bemächtigt, das Problem: „von
welcher Beschaffenheit die körperliche Erscheinung eines We-
sens wie der Oradiva sei, das zugleich tot, und, wenn auch nur
in der Mittagsgeisterstunde, lebendig war." (G. p. 80.) Auch bangt
er davor, die Gesuchte heute nicht anzutreffen, weil ihr viel-
leicht die Wiederkehr erst nach langen Zeiten verstattet sein
könne, tmd hält ihre Erscheinung, als er ihrer wieder zwischen
den Säulen gewahr wird, für ein Gaukelspiel seiner Phantasie,
welches ihm den schmerzlichen Ausruf entlockt: „0, daß du
noch wärest und lebtest!" Allein diesmal war er offenbar zu
kritisch gewesen, denn die Erscheinung verfügt über eine
Stimme, die ihn fragt, ob er ihr die weiße Blume bringen
wolle, und zieht den wiederum Fassungslosen in ein langes
Gespräch. Uns Lesern, welchen die Gradiva bereits als lebende
Persönlichkeit interessant geworden ist, teilt der Dichter mit,
daß das Unmutige und Zurückweisende, das sich tags zuvor
in ihrem Blick geäußert, einem Ausdruck von suchender Neu-
gier oder Wißbegierde gewichen war. Sie forscht ihn auch
wirklich aus, verlangt die Aufklärung seiner Bemerkung vom
vorigen Tag, wann er bei ihr gestanden, als sie sich zum
Schlafen hingelegt, erfährt so vom Traum, in dem sie mit ihrer
Vaterstadt imtergangen, dann vom Keliefbild und der Stellung
des Fu^es, die den Archäologen so angezogen. Nim läßt sie
sich auch bereit finden, ihren Gang zu demonstrieren, wobei
als einzige Abweichung vom Urbild der Gradiva der Ersatz
der Sandalen durch sandfarbig helle Schuhe von feinem Leder
festgestellt wird, den sie als Anpassung an die Gegenwart auf-
klärt. Offenbar geht sie auf seinen Wahn ein, dessen ganzen
Umfang sie ihm entlockt, ohne je zu widersprechen. Ein ein-
ziges Mal scheint sie durch einen eigenen Affekt aus ihrer
Bolle gerissen zu werden, als er, den Sinn auf ihr Keliefbild
gerichtet, behauptet, daß er sie auf den ersten Blick erkannt
habe. Da sie an dieser Stelle des Gespräches noch nichts von
dem Eelief weiß, muß ihr ein Mißverständnis der Worte Hanolds
IN W. JENSENS „GRADIVA" 16
nahe liegen, aber alsbald hat sie sich wieder gefaßt, und nur uns
will es scheinen, als ob manche ihrer Keden doppelsinnig klingen,
außer ihrer Bedeutiuig im Zusammenhang des .Wahnes auch
etwas Wirkliches und Gegenwärtiges meinen, so z. B. wenn
sie bedauert, daß ihm damals die Feststellung der Gradiva-
gangart auf der Straße nicht gelimgen sei. „Wie schade, du hät-
test vielleicht die weite Beise hieher nicht zu machen gebraucht."
(G. p. 89.) Sie erfährt auch, daß er ihr EeUefbild „Gradiva"
benannt, und sagt ihm ihren wirklichen Namen Zoe. „Der
Name steht dir schön an, aber er klingt mir als ein bitterer
Hohn, denn Zoe heißt das Leben." — „Man muß sich in das
Unabänderliche fügen",i entgegnet sie, „imd ich habe mich
schon lange daran gewöhnt, tot zu sein." Mit dem Versprechen,
morgen um die Mittagsstunde wieder an demselben Orte zu
sein, nimmt sie von ihm Abschied, nachdem sie sich noch die
Asphodelosstaude von ihm erbeten. „Solchen, die besser daran
sind, gibt man im Frühling Bösen, doch für mich ist die Blume
der Vergessenheit aus deiner Hand die richtige," (G. p. 90.) Weh-
mut schickt sich wohl für eine so lang Verstorbene, die nun auf
kurze Stunden ins Leben zurückgekehrt ist.
Wir fangen nun an zu verstehen und eine Hoffnung zu
fassen. Wenn die junge Dame, in deren Gestalt die Gradiva
wieder aufgelebt ist, Hanolds Wahn so voll aufnimmt, so tut
sie es wahrscheinlich, um ihn von ihm zu befreien. Es gibt
keinen anderen Weg dazu; durch Widerspruch versperrte man
sich die Möglichkeit. Auch die ernsthafte Behandlung eines
wirklichen solchen Krankheitszustandes könnte nicht anders,
als sich zunächst auf den Boden des Wahngebäudes stellen
und dieses dann möglichst vollständig erforschen. Wenn Zoe
die richtige Person dafür ist, werden wir wohl erfahren, wie man
einen Wahn wie den unseres Helden heilt. Wir wollten auch
gern wissen, wie ein solcher Wahn entsteht. Es träfe sich
sonderbar und wäre doch nicht ohne Beispiel und Gegenstück,
wenn Behandlung tmd Erforschung des Wahnes zusammenfielen
und die Aufklärung der Entstehimgsgeschichte desselben sich
gerade während seiner Zersetztmg ergäbe. Es ahnt uns frei-
lich, daß unser Krankheitsfall dann in eine „gewöhnliche" Lie-
besgeschichte auflaufen könnte, aber man darf die Liebe als
16 DEB WAHN UND DIE TRÄUME
Heilpotenz gegen den Wahn nicht verachten, und war unseres
Helden Eingenommensein von seinem Gradivabild nicht auch
eine volle Verliebtheit, allerdings noch aufs Vergangene und
Leblose gerichtet?
Nach dem Verschwinden der Gradiva schallt es nur noch
einmal aus der Entfernung wie ein lachender Ruf eines über
die Trümmerstadt hinfliegenden Vogels. Der Zurückgebliebene
nimmt etwas Weißes auf, das die Gradiva zurückgelassen, kein
Papyrusblatt, sondern ein Skizzenbuch mit Bleistiftzeichnungen
verschiedener Motive aus Pompeji. Wir würden sagen, es sei
ein Unterpfand ihrer Wiederkehr, daß sie das kleine Buch an
dieser Stelle vergessen, denn wir behaupten, man vergißt nichts
ohne geheimen Grund oder verborgenes Motiv.
Der Best des Tages bringt unserem Hanold allerlei merk-
würdige Entdeckimgen und Feststellungen, die er zu einem
Ganzen zusammenzufügen verabsäumt. In der Mauer des
Portikus, wo die Gradiva verschwunden, nimmt er heute einen
schmalen Spalt gewahr, der doch breit genug ist, um eine
Person von ungewöhnlicher Schlankheit durchzulassen. Er er-
kennt, die Zoe-Gradiva brauche hier nicht in den Boden zu
versinken, was auch so vernunftwidrig sei, daß er sich dieses
nun abgelegten Glaubens schämt, sondern sie benütze diesen
Weg, um sich in ihre Gruft zu begeben. Ein leichter Schatten
scheint ihm am Ende der Gräberstraße vor der sogen. Villa
des Diomedes zu zergehen. Im Taumel wie am Vortage und
mit denselben Problemen beschäftigt, treibt er sich nun in der
Umgebung Pompejis herum. Von welcher leiblichen Beschaf-
fenheit wohl die 2joe-Gradiva sein möge, und ob man etwas
verspüren würde, wenn man ihre Hand berührte. Ein eigen-
tümlicher Drang trieb ihn zum Vorsatze, dieses Experiment
zu unternehmen, und doch hielt ihn eine ebenso große Scheu
auch in der Vorstellung davon zurück. An einem heißbesonnten
Abhänge traf er einen älteren Herrn, der nach seiner Aus-
rüstung ein Zoologe oder Botaniker sein mußte und mit
einem Fange beschäftigt schien. Der wandte sich nach ihm
um und sagte dann: „Interessieren Sie sich auch für die Fara-
glionensis? Das hätte ich kaum vermutet, aber rnir ist es
durchaus wahrscheinlich, daß sie sich nicht nur auf den Fara-
IN W. JENSENS „GRADIVA" 17
glionen bei Capri aufhält, sondern sich mit Ausdauer auch
am Festland finden lassen muß. Das vom Kollegen Eimer
angegebene Mittel ist wirklich gut; ich habe es schon mehr-
fach mit bestem Erfolge angewendet. Bitte» halten Sie sich ganz
ruhig — ." (G. p. 96.) Der Sprecher brach dann ab und hielt eine
aus einem langen Orashalm hergestellte Schlinge vor eine Fels-
ritze, aus der das bläulich schillernde Köpfchen einer Eidechse
hervorsah. Hanold verließ den Lacertenjäger mit der kri-
tischen Idee, es sei kaum glaublich, was für närrisch merk-
würdige Vorhaben Leute zu der weiten Fahrt nach Pompeji ver-
anlassen konnten, in welche Ejritik er sich und seine Absicht, in
der Asche Pompejis nach den Fußabdrücken der Gradiva zu
forschen, natürlich nicht einschloß. Das Gesicht des Herrn kam
ihm übrigens bekannt vor, als hätte er es flüchtig in einem
der beiden Gasthöfe bemerkt, auch war dessen Anrede wie an
einen Bekannten gerichtet gewesen. Auf seiner weiteren Wan-
derung brachte ihn ein Seitenweg zu einem bisher von ihm
nicht entdeckten Haus, welches sich als ein drittes Wirtshaus,
der „Albergo del Sole" herausgtellte. Der unbeschäftigte Wirt
benützte die Gelegenheit, sein Haus und die darin enthaltenen
ausgegrabenen Schätze bestens zu empfehlen. Er behauptete,
daß er auch zugegen gewesen sei, als man in der Gegend des
Forums das junge Liebespaar aufgefunden, das sich bei der
Erkenntnis des unabwendbaren Unterganges fest mit den Ar-
men umschlungen und so den Tod erwartet habe. Davon hatte
Hanold schon früher gehört und darüber als über eine Fabel-
erfindung irgend eines phantasiereichen Erzählers die Achsel
gezuckt, aber heute erweckten die Reden des Wirtes bei ihm
eine Gläubigkeit, die sich auch weiter erstreckte, als dieser
eine mit grüner Patina überzogene Metallspange herbeiholte,
die in seiner Gegenwart neben den Überresten des Mädchens
aus der Asche gesammelt worden sei. Er erwarb diese Spange
ohne weitere kritische Bedenken, und als er beim Verlassen
des Albergo an einem offenstehenden Fenster einen mit weißen
Blüten besetzten Asphodelosschaft herabnicken sah, durchdrang
ihn der Anblick der Gräberblume wie eine Beglaubigung für
die Echtheit seines neuen Besitztums.
Freud, Der Wehn und die Tiftnme. ^
18 DER WAHN UND DIE TRÄUME
Mit dieser Spange hatte aber ein neuer Wahn von ihm
Besitz ergriffen oder vielmehr der alte ein Stückchen Fort-
setzung getrieben, anscheinend kein gutes Vorzeichen für die
eingeleitete Therapie. Unweit des Forums hatte man ein jun-
ges Liebespaar in solcher ümschlingung ausgegraben, und er
hatte im Traume die Gradiva in eben dieser Gegend beim
Apollotempel sich zum Schlafe niederlegen gesehen. Wäre es
nicht möglich, daß sie in Wirklichkeit vom Forum noch weiter
gegangen sei, um mit jemand zusammenzutreffen, mit dem sie
dann gemeinsam gestorben? Ein quälendes Gefühl, das wir
vielleicht der Eifersucht gleichstellen können, entsprang aus
dieser Vermutung. Er beschwichtigte es durch den Hinweis auf
die Unsicherheit der Kombination und brachte sich wieder so
weit zurecht, daß er die Abendmahlzeit im Hotel Diomede ein-
nehmen konnte. Zwei neueingetroffene Gäste, ein Er und eine
Sie, die er nach einer gewissen Ähnlichkeit für Geschwister
halten mußte, — trotz ihrer verschiedenen Haarfärbung, — zo-
gen dort seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Beiden waren die
ersten ihm auf seiner Eeise Begegnenden, von denen er einen
sympathischen Eindruck empfing. Eine rote Sorrentiner Eose,
die das junge Mädchen trug, weckte irgend eine Erinnerung
in ihm, er konnte sich nicht besinnen, welche. Endlich ging
er zu Bett und träumte ; es war merkwürdig unsinniges Zeug,
aber offenbar aus den Erlebnissen des Tages zusammengebraut-
„Irgendwo in der Sonne saß die Gradiva, machte aus einem
Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse drin zu fangen imd
sagte dazu: »Bitte, halte dich ganz ruhig — die Kollegin hat
recht, das Mittel ist wirklich gut und sie hat es mit bestem
Erfolge angewendet.*" Gegen diesen Traum wehrte er sich
noch im Schlafe mit der Kritik, das sei ja vollständige Ver-
rücktheit, und es gelang ihm, den Traum loszuwerden mit Hilfe
eines unsichtbaren Vogels, der einen kurzen lachenden Euf aus-
stieß und die Eidechse im Schnabel forttrug.
Trotz all dieses Spuks erwachte er eher geklärt und ge-
festigt. Ein Eosenstrauch, der Blumen von jener Art trug,
wie er sie gestern an der Brust der jungen Dame bemerkt
hatte, brachte ihm ins Gedächtnis zurück, daß in der Nacht
jemand gesagt hatte, im Frühling gäbe man Eosen. Er pflückte
IN W, JENSENS „GBADIVA" 1»
unwillkürlich einige der Bösen ab, und an diese mußte sich
etwas knüpfen, was eine lösende Wirkung in seinem Kopf aus-
übte. Seiner Menschenscheu erledigt, begab er sich auf dem ge-
wöhnlichen "Wege nach Pompeji, mit den Eosen, der Metall-
spange und dem Skizzenbuch beschwert und mit verschiedenen
Problemen, welche die Gradiva betrafen, beschäftigt. Der alte
.Wahn war rissig geworden, er zweifelte bereits, ob sie sich
nur in der Mittagsstunde, nicht auch zu anderen Zeiten in
Pompeji aufhalten dürfe. Der Akzent hatte sich dafür auf
das zuletzt angefügte Stück verschoben, und die an diesem
hängende Eifersucht quälte ihn in allerlei Verkleidungen. Bei-
nahe hätte er gewünscht, daß die Erscheinung nur seinen Augen
sichtbar bleibe und sich der Wahrnehmung anderer entziehe;
so dürfte er sie doch als sein ausschließliches Eigentum be-
trachten. Während seiner Streifungen im Erwarten der Mit-
tagsstunde hatte er eine überraschende Begegnung. In der
Casa del fauno traf er auf zwei Gestalten, die sich in einem
Winkel unentdeckbar glauben mochten, denn sie hielten sich
mit den Armen umschlungen imd ihre Lippen zusammenge-
schlossen. Mit Verwimderung erkannte er in ihnen das sym-
pathische Paar von gestern abend. Aber für zwei Geschwister
bedünkten ihn ihr gegenwärtiges Verhalten, die Umarmung
und der Kuß von zu langer Andauer; also war es doch ein
Liebes- und vermutlich junges Hochzeitspaar, auch ein August
und eine Grete. Merkwürdigerweise erregte dieser Anblick
jetzt nichts anderes als Wohlgefallen in- ihm, und scheu, als
hätte er eine geheime Andachtsübxing gestört, zog er sich im-
gesehen zurück. Ein Bespekt, der ihm lange gefehlt hatte,
war in ihm wiederhergestellt.
Vor dem Hause des Meleager angekommen, überfiel ihn
die Angst, die Gradiva in Gesellschaft eines Anderen anzu-
treffen, noch einmal so heftig, daß er für ihre Erscheintmg
keine andere Begrüßung fand, als die Frage: Bist du allein?
Mit Schwierigkeit läßt er sich von ihr zum Bewußtsein brin-
gen, daß er die Bösen für sie gepflückt, beichtet ihr den
letzten Wahn, daß sie das Mädchen gewesen, das man am
Forum in Liebesumarmung gefunden, und dem die grüne Spange
gehört hatte. Nicht ohne Spott fragt sie, ob er das Stück etwa
2»
so DER WAHN UND DIE TRÄUME
in der Sonne gefunden. Diese — hier Sole genannt — bringe
allerlei derart zu stände. Zur Heilung des Schwindels im
Kopfe, den er zugesteht, schlägt sie ihm vor, ihre kleine Mahl-
zeit mit ihr zu teilen, und bietet ihm die eine Hälfte eines
in Seidenpapier eingewickelten Weißbrotes an, dessen andere
sie selbst mit sichtlichem Appetit verzehrt. Dabei blitzen
ihre tadellosen Zähne zwischen den Lippen auf und verur-
sachen beim Durchbeißen der Binde einen leicht krachenden
Ton. Auf ihre Bede: „Mir ist's, als hätten wir schon vor
zweitausend Jahren einmal so zusammen unser Brot gegessen.
Kannst du dich nicht darauf besinnen?" (G. p. 118) wußte er keine
Antwort, aber die Stärkung seines Kopfes durch das Nährmittel
und all die Zeichen von Gegenwärtigkeit, die sie gab, ver-
fehlten ihre Wirkung auf ihn nicht. Die Vernunft erhob sich
in ihm und zog den ganzen Wahn, daß die Gradiva nur ein
Mittagsgespenst sei, in Zweifel; dagegen ließ sich freilich
einwenden, daß sie soeben selbst gesagt, sie habe schon vor
zweitausend Jahren die Mahlzeit mit ihm geteilt. In solchem
Konflikt bot sich ein Experiment als Mittel der Entscheidung,
das er mit Schlauheit und wiedergefundenem Mute ausführte.
Ihre linke Hand lag mit den schmalen Fingern ruhig auf
ihren Knien, und eine der Stubenfliegen, über deren Frechheit
und Nutzlosigkeit er sich früher so entrüstet hatte, ließ sich
auf dieser Hand nieder. Plötzlich fuhr Hanolds Hand in
die Höh' und klatschte mit einem keineswegs gelinden Schlag
auf die Fliege und die Hand der Gradiva herunter.
Zweierlei Erfolg trug ihm dieser kühne Versuch ein, zu-
nächst die freudige Überzeugung, daß er eine unzweifelhaft
wirkliche, lebendige und warme Menschenhand berührt, dann
aber einen Verweis, vor dem er erschrocken von seinem Sitr
auf der Stufe aufflog. Denn von den Lippen der Gradiva
tönte es, nachdem sie sich von ihrer Verblüffung erholt hatte:
„Du bist doch offenbar verrückt, Norbert Hanold."
Der Buf beim eigenen Namen ist bekanntlich das beste
Mittel, einen Schläfer oder Nachtwandler aufzuwecken. Welche
Folgen die Nennung seines Namens, von dem er niemand in
Pompeji Mitteilung gemacht, durch die Gradiva für Norbert
Hanold mit sich gebracht hatte, ließ sich leider nicht beob-
IN W. JENSENS „GRADIVA'* %1
achten. Denn in diesem kritischen Augenblick tauchte das
sympathische Liebespaar aus der Casa di fauno auf, und die
junge Dame rief mit einem Ton fröhlicher Überraschung : „Zoe !
du auch hier? Und auch auf der Hochzeitsreise? Davon hast
du mir ja kein Wort geschrieben!" Vor diesem neuen Beweis
der Lebenswirklichkeit der Gradiva ergriff Hanold die Flucht.
Die Zoe-Gradiva war durch den unvorhergesehenen Be-
such, der sie in einer, wie es scheint, wichtigen Arbeit störte,
auch nicht aufs angenehmste überrascht. Aber bald gefaßt,
beantwortet sie die Frage mit einer geläufigen Antwortsrede,
in der sie der Freundin, aber mehr noch uns, Auskünfte über
die Situation gibt, und mittels welcher sie sich des jungen
Paares zu entledigen weiß. Sie gratuliert, aber sie ist nicht
auf der Hochzeitsreise. „Der junge Herr, der eben fortging,
laboriert auch an einem merkwürdigen Hirngespinst, mir scheint,
er glaubt, daß ihm eine Fliege im Kopfe summt; nun, irgend
eine Kerbtierart hat wohl Jeder drin. Pflichtmäßig verstehe
ich mich etwas auf Entomologie und kann deshalb bei solchen
Zuständen ein bißchen von Nutzen sein. Mein Vater und ich
wohnen im Sole, er bekam auch einen plötzlichen Anfall und
dazu den guten Einfall, mich mit hieher zu nehmen, wenn ich
mich auf meine eigene Hand in Pompeji unterhalten und an ihn
keinerlei Anforderungen stellen wollte. Ich sagte mir, irgenid
etwas Interessantes würde ich wohl schon allein hier ausgra-
ben. Freilich, auf den Fund, den ich gemacht, — ich meine das
Glück, dich zu treffen, Gisa, hatte ich mit keinem Gedanken ge-
rechnet." (G. p. 124.) Aber nun muß sie eilig fort, ihrem Vater am
Sonnentisch Gesellschaft leisten. Und so entfernt sie sich, nach-
dem sie sich uns als die Tochter des Zoologen und Eidechsen-
fängers vorgestellt und in allerlei doppelsinnigen Reden sich
zur Absicht der Therapie und zu anderen geheimen Absichten
bekannt hat. Die Richtung, die sie einschlug, war aber nicht
die des Gasthofes zur Sonne, in dem ihr Vater sie erwartete,
sondern auch ihr wollte scheinen, als ob in der Umgegend
der Villa des Diomedes eine Schattengestalt ihren Tumulus auf-
suche und unter einem der Gräberdenkmäler verschwinde, und
darum richtete sie ihre Schritte mit dem jedesmal beinahe senk-
recht aufgestellten Fuß nach der Gräberstraße. Dorthin hatte
«2 DER WAHN UND DIE TRÄUME
sich in seiner Beschämung und Verwirrung Hanold geflüchtet
und wanderte im Portikus des Gartenraumes unablässig auf
und ab, beschäftigt, den Rest seines Problems durch Denk-
anstrengung zu erledigen. Eines war ihm unanfechtbar klar
geworden, daß er völlig ohne Sinn und Verstand gewesen zu
glauben, daß er mit einer mehr oder weniger leiblich wiedel*
lebendig gewordenen jungen Pompejanerin verkehrt habe, und
diese deutliche Einsicht seiner Verrücktheit bildete unstreitig
einen wesentlichen Fortschritt auf dem Rückweg zur gesunden
Vernunft. Aber anderseits war diese Lebende, mit der auch
Andere wie mit einer ihnen gleichartigen Leibhaftigkeit ver-
kehrten, die Gradiva, und sie wußte seinen Namen, und dieses
Rätsel zu lösen, war seine kaum erwachte Vernunft nicht
stark genug. Auch war er im Gefühl kaum ruhig genug, um
sich solcher schwierigen Aufgabe gewachsen zu zeigen, denn
am liebsten wäre er vor zweitausend Jahren in der Villa des
Diomedes mitverschüttet worden, um nur sicher zu sein, der
Zoe-Gradiva nicht wieder zu begegnen.
Eine heftige Sehnsucht, sie wiederzusehen, stritt indessen ge-
gen den Rest von Neigung zur Flucht, der sich in ihm er-
halten hatte.
Um eine der vier Ecken des Pfeilerganges biegend, prallte
er plötzlich zurück. Auf einem abgebrochenen Mauerstücke
saß da eines der Mädchen, die hier in der Villa des Diomedes
ihren Tod gefunden hatten. Aber das war ein bald abgewie-
sener letzter Versuch, in das Reich des Wahnsinns zu flüch-
ten; nein, die Gradiva war es, die offenbar gekommen war,
ihm das letzte Stück ihrer Behandlung zu schenken. Sie deutete
seine erste instinktive Bewegung ganz richtig als einen Ver-
such, den Raum zu vetlassen, und bewies ihm, daß er nicht
entrinnen könne, denn draußen hatte ein fürchterlicher Wasser-
sturz zu rauschen begonnen. Die Unbarmherzige begann das
Examen mit der Frage, was er mit der Fliege auf ihrer
Hand gewollt. Er fand nicht den Mut, sich eines bestimmten
Pronomens zu bedienen, wohl aber den wertvolleren, die ent-
scheidende Frage zu stellen :
„Ich war — wie jemand sagte — etwas verwirrt im Kopf
und bitte um Verzeihung, daß ich die Hand derartig — wie
IN W. JENSENS „GRADIVA« 23
ich so sinnlos sein konnte, ist mir nicht begreiflich — aber
ich bin auch nicht im stände, zu begreifen, wie ihre Besitzerin
mir meine — meine Unvernunft mit meinem Namen vorhalten
konnte." (G. p. 134.)
„So weit ist dein Begreifen also noch nicht vorgeschritten,
Norbert Hanold. Wunder nehmen kann's mich allerdings
nicht, da du mich lange daran gewöhnt hast. Um die Er-
fahrung wieder zu machen, hätte ich nicht nach Pompeji zu
kommen gebraucht, und du hättest sie mir um gut hundert
Meilen näher bestätigen können."
„Um hundert Meilen näher; deiner Wohnung schräg ge-
genüber, in dem Eckhaus; an meinem Fenster steht ein Käfig
mit einem Kanarienvogel," eröffnet sie jetzt dem noch immer
Verständnislosen.
Dies letzte Wort berührt den Hörer wie eine Erinnerung
aus einer weiten Feme. Das ist doch derselbe Vogel, dessen
Gesang ihm den Entschluß zur Reise nach Italien eingegeben.
„In dem Hause wohnt mein Vater, der Professor der
Zoologie Richard Bertgang."
Als seine Nachbarin kannte sie also seine Person und
seinen Namen. Uns droht es wie eine Enttäuschung durch
eine seichte Lösung, die unserer Erwartungen nicht würdig ist.
Norbert Hanold zeigt noch keine wiedergewonnene Selb-
ständigkeit des Denkens, wenn er wiederholt: „Dann sind
Sie — sind Sie Fräulein Zoe Bertgang? Die sah aber doch
ganz anders aus . . . ."
Die Antwort des Fräuleins Bertgang zeigt dann, daß
doch noch andere Beziehungen als die der Nachbarschaft zwi-
schen den beiden bestanden hatten. Sie weiß für das trauliche
„du" einzutreten, das er dem Mittagsgespenst natürlich ge-
boten, vor der Lebenden wieder zurückgezogen hatte, auf das
sie aber alte Rechte geltend macht. „Wenn du die Anrede
passender zwischen uns findest, kann ich sie ja auch anwen-
den, mir la^ nur die andere natürlicher auf der Zunge. Ich
weiß nicht mehr, ob ich früher, als wir täglich freundschaft-
lich miteinander herumliefen, gelegentlich uns zur Abwechslung
auch knufften und pufften, anders ausgesehen habe. Aber wenn
Sie in den letzten Jahren einmal mit einem Blick auf mich
24 DER WAHN UND DIE TRÄUME
Acht gegeben hätten, wäre Ihren Augen vielleicht aufgegangen,
daß ich schon seit längerer Zeit so aussehe/'
Eine Kinderfreundschaft hatte also zwischen den beiden
bestanden, vielleicht eine Kinderliebe, aus der das „Du" seine
Berechtigung ableitete. Ist diese Lösung nicht vielleicht ebenso
seicht wie die erst vermutete? Es trägt aber doch wesentlich
zur Vertiefung bei, daß uns einfällt, dies Kinderverhältnis er-
kläre in unvermuteter Weise so manche Einzelheit von dem,
was während ihres jetzigen Verkehrs zwischen den Beiden vor-
gefallen. Jener Schlag auf die Hand der Zoe-Gradiva, den
sich Norbert Hanold so vortrefflich mit dem Bedürfnis mo-
tiviert, durch eine experimentelle Entscheidung die Frage nach
der Leiblichkeit der Erscheinung zu lösen, sieht er nicht an-
derseits einem Wiederaufleben des Impulses zum „Knuffen und
Puffen" merkwürdig ähnlich, dessen Herrschaft in der Kind-
heit uns die Worte Zoes bezeugt haben? Und wenn die Gra-
diva an den Archäologen die Frage gerichtet, ob ihm nicht
vorkomme, daß sie schon einmal vor zweitausend Jahren so
die Mahlzeit miteinander geteilt hätten, wird diese unverständ-
liche Frage nicht plötzlich sinnvoll, wenn wir anstatt jener
geschichtlichen Vergangenheit die persönliche einsetzen, die
Kind er zeit wiederum, deren Erinnerungen bei dem Mädchen
lebhaft erhalten, bei dem jungen Manne aber vergessen zu sein
scheinen? Dämmert uns nicht plötzlich die Einsicht, daß die
Phantasien des jungen Archäologen über seine Gradiva ein
Nachklang dieser vergessenen Kindheitserinnerungen sein könn-.
ten? Dann wären sie also keine willkürlichen Produktionen
seiner Phantasie, sondern bestimmt, ohne daß er darum wüßte,
durch das von ihm vergessene, aber noch wirksam in ihm
vorhandene Material von Kindheitseindrücken. Wir müßten
diese Abkunft der Phantasien im einzelnen nachweisen können,
wenn auch nur durch Vermutungen. Wenn z. B. die Gradiva
durchaus griechischer Abkunft sein muß, die Tochter eines
angesehenen Mannes, vielleicht eines Priesters der Ceres, so
stimmte das nicht übel zu einer Nachwirkung der Kenntnis
ihres griechischen Namens Zoe und ihrer Zugehörigkeit zur
Familie eines Professors der Zoologie. Sind aber die Phanta-
sien Hanolds umgewandelte Erinnerungen, so dürfen wir er-
IN W. JENSENS „GRADIVA" U
warten, in den Mitteilungen der Zo'e Bertgang den Hin-
weis auf die Quellen dieser Phantasien zu finden. Horchen
wir auf; sie erzählte uns von einer intimen Freundschaft der
Kinderjahre, wir werden nun erfahren, welche weitere Ent-
wicklung diese Kinderbeziehung bei den Beiden genommen hat.
„Damals, so bis um die Zeit, in der man uns, ich weiß
nicht weshalb, Backfische tituliert, hatte ich mir eigentlich
eine merkwürdige Anhänglichkeit an Sie angewöhnt und glaubte,
ich könnte nie einen mir angenehmeren Freund auf der Welt
finden. Mutter und Schwester oder Bruder hatte ich ja nicht,
meinem Vater war eine Blindschleiche in Spiritus bedeutend
interessanter als ich, und etwas muß man, wozu ich ^auch ein
Mädchen rechne, wohl haben, womit man seine Gedanken und
was sonst mit ihnen zusammenhängt, beschäftigen kann. Das
waren also Sie damals ; doch als die Altertumswissenschaft über
Sie gekommen war, machte ich die Entdeckung, daß aus dir
— entschuldigen Sie, aber Ihre schickliche Neuerung klingt
mir doch zu abgeschmackt und paßt auch nicht zu '4em, was
ich ausdrücken will — ich wollte sagen, da stellte sich heraus,
daß aus dir ein unausstehlicher Mensch geworden war, der,
wenigstens für mich, keine Augen mehr im Kopf, keine iZunge
mehr im Mund und keine Erinnerung mehr da hatte, ^wo sie
mir an unsere Kinderfreundschaft sitzen geblieben war. Dar-
um sah ich wohl anders aus als früher, denn wenn ich ab und
zu in einer Gesellschaft mit dir zusammenkam, noch im letz-
ten "Winter einmal, sahst du mich nicht, tind noch weniger
bekam ich deine Stimme zu hören, worin übrigens keine Aus-
zeichnung für mich lag, weil du's mit allen Andern ebenso
machtest. Ich war Luft für dich, tind du warst, mit deinem
blonden Haarschopf, an dem ich dich früher oft gezaust, so
langweilig, vertrocknet und mundfaul wie ein ausgestopfter
Kakadu und dabei so großartig wie ein — Archäopteryx heißt
das ausgegrabene vorsintflutliche Vogelungetüm ja wohl. Nur
daß dein Kopf eine ebenfalls so großartige Phantasie beher-
bergte, hier in Pompeji mich auch für etwas Ausgegrabenes
und wieder lebendig Gewordenes anzusehen, — das hatte ich
nicht bei dir vermutet, und als du auf einmal ganz uner-
wartet vor mir standest, kostete es mich zuerst ziemliche Mühe,
M BEB WAHN UND DIE TBAUME.
dahinter zu kommen, was für ein unglaubliches EUmgespinst
deine Einbildung sich zurechtgearbeitet hatte. Dann machte
mir's Spaß und gefiel mir auch trotz seiner Tollhäusigkeit
nicht so übel. Denn, wie gesagt, das hatte ich bei dir nicht
vermutet."
So sagt sie uns also deutlich genug, was aus der Kinder-
freundschaft mit den Jahren bei ihnen Beiden geworden war.
Bei ihr steigerte sich dieselbe zu einer herzlichen Verliebtheit,
denn etwas muß man ja haben, woran man als Mädchen sein
Herz hängt. Fräulein Zoe, die Verkörperung der Klugheit und
Klarheit, macht uns auch ihr Seelenleben ganz durchsichtig.
.Wenn es schon allgemeine Begel für das normal geartete Mäd-
chen ist, daß sie ihre Neigung zunächst dem Vater zuwende,
so war sie ganz besonders dazu bereit, die keine andere Per-
son als den Vater in ihrer Familie fand. Dieser Vater aber
hatte für sie nichts übrig, die Objekte seiner Wissenschaft
hatten all sein Interesse mit Beschlag belegt. So mußte sie
nach einer anderen Person Umschau halten imd hing sich mit
besonderer Innigkeit an ihren Jugendgespielen. Als auch dieser
keine Augen mehr für sie hatte, störte es ihre Liebe nicht,
steigerte sie vielmehr, denn er war ihrem Vater gleich gewor-
den, wie dieser von der Wissenschaft absorbiert und durch sie
vom Leben und von Zoe femgehalten. So war es ihr gestattet,
in der Untreue noch treu zu sein, im Geliebten den Vater
wiederzufinden, mit dem gleichen Gefühl die Beiden zu um-
fassen oder, wie wir sagen können, die Beiden in ihrem Fühlen
zu identifizieren. Woher nehmen wir die Berechtigung zu
dieser kleinen psychologischen Analyse, die leicht als selbst-
herrlich erscheinen könnte? In einem einzigen, aber höchst
charakteristischen Detail hat sie der Dichter uns gegeben. Wenn
Zoe die für sie so betrübende Verwandlung ihres Jugendge-
spielen schildert, so beschimpft sie ihn durch einen Vergleich
mit dem Archäopteryx, jenem Vogelungetüm, das der Archäo-
logie der Zoologie angehört. So hat sie für die Indentifizierung
der beiden Personen einen einzigen konkreten Ausdruck ge-
funden; ihr Groll trifft den Greliebten wie den Vater mit
demselben Worte. Der Archäopteryx ist sozusagen die Kom-
promiß- oder Mittelvorstellung, in welcher der Gedanke an die
IN W. JENSENS „GKADIVA" 27
Torheit ihres Geliebten mit dem an die analoge ihres Vaters
zusammenkommt.
Anders hatte es sich bei dem jungen Manne gewendet. Öie
Altertumswissenschaft kam über ihn und ließ ihm nur Inter-
esse für Weiber aus Stein und Bronze übrig. Die Kinder-
freundschaft ging unter, anstatt sich zu einer Leidenschaft zu
verstärken, und die Erinnerungen an sie gerieten in so tiefe
Vergessenheit, daß er seine Jugendgenossin nicht erkannte und
nicht beachtete, wenn er sie in der Gesellschaft traf. Zwar,
wenn wir das weitere überblicken, dürfen wir in Zweifel ziehen,
ob „Vergessenheit" die richtige psychologische Bezeichnung für
das Schicksal dieser Erinnerungen bei unserem Archäologen ist.
Es gibt eine Art von Vergessen, welche sich durch die Schwie-
rigkeit auszeichnet, mit welcher die Erinnerung auch durch
starke äußere Anrufungen erweckt wird, als ob ein innerer
Widerstand sich gegen deren Wiederbelebung sträubte. Solches
Vergessen hat den Namen „Verdrängung" in der Psychopatho-
logie erhalten; der Fall, den unser Dichter uns vorgeführt,
scheint ein solches Beispiel von Verdrängung zu sein. Nun
wissen wir ganz allgemein nicht, ob das Vergessen eines Ein-
druckes mit dem Untergang von dessen Erinnerungsspur im
Seelenleben verbunden ist; von der „Verdrängung" können wir
aber mit Bestimmtheit behaupten, daß sie nicht mit dem Unter-
gang, dem Auslöschen der Erinnerung zusammenfällt. Das Ver-
drängte kann zwar in der Regel sich nicht ohne weiteres als
Erinnerung durchsetzen, aber es bleibt leistungs- und wirkungs-
fähig, es läßt eines Tages unter dem Einfluß einer i^äußeren"
Einwirkung psychische Abfolgen entstehen, die man als Ver-
wandlungsprodukte und Abkömmlinge der vergessenen Erinne-
rung ftuffassen kann, imd die unverständlich bleiben, wenn
man sie nicht so auffaßt. In den Phantasien Norbert Ha-
nolds über die Gradiva glaubten wir bereits die Abkömmlinge
seiner verdrängten Erinnerungen an seine Kinderfreundschaft
mit der Zoe Bertgang zu erkennen. Mit besonderer Gesetz-
mäßigkeit darf man eine derartige Wiederkehr des Verdrängten
erwarten, wenn an den verdrängten Eindrücken das erotische
Fühlen eines Menschen haftet, wenn sein Liebesleben von der
Verdrängung betroffen worden ist. Dann behält der alte latei-
28 DEB WAHN UND DIE TRÄUME
nische Spruch recht, der vielleicht ursprünglich auf Austrei-
bung durch äußere Einflüsse, nicht auf innere Konflikte ge-
münzt ist: Naturam furca expellas, semper redibit. Aber er
sagt nicht alles, kündigt nur die Tatsache der "Wiederkehr des
Stückes verdrängter Natur an, und beschreibt nicht die höchst
merkwürdige Art dieser Wiederkehr, die sich wie durch eine;ii
tückischen Verrat vollzieht. Grerade dasjenige, was zum Mittel
der Verdrängung gewählt worden ist — wie die „furca" des
Spruches — , wird der Träger des Wiederkehrenden; in imd
hinter dem Verdrängenden macht sich endlich siegreich das
Verdrängte geltend. Eine bekannte Radierung von Felicien
Brops illustriert diese wenig beachtete und der Würdigung
so sehr bedürftige Tatsache eindrucksvoller, als viele Erläu-
terungen es vermöchten, und zwar an dem vorbildlichen Falle
der Verdrängung im Leben der Heiligen und Büßer. Ein as-
ketischer Mönch hat sich — gewiß vor den Versuchungen der
Welt — zum Bild des gekreuzigten Erlösers geflüchtet. Da
sinkt dieses Kreuz schattenhaft nieder und strahlend erhebt
sich an seiner Stelle, zu seinem Ersätze, das Bild eines üppi-
gen nackten Weibes in der gleichen Situation der Kreuzigung.
Andere Maler von geringerem psychologischen Scharfblick ha-
ben in solchen Darstellungen der Versuchung die Sünde frech
und triumphierend an irgend eine Stelle neben dem Erlöser am
BIreuze gewiesen. Rops allein hat sie den Platz des Erlösers
selbst am Kreuze einnehmen lassen ; er scheint gewußt zu haben,
daß das Verdrängte bei seiner Wiederkehr aus dem Verdrän-
genden selbst hervortritt.
Es ist des Verweilens wert, sich in Krankheitsfällen zu
überzeugen, wie feinfühlig im Zustande der Verdrängung das
Seelenleben eines Menschen für die Annäherung des Verdräng-
ten wird, imd wie leise und geringfügige Ähnlichkeiten ge-
nügen, damit dasselbe hinter dem Verdrängenden und durch
dieses zur Wirkung gelange. Ich hatte einmal Anlaß, mich
ärztlich um einen jungen Mann, fast noch Knaben, zu küm-
mern, der nach der ersten imerwünschten Kenntnisnahme von
den sexuellen Vorgängen die Flucht vor allen in ihm auf-
steigenden Gelüsten ergriffen hatte imd sich verschiedener
Mittel der Verdrängung dazu bediente, seinen Lerneifer stei-
IN W. JENSENS „GRADIVA" 29
gerte, die kindliche Anhänglichkeit an die Mutter übertrieb
und im ganzen ein kindisches Wesen annahm. Ich will hier
nicht ausführen, wie gerade im Verhältnis zur Mutter die
verdrängte Sexualität wieder durchdrang, sondern den selte-
neren und fremdartigeren Fall beschreiben, wie ein anderes
seiner Bollwerke bei einem kaum als zureichend zu erkennen-
den Anlasse zusammenbrach. Als Ablenkimg vom Sexuellen
genießt die Mathematik den größten Kuf ; schon J. J. Rous-
seau hatte sich von einer Dame, die mit ihm unzufrieden
war, raten lassen müssen: Lascia le donne e studia la mate-
matica. So warf sich auch unser Flüchtling mit besonderem
Eifer auf die in der Schule gelehrte Mathematik und Geo-
metrie, bis seine Fassungskraft eines Tages plötzlich vor eini-
gen scheinbar harmlosen Aufgaben erlahmte. Von zweien dieser
Aufgaben ließ sich noch der Wortlaut feststellen: Zwei Kör-
per stoßen aufeinander, der eine mit der Geschwindigkeit . . .
u. s. w. — Und : Einem Zylinder vom Durchmesser der «Grund-
fläche m ist ein Kegel einzuschreiben u. s. w. Bei diesen
für einen anderen gewiß nicht auffälligen Anspielungen an
das sexuelle Geschehen fand er sich auch von der Mathematik
verraten und ergriff auch vor ihr die Flucht.
Wenn Norbert Hanold eine aus dem Leben geholte
Persönlichkeit wäre, die so die Liebe und die Erinnenmg
an seine Kinderfreundschaft durch die Archäologie vertrieben
hätte, so wäre es nur gesetzmäßig und korrekt, daß gerade
ein antikes Eelief die vergessene Erinnerung an die mit kind-
lichen Gefühlen Geliebte in ihm erweckt; es wäre sein wohl-
verdientes Schicksal, daß er sich in das Steinbild der Gradiva
verliebt, hinter welchem vermöge einer nicht aufgeklärten Ähn-
lichkeit die lebende und von ihm vernachlässigte Zoe zur Wir-
kung kommt.
Fräulein Zoe scheint selbst unsere Auffassung von dem
Wahn des jungen Archäologen zu teilen, denn das Wohlge-
fallen, dem sie am Ende ihrer „rückhaltlosen, ausführlichen
und lehrreichen Strafrede" Ausdruck gegeben, läßt sich kaum
anders als durch die Bereitwilligkeit begründen, sein Literesse
für die Gradiva von allem Anfang an auf ihre Person zu
beziehen. Dieses war es eben, was sie ihm nicht zugetraut
80 DEB WAHN UND DIE TBÄÜME
hatte, und was sie trotz aller .Wahnverkleidung doch als sol-
ches erkannte. An ihm aber hatte nun die psychische Be-
handlung von ihrer Seite ihre wohltätige .Wirkung vollbracht;
er fühlte sich frei, da nun der Wahn durch dasjenige ersetzt
war, wovon er doch nur eine entstellte und ungenügende Ab-
bildung sein konnte. Er zögerte jetzt auch nicht, sich zu er-,.
Innern und sie als seine gute, fröhliche, klugsinnige Kameradin
zu erkennen, die sich im Grunde gar nicht verändert habe.
Aber etwas anderes fand er höchst sonderbar —
„Daß jemand erst sterben muß, um lebendig zu werden",
meinte das Mädchen. „Aber für die Archäologen ist das wohl
notwendig." (G. p. 141.) Sie hatte ihm offenbar den Umweg noch
nicht verziehen, den er von der Kinderfreundschaft bis zu dem
neu sich knüpfenden Verhältnis über die Altertumswissenschaft
eingeschlagen hatte.
„Nein, ich meine dein Name . . . Weil Bertgang mit
Gradiva gleichbedeutend ist und ,die im Schreiten Glänzende'
bezeichnet." (G. p. 142.)
Darauf waren nun auch wir nicht vorbereitet. Unser Held
beginnt sich aus seiner Demütigung zu erheben und eine aktive
Eolle zu spielen. Er ist offenbar von seinem Wahn völlig
geheilt, über ihn erhoben, und beweist dies, indem er die
letzten Fäden des Wahngespinstes selbständig zerreißt. Ge-
nau so benehmen sich auch die Kranken, denen man den Zwang
ihrer wahnhaften Gedanken durch Aufdeckung des dahinter-
steckenden Verdrängten gelockert hat. Haben sie begriffen, so
bringen sie für die letzten und bedeutsamsten Eätsel ihres
sonderbaren Zustandes selbst die Lösungen in plötzlich auf-
tauchenden Einfällen. Wir hatten ja bereits vermutet, daß
die griechische Abkunft der fabelhaften Gradiva eine dunkle
Nachwirkung des griechischen Namens Zoe sei, aber an den
Namen „Gradiva" selbst hatten wir uns nicht herangewagt,
ihn hatten wir als freie Schöpfung der Phantasie Norbert
Hanolds gelten lassen. Und siehe da, gerade dieser Name
erweist sich nun als Abkomme, ja eigentlich als Übersetzung
des verdrängten Familiennamens der angeblieh vergessenen Kin-
dergeliebten !
IN W. JENSENS „GRADIVA" 31
Die Herleitung und die Auflösung des "Wahnes sind nun
vollendet. .Was noch beim Dichter folgt, darf wohl dem har-
monischen Abschluß der Erzählimg dienen. Es kann uns im
Hinblick auf Zukünftiges nur wohltuend berühren, wenn die
Rehabilitierung des Mannes, der früher eine so klägliche Rolle
als Heilungsbedürftiger spielen mußte, weiterschreitet und es
ihm nun gelingt, etwas von den Affekten, die er bisher er-
duldet, bei ihr zu erwecken. So trifft es sich, daß er sie
eifersüchtig macht durch die Erwähnung der sympathischen
jungen Dame, die vorhin ihr Beisammensein im Hause des
Meleager gestört, und durch das Geständnis, daß diese die
erste gewesen, die ihm vortrefflich gefallen hat. Wenn Zoe
dann einen kühlen Abschied mit der Bemerkung nehmen will:
jetzt sei ja alles wieder zur Vernunft gekommen, sie selbst
nicht am wenigsten; er könne Gisa Hartleben, oder wie sie
jetzt heiße, wieder aufsuchen, um ihr bei dem Zweck ihres
Aufenthaltes in Pompeji wissenschaftlich behilflich zu sein;
sie aber müsse jetzt in den Albergo del Sole, wo der Vater
mit dem Mittagessen auf sie wartet; vielleicht sähen sie sich
beide noch einmal in einer tJesellschaft in Deutschland oder
auf dem Monde: so mag er wieder die lästige Fliege zum
Vorwand nehmen, um sich zuerst ihrer Wange und dann ihrer
Lippen zu bemächtigen und die Aggression, die nun einmal
Pflicht des Mannes im Liebesspiel ist, ins Werk zu setzen.
Ein einziges Mal noch scheint ein Schatten auf ihr Glück zu
fallen, als Zoe mahnt, jetzt müsse sie aber wirklich zu ihrem
Vater, der sonst im Sole verhungert. „Dein Vater — was wird
der — ?" (G. p. 147.) Aber das kluge Mädchen weiß die Sorge raset
zu beschwichtigen: „Wahrscheinlich wird er nichts, ich bin
kein unentbehrliches Stück in seiner zoologischen Sammlung;
war' ich das, hätte sich mein Herz vielleicht nicht so unklug
an dich gehängt." Sollte der Vater aber ausnahmsweise an-
derer Meinung sein wollen als sie, so gäbe es ein sicherem
Mittel. Hanold brauchte nur nach Capri hinüberzufahren,
dort eine Lacerta faraglionensis zu fangen, wofür er die Tech-^
nik an ihrem kleinen Finger einüben könne, das Tier dann
hier freizulassen, vor den Augen des Zoologen wieder einzu-
fangen und ihm die Wahl zu lassen zwischen der Faraglio*
3« DER WAHN UND DIE TRÄUME
ncnsis auf dem Festlande imd der Tochter. Ein Vorschlag,
in dem der Spott, wie man leicht merkt, mit Bitterkeit ver-
mengt ist, eine Mahnung gleichsam an den Bräutigam, sich
nicht allzu getreu an das Vorbild zu halten, nach dem ihn
die Geliebte ausgewählt hat. Norbert Hanold beruhigt uns
auch hierüber, indem er die große Umwandlung, die mit ihm
vorgefallen ist, in allerlei scheinbar kleinen Anzeichen zum
Ausdruck bringt. Er spricht den Vorsatz aus, die Hochzeits-
reise mit seiner Zoe nach Italien und nach Pompeji zu ma-
chen, als hätte er sich niemals über die Hochzeitsreisenden
August und Grete entrüstet. Es ist ihm ganz aus dem Ge-
dächtnis geschwunden, was er gegen diese glücklichen Paare ge-
fühlt, die sich so überflüssigerweise mehr als hundert Meilen von
ihrer deutschen Heimat entfernt haben. Gewiß hat der Dichter
recht, wenn er solche Gedächtnisschwächung als das wertvollste
Zeichen einer Sinnesänderung aufführt. Zoe erwidert auf
den kundgegebenen Reisezielwunsch ihres „gewissermaßen
gleichfalls aus der Verschüttung wieder ausge-
grabenen Kindheitsfreundes" (G. p. 150), sie fühle sich
zu solcher geographischen Entscheidung doch noch nicht völlig
lebendig genug.
Die schöne Wirklichkeit hat nun den Wahn besiegt, doch
harrt des letzteren, ehe die Beiden Pompeji verlassen, noch
■eine Ehrung. An dem Herkulestor angekommen, wo am An-
fang der Strada consolare alte Trittsteine die Straße über-
kreuzen, hält Norbert Hanold an und bittet das Mädchen
voranzugehen. Sie versteht ihn, „und mit der Linken das
Kleid ein wenig raffend, schreitet die Gradiva rediviva
Zoe Bertgang von ihm mit traumhaft dreinblickenden
Augen umfaßt, in ihrer ruhig-behenden Gangart durch den
Sonnenglanz über die Trittsteine zur anderen Straßenseite hin-
über". Mit dem Triumph der Erotik kommt jetzt zur An-
erkennung, was auch am Wahne schön und wertvoll war.
Mit dem letzten Gleichnis von dem „aus der Verschüttung
ausgegrabenen Kindheitsfreunde" hat tins aber der Dichter den
Schlüssel zur Symbolik in die Hand gegeben, dessen sich der
Wahn des Helden bei der Verkleidung der verdrängten Er-
innerung bediente. Es gibt wirklich keine bessere Analogie für
IN W. JENSENS „GRADIVA" 83
die Verdrängung, die etwas Seelisches zugleich unzugänglich
macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji
zum Schicksal geworden ist, und aus der die Stadt durch
die Arbeit des Spatens wieder erstehen konnte. Darum mußte
der junge Archäologe das Urbild des Beliefs, welches ihn an
seine vergessene Jugendgeliebte mahnte, in der Phantasie nach
Pompeji versetzen. Der Dichter aber hatte ein gutes Hecht,
bei der wertvollen Ähnlichkeit zu verweilen, die sein feiner
Sinn zwischen einem Stück des seelischen Geschehens beim Ein-
zelnen und einem vereinzelten historischen Vorgang in der Ge-
schichte der Menschheit aufgespürt.
n.
Es war doch eigentlich nur unsere Absicht, die zwei oder
drei Träume, die sich in der Erzählung „Gradiva" eingestreut
finden, mit Hilfe gewisser analytischer Methoden zu unter-
suchen; wie kam es denn, daß wir uns zur Zergliederimg der
ganzen Geschichte imd zur Prüfung der seelischen Vorgänge bei
den beiden Hauptpersonen fortreißen ließen? Nim, das war
kein überflüssiges Stück Arbeit, sondern eine notwendige Vor-
arbeit. Auch wenn wir die wirklichen Träume einer realen
Person verstehen wollen, müssen wir ims intensiv um den
Charakter imd die Schicksale dieser Person kümmern, nicht
nur ihre Erlebnisse kurz vor dem Traume, sondern auch solche
in entlegener Vergangenheit in Erfahrung bringen. Ich meine
sogar, wir sind noch immer nicht frei, uns unserer eigentlichen
Aufgabe zuzuwenden, müssen noch bei der Dichtung selbst ver-
weilen und weitere Vorarbeiten erledigen.
Unsere Leser werden gewiß mit Befremden bemerkt ha-
ben, daß wir Norbert Hanold imd Zoe Bertgang in allen
ihren seelischen Äußerungen imd Tätigkeiten bisher behandelt
haben, als wären sie wirkliche Individuen und nicht Geschöpfe
eines Dichters, als wäre der Sinn des Dichters ein absolut
durchlässiges, nicht ein brechendes oder trübendes Medium. Und
um so befremdender muß imser Vorgehen erscheinen, als der
Dichter auf die "Wirklichkeitsschilderung ausdrücklich ver-
zichtet, indem er seine Erzählung ein „Phantasiestück" be-
nennt. Wir finden aber alle seine Schilderimgen der "Wirk-
Frend, Dtr Wfthn und die Trtame. 3
34 DER WAHN UND DIE TRÄUME
lichkeit so getreulich nachgebildet, daß wir keinen Widerspruch
äußern würden, wenn die „Gradiva" nicht ein Phantasiestück,
sondern eine psychiatrische Studie hieße. Nur in zwei Punkten
Hat sich der Dichter der ihm zustehenden Freiheit bedient, um
Voraussetzungen zu schaffen, die nicht im Boden der realen
Gesetzmäßigkeit zu wurzeln scheinen. Das erstemal, indem er
den jungen Archäologen ein unzweifelhaft antikes Reliefbildnis
finden läßt, welches nicht nur in der Besonderheit der Fuß-
stellung beim Schreiten, sondern in allen Details der Gesichts-
bildung und Körperhaltung eine so viel später lebende Person
nachahmt, so daß er die leibliche Erscheinung dieser Person
für das lebend gewordene Steinbild halten kann. Das zweite-
mal, indem er ihn die Lebende gerade in Pompeji treffen läßt,
wohin nur seine Phantasie die Verstorbene versetzte, während
er sich eben durch die Reise nach Pompeji von der Lebenden,
die er auf der Straße seines Wohnortes bemerkt hatte, ent-
fernte. Allein diese zweite Verfügung des Dichters ist keine
gewaltsame Abweichung von der Lebensmöglichkeit; sie nimmt
eben nur den Zufall zur Hilfe, der unbestritten bei so vielen
menschlichen Schicksalen mitspielt, und verleiht ihm überdies
einen guten Sinn, da dieser Zufall das Verhängnis widerspie-
gelt, welches bestimmt hat, daß man gerade durch das Mittel
der Flucht sich dem ausliefert, vor dem man flieht. Phan-
tastischer und völlig der Willkür des Dichters entsprungen er-
scheint die erste Voraussetzung, welche alle weiteren Bege-
benheiten trägt, die so weitgehende Ähnlichkeit des Stein-
bildes mit dem lebenden Mädchen, wo die Nüchternheit die
Übereinstimmung auf den einen Zug der Fußhaltung beim
Schreiten einschränken möchte. Man wäre versucht, hier zur
Anknüpfung an die Realität die eigene Phantasie spielen zu
lassen. Der Name Bertgang könnte darauf deuten, daß sich
die Frauen dieser Familie schon in alten Zeiten durch solche
Eigentümlichkeit des schönen Ganges ausgezeichnet haben, und
durch Geschlechtsabfolge hingen die germanischen Bertgang
mit jenen Römern zusammen, von deren Stamm eine Frau den an-
tiken Künstler veranlaßt hatte, die Eigentümlichkeit ihres Gan-
ges im Steinbild festzuhalten. Da aber die einzelnen Variationen
der menschlichen Gestaltung nicht imabhängig von einander
IN W. JENSENS „GBADIVA" 35
sind, und tatsächlich auch in unserer Mitte immer wieder die
antiken Typen auftauchen, die wir in den Sammlungen antref-
fen, so wäre es nicht ganz unmöglich, daß eine moderne Bert-
gang diß Gestalt ihrer antiken Ahnfrau auch in allen an-
diBren Zügen ihrer körperlichen Bildung wiederholte. Klüger
als solche Spekulation dürfte wohl sein, sich bei dem Dichter
selbst nach den Quellen zu erkundigen, aus denen ihm dieses
Stück seiner Schöpfung erflossen ist; es ergäbe sich uns dann
eine gute Aussicht, wiederum ein Stück vermeintlicher "Willkür
in Gesetzmäßigkeit aufzulösen. Da uns aber der Zugang zu
den Quellen im Seelenleben des Dichters nicht frei steht, so
lassen wir ihm das Becht ungeschmälert, eine durchaus lebens-
wahre Entwicklung auf eine unwahrscheinliche Voraussetzung
aufzubauen, ein Becht, das z. B. auch Shakespeare im
„King Lear" in Anspruch genommen hat.
Sonst aber, das wollen wir wiederholen, hat uns der
Dichter eine völlig korrekte psychiatrische Studie geliefert, an
welcher wir unser Verständnis des Seelenlebens messen dürfen,
eine Kranken- und Heilungsgeschichte, wie zur Einschärfung
gewisser fundamentaler Lehren der ärztlichen Seelenkunde be-
stimmt. Sonderbar genug, daß der Dichter dies getan haben
sollte! Wie nun, wenn er auf Befragen diese Absicht ganz
und gar in Abrede stellte? Es ist so leicht anzugleichen und
unterzulegen; sind es nicht vielmehr wir, die in die schöne
poetische Erzählimg einen Sinn hineingeheimnissen, der dem
Dichter sehr ferne liegt? Möglich; wir wollen später noch
darauf zurückkommen. Vorläufig aber haben wir versucht, uns
vor solch tendenziöser Ausdeutung selbst zu bewahren, indem
wir die Erzählung fast durchwegs aus den eigenen Worten des
Dichter wiedergaben, Text wie Kommentar von ihm selbst be-
sorgen ließen. Wer unsere Beproduktion mit dem Wortlaut
der „Gradiva" vergleichen will, wird uns dies zugestehen müssen.
Vielleicht erweisen wir unserem Dichter auch einen schlech-
ten Dienst im Urteil der allermeisten, wenn wir sein Werk
für eine psychiatrische Studie erklären. Der Dichter soll der
Berührung mit der Psychiatrie aus dem Wege gehen, hören
wir sagen, und die Schilderung krankhafter Seelenzustände den
Äizten überlassen. In Wahrheit hat kein richtiger Dichter je
3*
86 DER WAHN UND DIE TRÄUME
dieses Gkbot geachtet. Die Schilderung des menschlichen Seelen-
lebens ist ja seine eigentlichste Domäne; er war jederzeit der
Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen
Psychologie. Die Grenze aber zwischen den normal und krank-
haft benannten Seelenzuständen ist zum Teil eine konventio-
nelle, zum anderen eine so fließende, daß wahrscheinlich jeder
von uns sie im Laufe eines Tages mehrmals überschreitet.
Anderseits täte die Psychiatrie unrecht, wenn sie sich dauernd
auf das Studium jener schweren und düsteren Erkrankungen
einschränken wollte, die durch grobe Beschädigungen des
feinen Seelenapparats entstehen. Die leiseren imd ausgleichs-
fähigen Abweichungen vom Gestinden, die wir heute nicht
weiter als bis zu Störungen im psychischen BIräftespiel zurück-
verfolgen können, fallen nicht weniger unter ihr Interesse; ja
erst mittels dieser kann sie die Gesundheit wie die Erschei-
nungen der schweren Krankheit verstehen. So kann der Dichter
dem Psychiater, der Psychiater dem Dichter nicht ausweichen,
und die poetische Behandlung eines psychiatrischen Themas darf
ohne Einbuße an Schönheit korrekt ausfallen.
Korrekt ist nun wirklich diese dichterische Darstellung
einer Krankheits- und Behandlungsgeschichte, die wir nach
Abschluß der Erzählimg und Sättigung der eigenen Spannung
besser übersehen können und nun mit den technischen Aus-
drücken unserer Wissenschaft reproduzieren wollen, wobei uns
die Nötigung zur Wiederholung von bereits Gesagtem nicht
stören soll.
Der Zustand Norbert Hanolds wird vom Dichter oft
genug ei^ „Wahn" genannt, und auch wir haben keinen Grund,
diese Bezeichnimg zu verwerfen. Zwei Hauptcharaktere können
wir vom „Wahn" angeben, durch welche er zwar nicht er-
schöpfend beschrieben, aber doch von anderen Störimgen kennt-
lich gesondert ist. Er gehört erstens zu jener Gruppe von
Krankheitszuständen, denen eine unmittelbare Einwirkimg aufs
Körperliche nicht zukommt, sondern die sich nur durch see-
lische Anzeichen ausdrücken, und er ist zweitens durch die
Tatsache gekennzeichnet, daß bei ihm „Phantasien" zur Ober-
herrschaft gelangt sind, d. h. Glauben gefimden und Einfluß
auf das Handeln genommen haben. Erinnern wir uns der Beise
IN W. JENSENS „GRADIVA« 87
nach Pompeji, um in der Asche nach den besonders gestalteten
Fnßabdrücken der Gradiva zu suchen, so haben wir in ihr
ein prächtiges Beispiel einer Handlung unter der Herrschaft
des Wahnes. Der Psychiater würde den Wahn Norbert Hanolds
vielleicht der großen Gruppe Paranoia zurechnen und etwa als
eine „fetischistische Erotomanie" bezeichnen, weil ihm die Ver-
liebtheit in das Steinbild das Auffälligste wäre, und weil seiner
alles vergröbernden Auffassung das Interesse des jungen Ar-
chäologen für die Füße und Fußstellungen weiblicher Personen
als ,^Fetischismus" verdächtig erscheinen muß. Indes haben alle
solche Benennungen und Einteilungen der verschiedenen Arten
von Wahn nach ihrem Inhalt etwas Mißliches und Unfrucht-
bares an sich.*)
Der gestrenge Psychiater würde femer unseren Helden als
Person, die fähig ist, auf Grund so sonderbarer Vorliebe einen
Wahn zu entwickeln, sofort zum Degenere stempeln und nach
der Heredität forschen, die ihn unerbittlich in solches Schick-
sal getrieben hat. Hierin folgt ihm aber der Dichter nicht;
mit gutem Grunde. Er will uns ja den Helden näher bringen,
uns die ,^Einfühlung" erleichtem; mit der Diagnose ,^Degenere",
mag sie nun wissenschaftlich zu rechtfertigen sein oder nicht,
ist uns der junge Archäologe sofort ferne gerückt; denn wir
Leser sind ja die Normalmenschen und das Maß der Mensch-
heit. Auch die hereditären und konstitutionellen Vorbedingun-
gen des Zustandes kümmern den Dichter wenig; dafür vertieft
er sich in die persönliche seelische Verfassung, die einem sol-
chen Wahn den Ursprung geben kann.
Norbert Hanold verhält sich in einem wichtigen Punkte
ganz anders als ein gewöhnliches Menschenkind. Er hat kein
Interesse für das lebende Weib; die Wissenschaft, der er dient,
hat ihm dieses Interesse genommen und es auf die Weiber von
Stein oder Bronze verschoben. Man halte dies nicht für eine
gleichgültige Eigentümlichkeit; sie ist vielmehr die Grund-
voraussetzung der erzählten Begebenheit, denn eines Tages er-
eignet es sich, daß ein einzelnes solches Steinbild alles Inter-
*) Der FaU N. H. mfkAte in WirkUcbkeit alt hyrteriMher, nicht als paia-
noiieliflr Wahn bezeichnet werden. Die Kennzeichen der Paranoia werden
hier TermiSt
DER WAHN UND DIE TRÄUHE
für sich beansprucht, das sonst nur dem lebenden Weib
gebührt, und damit ist der Wahn gegeben. Vor unseren Augen
entrollt sich dann, wie dieser Wahn durch eine glückliche
Fügung geheilt, das Interesse vom Stein wieder auf eine Le-
bende zurückgeschoben wird. Durch welche Einwirkungen unser
Held in den Zustand der Abwendung vom Weibe geraten ist,
laßt uns der Dichter nicht verfolgen; er gibt uns nur an,
solches Verhalten sei nicht durch seine Anlage erklart, die
vielmehr ein Stück phantastisches — wir dürfen ergänzen : ero-
tisches — Bedürfnis mit einschließt. Auch ersehen wir von
später her, daß er in seiner Kindheit nicht von anderen Kin-
dern abwich; er hielt damals eine Kinderfreundschaft mit
einem kleinen Mädchen, war unzertrennlich von ihr, teilte mit
ihr seine kleinen Mahlzeiten, puffte sie auch und ließ sich
von ihr zausen. In solcher Anhänglichkeit, solcher Vereinigung
von Zärtlichkeit und Aggression äußert sich die unfertige
Erotik des Kinderlebens, die ihre Wirkungen erst nachträglich,
aber dann unwiderstehlich äußert, und die während der Kinder-
zeit selbst nur der Arzt und der Dichter als Erotik zu er-
kennen pflegen. Unser Dichter gibt uns deutlich zu verstehen,
daß auch er es nicht anders meint, denn er läßt bei seinem
Helden bei geeignetem Anlaß plötzlich ein lebhaftes Interesse
für Gang imd Fußhaltimg der Frauen erwachen, das ihn bei
der Wissenschaft wie bei den Frauen seines Wohnortes in den
Verruf eines Fußfetischisten bringen muß, das sich uns aber
notwendig aus der Erinnerung an diese Kindergespielin ab-
leitet. Dieses Mädchen zeigte gewiß schon als Kind die Eigen-
heit des schönen Ganges mit fast senkrecht aufgestellter Fuß-
spitze beim Schreiten, und durch die Darstellung eben dieses
Ganges gewinnt später ein antikes Steinrelief für Norbert
Hanold jene große Bedeutung. Fügen wir übrigens gleich
hinzu, daß der Dichter sich bei der Ableitung der merkwür-
digen Erscheinung des Fetischismus sich in voller Überein-
stimmung mit der Wissenschaft befindet. Seit A. Binet
versuchen wir wirklich, den Fetischismus auf erotische Eind-
heitseindrücke zurückzuführen.
Der Zustand der dauernden Abwendimg vom Weibe er-
gibt die persönliche Eignung, wie wir zu sagen pflegen: die
IN W. JENSENS „GBADIVA" 39
Disposition für die Bildung eines Wahnes. Die Entwicklung
der Seelenstömng setzt mit dem Momente ein, da ein zufälli-
ger Eindruck die vergessenen und wenigstens spurweise ero-
tisch betonten Kindererlebnisse aufweckt. Aufweckt ist aber
gewiß nicht die richtige Bezeichnung, wenn wir, was weiter
erfolgt, in Betracht ziehen. Wir müssen die korrekte Darstel-
limg des Dichters in kunstgerechter psychologischer Ausdrucks-
weise wiedergeben. Norbert Hanold erinnert sich nicht beim
Anblick des Beliefs, daß er solche Fußstellung schon bei seiner
Jugendfreundin gesehen hat; er erinnert sich überhaupt nicht,
und doch rührt alle Wirkung des Beliefs von solcher Anknüpfung
an den Eindruck in der Kindheit her. Der Kindheitseindruck
wird also rege, wird aktiv gemacht, so daß er Wirkungen zu
äußern beginnt, er kommt aber nicht zum Bewußtsein, er
bleibt „unbewußt", wie wir mit einem in der Psychopatho-
logie unvermeidlich gewordenen Terminus heute zu sagen pfle-
gen. Dieses Unbewußte möchten wir allen Streitigkeiten der
Philosophen und Naturphilosophen, die oft nur etymologische
Bedeutung haben, entzogen sehen. Für psychische Vorgänge,
die sich aktiv benehmen und dabei doch nicht zum Bewußtsein
der betreffenden Person gelangen, haben wir vorläufig keinen
besseren Namen, und nichts anderes meinen wir mit unserem
„Unbewußtsein". Wenn manche Denker uns die Existenz eines
solchen Unbewußten als widersinnig bestreiten wollen, so glau*
ben wir, sie hätten sich niemals mit den entsprechenden seeli-
schen Phänomenen beschäftigt, stünden im Banne der regel*
mäßigen Erfahrung, daß alles Seelische, was aktiv und inten-
siv wird, damit gleichzeitig auch bewußt wird, und hätten
eben noch zu lernen, was unser Dichter sehr wohl weiß, /laß
es allerdings seelische Vorgänge gibt, die, trotzdem sie inten-
siv sind und energische Wirkungen äußern, dennoch dem Be-
wußtsein ferne bleiben.
Wir haben vorhin einmal ausgesprochen, die Erinnerungen
an den Kinderverkehr mit Zoe befinden sich bei Norbert Ha-
nold im Zustande der „Verdrängung"; nun haben wir sie
„unbewußte" Erinnerungen geheißen. Da müssen wir wohl
dem Verhältnis der beiden Kunstworte, die ja im Sinne zu-
sammenzufallen scheinen, einige Aufmerksamkeit zuwenden. Es
40 DER WAHN UND DIE TRÄUME
ißt nicht schwer, darüber Aufklärung zu geben. „Unbewußt"
ißt der weitere Begriff, „verdrängt" der engere. Alles was
verdrängt ist, ist unbewußt; aber nicht von allem Unbewußten
können wir behaupten, daß es verdrängt sei. Hätte Hanold
beim Anblick des Eeliefs sich der Gangart seiner Zoe erinnert,
so wäre eine früher unbewußte Erinnerung bei ihm gleichzeitig
aktiv und bewußt geworden und hätte so gezeigt, daß sie
früher nicht verdrängt war- „Unbewußt" ist ein rein deskrip-
tiver, in mancher Hinsicht unbestimmter, ein sozusagen sta-
tischer Terminus, „verdrängt" ist ein dynamischer Ausdruck,
der auf das seelische Kräftespiel Bücksicht nimmt und be-
sagt, es sei ein Bestreben vorhanden, alle psychischen Wir-
kungen, darunter auch die des Bewußtwerdens, zu äußern, aber
auch eine Gregenkraft, ein Widerstand, der einen Teil dieser
psychischen "Wirkungen, darunter wieder das Bewußtwerden, zu
verhindern vermöge. Kennzeichen des Verdrängten bleibt eben,
daß es sich trotz seiner Intensität nicht zum Bewußtsein zu
bringen vermag. In dem Falle Hanolds handelt es sich also
von dem Auftauchen des Eeliefs an um ein verdrängtes Un-
bewußtes, kurzweg um ein Verdrängtes.
Verdrängt sind bei Norbert Hanold die Erinnerungen
an seinen IQnderverkehr mit dem schön schreitenden Mädchen,
aber dies ist noch nicht die richtige Betrachtung der psycho-
logischen Sachlage. Wir bleiben an der Oberfläche, so lange
wir nur von Erinnerungen und Vorstellungen handeln. Das
einzig Wertbare im Seelenleben sind vielmehr die Gefühle; alle
Seelenkräfte sind nur durch ihre Eignung, Gefühle zu erwecken,
bedeutsam. Vorstellungen werden nur verdrängt, weil sie an
Gefühlsentbindungen geknüpft sind, die nicht zu stände kom-
men sollen; es wäre richtiger zu sagen, die Verdrängung be-
treffe die Gefühle, nur sind uns diese nicht anders als in
ihrer Bindung an Vorstellungen faßbar. Verdrängt sind bei
Norbert Hanold also die erotischen Gefühle, und da seine
Erotik kein anderes Objekt kennt oder gekannt hat, als in
seiner Kindheit die Zoe Bertgang, so sind die Erinnerungen
an diese vergessen. Das antike Eeliefbild weckt die schlum-
mernde Erotik in ihm auf und macht die Kindheitserinnenm-
gen aktiv. Wegen eines in ihm bestehenden Widerstandes ge-
IN W. JENSENS „GRADIVA" 41
gen die Erotik können, diese Erinnerungen nur als anbewußte
wirksam werden. .Was sich nun weiter in ihm abspielt, ist
ein Kampf zwischen der Macht der Erotik und den sie ver-
drängenden Ejräften; was sich von diesem Kampf äußert, ist
ein ."Wahn. ^
Unser Dichter hat zu motivieren unterlassen, woher die
Verdrängung des Liebeslebens bei seinem Helden rührt; die
Beschäftigung mit der Wissenschaft ist ja nur das Mittel,
dessen sich die Verdrängung bedient; der Arzt müßte hier
tiefer gründen, vielleicht ohne in seinem Falle auf den Orund
zu geraten. Wohl aber hat der Dichter, wie wir mit Bewun-
derung hervorgehoben haben, uns darzustellen nicht versäumt,
wie die Erweckung der verdrängten Erotik gerade aus dem
Kreise der zur Verdrängung dienenden Mittel erfolgt. Es ist
mit Eecht eine Antike, das Steinbild eines Weibes, durch wel-
ches imser Archäologe aus seiner Abwendung von der Liebe
gerissen und gemahnt wird, dem Leben die Schuld abzutragen,
mit der wir von unserer Geburt an belastet sind.
Die ersten Äußerungen des nun in Hanold durch das
Beliefbild angeregten Prozesses sind Phantasien, welche mit
der so dargestellten Person spielen. Als etwas „Heutiges'^
im besten Sinne erscheint ihm das Modell, als hätte der Künst-
ler die auf der Straße Schreitende „nach dem Leben" fest-
gehalten. Den Namen „Gradiva" verleiht er dem antiken
Mädchen, den er nach dem Beiwort des zum Kampfe ausschrei-
tenden Kriegsgottes, des Mars Gradivus, gebildet; mit immer
mehr Bestimmungen stattet er ihre Persönlichkeit aus. Sie mag
die Tochter eines angesehenen Mannes sein, vielleicht eines Pa-
triziers, der mit dem Tempeldienst einer Gottheit in Ver-
bindung stand, griechische Herkunft glaubt er ihren Zü-
gen abzusehen, und endlich drängt es ihn, sie ferne vom Gte-
triebe einer Großstadt in das stillere Pompeji zu versetzen,
wo er sie über die Lavatrittsteine schreiten läßt, die den
Übergang von einer Seite der Straße zur anderen ermöglichen.
Willkürlich genug erscheinen diese Leistungen der Phantasie
und doch wieder harmlos unverdächtig. Ja noch dann, als sich aus
ihnen zum erstenmal ein Antrieb zum Handeln ergibt, als der
Archäologe von dem Problem bedrückt, ob solche Fußstellung
4« DER WAHN UND DIE TRÄUME
auch der Wirklichkeit entspreche, Beobachtungen nach dem
Leben anzustellen beginnt, um den zeitgenössischen Frauen und
Mädchen auf die Füße zu sehen, deckt sich dieses Tun durch ihm
bewußte wissenschaftliche Motive, als wäre alles Interesse
für das Steinbild der Gradiva aus dem Boden seiner fachlichen
Beschäftigung mit der Archäologie entsprossen. Die Frauen
und Mädchen auf der Straße, die er zu Objekten seiner Unter-
suchung nimmt, müssen freilich eine andere, grob erotische
Auffassung seines Treibens wählen, und wir müssen ihnen recht
geben. Für uns leidet es keinen Zweifel, daß Hanold die Mo-
tive seiner Forschung so wenig kennt wie die Herkunft seiner
Phantasien über die Gradiva. Diese letzteren sind, wie wir
später erfahren, Anklänge an seine Erinnerungen an die Ju-
gendgeliebte, Abkömmlinge dieser Erinnerungen, Umwandlun-
gen und Entstellungen derselben, nachdem es ihnen nicht ge^
lungen ist, sich in unveränderter Form zum Bewußtsein zu
bringen. Das vorgeblich ästhetische Urteil, das Steinbild stelle
etwas „Heutiges" dar, ersetzt das Wissen, daß solcher Gang
einem ihm bekannten, in der Gegenwart über die Straße
schreitenden Mädchen angehöre; hinter dem Eindruck „nach
dem Leben" und der Phantasie ihres Griechentums verbirgt sich
die Erinnerung an ihren Namen Zoe, der auf Griechisch Leben
bedeutet; Gradiva ist, wie uns der am Ende vom Wahn Ge-
heilte aufklärt, eine gute Übersetzung ihres Familiennamens
Bertgang, welcher so viel bedeutet wie „im Schreiten glän-
zend oder prächtig" ; die Bestimmungen über ihren Vater stam-
men von der Kenntnis, daß Zoe Bertgang die Tochter eines
angesehenen Lehrers der Universität sei, die sich wohl als
Tempeldienst in die Antike übersetzen läßt. Nach Pompeji end-
lich versetzt sie seine Phantasie, nicht „weil ihre ruhige, stille
Art es zu fordern schien", sondern weil sich in seiner Wissen-
schaft keine andere imd keine bessere Analogie mit dem merk-
würdigen Zustand finden läßt, in dem er durch eine dunkle
Kundschaft seine Erinnerungen an seine Kinderfreundschaft ver-
spürt. Hat er einmal, was ihm so nahe liegt, die eigene Kind-
heit mit der klassischen Vergangenheit zur Deckung gebracht,
so ergibt die Verschüttung Pompejis, dies Verschwinden mit
Erhaltung des Vergangenen, eine treffliche Ähnlichkeit mit der
IN W. JENSENS „GRADIVA" 43
Verdrängung, von der er durch sozusagen „endopsychische"
Wahrnehmung Kenntnis hat. Es arbeitet dabei in ihm die^
selbe Symbolik, die zum Schlüsse der Erzählung der Dichter
das Mädchen bewußterweise gebrauchen läßt.
„Ich sagte mir, irgend etwas Interessantes würde ich wohl
schon allein hier ausgraben. Freilich auf den Fund, den ich
gemacht, hatte ich mit keinem Gedanken gerechnet."
(G. p. 124.) — Zu Ende (G. p. 150) antwortet dann das Mädchen auf
den Beisezielwunsch „ihres gewissermaßen gleichfalls aus der
Verschüttung wieder ausgegrabenen Kindheitsfreundes".
So finden wir also schon bei den ersten Leistungen von
Hanolds Wahnphantasien und Handlungen eine zweifache
Determinierung, eine Ableitbarkeit aus zwei verschiedenen
Quellen. Die eine Determinierung ist die, welche Hanold
selbst erscheint, die andere die, welche sich uns bei der Nach-
prüfung seiner seelischen Vorgänge enthüllt. Die eine ist, auf
die Person Hanolds bezogen, die ihm bewußte, die andere, die
ihm völlig unbewußte. Die eine stammt ganz aus dem Vor-
stellungskreis der archäologischen Wissenschaft, die andere
aber rührt von dem in ihm rege gewordenen verdrängten
IQndheitserinnerungen und den an ihnen haftenden Gefühls-
tricben her. Die eine ist wie oberflächlich imd verdeckt die
andere, die sich gleichsam hinter ihr verbirgt. Man könnte
sagen, die wissenschaftliche Motivierung diene der unbewußten
erotischen zum Vorwand, imd die Wissenschaft habe sich ganz
in den Dienst des Wahnes gestellt. Aber man darf auch nicht
vergessen, daß die unbewußte Determinierung nichts anderes
durchziusetzen vermag, als was gleichzeitig der bewußten wissen-
schaftlichen genügt. Die Symptome des Wahnes — Phantasien
wie Handlungen — sind eben Ergebnisse eines Kompromisses
zwischen den beiden seelischen Strömungen, und bei einem Kom-
promiß ist den Anforderungen eines jeden der beiden Teile
Bechnung getragen worden; ein jeder Teil hat aber auch auf
ein Stück dessen, was er durchsetzen wollte, verzichten müssen.
Wo ein Kompromiß zu stände gekommen, da gab es einen Kampf,
hier den von uns angenommenen Konflikt zwischen der unter-
drückten Erotik und den sie in der Verdrängung erhaltenden
Mächten. Bei der Bildung eines Wahnes geht dieser Kampf
44 DER WAHN UND DIE TRÄUME
eigentlich nie zu Ende. Ansturm und Widerstand erneuern sich
nach jeder Kompromißbildung, die sozusagen niemals voll ge-
nügt. Dies weiß auch unser Dichter und darum läßt er ein
Gefühl der Unbefriedigung, eine eigentümliche Unruhe dieses
Stadium der Störung bei seinem Helden beherrschen, als Vor-
läufer und als Bürgschaft weiterer Entwicklungen.
Diese bedeutsamen Eigentümlichkeiten der zweifachen De-
terminierung für Phantasien und Entschlüsse, der Bildung von
bewußten Vorwänden für Handlungen, zu deren Motivierimg
das Verdrängte den größeren Beitrag geliefert hat, werden ims
im weiteren Fortschritt der Erzählung noch öfters, vielleicht
noch deutlicher, entgegentreten. Und dies mit vollem Eechte,
denn der Dichter hat hiemit den niemals fehlenden Haupt-
charakter der krankhaften Seelenvorgänjge erfaßt und zur Dar-
stellung gebracht.
Die Entwicklung des .Wahnes bei Norbert Hanold
schreitet mit einem Traume weiter, der, durch kein neues Er-
eignis veranlaßt, ganz aus seinem von einem Konflikt erfüllten
Seelenleben zu rühren scheint. Doch halten wir ein, ehe wir
daran gehen zu prüfen, ob der Dichter auch bei der Bildung
seiner Träume unserer Erwartung eines tieferen Verständnisses
entspricht. Fragen wir uns vorher, was die psychiatrische
Wissenschaft zu seinen Voraussetzungen über die Entstehung
eines Wahnes sagt, wie sie sich zur EoUe der Verdrängung
und des Unbewußten, zum Konflikt und zur Kompromißbildung
stellt. Im kurzen, ob die dichterische Darstellung der Genese
eines Wahnes vor dem Bichtspruch der Wissenschaft bestehen
kann. ^^
Und da müssen wir die vielleicht unerwartete Antwort
geben, daß es sich in Wirklichkeit leider ganz umgekehrt ver*
hält: die Wissenschaft besteht nicht vor der Leistung des
Dichters. Zwischen den hereditär-konstitutionellen Vorbedin-
gungen und den als fertig erscheinenden Schöpfungen des Wahnes
läßt sie eine Lücke klaffen, die wir beim Dichter ausgefüllt
finden. Sie ahnt noch nicht die Bedeutung der Verdrängung,
erkennt nicht, daß sie zur Erklärung der Welt psychopatho-
logischer Erscheinungen durchaus des Unbewußten bedarf, sie
sucht den Grand des Wahnes nicht in einem psychischen Kon-
IN W. JENSENS „GBADIVA" 45
flikt und erfaßt die Symptome desselben nicht als Kompro-
mißbildung. So stünde denn der Dichter allein gegen die ge-
samte "Wissenschaft? Nein, dies nicht, — wenn der Verfasser
nämlich seine eigenen Arbeiten auch der Wissenschaft zu-
rechnen darf. Denn er selbst vertritt seit einer Eeihe von
Jahren — und bis in die letzte Zeit ziemlich vereinsamt*) —
alle die Anschauungen, die er hier aus der „Gradiva" von
W. Jensen herausgeholt imd in den Fachausdrücken darge-
stellt hat. Er hat, am ausführlichsten für die als Hysterie
und Zwangsvorstellen bekannten Zustände, als individuelle Be-
dingung der psychischen Störung die Unterdrückung eines
Stückes des Trieblebens und die Verdrängung der Vorstellun-
gen, durch die der unterdrückte Trieb vertreten ist, aufgezeigt,
und die gleiche Auffassung bald darauf für manche Formen
des Wahnes wiederholt.**) Ob die für diese Verursachung in
Betracht kommenden Triebe jedesmal Komponenten des Sexual-
triebes sind oder auch andersartige sein können, das ist ein Pro-
blem, welches nur gerade für die Analyse der „Gradiva" gleich-
gültig bleiben darf, da es sich in dem vom Dichter gewählten
Falle sicherlich um nichts als um die Unterdrückung des ero-
tischen Empfindens handelt. Die Gesichtspunkte des psychi-
schen Konflikts und der Symptombildung durch Kompromisse
zwischen den beiden miteinander ringenden Seelenströmungen
hat der Verfasser an wirklich beobachteten und ärztlich behan-
delten Krankheitsfällen in ganz gleicher Weise zur Geltimg
gebracht, wie er es an den Vom Dichter erfundenen Norbert
Hanold tun konnte.***) Die Rückführung der nervösen, spe-
ziell der hysterischen Krankheitsleistungen auf die Macht un-
bewußter Gedanken hatte vor dem Verfasser schon P. Jan et,
der Schüler des großen Charcot, und im Vereine mit dem
Verfasser Josef Breuer in Wien untemommen.f)
Es war dem Verfasser, als er sich in den auf 1893 fol-
genden Jahren in solche Forschungen über die Entstehung der
*) Siehe die wichtige Schrift Ton £. Bleuler, AffekÜTit&t, Suggestibilität,
Paranoia und die DiagnostiBchen ABSosiationsstudien yon C« G. Jung, beide ans
Zürich, 1906.
**) Vgl. des Verfassers : Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre 1906.
***) ^e^' Bruchstück einer Hjeterie-Analyse 1906.
t) Tgl. Breuer u. Freud, Studien über Hysterie, 1895.
46 DER WAHN UND DIE TRÄUME
Seelenstörungen vertiefte, wahrlich nicht eingefallen, Bekräf-
tigung seiner Ergebnisse bei Dichtern zu suchen, und darum
war seine Überraschung nicht gering, als er an der 1903 ver-
öffentlichten „Gradiva" merkte, daß der Dichter seiner Schöp-
fimg das nämliche zu Grunde lege, was er aus den Quellen
ärztlicher Erfahrung als neu zu schöpfen vermeinte. Wie kam
der Dichter nur zu dem gleichen Wissen wie der Arzt, oder
wenigstens zum Benehmen, als ob er das gleiche wisse? —
Der Wahn Norbert Hanolds, sagten wir, erfahre eine
weitere Entwicklung durch einen Traum, der sich ihm mitten
in seinen Bemühungen ereignet, eine Gangart wie die der Gra-
diva in den Straßen seines Heimatsortes nachzuweisen. Den In-
halt dieses Traumes können wir leicht in Kürze darstellen. Der
Träumer befindet sich in Pompeji an jenem Tage, welcher der
unglücklichen Stadt den Untergang brachte, macht die Schreck-
nisse mit, ohne selbst in Gefahr zu geraten, sieht dort plötz-
lich die Gradiva schreiten und versteht mit einem Male als
ganz natürlich, da sie ja eine Pompejanerin sei, lebe sie in
ihrer Vaterstadt und, „ohne daß er's geahnt habe, gleichzeitig
mit ihm". Er wird von Angst um sie ergriffen, ruft sie an,
worauf sie ihm flüchtig ihr Gesicht zuwendet. Doch geht sie,
ohne auf ihn zu achten, weiter, legt sich an den Stufen des
Apollotempels nieder, und wird vom Aschenregen verschüttet,
nachdem ihr Gesicht sich entfärbt, wie wenn es sich zu wei-
ßem Marmor umwandelte, bis es völlig einem Steinbild gleicht.
Beim Erwachen deutet er noch den Lärm der Großstadt, der
an sein Bett dringt, in das .Hilfegeschrei der verzweifelten Be-
wohner Pompejis und in das Gretöse des wild erregten Meeres
um. Das Gefühl, daß das, was er geträumt, sich wirklich mit
ihm zugetragen, will ihm noch längere Zeit nach dem Er-
wachen nicht verlassen, und die Überzeugung, daß die Gra-
diva in Pompeji gelebt und an jenem XJnglückstage gestorben
sei, bleibt als neuer Ansatz an seinen Wahn von diesem Traum©
übrig.
Weniger bequem wird es uns zu sagen, was der Dichter
mit diesem Traum gewollt, und was ihn veranlaßt hat, die Ent-
wicklung des Wahnes gerade an einen Traum zu knüpfen.
Emsige Traumforscher haben zwar Beispiele genug gesammelt.
IN W. JENSENS „GßADIVA" 47
wie Geistesstörung an Träume anknüpft und aus Träumen her-
vorgeht,*) und auch in der Lebensgeschichte einzelner hervor-
ragender Menschen sollen Impulse zu wichtigen Taten und
Entschließungen durch Träume erzeugt worden sein. Aber
unser Verständnis gewinnt gerade nicht viel durch diese Ana-
logien; bleiben wir darum bei unserem Falle, bei dem vom
Dichter fingierten Falle des Archäologen Norbert Hanold.
An welchem Ende muß man einen solchen Traum wohl an-
fassen, um ihn in den Zusammenhang einzuflechten, wenn er
nicht ein unnötiger Zierat der Darstellung bleiben soll?
Ich kann mir etwa denken, daß ein Leser an dieser Stelle
ausruft: Der Traum ist ja leicht zu erklären. Ein einfacher
Angsttraum, veranlaßt durch den Lärm der Großstadt, der von
dem mit seiner Pompejanerin beschäftigten Archäologen auf
den Untergang Pompejis umgedeutet wird! Bei der allgemein
herrschenden Geringschätzung für die Leistungen des Traumes
pflegt man nämlich den Anspruch auf die Traumerklärung da-
hin einzuschränken, daß man für ein Stück des geträumten
Inhaltes einen äußeren Eeiz sucht, der sich etwa mit ihm
deckt. Dieser äußere Anreiz zum Träumen wäre durch den
Lärm gegeben, welcher den Schläfer weckt; das Interesse an
diesem Traume wäre damit erledigt. Wenn wir nur einen
Grund hätten anzunehmen, daß die Großstadt an diesem Mor-
gen lärmender gewesen als sonst, wenn z. B. der Dichter nicht
versäumt hätte, uns mitzuteilen, daß Hanold diese Nacht ge-
gen seine Gewohnheit bei geöffnetem Fenster geschlafen.
Schade, daß der Dichter sich diese Mühe nicht gegeben hat!
Und wenn ein Angsttraum nur etwas so Einfaches wäre! Nein,
so einfach erledigt sich dies Interesse nicht.
Die Anknüpfung an einen äußeren Sinnesreiz ist nichts
"Wesentliches für die Traumbildung. Der Schläfer kann diesen
Reiz aus der Außenwelt vernachlässigen, er kann sich durch
ihn, ohne einen Traum zu bilden, wecken lassen, er kann ihn
auch in seinen Traum verweben, wie es hier geschieht, wenn
es ihm aus irgend welchen anderen Motiven so taugt, und
es gibt reichlich Träume, für deren Inhalt sich eine solche
Determinierung durch einen an die Sinne des Schlafenden ge-
'^) Santo de Sanctii, Die Träome, 1901.
48 DER WAHN UND DIB TRÄUME
langenden Beiz nicht erweisen läßt. Nein, versuchen wir's auf
einem anderen Wege.
Vielleicht knüpfen wir an den Bückstand an, den der
Traum im wachen Leben Hanolds zurückläßt. Es war bisher
eine Phantasie von ihm gewesen, daß die Gradiva eine Pom-
pejanerin gewesen sei. Jetzt wird ihm diese Annahme zur
Gewißheit, imd die zweite Gewißheit schließt sich daran, daß
sie dort im Jahre 79 mit verschüttet worden sei.*) Wehmütige
Empfindungen begleiten diesen Fortschritt der .Wahnbildung,
wie ein Nachklang der Angst, die den Traum erfüllt hatte.
Dieser neue Schmerz. um die Gradiva will uns nicht recht be-
greiflich erscheinen; die Gradiva wäre doch heute auch seit
vielen Jahrhunderten tot, selbst wenn sie im Jahre 79 ihr
Leben vor dem Untergänge gerettet hätte, oder sollte man in
solcher "Weise weder mit Norbert Hanold noch mit dem
Dichter selbst rechten dürfen? Auch hier scheint kein Weg
zur Aufklärung zu führen. Immerhin wollen wir uns anmer-
ken, daß dem Zuwachs, den der Wahn aus diesem Traum be-
zieht, eine stark schmerzliche Gefühlsbetonung anhaftet.
Sonst aber wird an unserer Batlosigkeit nichts gebessert.
Dieser Traum erläutert sich nicht von selbst; wir müssen uns
entschließen, Anleihen bei der „Traumdeutung" des Verfassers
zu machen und einige der dort gegebenen Begeln zur Auflösung
der Träume hier anzuwenden.
Da lautet eine dieser Begeln, daß ein Traum regelmäßig
mit den Tätigkeiten am Tage vor dem Traum zusammenhängt.
Der Dichter scheint andeuten zu wollen, daß er diese Begel be-
folgt habe, indem er den Traum unmittelbar an die „pede-
strischen Prüfimgen" Hanolds anknüpft. Nun bedeuten letz-
tere nichts anderes als ein Suchen nach der Gradiva, die er
an ihrem charakteristischen Gange erkennen will. Der Traum
sollte also einen Hinweis darauf, wo die Gradiva zu finden
sei, enthalten. Er enthält ihn wirklich, indem er sie in Pom-
peji zeigt, aber das ist noch keine Neuigkeit für uns.
Eine andere Begel besagt: wenn nach einem Traum der
Glaube an die Bealität der Traumbilder imgewöhnlich lange
anhält, so daß man sich nicht aus dem Traume losreißen kann,
♦) Vgl. den Text der ^Gradiva« p. 15.
m,W. JENSENS „GKADIVA" 49
SO ist dies nicht etwa eine ürteilstäuschung, hervorgerufen
durch die Lebhaftigkeit der Traumbilder, sondern es ist ein
psychischer Akt für sich, eine Versicherung, die sich auf den
Trauminhalt bezieht, daß etwas darin wirklich so ist, wie man
es geträumt hat, und man tut recht daran, dieser Versicherung
Glauben zu schenken. Halten wir uns an diese beiden Begeln,
so müssen wir schließen, der Traum gebe eine Auskunft über
den Verbleib der gesuchten Gradiva, die sich mit der Wirk-
lichkeit deckt. Wir kennen nun den Traum Hanolds; führt
die Anwendung der beiden Regeln auf ihn zu irgend einem
vernünftigen Sinne?
•Merkwürdigerweise ja. Dieser Sinn ist nur auf eine be-
sondere Art verkleidet, so daß man ihn nicht sogleich erkennt.
Hanold erfährt im Traume, daß die Gesuchte in einer Stadt
und gleichzeitig mit ihm lebe.^ Das ist ja von der Zoe
Bertgang richtig, nur daß diese Stadt im Traum nicht die
deutsche Universitätsstadt, sondern Pompeji, die Zeit nicht die
Gegenwart, sondern das Jahr 79 unserer Zeitrechnung ist. Es ist
wie eine Entstellung durch Verschiebung, nicht die Gradiva ist
in die Gegenwart, sondern der Träumer ist in die Vergangenheit
versetzt; aber das Wesentliche und Neue, daß er mit der Ge-
suchten Ort und Zeit teile, ist auch so gesagt. Woher wohl
diese Verstellung und Verkleidung, die. uns sowie den Träumer
selbst über den eigentlichen Sinn und Inhalt des Traumes
täuschen muß? Nun wir haben bereits die Mittel in der Hand,
um eine befriedigende Antwort auf diese Frage zu geben.
Erinnern wir uns an all das, was wir über die Natur
und Abkunft der Phantasien, dieser Vorläufer des Wahnes,
gehört haben. Daß sie Ersatz und Abkömmlinge von ver-
drängten Erinnerungen sind, denen ein Widerstand nicht
gestattet, sich unverändert zum Bewußtsein zu bringen, die
sich aber das Bewußtwerden dadurch erkaufen, daß sie durch
Veränderungen und Entstellungen der Zensur des Widerstandes
Rechnung tragen. Nachdem dieses Kompromiß vollzogen ist,
sind jene Erinnerungen nun zu diesen Phantasien geworden,
die von der bewußten Person leicht mißverstanden, d. h. im
Sinne der herrschenden psychischen Strömung verstanden wer-
den können. Nun stelle man sich vor, die Traumbilder seien
Freud, Der Wahn und die Tiftume. 4
M> DEB WAHN UND DES TRIUHE
die tosnsagen physiologischen .Wahnschöpfungen des Menschen,
die Kompromißergebnisse jenes Kampfes zwischen Verdrängtem
und Herrschendem, den es wahrscheinlich bei jedem, anch tags-
^Mr völlig geistesgesnnden Menschen gibt. Dann versteht man,
da0 man die Traumbilder als etwas Entstelltes zu betrachten
hat, hinter dem etwas anderes, nicht Entstelltes, aber in ge-
wissem Sinne Anstößiges zu suchen ist, wie die verdrängten
Erinnerungen Hanolds hinter seinen Phantasien. Dem so er-
kannten Gegensatz wird man etwa Ausdruck schaffen, indem
man das, was der Träumer beim Erwachen erinnert, als mani-
festen Trauminhalt unterscheidet von dem, was die
Grundlage des Traumes vor der Zensurentstellung ausmachte,
dtti latenten Traumgedanken. Einen Tramn deuten heißt
dann so viel als den manifesten Trauminhalt in die latenten
Traumgedanken übersetzen, die Entstellimg rückgängig machen,
welche sich letztere von der Widerstandszensur gefallen lassen
mußten. Wenden wir diese Erwägungen auf den uns beschäf-
tigenden Traum an, so finden wir, die latenten Traumgedanken
können nur gelautet haben: Das Mädchen, das jenen schönen
Gang hat, nach dem du suchst, lebt wirklich in dieser Stadt
mit dir. Aber in dieser Form konnte der Gedanke nicht be-
wußt werden; es stand ihm ja im Wege, daß eine Phantasie
als Ergebnis eines früheren Kompromisses festgestellt hatte,
die Gradiva sei eine Pompejanerin, folglich blieb nichts übrig,
wenn die wirkliehe Tatsache des Lebens am gleichen Orte und
zur gleichen Zeit gewahrt werden sollte, als die Entstellimg
vorzunehmen : du lebst ja in Pompeji zur Zeit der Gradiva,
und dies ist dann die Idee, welche der manifeste Trauminhalt
realisiert, als eine Gegenwart, die man durchlebt, darstellt.
Ein Traum ist nur selten die Darstellung, man könnte
sagen : Inszenierung eines einzigen Gedankens, meist einer Beihe
von solchen, eines Gedankengewebes. Aus dem Traume Ha-
nolds läßt sich noch ein anderer Bestandteil des Inhaltes her-
vorheben, dessen Entstellung leicht zu beseitigen ist, so daß
man die durch ihn vertretene latente Idee erfährt. Es ist dies
ein Stück des Traumes, auf welches man, auch noch die Ver-
sicherung der Wirklichkeit ausdehnen kann, mit welcher der
Traum abschloßt Im Traiun verwandelt sich nämlich die
IK W. JENSENS „ÖBADIVA*^ 51
schreitende Gradiva in ein Steinbild. Das ist ja nichts an-
deres als eine sinnreiche und poetische Darstellung des wirk-
lichen Herganges. Hanold hatte in der Tat sein Interesse
von der Lebenden auf das Steinbild übertragen ; die Geliebte
hatte sich ihm in ein steinernes Belief verwandelt. Die laten-
ten Tranmgedanken, die nnbewufit bleiben müssen, wollen dies
Bild in die Lebende znrückverwandeln ; sie sagen ihm etwa
im Zusammenhalt mit dem vorigen: Du interessierst dich doch
nur für das Belief der Gradiva, weil es dich an die gegen-
wärtige, hier lebende Zoe erinnert. Aber diese Einsicht würde,
wenn sie bewußt werden könnte, das Ende des Wahnes be-
deuten.
Obliegt uns etwa die Verpflichtung, jedes einzelne Stück
des manifesten Trauminhaltes in solcher Weise durch imbe-
wußte Gedanken zu ersetzen? Strenggenommen, ja; bei der
Deutung eines wirklich geträumten Traumes würden wir uns
dieser Pflicht nicht entziehen dürfen. Der Träumer müßte uns
dann auch in ausgiebigster Weise Bede stehen. Es ist be-
greiflich, daß wir solche Forderung bei dem Greschöpf des
Diehters nicht durchführen können ; wir wollen aber doch nicht
übersehen, daß wir den Hauptinhalt dieses Traumes noch ilicht
der Deutungs- oder TJbersetzungsarbeit unterzogen haben.
Der Traum Hanolds ist ja ein Angsttraum. Sein Inhalt
ist schreckhaft, Angst wird vom Träumer im Schlafe verspürt
und schmerzliche Empfindungen bleiben nach ihm übrig. Das
ist nun gar nicht bequem für unseren Erklärungsversuch; wir
sind wiederum zu großen Anleihen bei der Lehre von der
Traumdeutung genötigt. Diese mahnt uns dann, doch ja nicht
in den Irrtum zu verfallen, die Angst, die man in einem
Traum empfindet, voü dem Inhalt des Traumes abzuleiten, den
Trauminhalt doch nicht so zu behandeln wie einen Vorstellungs-
inhalt des wachen Lebens. Sie macht uns darauf aufmerksam,
wie oft wir die gräßlichsten Dinge träumen, ohne daß eine
Spur von Angst dabei empfunden wird. Vielmehr sei der wahre
Sachverhalt ein ganz anderer, der nicht leicht zu erraten, aber
sicher zu beweisen ist. Die Angst des Angsttraumes entspreche
einem sexuellen Affekt, einer libidinösen Empfindung, wie
überhaupt jede nervöse Angst, und sei durch den Prozeß der
iS I^ WAHS USD DIE TBÜLCMB
VerdsiUkgitMkg ans dar Libido h ei vut gegaagau^j Bei der Den-
iung des TramneB mnaae man ako die Angst durch BBTuelle
EmgÜkeit eaetzen. Die ao entatandaie Angst übe nim —
nicht regelmäßig, zbar liä.i|fig — ^nen aoswäUenden KinflnB
auf doi Tramniiihalt ans und hrmge VorsielliingaelaiMnite in
den Traum, welche für die bewußte und mißvergtindliehe Anf -
faarang des Traumes zum Angstaf f ekt paiwend erscheinen.
Dies sei, wie gesagt, keinesw^^s regelmäßig der Fall, denn
es gebe gmng Angsttramne, in denen der Inhalt gar nidit
sdireckhaft ist, wo man sich also die verspürte Angst nidit
bewoßterweise erklaren könne.
Ich weiß, daß diese AnOdärong der Angst im Traume
sehr befremdlich klingt nnd nicht leicht Glauben findet; aber
ich kann nur raten, sich mit ihr zu befreunden. Es wäre
übrigirais recht merkwürdig, wenn der Traum Norbert Har
nolds sich mit dieser Auffassung der Angst vereinen und
aus ihr erklaren ließe. Wir würden dann sagen, beim Träu-
mer rühre sich nachtlicberweise die Loebessehnsucht, mache
einen kräftigen Vorstoß, um ihm die Erinnerung an die Ge-
liebte bewußt zu machen und ihn so aus dem Wahn zu reißen,
erfahre aber neuerliche Ablehnung und Verwandlung in Angst,
die nun ihrerseits die schreckhaften Bilder aus der Schul-
erinnerung des Träumers in den Trauminhalt bringe. Auf diese
Weise werde der eigentliche unbewußte Inhalt des Traumes,
die verliebte Sehnsucht nach der einst gekannten Zoe, in den
manifesten Inhalt vom Untergang Pompejis und vom Verlust
der Gradiva umgestaltet.
Ich meine, das klingt so weit ganz plausibel. Man könnte
aber mit Becht die Fordenmg aufstellen, wenn erotische
Wünsche den unentstellten Inhalt dieses Traumes bilden, so
müsse man auch im umgeformten Traum wenigstens einen
kenntlichen Best derselben irgendwo versteckt aufzeigen kön-
nen. Nun, vielleicht gelingt selbst dies mit Hilfe eines Hin-
weises aus der später folgenden Erzählung. Beim ersten Zu-
sammentreffen mit der vermeintlichen Gradiva gedenkt Ha-
nold dieses Traumes und richtet an die Erscheinung die Bitte,
*) Tgl. Sammlang kL Schriften rar Nearoflenlehre, V., und Trmamdeataiig'
p. 344.
IN W. JENSENS „GBADIVA" 63
sich wieder so hinzulegen, wie er es damals gesehen.*) Darauf-
hin aber erhebt sich die junge Dame entrüstet und verläßt
ihren sonderbaren Partner, aus dessen wahnbeherrschten Beden
sie den unziemlichen erotischen Wunsch herausgehört hat.
Ich glaube, wir dürfen uns die Deutung der Gradiva zu eigen
machen; eine größere Bestimmtheit für die Darstellung des
erotischen .Wunsches wird man auch von einem realen Traume
nicht immer fordern dürfen.
Somit hatte die Anwendung einiger Begeln der Traum-
deutung auf den ersten Traum Hanolds den Erfolg gehabt,
uns diesen Traum in seinen Hauptzügen verständlich zu ma-
chen und ihn in den Zusammenhang der Erzählung einzufügen.
Er muß also wohl vom Dichter unter Beachtung dieser Begeln
geschaffen worden sein? Man könnte nur noch eine Frage
aufwerfen, warum der Dichter zur weiteren Entwicklung des
•Wahnes überhaupt einen Traum einführe. Nun, ich meine, das
ist recht sinnreich komponiert und hält wiederum der Wirk-
lichkeit die Treue. Wir haben schon gehört, daß in realen
Krankheitsfällen eine W^Jinbildung recht häufig an ein^
Traum anschließt, brauchen aber nach unseren Aufklärungen
über das Wesen des Traumes kein neues Bätsei in diesem Sach-
verhalt zu finden. Traum und Wahn stammen aus derselben
Quelle, vom Verdrängten her; der Traum ist der sozusagen
physiologische Wahn des normalen Menschen. Ehe das Ver-
drängte stark genug geworden ist, um sich im Wachleben als
Wahn durchzusetzen, kann es leicht seinen ersten Erfolg unter
den günstigeren umständen des Schlafzustandes in Gestalt
eines nachhaltig wirkenden Traumes errungen haben. Während
des Schlafes tritt nämlich, mit der Herabsetzung der seelischen
Tätigkeit überhaupt, auch ein Nachlaß in der Stärke des Wider-
standes ein, den die herrschenden psychischen Mächte dem Ver-
drängten entgegensetzen. Dieser Nachlaß ist es, der die Traum-
bildung ermöglicht, und darum wird der Traum für uns der
beste Zugang zur Kenntnis des unbewußten Seelischen. Nur,
*) O. p. 70: Nein, gesprochen nicht. Aber ich rief dir so, als da dich
anm Schlafen hinlegtest, nnd stand dann bei dir — dein Gesicht war so rahig-
sdta wie TOD ICannor. Darf ich dich bitten — leg' es noch einmal wiedv so
anf die Stofo sorilck.
DER WAHN UND DIB TRÄUME
daß für gewöhnlich mit der Herstellung der psychischen Be-
setzungen des Wachens der Traum wieder verfliegt, der vom
Unbewußten gewonnene Boden wieder geräumt wird.
m.
Im weiteren Verlaufe der Erzählung findet sich noch ein
anderer Traum, der uns vielleicht noch mehr als der erste
verlocken kann, seine Übersetzung und Einfügung iil den Zu-
sammenhang des seelischen Greschehens beim Helden zu ver-
suchen. Aber wir ersparen wenig, wenn wir hier die Darstellung
des Dichters verlassen, um direkt zu diesem zweiten Traum
zu eilen, denn wer den Traum eines anderen deuten will, der
kann nicht umhin, sich möglichst ausführlich um alles zu be-
kümmern, was der Träumer äußerlich und innerlich erlebt hat.
Somit wäre es fast das beste, wenn wir beim Faden der Er-
zählung verblieben und diese fortlaufend mit unseren Glossen
versähen.
Die Wahnneubildung vom Tode derGradivä beim Untergang
Pompejis im Jahre 79 ist nicht die einzige Nachwirkung des
von uns analysierten ersten Traumes. Unmittelbar nachher ent-
schließt sich Hanold zu einer Reise nach Italien, die ihn
endlich nach Pompeji bringt. Vorher aber begibt sich noch
etwas anderes mit ihm; aus dem Fenster lehnend, glaubt er
auf der Straße eine Gestalt mit der Haltung und dem Gange
seiner Gradiva zu bemerken, eilt ihr trotz seiner mangelhaften
Bekleidung nach, erreicht sie aber nicht, sondern wird durch
den Spott der Leute auf der Straße zurückgetrieben. Nachdem
er wieder in sein Zimmer zurückgekehrt ist, ruft das Singen
eines Kanarienvogels, dessen Käfig an einem Fenster des Hauses
gegenüber hängt, eine Stimmung in ihm hervor, als ob auch
er aus der Gefangenschaft in die Freiheit wollte, und die
Frühjahrsreise ist ebenso schnell beschlossen wie ausgeführt.
Der Dichter hat diese Beise Hanolds in ganz besonder^
scharfes Licht gerückt tmd ihm selbst teilweise Klarheit über
seine inneren Vorgänge gegönnt. Hanold hat sich selbstver-
ständlich einen wissenschaftlichen Vprwand für sein Bc^isen
angegeben, aber dieser; hält nicht vor. Er weiß doch eigent-
lich, daß „ihm der Antrieb zur Beise aus einer unnennbaren
IN W. JENSENS „GRADIVA" S&
Empfindung entsprungen war''. Eine eigentümliche Unruhe hd£t
ihn mit allem, was er antrifft, imzufrieden sein und treibt
ihn von Bom nach Neapel, von dort nach Pompeji, ohne daß
er sich, auch nicht in dieser letzten Station, in seiner Stimmung
zurechtfände. Er ärgert sich über die Torheit der Hochzeits-
reisenden und ist empört über die Frechheit der Stubenfliegen,
die Pompejis Gasthäuser bevölkern. Aber endlich täuscht er
sich nicht darüber, „daß seine ünbefriedigung wohl nicht allein
durch das um ihn herum Befindliche verursacht werde, son-
dern etwas ihren Ursprung auch aus ihm selbst schöpfe". Er
hält sich für überreizt, fühlt, „daß er mißmutig sei, weil ihm
etwas fehle, ohne daß er sich aufhellen könne, was. Und diese
Mißstimmung bringt er überallhin mit sich". In solcher Ver-
fassung empört er sich sogar gegen seine Herrscherin, die
Wissenschaft; wie er das erstemal in der Mittagssonnenglut
durch Pompeji wandelt, „hatte seine ganze Wissenschaft ihn
nicht allein verlassen, sondern ließ ihn auch ohne das geringste
Begehren, sie wieder aufzufinden; er erinnerte sich ihrer nur
wie aus einer weiten Feme, und in seiner Empfindung war
sie eine alte, eingetrocknete, langweilige Tante gewesen, das
ledernste und überflüssigste Geschöpf auf der Welt". (G. p. 56.)
In diesem unerquicklichen und verworrenen Gemütszustand
löst sich ihm dann das eine der Bätsei, welche an dieser Beise
hängen, in dem Moment, da er zuerst die Gradiva durch
Pompeji sehreiten sieht. Es kommt ihm „zum erstenmal zum
Bewußtwerden: Er sei, ohne selbst von dem Antrieb in seinem
Innern zu wissen, deshalb nach Italien tmd ohne Aufenthalt
von Bom und Neapel bis Pompeji weitergefahren, um danach
zu suchen, ob er hier Spuren von ihr auffinden könne. Und
zwar im wörtlichen Sinne, denn bei ihrer besonderen Gangart
mußte sie in der Asche einen von allen übrigen sich unt^-
scheidenden Abdruck der Zehen hinterlassen haben". (G.p.58.)
Da der Dichter so viel Sorgfalt auf die Darstellung ditaer
Beise verwendet, muß es auch uns der Mühe wert sein, deren
Veriiältnis zum Wahn Hanolds und deren Stellung im Zu-
sammenhang der Begebenheiten zu erläutern. Die Beise ist
ein Untemdimen aus Motiven, welche die Person zunächst nidit
erkenat imd erst später sich eingesteht, Motiven, welche der
56 DER WAHN UND DIB TRÄUME
Dichter direkt als „unbewußte" bezeichnet. Dies ist gewiß
dem Leben abgelauscht; man braucht nicht im Wahn zu sein,
um so zu handeln; vielmehr ist es ein alltägliches Vorkomm-
nis, selbst bei Gresunden, daß sie sich über die Motive ihres
Handelns täuschen und ihrer erst nachträglich bewußt werden,
wenn nur ein Konflikt mehrerer Gefühlsströmungen ihnen die
Bedingung für solche Verworrenheit herstellt. Die Eeise Ha-
nolds war also von Anfang an daratif angelegt, dem Wahne
zu dienen, und sollte ihn nach Pompeji bringen, um die Nach-
forschung nach der Gradiva dort fortzusetzen. Wir erinnern,
daß vor und unmittelbar nach dem Traum diese Nachforschung
ihn erfüllte, und daß der Traum selbst nur eine von seinem
Bewußtsein erstickte Antwort auf die Frage nach dem Auf-
enthalt der Gradiva war. Irgend eine Macht, die wir nicht er-
kennen, hemmt aber zunächst auch das Bewußtwerden des wahn-
haften Vorsatzes, so daß zur bewußten Motivierung der Eeise
nur unzulängliche, streckenweise zu erneuernde Vorwände erübri-
gen. Ein anderes Rätsel gibt ims der Dichter auf, indem er
den Traum, die Entdeckung der vermeintlichen Gradiva auf
der Straße imd die Entschließung zur Eeise durch den Ein-
fluß des singenden Kanarienvogels wie Zufälligkeiten ohne
innere Beziehung aufeinander folgen läßt.
Mit Hilfe der Aufklärungen, die wir den späteren Eeden
der Zoe Bertgang entnehmen, wird dieses dunkle Stück der
Erzählung für unser Verständnis erhellt. Es war wirklich das
Urbild der Gradiva, Fräulein Zoe selbst, das Hanold von
seinem Fenster aus auf der Straße schreiten sah (G. p. 89) und
das er bald eingeholt hätte. Die Mitteilung des Traumes: sie
lebt ja am heutigen. Tage in der nämlichen Stadt wie du,
hätte so durch einen glücklichen Zufall eine unwiderstehliche
Bekräftigimg erfahren, vor welcher sein inneres Sträuben zu-
sammengebrochen wäre. Der Kanarienvogel aber, dessen Ge-
sang Hanold in die Feme trieb, gehörte Zoe, und sein Käfig
stand an ihrem Fenster, dem Hause Hanolds schräg gegen-
über. (G. p. 135.) Hanold, der nach der Anklage des Mädchens
die Gabe der „negativen Halluzination" besaß, die Kirnst ver-
stand, auch gegenwärtige Pers'5nen nicht zu sehen und nicht
zu erkennen, muß von Anfang an die unbewußte Kenntnis
IN W. JENSENS „GRADIVA" 57
dessen gehabt habeiij was wir erst spät erfahren. Die Zeichen
der Nähe Zoes, ihr Erscheinen auf der Straße und der Ge-
sang ihres Vogels so nahe seinem Penster, verstärken die Wir-
kung des Traumes, und in dieser für seinen Widerstand gegen
die Erotik so gefährlichen Situation — ergreift er die Flucht.
Die Beise entspringt einem Aufraffen des Widerstandes nach
jenem Vorstoß der Liebessehnsucht im Traum, einem Fluchtver-
such von der leibhaftigen und gegenwärtigen Geliebten weg. Sie
bedeutet praktisch einen Sieg der Verdrängung, die diesmal im
Wahne die Oberhand behält, wie bei seinem früheren Tun, den
„pedestrischen Untersuchungen" an Frauen und Mädchen, die
Erotik siegreich gewesen war. Überall aber ist in . diesem
Schwanken des Kampfes die Kompromißnatur der Entscheidun-
gen gewahrt; die Beise nach Pompeji, die von der lebenden
Zoe wegführen soll, führt wenigstens zu ihrem Ersatz, zur
Gradiva. Die Beise, die den latenten Traumgedanken zum
Trotze tmternommen wird, folgt doch der Weisung des mani-
festen Trauminhaltes nach Pompeji. So triumphiert der Wahn
von neuem, jedesmal wenn Erotik und Widerstand von neuem
streiten.
Diese Auffassung der Beise Hanolds als Flucht vor der
in ihm erwachenden Liebessehnsucht nach der so nahen Ge-
liebten harmoniert allein mit den bei ihm geschilderten Ge-
mütszuständen während seines Atifenthaltes in Italien. Die ihn
beherrschende Ablehnung der Erotik drückt sich dort in seiner
Verabscheuung der Hochzeitsreisenden aus. Ein kleiner Traum
im Albergo in Bom, veranlaßt durch die Nachbarschaft eines
deutschen Liebespaares, „August und Grete", deren Abend-
gespräch er durch die dünne Zwischenwand belauschen muß, wirft
wie nachträglich ein Licht auf die erotischen Tendenzen seines
ersten großen Traumes. Der neue Traum versetzt ihn wieder nach
Pompeji, wo eben wieder der Vesuv ausbricht, und knüpft so
an den während der Beise fortwirkenden Traum an. Aber unter
den gefährdeten Personen gewahrt er diesmal — nicht wie
früher sich und die Gradiva — , sondern den Apoll von Belve-
dere und die kapitolinische Venus, wohl als ironische Er-
höhungen des Paares im Nachbarraum. Apoll hebt die Venus
auf, trägt sie fort und legt sie auf einen Gegenstand im Dun-
DER WAHN UND DIE TRÄUME
kein hin, der ein Wagen oder Karren zu sein scheint, denn
ein „knarrender Ton" schallt davon her. Der Traum bedarf
sonst keiner besonderen Kunst zu seiner Deutung. (G. p. 31.)
Unser Dichter, dem wir langst zutrauen, daß er auch
keinen einzelnen Zug müßig und absichtslos in seiner Schil-
derung aufträgt, hat uns noch ein anderes Zeugnis für die
Hanold auf der Reise beherrschende asexuelle Strömung ge-
geben. Wahrend des stundenlangen ümherwandems in Pom-
peji kommt es ihm „merkwürdigerweise nicht ein einziges Mal
in Erinnerung, daß er vor einiger Zeit einmal geträumt habe,
bei der Verschüttung Pompejis durch den Kraterausbruch im
Jahre 79 zugegen gewesen zu sein^^ (O. p. 47.) Erst beim Anblick
der Gradiva besinnt er sich plötzlich dieses Traumes, wie ihm
auch gleichzeitig das wahnhafte Motiv seiner rätselhaften Reise
bewußt wird. Was könnte nun dies Vergessen des Traumes,
diese Verdrängungsschranke zwischen dem Traum und dem
Seelenzustand auf der Reise anders bedeuten, als daß die Reise
nicht auf direkte Anreg^ung des Traumes erfolgt ist, sondern
in der Auflehnung gegen denselben, als Ausfluß einer seeli-
schen Macht, die vom geheimen Sinne des Traumes nichts
wissen will?
Anderseits aber wird Hanold dieses Sieges über seine
Erotik nicht froh. Die unterdrückte seelische Regung bleibt
stark genug, um sich durch Mißbehagen imd Hemmung an
der unterdrückenden zu rächen. Seine Sehnsucht hat sieh in
Unruhe und Unbefriedigung verwandelt, die ihm die Reise
sinnlos erscheinen läßt; gehemmt ist die Einsicht in die Moti>
vierung der Reise im Dienste des Wahnes, gestört sein Ver-
hältnis zu seiner Wissenschaft, die an solchem Orte all aeÜL
Interesse rege machen sollte. So zeigt uns der Dichter seinen
Helden nach seiner Fludit vor der Liebe in einer Art von
Krisis, in einem gänzlich verworrenen und zerfahrenen Zu-
stand, in einer Zerrüttung, wie sie auf der Höhe der Krank-
heitszustände vorzukommen pflegt, wenn keine der beid^i
streitenden Mächte mehr um so viel stärker ist als die andere,
daß die Differenz ein strammes, seelisches Regime begründen
könnte. Hier greift dann der Dichter helfend und schlichtend
ein, denn an dieser Stelle läßt er die Gradiva auftreten, welche
IN W. JENSENS „GRADIVA" 59
die Heilung des Wahnes unternimmt. Mit seiner Macht, die
Schicksale der von ihm geschaffenen Menschen zum Outen zu
lenken, trotz all der Notwendigkeiten, denen er sie gehorchen
läßt, versetzt er das Mädchen, vor dem Hanold nach Pom*-
peji geflohen ist, ebendahin und korrigiert so die Torheit, die
der Wahn den jungen Mann begehen ließ, sich von dem Wohn-
ort der leibhaftigen Greliebten zur Todesstätte der sie in der
Phantasie ersetzenden zu begeben.
Mit dem Erscheinen der Zoe Bertgang als Gradiva, wel-
ches den Höhepunkt der Spannung in der Erzählung bezeichnet,
tritt bald auch eine Wendung in unserem Interesse ein. Haben
wir bisher die Entwicklung eines Wahnes miterlebt, so sollen
wii* jetzt Zeugen seiner Heilung werden und dürfen ims fra-
gen, ob der Dichter den Hergang dieser Heilung bloß fabu-
liert oder im Anschluß an wirklich vorhandene Möglichkeiten
gebildet hat. Nach Zoes eigenen Worten in der Unterhaltung
mit der Freundin haben wir entschieden das Recht, ihr solche
Heilungsabsicht zuzuschreiben. (G. p. 124.) Wie schickt sie sich
aber dazu an? Nachdem sie die Entrüstung zurückgedrängt,
welche die Zumutung, sich wieder wie „damals" zum Schlafen
hinzulegen, bei ihr hervorgerufen, findet sie sich zur gleichen
Mittagsstunde des nächsten Tages am nämlichen Orte ein und
entlockt nun Hanold all das geheime Wissen, das ihr zum
Verständnis seines Benehmens am Vortage gefehlt hat. Sie er-
fährt von seinem Traum, vom Reliefbild der Gradiva und von
der Eigentümlichkeit des Ganges, welche sie mit diesem Bilde
teilt. Sie akzeptiert die Bolle des für eine kurze Stunde zum
Leben erwachten Gespenstes, welche, wie sie merkt, sein Wahn
ihr zugeteilt, und weist ihm leise in mehrdeutigen Worten
eine neue Stellung an, indem sie die Gräberblume von ihm
annimmt, die er ohne bewußte Absicht mitgebracht, und das
Bedauern ausspricht, daß er ihr nicht Bösen gegeben hat.
(G. p. 90.)
Unser Interesse für das Benehmen des überlegen klugen
Mädchens, welches beschlossen hat, sich den Jugendgeliebten zum
Manne zu gewinnen, nachdem sie hinter seinem Wahn seine
Liebe als treibende Kraft erkannt, wird aber an dieser Stelle
wahrscheinlich von dem Befremden zurückgedrängt, welches
60 DER WAHN UND DIE TBÄUME
dieser Wahn selbst bei uns erregen kann. Dessen letzte Aus-
gestaltung, daß die im Jahre 79 verschüttete Gradiva nun
als Mittagsgespenst für eine Stunde mit ihm Bede tauschen
könne, nach deren Ablauf sie versinke oder ihre Gruft wieder
aufsuche, dieses Hirngespinst, welches weder durch die Wahr-
nehmung ihrer modernen Fußbekleidung noch durch ihre Un-
kenntnis der alten Sprachen und ihre Beherrschung des damals
nicht existierenden Deutschen beirrt wird, scheint wohl die Be-
Zeichnung des Dichters „Ein pompe janisches Phantasiestück'^
zu rechtfertigen, aber jedes Messen an der klinischen Wirk-
lichkeit auszuschließen. Und doch scheint mir bei näherer Er-
wägung die UnWahrscheinlichkeit dieses Wahnes zum größeren
Teile zu zergehen. Einen Teil der Verschuldung hat ja der
Dichter auf sich genommen und in der Voraussetzung der Er-
zählung, daß Zoe in allen Zügen das Ebenbild des Steinreliefs
sei, mitgebracht. Man muß sich also hüten, die Unwahrschein-
lichkeit von dieser Voraussetzung auf deren Konsequenz, daß
Hanold das Mädchen für die belebte Gradiva hält, zu ver-
schieben. Die wahnhafte Erklärung wird hier dadurch im
Wert gehoben, daß auch der Dichter uns keine rationelle zur
Verfügimg gestellt hat. In der Sonnenglut Kampaniens und
in der verwirrenden Zauberkraft des Weines, der am Vesuv
wächst, hat der Dichter ferner andere helfende und mildernde
Umstände für die Ausschreitung des Helden herangezogen. Das
wichtigste aller erklärenden und entschuldigenden Momente
bleibt aber die Leichtigkeit, mit welcher unser Denkvermögen
sich zur Annahme eines absurden Inhaltes entschließt, wenn
stark affektbetonte Kegungen dabei ihre Befriedigung finden.
Es ist erstaunlich und findet meist viel zu geringe Würdigung*
wie leicht imd häufig selbst intellige^zstarke Personen unter
solchen psychologischen Konstellationen die Reaktionen par-
tiellen Schwachsinnes geben, und wer nicht allzu eingebildet
ist, mag dies auch beliebig oft an sich selbst beobachten. Und
nun erst dann, wenn ein Teil der in Betracht kommenden Denk-
vorgänge an unbewußten oder verdrängten Motiven haftete
Ich zitiere dabei gern die Worte eines Philosophen, der mir
schreibt: „Ich habe auch angefangen, mir selbsterlebte Fälle
von frappanten Irrtümern zu notieren, gedankenloser Handlun-
IN W, JENSENS „GRADIVA" 61
gen, die man sich nachträglich motiviert (in sehr unvernünftiger
Weise). Es ist erschreckend, aber typisch, wieviel Dummheit
dabei zu Tage kommt.^^ und nun nehme man dazu, daß der
Glaube an Geister und Gespenster und wiederkehrende Seelen,
der so viel Anlehnungen in den ^ligionen findet, denen wir
alle wenigstens als Kinder angehängt haben, keüieswegs bei
allen Gebildeten untergegangen ist, daß so viele sonst Ver-
nünftige die Beschäftigung mit dem Spiritismus mit der Ver-
nunft vereinbar finden. Ja selbst der nüchtern und ungläubig
Gewordene mag mit Beschämung wahrnehmen, wie leicht er
sich für einen Moment zum Geisterglauben zurückwendet, wenn
Ergriffenheit und Batlosigkeit bei ihm zusammentreffen. Ich
weiß von einem Arzt, der einmal eine seiner Patientinnen an
der Basedowschen Krankheit verloren hatte und einen leisen
Verdacht nicht bannen konnte, daß er durch unvorsichtige
Medikation vielleicht zum unglücklichen Ausgange beigetragen
habe. Eines Tages, mehrere Jahre später, trat ein Mädchen
in sein ärztliches Zimmer, in dem er, trotz alles Sträubens,
die Verstorbene erkennen mußte. Er konnte keinen anderen
Gedanken fassen als, es sei doch wahr, daß die Toten wieder-
kommen können, und sein Schaudern wich erst der Scham, als
die Besucherin sich als die Schwester jener an der gleichen
Krankheit Verstorbenen vorstellte. Die Basedowsche Krankheit
verleiht den von ihr Befallenen eine oft bemerkte, weitgehende
Ähnlichkeit der Gesichtszüge, und in diesem Falle war die
typische Ähnlichkeit über der schwesterlichen aufgetragen. Der
Arzt aber, dem sich dies ereignet, war ich selbst, und darum
bin gerade ich nicht geneigt, dem Norbert Hanold die
klinische Möglichkeit seines kurzen Wahnes von der ins Leben
zurückgekehrten Gradiva zu bestreiten. Daß in ernsten Fällen
chronischer Wahnbildung (Paranoia) das Äußerste an geistreich
alisgesponnenen und gut vertretenen Absurditäten geleistet wird,
ist endlich jedem Psychiater wohlbekannt. —
Nach der ersten Begegnung mit der Gradiva hatte Nor-
bert Hanold zuerst in dem einen und dann im anderen der
ihm bekannten Speisehäuser Pompejis seinen Wein getrunken,
während die anderen Besucher mit der Hauptmahlzeit beschäf-
tigt waren. „Selbstverständlich war ihm mit keinem Gedanken
•8 DER WAHN UND DIE TBÄÜME
die widersinnige Annahme in den Sinn gekommenes er tue so,
lun zu erfahren, in welchem Gasthof die Gradiva wohne und
ihre Mahlzeiten einnehme, aber es ist schwer zu sagen, wel-
chen anderen Sinn dies sein Tun sonst hätte haben können. Am
Tage nach dem zweiten Beisammensein im Hause des Meleager
erlebt er allerlei merkwürdige und scheinbar unzusammenhän-
gende Dinge: er findet einen engen Spalt in der Mauer des
Portikus, dort, wo die Gradiva verschwunden war, begegnet
einem närrischen Eidechsenfänger, der ihn wie einen Bekannten
anredet, entdeckt ein drittes, versteckt gelegenes Wirtshaus,
den „Albergo del Sole", dessen Besitzer ihm eine grünpati-
nierte Metallspange als Fundstück bei den Überresten eines
pompe janischen Mädchens aufschwatzt, und wird endlich in
seinem eigenen Gasthof auf ein neu angekommenes junges
Menschenpaar aufmerksam, welches er als Geschwisterpaar dia-
gnostiziert, und dem er seine Sympathie schenkt. Alle diese
Eindrücke verweben sich dann zu einem „merkwürdig unsin-
nigen" Traum, der folgenden Wortlaut hat:
„Irgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva, macht aus
einem Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse darin zu fan-
gen, und sagt dazu: ,Bitte, halte dich ganz ruhig — die Kolle-
gin hat recht, das Mittel ist wirklich gut, und sie hat es
mit bestem Erfolge angewendet*."
Gegen diesen Traum wehrt er sich noch im Schlafe mit
der Kritik, das sei in der Tat vollständige Verrücktheit, und
wirft sich herum, um von ihm loszukommen. Dies gelingt
ihm auch mit Beihilfe eines unsichtbaren Vogels, der einen
kurzen, lachenden ßuf ausstößt und die Lacerte im Schnabel
fortträgt.
Wollen wir den Versuch wagen, auch diesen Traum zu
deuten, d. h. ihn durch die latenten Gedanken zu ersetzen,
aus deren Entstellung er hervorgegangen sein muß? Er ist
so unsinnig, wie man es nur von einem Traume erwarten kann,
und diese Absurdität der Träume ist ja die Hauptstütze der
Anschauung, welche dem Traum den Charakter eines voll-
giltigen psychischen Aktes verweigert und ihn aus einer plan-
losen Erregung der psychischen Elemente hervorgehen läßt.
IN W. Jia^SEN» „GRADIVA" 68
Wir können auf diesen Traum die Technik anwenden,
welche als das reguläre Verfahren der Traumdeutung bezeich-
net werden kann. Es besteht darin, sich um den scheinbaren
Zusammenhang im manifesten Traum nicht zu bekümmern,
sondern jedes Stück des Inhaltes für sich ins Auge zu fassen
und in den Eindrücken, Erinnerungen und freien Einfällen des
Trämners die Ableitung desselben zu suchen. Da wir aber
Hanold nicht examinieren können, werden wir uns mit der
Beziehung auf seine Eindrücke zufrieden geben müssen, und
nur ganz schüchtern xmsere eigenen Einfälle an die Stelle der
seinigen setzen dürfen.
, Jrgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva, fängt Eidechsen
und spricht dazu'^ — an welchen Eindruck des Tages klingt
dieser Teil des Traumes an? Unzweifelhaft an die Begegnung
mit dem älteren Herrn, dem Eidechsenfänger, der also im
Traum durch die Gradiva ersetzt ist. Der saß oder lag an
„einem heiBbesonnten" Abhang und sprach auch Hanold an.
Auch die Beden der Gradiva im Traum sind nach der Bede
jenes Mannes kopiert. Man vergleiche: „Das vom Kollegen
Eimer angegebene Mittel ist wirklich gut, ich habe es schon
mehrmals mit bestem Erfolg angewendet. Bitte, halten 8^
sich ganz ruhig — ." Ganz ähnlich spricht die Gradiva im
Traum, nur daß der Kollege Eimer durch eine imbenannte
Kollegin ersetzt ist; auch ist das „mehrmals^* aus der Bede
des 2«oologen im Traume weggeblieben und die Bindung der
Sätze etwas geändert worden. Es scheint also, daß dieses Er-
lebnis des Tages durch einige Abänderungen imd Entstellimgen
zum Traume umgewandelt worden ist. "Warum gerade dieses,
und was bedeuten die Entstellungen, der Ersatz des alten
Herrn durch die Gradiva und die Einführung der rätselhaften
„Kollegin"?
Es gibt eine Begel der Traumdeutung, welche lautet:
Eine im Traum gehörte Bede stammt immer von einer im
Wachen gehörten oder selbst gehaltenen Bede ab. Nun, diese
Begel scheint hier befolgt, die Bede der Gradiva ist nur eine
Modifikation der bei Tag gehörten Bede des alten Zoologen.
Sine andere Begel der Traumdeutung würde uns sagen, die
Ersetzung einer Person durch eine andere oder die VermengUBg
64 DEB WAHN UND DIE TRÄUME
zweier Personen, indem etwa die eine in einer Situation ge-
zeigt wird, welche die andere charakterisiert, bedeutet eine
Gleichstellung der beiden Personen, eine Übereinstimmung zwi-
schen denselben, Wagen wir es, auch diese Hegel duf unseren
Traum anzuwenden, so ergäbe sich die Übersetzung: die Gra-
diva fängt Eidechsen wie jener Alte, versteht sich auf den
Eidechsenfang wie er. Verständlich ist dieses Ergebnis gerade
noch nicht, aber wir haben ja noch ein anderes Eätsel vor
uns. Auf welchen Eindruck des Tages sollen wir die „Kolle-
gin" beziehen, die im Traum den berühmten Zoologen Eimer
ersetzt? Wir haben da zum Glück nicht viel Auswahl, es
kann nur ein anderes Mädchen als Kollegin gemeint sein, also
jene sympathische junge Dame, in der Hanold eine in Ge-
sellschaft ihres Bruders reisende Schwester erkannt hatte.
„Sie trug eine rote Sorrentiner ßose am Kleid, deren Anblick
an etwas im Gedächtnis des aus seiner Stubenecke Hinüber-
schauenden rührte, ohne daß er sich darauf besinnen konnte,
was es sei." Diese Bemerkung des Dichters gibt uns wohl
das Brecht, sie für die „Kollegin" im Traume in Anspruch zu
nehmen. Das, was Hanold nicht erinnern konnte, war gewiß
nichts anderes als das Wort der vermeintlichen Gradiva, glück-
licheren Mädchen bringe man im Frühling Bösen, als sie die
weiße Gräberblume von ihm verlangte. In dieser Bede lag
aber eine Werbung verborgen. Was mag das nun für ein
Eidechsenfang sein, der dieser glücklicheren Kollegin so gut
gelungen?
Am nächsten Tage überrascht Hanold das vermeintliche
Geschwisterpaar in zärtlicher Umarmung und kann so seinen
Irrtum vom Vortage berichtigen. Es ist wirklich ein Liebes-
paar, und zwar auf der Hochzeitsreise begriffen, wie wir später
erfahren, als die beiden das dritte Beisammensein Hanolds
mit der Zoe so unvermutet stören. Wenn wir nun annehmen
wollen, daß Hanold, der sie bewußt für Geschwister hält,
in seinem Unbewußten sogleich ihre wirkliche Beziehung er-
kannt hat, die sich tags darauf so unzweideutig verrät, so
ergibt sich allerdings ein guter Sinn für die Bede der Gra-
diva im Traume. Die rote Böse wird dann zum Symbol der
Liebesbeziehung; Hanold versteht, daß die beiden das sind,
IN W. JENSENS „GRADIVA" 65
WOZU er und die Gradiva erst werden sollen, der Eidechsen-
fang bekommt die Bedeutung des Männerfanges, und die Bede
der Gradiva heißt etwa: Laß mich nur machen, ich verstehe
es ebenso gut, mir einen Mann zu gewinnen wie dieses andere
Mädchen.
Warum mußte aber dieses Durchschauen der Absichten der
Zoe durchaus in der Form der Bede des alten Zoologen im
Traume erscheinen? .Warum die Geschicklichkeit Zoes im
Männerfang durch die des alten Herrn im Eidechsenfang dar-
gestellt werden? Nun, wir haben es leicht, diese Frage zu be-
antworten; wir haben längst erraten, daß der Eidechsenfänger
kein anderer ist als der Zoologieprofessor Bertgang, Zoes
Vater, der ja auch Hanold kennen muß, so daß sich verstehen
läßt, daß er Hanold wie einen Bekannten anredet* Nehmen
wir von neuem an, daß Hanold im Unbewußten den Pro-
fessor gleichfalls sofort erkannt habe, — „Ihm war's dunkel,
das Gesicht des Lacerten Jägers sei schon einmal, wahrscheinlich
in einem der beiden Gasthöfe, an seinen Augen vorübergegan-
gen — ", so erklärt sich die sonderbare Einkleidung des der
Zoe beigelegten Vorsatzes. Sie ist die Tochter des Eidechsen-
fängers, sie hat diese Geschicklichkeit von ihm.
Die Ersetzung des Eidechsenfängers durch die Gradiva im
Trauminhalt ist also die Darstellung für die im Unbewußten
erkannte Beziehung der beiden Personen; die Einführung der
„Kollegin" an Stelle des Kollegen Eimer gestattet es dem
Traum, das Verständnis ihrer .Werbung um den Mann zum
Ausdruck zu bringen. Der Traum hat bisher zwei der Er-
lebnisse des Tages zu einer Situation zusammengeschweißt,
„verdichtet", wie wir sagen, um zwei Einsichten, die nicht
bewußt werden durften, einen allerdings sehr unkenntlichen
Ausdruck zu verschaffen. Wir können aber weiter gehen, die
Sonderbarkeit des Traumes noch mehr verringern und den Ein-
fluß auch der anderen Tageserlebnisse auf die Gestaltung des
manifesten Traumes nachweisen.
Wir könnten uns unbefriedigt durch die bisherige Auskunft
erklären, weshalb gerade die Szene des Eidechsenfanges zum
Kern des Traumes gemacht worden ist, und vermuten, daß
noch andere Elemente in den Traumgedanken für die Aus-
Fr end, D«r W»hn und di« Trftame. 5
66 DEB WAHN UND DIE TRÄUME
zeiclmung der „Eidechse" im manifesten Traum mit ihrem
Einfluß eingetreten sind. Es könnte wirklich leicht so sein.
Erinnern wir uns, daß Hanold einen Spalt in der Mauer
entdeckt hatte, an der Stelle, wo ihm die Gradiva zu ver-
schwinden schien, der „immerhin breit genug war, um eine
Oestalt von ungewöhnlicher Schlankheit" durchschlüpfen zu
lassen. Durch diese Wahrnehmung wurde er bei Tag zu einer
Abänderung in seinem Wahn veranlaßt, die Gradiva versinke
nicht im Boden, wenn sie seinen Blicken entschwinde, sondern
begebe sich auf diesem Wege in ihre Gruft zurück. In seinem
unbewußten Denken mochte er sich sagen, er habe jetzt die
natürliche Erklärung für das überraschende Verschwinden des
Mädchens gefunden. Muß aber nicht das sich durch enge
Spalten Zwängen imd das Verschwinden in solchen Spalten an
das Benehmen von Lacerten erinnern? Verhält sich die Gradiva
dabei nicht selbst wie ein flinkes Eidechslein? Wir meinen also,
diese Entdeckung des Spaltes in der Mauer habe mitbestimmend
auf die Auswahl des Elementes „Eidechse" für den manifesten
Trauminhalt gewirkt, die Eidechsensituation des Traumes ver~
trete ebensowohl diesen Eindruck des Tages wie die Begegnimg
mit dem Zoologen, Zoes Vater.
Und wenn wir nun, kühn geworden, versuchen wollten, auch
für das eine, noch nicht verwertete Erlebnis des Tages, die Ent-
deckung des dritten Albergo „del Sole", eine Vertretung im
Trauminhalt zu finden? Der Dichter hat diese Episode so
ausführlich behandelt und so vielerlei an sie geknüpft, daß
wir uns verwundem müßten, wenn sie allein keinen Beitrag
zur Traumbildung abgegeben hätte. Hanold tritt in dieses Wirts-
haus, welches ihm wegen seiner abgelegenen Lage und Entfernung
vom Bahnhofe unbekannt geblieben war, um sich eine Flasche
kohlensauren Wassers gegen seinen Blutandrang geben zu
lassen. Der Wirt benützt diese Gelegenheit, um seine Anti-
quitäten anzupreisen, und zeigt ihm eine Spange, die angeb-
lich jenem pompejanischen Mädchen angehört hatte, das in der
Nähe des Forums in inniger ümschlingung mit seinem Geliebten
aufgefunden wurde. Hanold, der diese oft wiederholte Erzäh-
lung bisher niemals geglaubt, wird jetzt durch eine ihm unbe-
kannte Macht genötigt, an die Wahrheit dieser rührenden Ge-
IN W. JENSENS „GRADIVA^* 67
schichte imd an die Echtheit des Fundstückes zu glauben, er-
wirbt die Fibula und verläßt mit seinem Erwerb den Gast-
hof. Im Fortgehen sieht er an einem der Fenster einen in
ein Wasserglas gestellten, mit weißen Blüten behängten As-
phodelosschaft herabnicken und empfindet diesen Anblick als
eine Beglaubigung der Echtheit seines neuen Besitztums. Die
wahrhafte Überzeugung durchdringt ihn jetzt, die grüne Spange
habe der Gradiva angehört, und sie sei das Mädchen gewesen,
das in der Umarmung ihres Geliebten gestorben sei. Die quä-
lende Eifersucht, die ihn dabei erfaßt, beschwichtigt er durch
den Vorsatz, sich am nächsten Tage bei der Gradiva selbst
durch das Vorzeigen der Spange Sicherheit wegen seines Arg-
wohnes zu holen. Dies ist doch ein sonderbares Stück neuer
Wahnbildung, und es sollte keine Spur im Traume der nächst-
folgenden Nacht darauf hinweisen!
Es wird uns wohl der Mühe wert sein, iins die Entstehimg
dieses Wahnzuwachses verständlich zu machen, das neue Stück
unbewußter Einsicht aufzusuchen, das sieh durch das neue
Stück Wahn ersetzt. Der Wahn entsteht unter dem Einfluß
des Wirtes vom Sonnenwirtshaus, gegen den sich Hanold so
merkwürdig leichtgläubig benimmt, als hätte er eine Suggestion
von ihm empfangen. Der Wirt zeigt ihm eine metallene Ge-
wandfibel als echt und als Besitztum jenes Mädchens, das in
den Armen seines Geliebten verschüttet aufgefunden wurde, und
Hanold, der kritisch genug sein könnte, um die Wahrheit d^r
Geschichte sowie die Echtheit der Spange zu bezweifeln, ist
sofort gläubig gefangen und erwirbt die mehr als zweifelhafte
Antiquität. Es ist ganz unverständlich, warum er sich so be-
nehmen sollte, und es deutet nichts darauf, daß die Person-
lichkeit des Wirtes selbst uns dieses Bätsei lösen könnte. Es
ist aber noch ein anderes Bätsei in dem Vorfall, und zwei
Bätsei lösen sich gern miteinander. Beim Verlassen des Al-
bergo erblickt er einen Asphodelosschaft im Glase an einem
Fenster und findet in ihm eine Beglaubigung für die Echt-
heit der Metallspange. Wie kann das nur zugehen? Dieser
letzte Zug ist zum Glück der Lösung leicht zugänglich. Die
weiße Blume ist wohl dieselbe, die er zu Mittag der Gradiva
geschenkt, und es ist ganz richtig, daß durch ihren Anblick
6*
68 DER WAHN UND DIE TRÄUME
an einem der Fenster dieses Gasthofes etwas bekräftigt wird.
Freilich nicht die Echtheit der Spange, aber etwas anderes,
was ihm schon bei der Entdeckung dieses bisher übersehenen
Albergo klar geworden. Er hatte bereits am Vortage sich so be-
nommen, als suchte er in den beiden Gasthöfen Pompejis, wo
die Person wohne, die ihm als Gradiva erscheine. Nun, da
er so unvermuteterweise auf einen dritten stößt, muß er sich
im Unbewußten sagen: Also hier wohnt sie; und dann beim
Weggehen: Eichtig, da ist ja die Asphodelosblume, die ich
ihr gegeben; das ist also ihr Fenster. Dies wäre also die
neue Einsicht, die sich durch den "Wahn ersetzt, die nicht be-
wußt werden kann, weil ihre Voraussetzung, die Gradiva sei
eine Lebende, von ihm einst gekannte Person, nicht bewußt
werden konnte.
"Wie soll nun aber die Ersetzung der neuen Einsicht durch
den Wahn vor sich gegangen sein? Ich meine so, daß das
Überzeugungsgefühl, welches der Einsicht anhaftete, sich be-
haupten konnte und erhalten blieb, während für die bewußt-
seinsunfähige Einsicht selbst ein anderer, aber durch Denk-
verbindung mit ihr verknüpfter Vorstellungsinhalt eintrat.
So geriet nun das Überzeugungsgefühl in Verbindung mit einem
ihm eigentlich fremden Inhalt, und dieser letztere gelangte als
Wahn zu einer ihm selbst nicht gebührenden Anerkennung.
Hanold überträgt seine Überzeugung, daß die Gradiva in die-
sem Hause wohne, auf andere Eindrücke, die er in diesem
Hause empfängt, wird auf solche Weise gläubig für <lie Ee-
den des Wirtes, die Echtheit der Metallspange und die Wahr-
heit der Anekdote von dem in Umarmung aufgefundenen Lie-
bespaar, aber nur auf dem Wege, daß er das in diesem Hause
Gehörte mit der Gradiva in Beziehung bringt. Die in ihm
bereitliegende Eifersucht bemächtigt sich dieses Materials, und
es entsteht, selbst im Widerspruch mit seinem ersten Traum,
der Wahn, daß die Gradiva jenes in den Armen ihres Lieb-
habers verstorbene Mädchen war, und daß ihr jene von ihm
erworbene Spange gehört hat.
Wir werden aufmerksam darauf, daß das Gespräch mit
der Gradiva und ihre leise Werbung „durch die Blume" be-
reits wichtige Veränderungen bei Hanold hervorgerufen ha-»
IN W. JENSENS „GRADIVA*' 69
ben. Züge von männlicher Begehrlichkeit, Komponenten der
Libido, sind bei ihm erwacht, die allerdings der Verhüllung
durch bewußte Vorwände noch nicht entbehren können. Aber
das Problem der „leiblichen Beschaffenheit'^ der Oradiva, das
ihn diesen ganzen Tag über verfolgt, kann doch seine Ab-
stammung von der erotischen Wißbegierde des Jünglings nach
dem Körper des Weibes nicht verleugnen, auch wenn es durch
die bewußte Betonung des eigentümlichen Schwebens der Gra-
diva zwischen Tod und Leben ins Wissenschaftliche gezogen
werden soll. Die Eifersucht ist ein weiteres Zeichen der er-
wachenden Aktivität Hanolds in der Liebe; er äußert diese
Eifersucht zu Eingang der Unterredung am nächsten Tage
und setzt es dann mit Hilfe eines neuen Vorwandes durch,
den Körper des Mädchens zu berühren und sie, wie in längst
vergangenen Zeiten, zu schlagen.
Nun aber ist es Zeit, uns zu fragen, ob denn der Weg
der Wahnbildung, den wir aus der Darstellung des Dichters
erschlossen haben, ein sonst bekannter oder ein überhaupt mög-
licher sei. Aus imserer ärztUchen Kenntnis können wir nur die
Antwort geben, es sei gewiß der richtige Weg, vielleicht der
einzige, auf dem überhaupt der Wahn zu der unerschütter-
lichen Anerkennung gelangt, die zu seinen klinischen Charak-
teren gehört. Wenn der Kranke so fest an seinen Wahn
glaubt, so geschieht dies nicht durch eine Verkehrung seines
Urteilsvermögens, imd rührt nicht von dem her, was am Wahne
irrig ist. Sondern in jedem Wahn steckt auch ein Kömchen
Wahrheit, es ist etwas an ihm, was wirklich den Glauben
verdient, und dieses ist die Quelle der also so weit berech-
tigten Überzeugung des Kranken. Aber dieses Wahre war
lange Zeit verdrängt; wenn es ihm endlich gelingt, diesmal
in entstellter Form zum Bewußtsein durchzudringen, so ist
das ihm anhaftende Überzeugungsgefühl wie zur Entschädigung
überstark, haftet nun am Entstelltmgsersatz des verdrängten
Wahren und schützt denselben gegen jede kritische Anfech-
tung. Die Überzeugung verschiebt sich gleichsam von dem
unbewußten Wahren auf das mit ihm verknüpfte, bewußte
Irrige, und bleibt gerade infolge dieser Verschiebung dort
fixiert. Der Fall von Wahnbildung, der sich aus Hanolds
70 DER WAHN UND DIE TRÄUME
erstem Traum ergab, ist nichts als ein ähnliches, wenn
auch nicht identisches Beispiel einer solchen Verschiebung. Ja,
die geschilderte Entstehungsweise der Überzeugung beim Wahne
ist nicht einmal grundsätzlich von der Art verschieden, wie
sich Überzeugung in normalen Fällen bildet, wo die Verdrän-
gung nicht im Spiele ist. Wir alle heften unsere Überzeugung
an Denkinhalte, in denen Wahres mit Falschem vereint ist,
und lassen sie vom ersteren aus sich über das letztere er-
strecken. Sie diffundiert gleichsam von dem Wahren her über
das assoziierte Falsche imd schützt dieses, wenn auch nicht
80 imabänderlich wie beim Wahn, gegen die verdiente Kritik.
Beziehimgen, Protektion gleichsam, können auch in der Nor-
malpsychologie den eigenen Wert ersetzen. —
Ich will nun zum Traum zurückkehren und einen kleinen,
aber nicht uninteressanten Zug hervorheben, der zwischen zwei
Anlässen des Traumes eine Verbindung herstellt. Die Gradiva
Hatte die weiße Asphodelosblüte in einen gewissen Gegen-
satz zur roten Rose gebracht; das Wiederfinden des Asphodels
am Fenster des Albergo del Sole wird zu einem wichtigen Be-
weisstück für die unbewußte Einsicht Hanolds, die sich im
neuen Wahn ausdrückt, und dem reiht sich an, daß die rote
Böse am Kleid des sympathischen jungen Mädchens Hanold
im Unbewußten zur richtigen Würdigung ihres Verhältnisses
zu ihrem Begleiter verhilft, so daß er sie im Traum als
„Kollegin" auftreten lassen kann.
Wo findet sich nun aber im manifesten Trauminhalt die
Spur uiid Vertretung jener Entdeckung Hanolds, welche wir
durch den neuen Wahn ersetzt fanden, der Entdeckung, daß
die Gradiva mit ihrem Vater in dem dritten versteckten Gast-
hof Pompejis, im Albergo del Sole wohne? Nun, es steht ganz
und nicht einmal sehr entstellt im Traume drin; ich scheue
mich nur darauf hinzuweisen, denn ich weiß, selbst bei den
Lesern, deren Geduld so weit bei mir ausgehalten hat, wird sich
nun ein starkes Sträuben gegen meine Deutungsversuchei re-
gen. Die Entdeckimg Hanolds ist im Trauminhalt, wieder-
hole ich, voll mitgeteilt, aber so geschickt versteckt, daß man
isie notwendig übersehen muß. Sie ist dort hinter einem Spiel
mit Worten, einer Zweideutigkeit geborgen. „Irgendwo in der
IN W. JENSENS „GEADIVA** 71
Sonne sitzt die Gradiva," das haben wir mit Becht auf die
Ortlichkeit bezogen, an welcher Hanold den Zoologen, ihren
Vater, traf. Aber soll es nicht auch heißen können: in der
„Sonne", d. i. im Albergo del Sole, im Gasthaus zur Sonne
wohnt die Gradiva? Und klingt das „Irgendwo", welches auf
die Begegnung mit dem Vater keinen Bezug hat, nicht gerade
darum so heuchlerisch unbestimmt, weil es die bestimmte Aus-
kunft über den Aufenthalt der Gradiva einleitet? Ich bin
nach meiner sonstigen Erfahrung in der Deutung realer Träume
eines solchen Verständnisses der Zweideutigkeit ganz sicher,
aber ich getraute mich wirklich nicht, dieses Stückchen Deu-
tungsarbeit meinen Lesern vorzulegen, wenn der Dichter mir
nicht hier seine mächtige Hilfe leihen würde. Am nächsten
Tage legt er dem Mädchen beim Anblick der Metallspange
das nämliche "Wortspiel in den Mund, welches wir für
die Deutung der Stelle im Trauminhalt annehmen. „Hast
du sie vielleicht in der Sonne gefunden, die macht hier
solche Kunststücke." Und da Hanold diese Eede nicht ver-
steht, erläutert sie, sie meine den Gasthof zur Sonne, die sie
hier „Sole" heißen, von woher auch ihr das angebliche Fund-
stück bekannt ist.
Und nun möchten wir den Versuch wagen, den „merk-
würdig unsinnigen" Traum Hanolds durch die hinter ihm
verborgenen, ihm möglichst unähnlichen, unbewußten Gedan-
ken zu ersetzen. Etwa so: „Sie wohnt ja in der Sonne mit
ihrem Vater, warum spielt sie solches Spiel mit mir? "Will
sie ihren Spott mit mir treiben? Oder sollte es möglich sein,
daß sie mich liebt und mich zum Manne nehmen will?" —
Auf diese letztere Möglichkeit erfolgt wohl noch im Schlaf
die abweisende Antwort: das sei ja die reinste Verrücktheit,
die sich scheinbar gegen den ganzen manifesten Traum richtet.
Kritische Leser haben nun das Becht, nach der Herkunft
jener bisher nicht begründeten Einschaltung zu fragen, die
sich auf das Verspottetwerden durch die Gradiva bezieht.
Darauf gibt die „Traumdeutung" die Antwort, wenn in den
Traumgedanken Spott, Hohn, erbitterter .Widerspruch vor-
kommt, so wird dies durch die unsinnige Gestaltung des mani-
festen Traumes, durch die Absurdität im Traume ausgedrückt.
72 DER WAHN UND DIB TRÄUME
Letztere bedeutet also kein Erlahmen der psychischen Tätigkeit,
sondern ist eines der Darstellnngsmittel, deren sich die Traum-
arbeit bedient. .Wie immer an besonders schwierigen Stellen
kommt uns auch hier der Dichter zu Hilfe. Der imsinnige
Traum hat noch ein kurzes Nachspiel, in dem ein Vogel einen
lachenden Buf ausstößt und die Lacerte im Schnabel davonträgt.
Einen solchen lachenden Euf hatte Hanold aber nach dem
Verschwinden der Gradiva gehört. Er kam wirklich von der
Zoe her, die den düsteren Ernst ihrer Unterweltsrolle mit die-
sem Lachen von sich abschüttelte. Die Gradiva hatte ihn wirk-
lich ausgelacht. Das Traumbild aber, wie der Vogel die Lacerte
davonträgt, mag an jenes andere in einem früheren Traum
erinnern, in dem der Apoll von Belvedere die kapitolinische
Venus davontrug.
Vielleicht besteht noch bei manchem Leser der Eindruck,
daß die Übersetzung der Situation des Eidechsenfanges durch
die Idee der Liebeswerbung nicht genügend gesichert sei. Da
mag denn der Hinweis zur Unterstützimg dienen, daß Zoe in
dem Gespräch mit der Kollegin das nämliche von sich be-
kennt, was Hanolds Gedanken von ihr vermuten, indem sie
mitteilt, sie sei sicher gewesen, sich in Pompeji etwas Inter-
essantes „auszugraben". Sie greift dabei in den archäologischen
Vorstellungskreis, wie er mit seinem Gleichnis vom Eidechsen-
fang in den zoologischen, als ob sie einander entgegenstreben
würden und jeder die Eigenart des anderen annehmen wollte.
So hätten wir die Deutung auch dieses zweiten Traumes
erledigt. Beide sind unserem Verständnis zugänglich geworden
unter der Voraussetzung, daß der Träumer in seinem unbe-
wußten Denken all das weiß, was er im bewußten vergessen
hat, all das dort richtig beurteilt, was er hier wahnhaft ver-
kennt. Dabei haben wir freilich manche Behauptung aufstellen
müssen, die dem Leser, weil fremd, auch befremdlich klang,
und wahrscheinlich oft den Verdacht erweckt, daß wir für den
Sinn des Dichters ausgeben, was nur imser eigener Sinn ist.
Wir sind alles zu tun bereit, um diesen Verdacht zu zer-
streuen, und wollen darum einen der heikelsten Funkte — ich
meine die Verwendimg zweideutiger Worte und Reden wie im
IN W. JENSENS „GRADIVA" 78
Beispiele: Irgendwo in der Sonne sitzt die Gradiva — gern
ausführlicher in Betrachtung ziehen.
Es muß jedem Leser der „Gradiva" auffallen, wie häufig
der Dichter seinen beiden Hauptpersonen Beden in den Mund
legt, die zweierlei Sinn ergeben. Bei Hanold sind diese Ke-
den eindeutig gemeint, und nur seine Partnerin, die Gradiva,
wird von deren anderem Sinn ergriffen. So, wenn er nach
ihrer ersten Antwort ausruft: Ich wußte es, so klänge deine
Stimme, imd die noch unaufgeklärte Zoe fragen muß, wie das
möglich sei, da er sie noch nicht sprechen gehört habe. In der
zweiten Unterredung wird das Mädchen für einen Augenblick
an seinem Wahne irre, da er .versichert, er habe sie sofort
erkannt. Sie muß diese Worte in dem Sinne verstehen, der
für sein Unbewußtes richtig ist als Anerkennung ihrer in
die Kindheit zurückreichenden Bekanntschaft, während er na-
türlich von dieser Tragweite seiner Bede nichts weiß und sie
auch nur durch Beziehung auf den ihn beherrschenden Wahn
erläutert. Die Beden des Mädchens hingegen, in deren Person
die hellste Greistesklarheit dem Wahn entgegengestellt wird,
sind mit Absicht zweideutig gehalten. Der eine Sinn derselben
schmiegt sich dem Wahne Hanolds an, um in sein bewußtes
Verständnis dringen zu können, der andere erhebt sich über
den Wahn und gibt uns in der Begel die Übersetzung des-
selben in die von ihm vertretene unbewußte Wahrheit. Es
ist ein Triumph des Witzes, den Wahn und die Wahrheit in
der nämlichen Ausdrucksform darstellen zu können.
Durchsetzt von solchen Zweideutigkeiten ist die Bede der
Zoe, in welcher sie der Freundin die Situation aufklärt und
sich gleichzeitig von ihrer störenden Gesellschaft befreit; sie
ist eigentlich aus dem Buche herausgesprochen, mehr für uns
Leser als für die glückliche Kollegin berechnet. In den Ge-
sprächen mit Hanold ist der Doppelsinn meist dadurch her-
gestellt, daß Zoe sich der Symbolik bedient, welche wir im
ersten Traume Hanolds befolgt fanden, der Gleichstellung
von Verdrängung und Verschüttung, Pompeji und Kindheit.
So kann sie mit ihren Beden einerseits in der Bolle verbleiben,
die ihr der Wahn Hanolds anweist, anderseits an die wirk-
74 DER WAHN UND DIE TRÄUME
liehen Verhältnisse rühren und im Unbewußten Hanolds das
Verständnis für dieselben wecken.
„Ich habe mich schon lange daran gewöhnt, tot zu sein."
(G. p. 90.) — »Für mich ist die Blume der Vergessenheit aus
deiner Hand die richtige." (G. p. 90.) In diesen Beden meldet
sich leise der Vorwurf, der dann in ihrer letzten Strafpredigt
deutlich genug hervorbricht, wo sie ihn mit dem Archäopteryx
vergleicht. „Daß jemand erst sterben muß, um lebendig zu
werden. Aber für die Archäologen ist das wohl notwendig"
(G. p. 141), sagt sie noch nachträglich nach der Lösung des
.Wahnes, wie um den Schlüssel zu ihren zweideutigen Beden
zu geben. Die schönste Anwendung ihrer Symbolik gelingt ihr
aber in der Frage : (G. p. 118) „Mir ist's, als hätten wir schon
vor zweitausend Jahren einmal so zusammen unser Brot ge-
gessen. Kannst du dich nicht darauf besinnen?", in welcher
Bede die Ersetzung der Kindheit durch die historische Vorzeit
und das Bemühen, die Erinnerung an die erstere zu erwecken,
ganz unverkennbar sind.
Woher nun diese auffällige Bevorzugung der zweideutigen
Beden in der „Gradiva"? Sie erscheint uns nicht als Zufällig-
keit, sondern als notwendige Abfolge aus den Voraussetzungen
der Erzählung. Sie ist nichts anderes als das Seitenstück zur
zweifachen Determinierung der Symptome, insofern die Beden
selbst Symptome sind und wie diese aus Kompromissen zwi-
schen Bewußtem und Unbewußtem hervorgehen. Nur daß man
den Beden diesen doppelten Ursprung leichter anmerkt als etwa
den Handlungen, und wenn es gelingt, was die Schmiegsamkeit
des Materials der Bede oftmals ermöglicht, in der nämlichen
Fügung von Worten jedem der beiden Bedeabsichten guten
Ausdruck zu verschaffen, dann liegt das vor, was wir eine
„Zweideutigkeit" heißen.
Während der psychotherapeutischen Behandlung eines
Wahnes oder einer analogen Stönmg entwickelt man häufig
solche zweideutige Beden beim Kranken, als neue Symptome
von flüchtigstem Bestand, und kann auch selbst in die Lage
kommen, sich ihrer zu bedienen, wobei man mit dem für das
Bewußtsein des Kranken bestinunten Sinn nicht selten das Ver-
ständnis für den im Unbewußten giltigen anregt. Ich weiß aus
IN W. JENSENS „GRADIVA" 75
Erfahrung, daß diese Bolle der Zweideutigkeit bei den Un-
eingeweihten den größten Anstoß zu erregen und die gröbsten
Mißverständnisse zu verursachen pflegt, aber der Dichter hatte
jedenfalls recht, auch diesen charakteristischen Zug der Vor-
gänge bei der Traum- und Wahnbildung in seiner Schöpfung
zur Darstellung zu bringen.
IV.
Mit dem Auftreten der Zoe als Arzt erwache bei uns,
* sagten wir bereits, ein neues Interesse. Wir würden gespannt
sein zu erfahren, ob eine solche Heilung, wie sie von ihr an
Hanold vollzogen wird, begreiflich oder überhaupt möglich
ist, ob der Dichter die Bedingungen für das Schwinden eines
Wahnes ebenso richtig erschaut hat wie die seiner Ent-
stehung.
Ohne Zweifel wird uns hier eine Anschauung entgegen-
treten, die dem vom Dichter geschilderten Falle solches prin-
zipielle Interesse abspricht und kein der Aufklärung bedürf-
tiges Problem anerkennt. Dem Hanold bleibe nichts anderes
übrig, als seinen Wahn wieder aufzulösen, nachdem das Objekt
desselben, die vermeintliche „Gradiva" selbst, ihn der Unrich-
tigkeit all seiner Aufstellungen überführe und ihm die natür-
lichsten Erklärungen für alles Kiätselhafte, z. B. woher sie
seinen Namen wisse, gebe. Damit wäre die Angelegenheit logisch
erledigt; da aber das Mädchen ihm in diesem Zusammenhange
ihre Liebe gestanden, lasse der Dichter, gewiß zur Befriedigung
seiner Leserinnen, die sonst nicht uninteressante Erzählung
mit dem gewöhnlichen glücklichen Schluß, der Heirat, enden.
Konsequenter und ebenso möglich wäre der andere Schluß
gewesen, daß der junge Grelehrte nach der Aufklärung seines
Irrtums mit höflichem Danke von der jungen Dame Abschied
nehme und die Ablehnung ihrer Liebe damit motiviere, daß
er zwar für antike Frauen aus Bronze oder Stein und deren
Urbilder, wenn sie dem Verkehr erreichbar wären, ein inten-
sives Interesse aufbringen könne, mit einem zeitgenössischen
Mädchen aus Fleisch und Bein aber nichts anzufangen wisse.
Das archäologische Phantasiestück sei eben vom Dichter recht
willkürlich mit einer Liebesgeschichte zusammengekittet worden.
76 DER WAHN UND DIE TRÄUME
Indem wir diese Auffassung als unmöglich abweisen, wer-
den wir erst aufmerksam gemacht, daß wir die an Hanold
eintretende Veränderung nicht nur in den Verzicht auf den
Wahn zu verlegen haben. Gleichzeitig, ja noch vor der Auf-
lösung des letzteren, ist das Erwachen des Liebesbedürfnisses
bei ihm unverkennbar, das dann wie selbstverständlich in die
Werbung um das Mädchen ausläuft, welches ihn von seinem
"Wahn befreit hat. Wir haben bereits hervorgehoben, unter
welchen Vorwänden und Einkleidungen die Neugierde nach
ihrer leiblichen Beschaffenheit, die Eifersucht und der brutale
männliche Bemächtigungstrieb sich bei ihm mitten im Wahne
äußern, seitdem die verdrängte Liebessehnsucht ihm den ersten
Traum eingegeben hat. Nehmen wir als weiteres Zeugnis hinzu,
daß am Abend nach der zweiten Unterredung mit der Gradiva
ihm zuerst ein lebendes weibliches Wesen sympathisch er-
scheint, obwohl er noch seinem früheren Abscheu vor Hoch-
zeitsreisenden die Konzession macht, die Sympathische nicht
als Neuvermählte zu erkennen. Am nächsten Vormittag aber
macht ihn ein Zufall zum Zeugen des Austausches von Zärt-
lichkeiten zwischen diesem Mädchen und seinem vermeintUchen
Bruder, und da zieht er sich scheu zurück, als hätte er eine
heilige Handlung gestört. Der Hohn auf „August und Grete"
ist vergessen, der Respekt vor dem Liebesleben bei ihm her-
gestellt.
So hat der Dichter die Lösung des Wahnes und das Her-
vorbrechen des Liebesbedürfnisses innigst miteinander ver-
knüpft, den Ausgang in eine Liebeswerbung als notwendig vor-
bereitet. Er kennt das Wesen des Wahnes eben besser als
seine Kritiker, er weiß, daß eine Komponente von verliebter
Sehnsucht mit einer Komponente des Sträubens zur Entstehung
des Wahnes zusammengetreten sind, und er läßt das Mädchen,
welches die Heilung unternimmt, die ihr genehme Komponente
im Wahne Hanolds herausfühlen. Nur diese Einsicht kann
sie bestimmen, sich seiner Behandlung zu widmen, nur
die Sicherheit, sich von ihm geliebt zu wissen, sie bewegen,
ihm ihre Liebe zu gestehen. Die Behandlung besteht darin,
ihm die verdrängten Erinnerungen, die er von innen her nicht
freimachen kann, von außen her wiederzugeben; sie würde
IN W. JENSENS „GRADIVA" 77
aber keine Wirkung äußern, wenn die Therapeutin dabei nicht
auf die Gefühle Eücksicht nehmen, und die Übersetzung
des Wahnes nicsht schließlich lauten würde : Sieh', das bedeutet
doch alles nur, daß du mich liebst.
Das Verfahren, welches der Dichter seine Zoe zur Heilung
des Wahnes bei ihrem Jugendfreunde einschlagen läßt, zeigt
eine weitgehende Ähnlichkeit, nein, eine volle Übereinstinunung
im Wesen, mit einer therapeutischen Methode, welche Dr. J.
Breuer imd der Verfasser im Jahre 1895 in die Medizin ein-
geführt haben, und deren Vervollkommnung sich der letztere
seitdem gewidmet hat. Diese Behandlungsweise, von Breuer
zuerst die „kathartische" genannt, vom Verfasser mit VorKebe
als „analytische" bezeichnet, besteht darin, daß man bei den
Kranken, die an analogen Störungen wie der Wahn Hanolds
leiden, das Unbewußte, unter dessen Verdrängung sie erkrankt
sind, gewissermaßen gewaltsam zum Bewußtsein bringt, ganz
so wie es die Gradiva mit den verdrängten Erinnerungen an
ihre Kinderbeziehungen tut. PreiKch, die Gradiva hat die Er-
füllung dieser Aufgabe leichter als der Arzt, sie befindet sich
dabei in einer nach mehreren Eichtungen ideal zu nennenden
Position. Der Arzt, der seinen Kranken nicht von vornherein
durchschaut und nicht als bewußte Erinnerung in sich trägt,
was in jenem unbewußt arbeitet, muß eine komplizierte Tech-
nik zu Hilfe nehmen, um diesen Nachteil auszugleichen. Er
muß es lernen, aus den bewußten Einfällen und Mitteiltmgen
des Kranken mit großer Sicherheit auf das Verdrängte in ihm
zu schließen, das Unbewußte zu erraten, wo es sich hinter
den bewußten Äußerungen und Handlungen des Kranken ver-
rät. Er bringt dann Ähnliches zu stände, wie es Norbert
Hanold am Ende der Erzählimg selbst versteht, indem er
sich den Namen „Gradiva" in „Bertgang" rückübersetzt. Die
Störung schwindet dann, während sie auf ihren Ursprung zu-
rückgeführt wird; die Analyse bringt auch gleichzeitig die
Heilung.
Die Ähnlichkeit zwischen dem Verfahren der Gradiva und
der analytischen Methode der Psychotherapie, beschränkt sich
aber nicht auf diese beiden Punkte, das Bewußtmachen des Ver-
drängten und das Zusammenfallen von Aufklärung und Hei-
78 DEB WAHN UND DIE TBÄUME
liing. Sie erstreckt sich auch auf das, was sich als das We-
sentliche der ganzen Veränderung herausstellt, auf die Er-
weckung der Grefühle. Jede dem Wahne Hanolds analoge
Störung, die wir in der Wissenschaft als Fsychoneurose zu
bezeichnen gewohnt sind, hat die Verdrängung eines Stückes
des Trieblebens, sagen wir getrost des Sexualtriebes, zur Vor-
aussetzung, und bei Jedem Versuch, die unbewußte und ver-
drängte Krankheitsursache ins Bewußtsein einzuführen, er-
wacht notwendig die betreffende Triebkomponente zu erneutem
Kampf mit den sie verdrängenden Mächten, um sich mit ihnen
oft unter heftigen Eeaktionserscheinungen zum endlichen Aus-
gang abzugleichen. In einem Liebesrezidiv vollzieht sich der
Prozeß der Genesung, wenn wir alle die mannigfaltigen Kom-
ponenten des Sexualtriebes als „Liebe" zusammenfassen, und
dies Bezidiv ist unerläßlich, denn die Sjnnptome, wegen deren
die Behandlung untemonunen wurde, sind nichts anderes als
Niederschläge früherer Verdrängungs- oder Wiederkehrkämpfe
imd können nur von einer neuen Hochflut der nämlichen Leiden-
schaften gelöst und weggeschwemmt werden. Jede psycho-
analytische Behandlung ist ein Versuch, verdrängte Liebe zu
befreien, die in einem Symptom einen kümmerlichen Kompro-
mißausweg gefunden hatte. Ja, die Übereinstimmung mit dem
vom Dichter geschilderten Heilungsvorgang in der „Gradiva"
erreicht ihre Höhe, wenn wir hinzufügen, daß auch in der ana-
lytischen Psychotherapie die wiedergeweckte Leidenschaft, sei
sie Liebe oder Haß, jedesmal die Person des Arztes zu ihrem
Objekte wählt.
Dann setzen freilich die Unterschiede ein, welche den Fall
der Gradiva zum Idealfall machen, den die ärztliche Technik
nicht erreichen kann. Die Gradiva kann die aus dem Unbe-
wußten zum Bewußtsein durchdringende Liebe erwidern, der
Arzt kann es nicht; die Gradiva ist selbst das Objekt der
früheren, verdrängten Liebe gewesen, ihre Person bietet der be-
freiten Liebesstrebung sofort ein begehrenswertes Ziel. Der
Arzt ist ein Fremder gewesen und muß trachten, nach der
Heilung wieder ein Fremder zu werden; er weiß den Geheilten
oft nicht zu raten, wie sie ihre wiedergewonnene Liebesfähig-
keit im Leben verwenden können. Mit welchen Auskunfts-
IN W. JENSENS „GRADIVA" 79
mitteln und Siirrogaten sich dann der Arzt behilft, um sich
dem Vorbild einer Liebesheiltmg, das uns der Dichter ge-
zeichnet, mit mehr oder weniger Erfolg zu nähern, das an-
zudeuten, würde uns viel zu weit weg von der uns vorliegen-
den Aufgabe führen. —
Nun aber die letzte Frage, deren Beantwortung wir be-
reits einigemal aus dem Wege gegangen sind. Unsere An-
schauungen über die Verdrängung, die Entstehung eines Wahnes
und verwandter Störungen, die Bildung und Auflösung von
Träumen, die Bolle des Liebeslebens und die Art der Heilung
bei solchen Störungen sind ja keineswegs Gemeingut der Wissen-
schaft, geschweige denn bequemer Besitz der Gebildeten zu
^nennen. Ist die Einsicht, welche den Dichter befähigt, sein
„Phantasiestück" so zu schaffen, daß wir es wie eine reale
Ejrankengeschichte zergliedern können, von der Art einer Kennt-
nis, so wären wir begierig, die Quellen dieser Kenntnis kennen
zu lernen. Einer aus dem Kreise, der, wie eingangs ausge-
führt, an den Träumen in der „Gradiva" und deren möglichen
Deutung Interesse nahm, wandte sich an den Dichter mit der
direkten Anfrage, ob ihm von den so ähnlichen Theorien in
der Wissenschaft etwas bekannt worden sei. Der Dichter ant-
wortete, wie vorauszusehen war, verneinend und sogar etwas
unwirsch. Seine Phantasie habe ihm die „Gradiva" eingegeben,
an der er seine Freude gehabt habe; wem sie nicht gefalle,
der möge sie eben stehen lassen. Er ahnte nicht, wie sehr sie
den Lesern gefallen hatte.
Es ist sehr leicht möglich, daß die Ablehnung des Dich-
ters nicht dabei Halt macht. Vielleicht stellt er überhaupt
die Kenntnis der Begeln in Abrede, deren Befolgung wir bei
ihm nachgewiesen haben, und verleugnet alle die Absichten,
die wir in seiner Schöpfung erkannt haben. Ich halte dies
nicht für unwahrscheinlich; dann aber sind nur zwei Fälle
möglich. Entweder wir haben ein rechtes Zerrbild der Inter-
pretation geliefert, indem wir in ein harmloses Kunstwerk Ten-
denzen verlegt haben, von denen dessen Schöpfer keine Ahnung
hatte, und haben damit wieder einmal bewiesen, wie leicht
es ist, das zu finden, was man sucht, und wovon man selbst
erfüllt ist, eine Möglichkeit, für die in der Literaturgeschichte
80 DER WAHN UND DIE TRÄUME
die seltsamsten Beispiele verzeichnet sind» Mag nun jeder Leser
selbst mit sich einig werden, ob er sich dieser Aufklärung
anzuschließen vermag; wir halten natürlich an der anderen,
noch erübrigenden Auffassung fest. Wir meinen, daß der
Dichter von solchen Regeln und Absichten nichts zu wissen
brauche, so daß er sie in gutem Glauben verleugnen könne,
und daß wir doch in seiner Dichtung nichts gefunden haben,
was nicht in ihr enthalten ist. "Wir schöpfen wahrscheinlich
auQ der gleichen Quelle, bearbeiten das nämliche Objekt, ein
jeder von uns mit einer anderen Methode, und die Überein-
stimmung im Ergebnis scheint dafür zu bürgen, daß beide
richtig gearbeitet haben. Unser Verfahren besteht in der be-
wußten Beobachtung der abnormen seelischen Vorgänge bei
Anderen, um deren Gesetze erraten und aussprechen zu
können. Der Dichter geht wohl anders vor; er richtet seine
Aufmerksamkeit auf das Unbewußte in seiner eigenen Seele,
lauscht den Entwicklungsmöglichkeiten desselben und gestattet
ihnen den künstlerischen Ausdruck, anstatt sie mit bewußter
Kritik zu unterdrücken. So erfährt er aus sich, was wir bei
Anderen erlernen, welchen Gesetzen die Betätigung dieses Un-
bewußten folgen muß, aber er braucht diese Gesetze nicht aus-
zusprechen, nicht einmal sie klar zu erkennen, sie sind infolge der
Duldung seiner Intelligenz in seinen Schöpfungen verkörpert ent-
halten. Wir entwickeln diese Gesetze durch Analyse aus sei-
nen Dichtungen, wie wir sie aus den Fällen realer Erkrankung
herausfinden, aber der Schluß scheint unabweisbar, entweder
haben beide, der Dichter wie der Arzt, das Unbewußte in glei-
cher Weise mißverstanden, oder wir haben es beide richtig
verstanden. Dieser Schluß ist uns sehr wertvoll; um seinet-
wegen war es uns der Mühe wert, die Darstellimg der Wahn-
bildung und Wahnheilung sowie die Träume in Jensens
„Gradiva" mit den Methoden der ärztlichen Psychoanalyse zu
untersuchen. —
Wir wären am Ende angelangt. Ein aufmerksamer Leser
könnte ims noch mahnen, wir hätten eingangs hingeworfen,
Träume seien als erfüllt dargestellte Wünsche, und wären dann
den Beweis dafür schuldig geblieben. Nun, wir erwidern, un-
sere Ausführungen könnten wohl zeigen, wie ungerechtfertigt.
IN W. JENSENS „GRADIVA- 81
es wäre, die Aufklärungen, die wir über den Traum zu geben
biaben, mit der einen Formel, der Traum sei eine Wunscherfül-
lung, decken zu wollen. Aber die Behauptung besteht und ist
auch für die Träume in der Oradiva leicht zu erweisen. Die
latenten Traumgedanken — wir wissen jetzt, was darunter ge-
meint ist — können von der mannigfaltigsten Art sein; in der
Gradiva sind es „Tagesreste", Oedanken, die ungehört und un-
erledigt vom seelischen Treiben des "Wachens übrig gelassen sind.
Damit aber aus ihnen ein Traum entstehe, wird die Mitwirkung
eines — meist unbewußten — Wunsches erfordert; dieser stellt
die Triebkraft für die Traumbildung her, die Tagesreste ge-
ben das Material dazu. Im ersten Traume Norbert Hanolds
konkurrieren zwei Wünsche miteinander, um den Traum zu
schaffen, der eine selbst ein bewußtseinsfähiger, der andere
freilich dem Unbewußten angehörig imd aus der Verdrängung
wirksam. Der erste wäre der bei jedem Archäologen begreif-
liche Wimsch, Augenzeuge jener Katastrophe des Jahres 79
gewesen zu sein. Welches Opfer wäre einem Altertumsforscher
wohl zu groß, wenn dieser Wunsch noch anders als auf dem
Wege des Traumes zu verwirklichen wäre! Der andere Wunsch
imd Traumbildner ist erotischer Natur; dabei zu sein, wenn
die Geliebte sich zum Schlafen hinlegt, könnte man ihn in
grober oder auch unvollkommener Fassung aussprechen. Er ist
es, dessen Ablehnung den Traum zum Angsttraum werden läßt.
Minder augenfällig sind vielleicht die treibenden Wünsche des
zweiten Traumes, aber wenn wir uns an dessen Übersetzung er-
innern, werden wir nicht zögern, sie gleichfalls als erotische
anzusprechen. Der Wunsch, von der Geliebten gefangen genom-
men zu werden, sich ihr zu fügen und zu unterwerfen, wie er
hinter der Situation des Eidechsenfanges konstruiert werden
darf, hat eigentlich passiven, masochistischen Charakter. Am
nächsten Tage schlägt der Träumer die Geliebte, wie unter
der Herrschaft der gegensätzlichen erotischen Strömung. Aber
wir müssen hier innehalten, sonst vergessen wir vielleicht wirk-
lich, daß" Hanold und die Gradiva nur Geschöpfe des Dich-
ters ßind.
Anzeige.
Die „Schriften zur angewandten Seelenkunde^ deren erstes
Heft hiemit vor die öffentliclikeit tritt, wenden sich an jenen
weiteren Kreis von Gebildeten, die, ohne gerade Philosophen oder
Mediziner zu sein, doch die Wissenschaft vom Seelischen des
Menschen nach ihrer Bedeutung für das Verständnis und die
Vertiefung unseres Lebens zu würdigen wissen. Die Abhand-
lungen werden in zwangloser Folge erscheinen und jedesmal eine
einzige Arbeit bringen, welche die Anwendung psychologischer
Erkenntnisse auf Themata dier Kunst und Literatur, Kultur-
und Religionsgeschichte und analoger Gebiete unternimmt. Diese
Arbeiten werden bald den Charakter einer exakten Unter-
suchung, bald den einer spekulativen Bemühung an sich tra-
gen, das eine Mal ein größeres Problem zu umfassen, das andere
Mal ein beschränkteres zu durchdringen versuchen; in allen
Fällen aber werden sie von der Natur originajer Leistungen sein
und es vermeiden, bloßen Referaten oder Kompilationen zu
gleichen.
^Der Herausgeber fühlt sich verpflichtet, für die Origina-
lität und die allgemeine .Würdigkeit der in dieser Sammlung
erscheinenden Aufsätze einzustehen. Im übrigen will er weder
die Unabhängigkeit seiner Beiträger antasten, noch für die
Äußerungen derselben verantwortlich gemacht werden. Daß die
ersten Nummern der Sammlung besondere Rücksicht auf die
von ihm selbst in der Wissenschaft vertretenen Lehren neh-
men, soll für die Auffassung des Unternehmens nicht bestim-
mend werden. Die Sammlung steht vielmehr den Vertretern
abweichender Meinungen offen und hofft, der Mannigfaltigkeit
von Gesichtspunkten und Prinzipien in der heutigen Wissen-
schaft Ausdruck geben zu können.
Der Verlag.
Der Heransgeber.
?em^roii i'raRz Deuticke in Leipzig uod Wien.
Der Ablauf des I^ebenS* Grundlegüc^ zur exakten Biologie von
Wilhelm FIiess> — 19Q6. Preis K 2L6Q = M, 18,—,
Zur Aufiaa«3ung der Aphaaien* Eine kritischo Studie von Di\ Sigm,
^eud. — ISn. Preis K 3,G0 = M, B.— .
Zur Kenntnis der cerebralen Diplegien des Kiiidesalters (im
Anachkß an die Littlescho Kxankheit). Von Dr. Sigiu. FFeud, Privat-
doz^nt an der Univemtät in Wien. — 1893, Preis K 7,2Q = IL 6-—,
Studien über Hysterie. Von Dr. Joaef Brener nnd Dr, Sigm. Freud
in Wien. — 1895, Preia K 8.40 = M. 7-—:
Die Traumdeutung, Von Dr. Sigiu. Freud. — 1900. Preis K 10.80
= M. 9.— . __^
Der Witz und seine Beziehung zum Ünbei^iißten* Von Prüf*
Dr. Sigui. Freud, — 19Q5, Preis K 6.— — M. 5.— > ^
Bvei Abhandlungen zur Sexualtheoric» Von Prof. Dr, Sigm. Freud.
— 1905. Preis K 2.40 = M. 2.-.
Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre aus den Jahren
1893—1906. Von Prof. Dr. Signu Freud, — 1906. Preis K 6.—
= M, 5.—.
Die Suggestion und ihre Heilwirkung. Von Dr. IT. B^mlieiro,
Professor an der Facnlt^ de m^decine in I*fanoy. Antorisierte deutaclie
Ausgabe von Dr* Bigm. Freud, Dozent fllr Kervenkrauklieiten an der
Universität in Wien. Zweite, umgearbeitete Auflage, besorgt von
_ Dr. Max Kaltane, — 1896. Preis K 6.— = M. 5.— .
Nene Studien über Hypuotismus, Suggestion und Psychotherapie.
Von Dr. H. Bernlieim^ Professor an der Facult^ de m<^dectne in
Nancy* tJbersetzt von Dr. Sigiti. Freud ^ Privatdozent an der Uni-
veraität in Wien. — 1802. Preis K 9.6ü = M. 8.—,
Neue Voriesuugeu über die Krankheiten des Nervensystems,
insbesondere über Hysterra Von J, M. Cliarcot Autonsierte
deutscbe Ausgabe von Dr. Bigin. Freud* Dozent f[lr Nervenkrankliei-
ten an der k. k, UmveraJtat in Wien. — 1886. Preis K 10.80 = M. 9.~
Poliklinische Vorträge ^on Professor J. ^L Cliaroot, I. Band, Schul-
jabr 1887 — 1888. Übersetzt von Dr. SigiUp Freud, Privatdozent an
der UniverBität in Wien. 11. Band, 8chuljalir 1888—1889. Über-
setzt von Dr. Mas Kahane in Wien. *- 1892—1893, Preis pro
Band K 14.40 = M. 12.-.
Die Perioden den m«*usch!ichen Organismus in ihrer psycholo'
gisclien und biologischen Bedeutung. Vun Dr, Hertuann 8wo-
boda. — 1904. Preis K 4.80 = M. 4.—.
Stadien zur Grundlegung der Psychologin I. Psychologie und
Leben. — II. Assoziationen und Perioden. - — Leib und Seele. — Von
Dn Hennann Bwoboda. — 1905. Preis K 3.-- = M. 2.50.
Harmonia animaa Von Dr, U ermann ^wobodn^ Privatdozent ftlr Psy-
chologie au der Univcrfiitltt in Wie«, — 11107, Preis K 1 .80 :^ M. 1.50.
K* und K. Hef^ucbclrtickcrc] Kirl Procbülu In Tescbeiu
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