Skip to main content

Full text of "Der Widerspruch in der Musik"

See other formats


Google 



This is a digital copy of a book that was preserved for generations on Hbrary shelves before it was carefully scanned by Google as part of a project 

to make the world's books discoverable online. 

It has survived long enough for the copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 

to copyright or whose legal copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 

are our gateways to the past, representing a wealth of history, culture and knowledge that's often difficult to discover. 

Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this file - a reminder of this book's long journey from the 

publisher to a library and finally to you. 

Usage guidelines 

Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we liave taken steps to 
prevent abuse by commercial parties, including placing technical restrictions on automated querying. 
We also ask that you: 

+ Make non-commercial use of the files We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 

+ Refrain fivm automated querying Do not send automated queries of any sort to Google's system: If you are conducting research on machine 
translation, optical character recognition or other areas where access to a large amount of text is helpful, please contact us. We encourage the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 

+ Maintain attributionTht GoogXt "watermark" you see on each file is essential for informing people about this project and helping them find 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 

+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are responsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other 
countries. Whether a book is still in copyright varies from country to country, and we can't offer guidance on whether any specific use of 
any specific book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search means it can be used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe. 

About Google Book Search 

Google's mission is to organize the world's information and to make it universally accessible and useful. Google Book Search helps readers 
discover the world's books while helping authors and publishers reach new audiences. You can search through the full text of this book on the web 

at |http : //books . google . com/| 



Google 



IJber dieses Buch 

Dies ist cin digitalcs Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den R^alen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im 

Rahmen eines Projekts, mil dem die BLicher dieser Welt online verfugbar gemacht weiden sollen, sorgfaltig gescannt wurde. 

Das Buch hat das Uiheberrecht uberdauert und kann nun offentlich zuganglich gemacht werden. Ein offentlich zugangliches Buch ist ein Buch, 

das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch offentlich zuganglich ist, kann 

von Land zu Land unterschiedlich sein. Offentlich zugangliche Bucher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kultuielles 

und wissenschaftliches Vermogen dar, das haufig nur schwierig zu entdecken ist. 

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin- 

nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 

Nu tzungsrichtlinien 

Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit offentlich zugangliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zuganglich zu machen. Offentlich zugangliche Bucher gehoren der Offentlichkeit, und wir sind nur ihre HLiter. Nichtsdestotrotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfugung stellen zu konnen, haben wir Schritte untemommen, urn den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehoren technische Einschrankungen fiir automatisierte Abfragen. 
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 

+ Nuizung derDateien zu nkhtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche Tiir Endanwender konzipiert und mochten, dass Sie diese 
Dateien nur fur personliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 

+ Keine automatisierten Abfragen Senden Siekeine automatisierten Abfragen iigendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
Liber maschinelle Ubersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchfuhren, in denen der Zugang zu Text in groBen Mengen 
niitzlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fordem die Nutzung des offentlich zuganglichen Materials fur diese Zwecke und konnen Ihnen 
unter Umstanden helfen. 

+ Beihehallung von Google-MarkenelemenlenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei fmden, ist wichtig zur Information iibcr 
dieses Projekt und hilft den Anwendem weiteres Material Liber Google Buchsuche zu fmden. Bitte entfemen Sie das Wasserzeichen nicht. 

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalitdt Unabhangig von Ihrem Ver wend ungsz week mussen Sie sich Direr Verantwortung bewusst sein, 
sicherzu stellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafurhalten fur Nutzer in den USA 
offentlich zuganglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Landem offentlich zuganglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir konnen keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulassig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und iiberall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 

tJber Google Buchsuche 

Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten In form at ion en zu organisieren und allgemein nutzbar und zuganglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesem dabei, die BLicher dieser We lt zu entdecken, und unterstLitzt Au toren und Verleger dabci, neue Zielgruppcn zu erreichen. 
Den gesamten Buchtext konnen Sie im Internet unter |http: //books . google .coriil durchsuchen. 



I 



■!• .:^^rf^»^:T,T ." ' 



^ 



ML 



v 



i 



f 




DEK ^ 

WIDERSPRUCH IN DER^MUSIK. 

BATJSTEINE ■■ 

ZU EINER 

ASTHETIK t)ER TONKUNST 

ADF REAIDIAIEKTISCHER GRDNDIAGE. 

VON 

RUDOLF LOUIS. 



Seeta, Phi 

»twM BCUscbthin iDcsamenBuriililsa 
aiDd. und diB die SchSnluilt dv TkwSk, dig 
iimHik»li»htt CUnagthnnDff reolit AigeDtlich 
duiii liegt, daC man dai Lebcn nnd di« 
eigene S«ela dsc visBeiuoliafUichan Anal^at, 
dw TeiBUndes-TfTunei snd Tsnlandaa- 
Onamatik entugan fUJI.' 

Bognmil Qeltt 



LEIPZIG 

DHUCK UND VEHLAG VON BREITKOPP & HAItTEL 



AUe JRechte, tnshesondtr^ das der Pberae^ng, vorhehaUen. 



Seinem lieben Vetter und Lehrer 



Klose 



widmet dieses Bnch 



als kleine Abschlagszahlnng nntilgbarer Dankesschnld 



der Verfasser. 



.t... 



V r w r t. 



»— Hat das Kunstwerk die Aufgabe, die Physiognomie 
der. metaphysischen Essentia uns ))Schauen« zu maehen^ — und 
das thut in ihrer Art vor allem gerade auch die Mnsik, welche 
sonst bei den landlaufigen Kunstdefinitionen drauBenvor stehen 
bleibt — so ist es flir die Knnst nicht etwa bloB ein, ihr viel- 
leicht halb gnadenmSUSig und widerwillig eingeraumtes, Eeoht, 
sondern ihre erste und unerlUBlichste Pflicht, gerade die Ver- 
sinnliehung der dieser Essentia wesentlieh innewohnenden 
Widerspruchsnatur in hinlanglich anschaulicher Weise heraus- 
zugestalten. Je grtindlicher die neueste Tonlehre die Einsicht 
yerdeutlicht , dafi alle Harmonie sich auf dissonirenden Ele- 
menten aufbaut, desto kUhner hat die neueste Tonkunst von 
den ihr damit ertheilten Befugnissen Gebrauch gemacht, und 
wenn wir von den innersten Tendenzen der sogenisinnten Zu- 
kunflismusik — und gerade zumeist aus den theoretischen Er- 
lauterungen, welche ihr eigener Urheber dazu gegeben hat — 
eine auch nur annShemd richtige Ahnung gewonnen haben, 
so bietet auch sie eine frappante Bestatigung fiir den seit 
linger als einem Vierteljahrhundert von uns vertretenen Satz: 
das eigentliche Fortschrittsmoment in der Kunstgeschichte ist 
das realdialektische Agens, welches auf Usthetischem Gebiet 
seine voUste Verwirklichung findet in dem, was in zugleich 
weitestem und hochstem Sinne das Humoristische an alien 
Ktinsten genannt werden darf.« 

Diese Worte, in welchen der, leider ( — oder gottlob? — 
wenn ja doch mit jeder Verbreitung einer Idee auch ihre Ver- 
flachung und Verdrehung nothwendig verbunden ist! — ) viel 
zu wenig bekannte, unzweifelhaft bedeutendste Metaphysiker 



VI Vofwort. 

nach'Sehopenhaaery Julius Bahuseu, seine Stelhm^ zur Musik' 
isthetik allgemein eharakterisirt^ writer ausniffihren und uiher 
zu begrttuden, ist der eigentliehe Zweek der rorfiegenden Arbeit, 
dereu Verfasser keinen Yorwurf darin sihe, wenn man be- 
merken zu mUssen glaubte^ daB er mehr als philosopbi- 
render Musiker, denn als musieirender Philosopb (a la 
Herbart) bei sdnem Denken zn Werke gegangen sei. 1st ja 
doch nachgerade genug von Facb-Philosophen (musikalischen 
wie unmusikalischen) fiber unsere Eunst gesagt und gesehrieben 
worden, so daB es nicht zu verwundem ist^ wenn auch die 
j(dtera pars'- einmal zu Wort kommen will« 

AUerdings sind scbriftstellemde Mufflker, und genuie aueh 
auf ^thetisehem Gebiet, von dem illustren Beispiele B. Wagner^s 
bis zu den in jtingster Zeit ver5ffentIiciLten, eben nicht sehr enist 
zu nehmenden, Expectorationen eines berfihmten Kanisten, nicht 
gerade eine seltene Erscheinung : trotzdem hat es — abgesehen 
vielleicht von C. Fuchs — noch Keiner versucht, die Ton- 
kunst ihrem ganzen Bereiche und ihrer gesammten Wirkungs- 
sphere noch philosophisch zu erfassen. Theils stand einem 
solchen abstrakt-wissenschaftlichen Untemehmen die geniale 
IndiyidualitUt, welche von vomherein zu rein theoretischen 
Untersnchungen untauglich macht — wie bei Wagner — hin- 
demd im Wege, theils fehlte es wohl auch manchmal an der 
n&thigen fachphilosophischen Schulang und Durchbildnng. 

Indessen erfordert es die Gerechtigkeit, daB ich die Namen 
deijenigen Musikscbriftseller erwUhne, denen ich am meisten 
verdanke: es sind dies nach Wagner vor allem C. Fuchs, Fr. 
V. Hausegger und A. Seidl. Namentlich Letzterer (Vom Musi- 
kalisch-Erhabenen) hat sich meinem Standpunkte schon so weit 
genSrhert, daB es nur eines ktlhnen Sprunges bedurfte, um auf 
dem sicheren Boden der Bealdialektik festen FuB zu fassen. 

Eine ideale Asthetik theilt ja mit allem »ldealen(( das 
Loos ewiger Unerreiehbarkeit : denn ein so tiefes VerstEndnis 
des innersten Wesens der Kunst, nicht bloB der technischen 
AuBenseite, wie das selbstschaffende Genie, besitzt nimmer- 
mehr ein Philosoph, und so schOn abstrahiren, systematisiren 
und in paragraphos rubriciren, wie ein schulgerecher Philosopb, 
vennag nimmermehr ein Ellnstler. 



Vorwort. VII 

Ob ich nuB die zum Astbetiker unleugbar nQtbige Am- 
pbibiennatur , welcbe sicb eben so »wobliga ftiblt auf dem 
gebeimnisvoUen Meeresgrunde der kttnstleriscben Intuition, wie 
auf dem trockenen Erdboden pbilosopbiscber Abstraktion, in 
heherem Grade besitze als meine Vorganger auf musikastheti- 
schem Gebiete, das kann nur der — MiBerfolg meines Blich- 
leins lebren. SoUte es recht viel Widerspruch und wenig oder 
gar keine Anerkennung finden, so dtirfte ich hoflfen, mich auf 
richtigem Wege zu befinden. 

Wien, am Geburtstage Luther's und Schiller's 1892. 



R* L* 



I n h a 1 1. 



Seite 

I. Die Asthetik als Wissenschaft im Allgemeinen und die Musik- 

asthetik im Besonderen. Zweck, Ziel, Methode . 1 

11. Die Enstehung der Musik. Die Eunste und die Eunst .... 12 

Das Mnsikalisch-Astlietiselie in seineii drei Gniiidformen. 

I. Das Sohone in der Musik 37 

n. Das Erhabene in der Musik 66 

III. Das Humoristische in der Musik 92 



I. 

Die Isthetik als WisBenschaft im Allgemeinen und die 
Musikasthetik im Besonderen. Zweck, Ziel, Methode. 

Die Asthetik ist oder soil wenigstens Wissenschaft 
sein. Aus diesem selbstevidenten Satze lassen sich zwei Fol- 
gerungen. ziehen, welche meines Erachtens in der bisherigen 
Asthetik und Kunstphilosophie noch nicht hinreichend gewiir- 
digt wurden. 

Jede Wissenschaft namlich hat sich nach ihrem Gegen- 
stand zu riehten, ihn zu erklaren, zu beschreiben, womogKch 
zu begreifen. Umgekehrt verlangen, daB sich ein Objekt nach 
irgend einer iiber dasselbe aufgestellten wissenschaftlichen 
Theorie richte, heiBt die Welt auf den Kopf stellen. Was 
wiirde man von einem Chemiker halten, der alien Ernstes die 
Behauptung aufstellte, daB sich zwar in der That Wasserstoff 
und Sauerstoff nach der Formel H^O zu Wasser verbanden, 
daB dies aber eigentlich nicht in der Ordnung sei, — oder 
von einem Astronomen, der dariiber wehklagte, daB die Erde 
ganz ungehorigerweise um die Sonne zu tanzen gezwungen 
sei, und nicht vielmehr das umgekehrte Verhaltnis statthabe? — 

» Reif fiir Bedlam I « wiirde alle Welt antworten. 

Aber gleicht nicht diesen Herren eine groBe Anzahl unserer 
Asthetiker aufs Haar ? — Statt uns zu belehren, was die Kunst 
ist, ^rfahren wir von ihnen lediglich, was sie sein solle — 
namlich wie die Herren dies verstehen — ; statt Theorien 

Louis, Widerspruch in der Mtuik. 1 



2 Asthetik als Wissenschaft. 

erhalten wir Predigten; statt alle die verschiedenen und ent- 
gegengegetzten Kunstrichtungen als nothwendig — wenn auch 
mit einseitiger Hervorhebung einer bestimmten Seite — aus 
dem Principe der Kunst hervorgegangen zu begreifen, ver- 
suchen sie die Brechtfeitigung irgend einer Kunstrichtung, der 
sie gerade, aus welchen Biicksichten immer, anhangen, unter 
Verdammung alles Ubrigen, was nicht ganz in ihren Kram paBt. 
mTout comprendrea.: — das mufi auch die Devise der Asthetik 
sein, wenn man auch damit noch nicht die andere Halfte des 
Satzes: ^ic^est tout pardonnera zu acceptiren braucht. — So viel 
Subjektivitat woUen wir uns allerdings wahren, daB wir dem uns 
gut Diinkenden den Vorzug geben vor dem Schlechten. Wir 
wollen nicht Alles billigen; aber wir woUen Alles zu erkla- 
ren wenigstens den Versuch machen. Wir wollen mit dem wohl- 
feilen Ausdruck »Verirrunga etwas vorsichtiger, wie gewonlich, 
umgehen: er ist nur relativ; absolute Verirrungen giebt es 
nicht, auch in der Kunst nicht. Weit entfemt, den beriihm- 
ten, oder besser beriichtigten, HegePschen Satz: » Alles, was 
ist, ist vemiinftigff zu unterschreiben, miissen wir doch so viel 
zugeben, daB Alles, was ist, in gleicher Weise existirt. Wir 
konnen einem Dinge vielleicht die Existenzberechtigung 
abstreiten, — indem wir eben ein subjektives Moment in die 
Beurtheilung hineintragen — nicht aber die Existenz selbst. 
Existirt aber etwas, so muB es auch seine Ursachen haben; 
und diese anfzudecken ist Sache der Wissenschaft. Wie der 
Mediciner mit gleicher Sorgfalt auf alle Theile und Organe 
des menschlichen Korpers sein Augenmerk richtet, nicht zum 
mindesten, wenn sie anormale Bildungen aufweisen, so miissen 
dem Asthetiker von vomherein alle Kunstrichtungen, wenn 
nicht gleich lieb, so doch gleich beachtenswerth erscheinen; 
er muB mit einem Worte vorurtheilsfrei sein. Wenn daher 
z. B. Hanslick behauptete, daB Wagner'sche Musik iiberhaupt 
keine Musik sei, so beweist dieser Auspruch nur, daB Hans- 
lick'sche Asthetik eben keine Asthetik ist. Wie der tenden- 
ziose Historiker, der Publicist, sich vom wahren Geschichts- 
schreiber, der ^sine ira jet studio a an sein Werk geht, unter- 
scheidet, so unterscheidet sich »Asthetik als Wissenschafta von 
jiidischer Feuilleton -Asthetik. 



Der unmittelbare Zweck der Asthetik ein rein theoretischer. 3 

Aber noch ein Anderes folgt aus dem selbstevidenten Satze, 
daB Asthetik Wissenschaft sein soUe. 1st dies n'amlicli der 
Fall, so kann der unmittelbare Zweck der Asthetik kein 
anderer als ein rein theoretischer sein, nicht aber ein irgend- 
wie praktischer. Erkenntnis ihres Gegenstandes und Dar- 
stellung dieser Erkenntnis, diese Leistung hat die Asthetik mit 
alien anderen Wissenschaften gemein. wPraktische Wissen- 
scha{ten((, d. h. solche, welche im Gegensatz zu den theoreti- 
schen nicht eine Erkenntnis anstreben, sondern auf ein 
Konnen, eine Fertigkeit ausgehen, giebt es nicht. Der 
Kiinstler hat in technischer Beziehung Kunstlehren, welche 
rein empirisch, ohne allgemeine und nothwendig bindende 
Giltigkeit, gar nicht den Charakter einer Wissenschaft, am 
wenigsten den einer philosophischen, beanspruchen konnen. 
Harmonielehre ist z. B. keine Wissenschaft; werden ihre 
Gegenstande wissenschaftlich behandelt, so entsteht die 
Harmonik, welche, wie jede andere Wissenschaft, nichts an- 
strebt als rein theoretische Erkenntnis der harmonischen Be- 
ziehungen und der in denselben sich moglicherweise zeigenden 
Gesetze, wahrend die Harmonielehre gar keine Gesetze, son- 
dern nur Kegeln kennt, ihre Principien sind, Kantisch ge- 
sprochen, nicht konstitutiv, sondern nur regulativ. Die 
Harmonik nun ist f iir den Kiinstler als solchen werthlos ; und 
wie die Harmonik zur Harmonielehre, so verhalt sich die philo- 
sophische Asthetik zu dem, was man oft mit ihr verwechselte, 
der Kunsterziehung, der Geschmack&bildung, was gar 
nicht Sache einer Wissenschaft sein kann. 

AUe Anspriiche darauf, Anweisungen zur Hervorbringung 
von Kunstwerken z. B. oder zum richtigen GenuB derselben 
zu geben, hat die Asthetik daher aufzugeben: — sie soil und 
braucht dies nicht zu leisten, sie geht nicht darauf aus. Eine 
andere Frage ist, ob sie es iiberhaupt konne, d. h. ob die 
Asthetik etwa nebenbei und ohne es zu beabsichtigen derartigen 
praktischen Zwecken diene, wie ja auch andere Wissenschaften, 
als Chemie, Physik, Geographie, von mittelbarem praktischen 
Nutzen sind. — Man wird diese Frage nicht so ohne Weiteres 
bejahen oder vemeinen konnen. 

Schopenhauer ist geneigt, den ganzen praktischen Werth 

1* 



4 Mittelbarer praktischer Nutzen der Asthetik. 

der Asthetik zu leugnen, und sicher hat er darin recht, daB 
die dickbandigste Asthetik so wenig ein Genie heryorzubringen 
vermag, als die voluminoseste Ethik einen Heiligen. Anders 
z. B. Max Schasler (Asthetik I, S. 237 f.), welcher die Kunst- 
wissenschaft als unentbehrlich fur den modemen Kiinstler 
hinstellt, wenn er stilvoU schaffen woUe, und zwar fur den 
modernen Kiinstler, um dem Einwande zu begegnen, daB 
es ja Zeiten hoch entwickelter Kunst ohne alle Asthetik ge- 
geben habe. Die Losung oder doch Lockerung des organischen 
Zusammenhanges zwischen Kunst und Leben in unserer Zeit 
hat namlich nach Schasler's Meinung die Kenntnis der Asthe- 
tik ( — welcher? wohl seiner! — ) fur den Kiinstler nothwendig 
gemacht. Dies wird hinfallig bei der Beobachtung, daB es 
auch heutzutage noch ganzlich naiv schaffende Kiinstler giebt, 
die von ihrer Kunst nichts in abstracto wissen als die Technik: 
ich erinnere an Anton Bruckner! 

Andererseits zeigen solche Kiinstler , welche in der That 
das unabweisbare Bediirfnis in sich fiihlten, iiber ihre Kunst 
nachzudenken , wie z. B. Richard Wagner, das interessante 
Phanomen, daB sie mit ihrer Kunst ihrer Asthetik immer um 
ein Betrachtliches voraus waren, also wohl der Kiinstler den 
Asthetiker, aber nicht umgekehrt der Asthetiker den Kiinstler 
beeinfluBte. 

Sicher sind es nicht die Momente der kiinstlerischen Pro- 
duktion selbst, wo asthetische Probleme sich dem Kiinstler 
aufdrangen, oder asthetische Erkenntnisse ihm zu Nutze kom- 
men: die Produktion geht, wenn auch nicht »unbewuBt(c, so 
doch in ihrem innersten Kern in Folge einer ganz und gar 
»unbegriflnichen(( Erkennthis vor sich, und es wird mir jeder 
Kiinstler zugeben, daB der Fall nicht allzu selten ist, wo z. B. 
ein Komponist im Schaffensdrange sich unwillkiirlich genothigt 
sieht, Dinge zu schreiben, die er selbst als Beurtheilender 
nicht so ohne Weiteres billigen wiirde. 

So glaube ich denn, daB die Asthetik fiir den produci- 
renden Kiinstler nicht mehr (praktischen) Werth besitzt, als 
jede andere Wissenschaft auch, vorausgesetzt, daB sie im AU- 
gemeinen denselben scientifischen Werth hat. (So wird selbst- 
yerstandlich Asthetik fur den Kiinstler werthvoUer sein als 



Das Wesen der musikaliseheii Beproduktion. 5 

z. B. Mathematik.) Sie wird seinen Bildungsgiad erhohen, 
seinen Geist geschmeidig machen, ihm zur Klarheit iiber sich 
selbst verhelfen. Andererseits darf man sich aber auch nicht 
der Einsicht yerschlieBen, daB die asthetische Reflexion, wie 
alle Reflexion, die XJnmittelbarkeit des naiven Gefiihls storen 
und so unter tJmstanden, namentlicfa. wenn sie unzureichend 
Oder gar ))unwissenschaftlicli(r im oben entwickelten Sinne ist, 
verwirrend und schadigend wirken konne. 

Anders gestaltet sich die Sache, wenn man nicht das Fro- 
duciren, sondem die Reproduktion, welche ja in der Musik 
eine so iiberaus wichtige RoUe spielt, und den KunstgenuB 
ins Auge faBt. Was zunachst erstere anbelangt, so wird wohl 
auch hier das Hochste nur von der urspriinglichen Begabung, 
der angeborenen Genialitat, zu erreichen sein. Bei wirklich 
genialer Reproduction erkfenne ich deren einzigen TJnterschied 
von der originalen Froduktion darin, daB der Reproducirende 
die Illusion erweckt, das vorgetragene Kunstwerk sei ein 
selbstgeschaffenes, ein eigenes, was beim Producirenden wirk- 
lich der Fall ist. Der Vortragende geht ganz in dem Werke 
unter, identiflcirt sich mit dem Schopfer, der nun als der 
eigentliche Vortragende erscheint. Der Vortragende verhalt 
sich zum Kunstwerke wie der Froducirende zu dem kiinstleri- 
schen Ideale, das ihm bei der Froduktion vorschwebte. 

Das natiirliche und urspriingliche Verhaltnis , daB der 
Komponist auch der Vortragende ist, findet gegenwartig relativ 
selten mehr statt. Aber jede, in Sonderheit solistische, Dar- 
bietung, soil diese Illusion wenigstens erwecken, und jemehr 
ihr Eindruck sich dem der Improvisation nahert, desto voU- 
kommener ist sie. DaB hierauf der groBe Reiz und eigentliche 
asthetische Werth des Auswendig-Spielens beruht, ist wohl 
schon des ofteren bemerkt worden (z. B. von Hostinsk]^, Das 
Musikalisch-Schone, S. 68). — Der Reproducirende erlebt die 
Schopfung des Kunstwerkes, wie es sich im Geiste des Schaffien- 
den gestaltete und wurde, nach, und je besser ihm dies ge- 
lingt, desto hoher wird seine Leistung stehen. Daher zeigt 
der Virtuosencharakter gegeniiber der scharf ausgepragten In- 
dividualitat des F.roducirenden hauflg eine gewisse objektive 
Verschwommenheit. Verbindet sich aber mit dieser Objektivitat 



6 Ber KunstgenuC. 

des Reproducirenden eine iibermachtige urspriingliche Genia- 
litat; wie bei Liszt, so entsteht jener Zauber der kiiustlerischen 
Fersonlichkeit , welcher einzig auf ethischem Gebiet in der 
Erscheinung des Heiligen ein Analogon hat, welcher ja auch 
das Wnnder voUster Selbsthingabe bei vollkommenster Selbst- 
behauptung scheinbar verwirklicht. 

Nun glaube ich in der That, daB die Musikasthetik als 
philosophische Kunstwissenschaft nicht zu unterschatzende Mit- 
tel an die Hand giebt, 1) dem weniger genial Yeranlagten jene 
Einswerdung mit dem schaffenden Kiinstler bei der Beproduk- 
tion zu ennoglichen, indem sie ihn iiber die Art und Weise 
des Kunstschaffens, das Yerhaltnis des Schaffenden zu dem 
ihm vorschwebenden Ideale, welches wir ja als ein demjenigen, 
welches er selbst zu jenem einnimmt, analoges bezeichneten, etc. 
aufklart, 2) aber, indem sie uns, sofem sie sich nur auf real- 
dialektischer Grundlage aufbaut, auch weniger sympathische, 
unserer Individualitat femer stehende, Kiinstlererscheinungen 
klar macht, jenen oben beschriebenen, fiir eine wahrhaft kiinst- 
lerische Beproduktion nothwendigen, ProceB zu erleichtern. — 

»Der Mensch erfahrt und genieBt nicht, ohne zugleich pro- 
duktiv zu werdencc — dieser Satz Goethe's giebt den Schliissel 
zum Yerstandnisse des Fhanomens des wahren Kunstgenusses. 

Der GenieBende verhalt sich zum Yortragenden wie dieser 
zum Autor. Durch das Medium des Reproducirenden hindurch 
soil der Sonnenstrahl des Genies unser Herz treffen. Damit 
er ungetriibt bis zu seinem Ziele gelange, muB nicht nur das 
Medium, sondem auch das kiinstlerische Auge des »Schauen- 
den« rein und ungetriibt sein. Es bedarf auch von Seiten 
des GenieBenden zum voUkommenen Kunstgenusse, wenn nicht 
Genialitat, so doch einer gewissen aKona-genialitat. — Und 
wenn auch dies zunachst ebenfalls Sache der unbewuBten Sym- 
pathie ist, so glaube ich den Hauptnutzen der Asthetik darin 
zu finden, daB sie diese angeborene Fahigkeit zum Kunst- 
genusse bildet, erweitert, womoglich erweckt. Was seiner Zeit 
eine Recension von Hause^er's Buch oDie Musik als Aus- 
druck(c riihmte, daB es berufen erscheine, die beklagenswerthe 
Kluft zwischen »musikalischen(( und Dunmusikalischena Men- 
schen auszufullen, die Erreichung dieses Zieles wird der Triumph 



Das Objekt der Asthetik. 7 

aller Musikasthetik sein. Und auch dies wird sie nur dann 
erreichen konnen, wenn sie es in gewissem Sinne nicht er- 
reiclien will, wenn sie nicht darauf ausgeht und als unmittel- 
bares Ziel nur die rein wissenschaftliche Erkenntnis ihres 
Gegenstandes im Auge hat. 

Welches ist nun dieser Gegenstand der Asthetik? — 
Das Subjekt kann der Welt des Objektiven gegeniiber, so 
bald es einmal aufgehort hat, sich rein passiv zu derselben zu 
verhalten, eine dreifache Stellung einnehmen; in dreifacher 
Weise kann die sVerarbeitungc aller der mannigfaltigen Ein- 
driicke, die uns von auBen kommen und die unser Lebens- 
]>pensuma ausmachen, vor sich gehen, indem der Mensch zu 
seiner Umgebung, im weitesten Sinne des Wortes, entweder 
in ein theoretisches, in ein praktisches oder ein kontem- 
platives Verhaltnis tritt, damach strebt, die Natur entweder 
zu erkennen, oder Zwecke in ihr zu verwirklichen, 
oder sie zu beschauen, sich absichtslos in sie zu versenken. 
Der Mensch ist Forscher, Held oder Kiinstler: in seiner 
letzten Eigenschaft ist er Gegenstand der Asthetik. 

Der theoretische Mensch, der ewige Bechner an der groBen 
Divisionsaufgabe : Welt durch Vernunft, — wird sein Exempel 
je einmal ohne Best aufgehen, oder wird er sich begniigen 
miissien, wenigstens einen, wenn auch irrationalen, Aus-' 
druck fur das innerste Wesen des Seienden zu finden? — 
Und der praktische Mensch, der Kampfer und Held, wird er 
je einmal das Faradies auf Erden schaffen konnen, die lUuft 
zwischen Ideal und Wirklichkeit, — wird der kiihne ))Tech^ 
nikerct sich finden, der sie iiberbriickt? — ich weiB und glaube 
es nicht I Aber eines weiB ich: wenn es mehr als zweifelhaft 
ist, ob Wissenschaft und sittliches Streben je ans Ziel gelangen 
werden, ob sie je ihr Ideal erreichen konnen, — die Kunst 
kann es, und darum heiBt sie auch tiefisinnig in der deut- 
schen Spraohe j) Kunst (r, weil sie die einzige Lebensbethatigung 
des Menschen ist, wo er sich als wahrhaft »konnenda er- 
weist ; sie erreicht ihr Ziel immer und immer wieder, in jedem 
ungetriibten kijnstlerischen Genusse, in jedem vollendeten 
Kunstwerke, sie ist restlose Welterkenntnis und Faradies auf 
Erden zu gleicher Zeit! 



8 Verh&ltnis zu Kant 

Die Kunst ist die scheinbare Synthase der Antithese 
Theorie und Praxis: der Kiinstler verhalt sich praktisch, in- 
dem er Zwecke verwirklicht, aber nicht in der realen Welt, 
sondem in einer Welt des Scheines ; der KunstgenieBende ver- 
halt sich theoretisch, indem ihm durch das Kunstwerk eine 
Erkenntnis, und zwar des innersten Wesens der Welt, er- 
schlossen wird, aber keine wissenschaftliche, sondem eine ganz 
anders geartete, un- und iiberbegriffliche, und darum auch 
alogische Erkenntnis des der Yemuft ewig unzuganglichen 
Antilogischen. 

Wir stehen eigentlich mit diesen Satzen ganz auf Kanti- 
schem Boden und konnen in der Ansicht von der Kunst als 
Vermittlerin zwischen Natur und Freiheit, Verstand und Sitt- 
liehkeit, Theorie und Praxis Schiller als Bundesgenossen be- 
griiBen : aber. wir werden aus diesen gleichen Yoraussetzungen 
ganz andere Schliisse zu ziehen haben als die Kantische Schule 
und werden damit auf von der gesammten neueren Asthetik 
weit abliegende Gebiete gerathen und woUen diesen Weg nicht 
scheuen, auch auf die Gefahr hin, daB man uns sastheti- 
dches Irreredena vorwerfe. 

Zunachst sind wir mit Kant noch ganz einverstanden in 
seiner scharfen Trennung des »reinen Geschmacksurtheilsff bei 
der Kontemplation des Schonen von seinem »gemischtena 
Geschmacksurtheile im Erhabenen: die neuere Asthetik hat 
sich schwer versiindigt am Gesetze der Specifikation sowohl 
als am Geiste der deutschen Sprache, indem sie als einziges 
Objekt der Asthetik das »Schone« aufstellte und das »Er- 
habenea als eine Erscheinungsform oder Besonderung des Scho- 
nen ansah. Das Schone steht in einem durchgangigen Gegen- 
satze zum Erhabenen, und wenn sich bei dem Begriffe »Schona 
iiberhaupt noch etwas soil denken lassen konnen, so ist das 
Erhabene von ihm sorgfaltig zu trennen. Im AnschluB an 
Kant konnen wir nSmlich sagen, daB der eigentliche Grund 
der Lust am Schonen darauf beruht, daB das Subjekt bei der 
Betrachtung eines Gegenstandes Eigenschaften in demselben 
wahmimmt, welche wenigstens den Schein erwecken, als 
stehe die Natur den von der praktischen Yemunft postulirten 
Zwecken nicht durchaus feindselig gegeniiber, als sei dieselbe 



Die optimistisohe und pessixnistische Seite des Asthetischen. 9 

« 

80 beschaffen, dafi sich die sittliclien Ideale in der That in 
ihr verwirklichen lieBen (vgl. Kritik der Urtheilskraft, ed» 
Kehrbach, S. 13). 

Anders beim Erhabenen: da verkehrt sich das Verhaltnis 
zwischen Objekt und Subjekt in das gerade Gegentheil; an 
Stelle der Angemessenheit des geschauten Gegenstandes zu 
unserem Erkenntnisvermogen tritt eine yoUstandige Dispro- 
portionalitat im Mathematisch-Erhabenen , an Stelle einer die 
Verwirklichnng unserer Zwecke begiinstigenden Natur eine 
unsere ganze Existenz bedrohende im Dynamisch- Erhabenen. 
Der RiB zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Welt und 
Individuum, welchen das Schone geschlossen und yersohnt zu 
haben schien, klafft von neuem auf. Die Lust, welche das 
Erhabene dennoch bewirkt, — wenn eine solche Genugthuung, 
zu vergleichen der des echten Dyskolos, welcher sich nur dann 
zu&ieden fiihlt, wenn es ihm recht schlecht ergeht, iiberhaupt 
noch Lust genannt werden kann — hat ihren Grund nur darin, 
daB sich das Subjekt in seinem tiefsten metaphysischen Wesens- 
kem als unabhangig von alien, seine Existenz wie immer auch 
bedrohenden, Gewalten, als frei, mit einem Worte als Indivi- 
duum fiihlt. Das Schone ist die optimistische Seite des 
Asthetischen, das Erhabene die pes^imistische; Paradies 
und Welt, Kind und erwachsener Mensch, Idyll und Tragodie, 
diese durch keine Dialektik zu vermittelnden Gegensatze 
driicken sich in der asthetischen Antithese: Schon und Er- 
haben aus, und es ist charakteristisch , daB die Proklamation 
des »Musikalisch-Schonena als Wesen der Tonkunst gerade 
von einem Angehorigen der Rasse erfolgte, welcher auch von 
jeher das vTtavza ycala klava oberster Grundsatz des Denkens 
und — vHandelnsa war. 

Zwei asthetische Kategorien verbleiben uns nun noch, 
welche Kant theils nur voriibergehend , theils gar nicht er- 
wahnt: das Komische und das Humoristische. Ersteres in 
seiner Kritik ausfiihrlicher zu behandeln, hat wohl Kant unter 
der Wiirde des Philosophen erachtet, letzteres kaum gekannt. 
Erst seit Jean Paul spielt es eine eigenthiimliche Rolle in der 
deutschen Litteratur, seit Beethoven in der Musik, und wie 
der wahrhaft beachtenswerthen erzahlenden Litteratur der 



JO Charakter und Methode unserer Asthetik. 

neueren Zeit gerade die Humoristen ihr eigenthiimliclies Ge- 
prage verleihen -^ — ich nenne nur die Namen G. Keller und 
W. Raabe — , so konnen wir das Homoiistisclie die, im besten 
Sinne des Wortes, »modemstea Gestalt des Asthetischen nennen. 
So ist es denn auch bei dem Dmodemstena Philosoplien; Julius 
Bahnsen, die loasthetische Gestalt des Metaphysischena xcrr' 

Fill die nahere Nachweisung des Zusammenhanges zwi- 
schen realdialektischer Asthetik und Metaphysik verweise ich 
nun um so lieber auf Bahnsen selbst (Das Tragische als Welt- 
gesetz und der Humor als asthetische Gestalt des Metaphysi- 
scben. Lauenburg 1872 — namentlich auf das einleitende 
Kapitel ; femer die theilweise im Vorworte von mir angeftihr- 
ten Bemerkungen im ersten Bande der Kealdialektik , S. 159 
bis 162), als es mir ohne wortliches Kopiren wohl kaum mog- 
lich ware, die Sache so klar und stilistisch voUendet dar- 
zustellen, als es dort geschehen ist. Sowohl speciell iiber 
das Wesen des Humoristischen, wie iiber die Methode der 
Asthetik nach unserer Auffassung finden sich a. a. O. hin- 
reichende Aufklarungen , die ich bei meinem Widerwillen, 
ganze Seiten mit Citaten auszufiillen, als bekannt yoraussetze. 

Hier geniige die Bemerkung, daB unsere Asthetik sich 
sorgfaltig davor hiiten wird, irgendwie einen imperativen oder 
prohibitiven Charakter anzunehmen. Wenn sie sich auch nicht 
damit begniigt, eine rein naturwissenschafikiche und descriptive 
Methode anzuwenden, vielmehr von alien Erscheinungen auch 
eine philosophische Deutung im Sinne der Willensmetaphysik 
anstrebt, wird sie doch weit davon entfemt sein, die lebendige 
Kunstentwicklung irgendwie meistem, oder gar ihr einen -be- 
stimmten Weg vorschreiben zu wollen. Sie wird vorurtheils- 
frei alle Erscheinungen im Reiche der Kunst registriren und 
als werthvoUes Material verwenden : einen Kiinstler zu schmahen 
und zu beschimpfen, statt ihn zu verstehen zu suchen, das iiber- 
lafit sie den sHanslick'scr. Auch traut sie ihrem Principe eine 
solche Universalitat und AUgemeingiltigkeit zu, daB sie sich 
nicht einzulassen braucht auf die Stratageme und Kniffe einer 
sich »wissenschaftlich(( nennenden Pseudo- Asthetik. — 

Im Asthetischen offenbart sich dem betrachtenden Menschen 



Ziel und Aufgabe.. 11 

das innerste Wesen der Welt, also unterscheidet sich die Asthe- 
tik von den iibrigen philosophischen Disciplinen nicht sowohl 
dnrch die Yerschiedenheit des Gegenstandes, als durch eine 
besondere »Betraclitungsweise derselben Objekte, welche sonst 
unter die Kategorien des Wirkliehen (der Kraft) , Siitlichen 
(Relationen des bewuBten Individualwillen) und Wahren (Er- 
kenntnis des Eealwiderspruchs) fallen «. Parallel mit ihnen 
geht die Eintheilung der asthetischen Grundformen in Einfach- 
Schones, Erhabenes und Komisches, welch' letzteres hoher 
potenzirt und vergeistigt zum Humoristischen wird. »Ums 
Schone ist es nichts als ein blofier Schein, urns Tragische 
bitterer Ernst, urns Humoristische beides zumala und es ist der 
namliche Wille, »der im Schonen mittels seiner Grundeinheit 
iiber seine fundamentale Selbstentzweiung sich selber beliigt, 
im Tragischen sich als Selbstentzweiten erkennt und im Humor 
die eigene Freiheit wider sich selber kehrend und den Geist 
sieghaft wider das GewoUte stellend, sich iiber sich selbst er- 
hebt — entsprechend den drei Stufen der unmittelbaren In- 
tuition , der vemiinftigen Reflexion und der metaphysischen, 
diese beiden Vorstufen zwar nicht versohnenden, doch zur wider- 
spruchsYoUen Einheit zusammenschlieBenden Spekulation.« — 
Diese allgemeinen Gesichtspunkte sollen uns nun bei den 
nachfolgenden TJntersuchungen iiber das Wesen der Tonkunst 
leiten ; unser Hauptziel/ das wir nie ganz aus den Augen ver- 
lieren woUen — auch wenn nicht gerade davon die Eede sein 
soUte — wird dabei die Ergriindung der Frage sein, ob und 
inwiefern auch die Tonkunst uns das Wesen der Welt nschauenv 
mache. und im direkten Anschluss hieran, in welcher Gestalt 
die Kategorien des Schonen, Erhabenen und Komischen, bezw. 
Humoristischen in der Musik auftreten, und endlich ob und 
wie sich der realdialektische Inhalt der Kunst auch in den 
Formen und Ausdrucksmitteln der Musik auspragt. — Zu- 
nachst wird sich uns aber eine, den realdialektischen Aesthe- 
tiker ganz besonders interessirende Frage aufdrangen, namlich 
inwieweit in dem Verhaltnis der Kiinste untereinander — ein 
Problem, das ja seit R. Wagner eine Hauptfrage der ange- 
wandten Asthetik geworden ist — sich, analog dem Neben- 
einander coexistirender Individualcharaktere , realdialektische 



12 Speci&seher Charakter des Eindmekes dcr Musik. 

Phanomene nachweisen la«sen. Denn hierauf wird uns direkt 
das historische, oder eigentlich »prahistorische«, Kapitel fuhren, 
welches wir jetzt einschalten wollen: dieses soil sich mit der 
Frage nach der Entstehung der Musik beschaftigen und durck 
die Beantwortung derselben eine nichtssi^ende Definition un- 
serer Kunst ersetzen. Begreiflicherweise werden wir hierbei 
weniger darauf ausgehen, historisch zu beweisen, dass die Musik 
anno so und soviel vor Christi Geburt auf die und die Weise 
entstanden sei, als vielmehr aus dem Wesen und der Wirkung 
unserer heutigen Musik die Elemente und Seelentriebe zu de- 
duciren, aus welchen die Tonkunst der Natur der Sache nach 
hervorgegangen sein musste. 

Nach Erledigung dieser Vorfrage konnen wir uns dann 
unserer eigentlichen Aufgabe, der Nachweisung des durch und 
durch widerspruchsToUen Charakters der Musik sowohl nach 
ihrem Ausdrucksgehalte , wie nach ihren Ausdrucksmitteln 
zuwenden. 



II. 

Die Entstehung der Musik. Die Eiinste und die Eunst. 

Von dem rein ausserlich Gegebenen der Tonkunst aus- 
gehend; von dem Objektiven derselben^ ohne jegliche Beriick- 
sichtigung ihres subjektiven Eindruckes, miissen wir Hanslick 
und Hostinsk^ voUkommen Recht geben, wenn sie in der Musik 
ein Spiel tonender Formen sehen. DaB Hanslick dabei stehen 
bleibt und alien Emstes (?) glaubt, damit das Wesen der Musik 
erklart zu haben, ist freilich traurig. Schon Fechner, der doch 
auch nicht an allzugroGem Phantasie-UeberfluB laboiirt, geht 
weiter, wenn er fragt (Vorschule der Aesthetik I, S. 164), woher 
der groBe Unterschied riihre, welcher zwischen dem asthetischen 
Eindrucke der Arabesken und Figuren des Kaleidoskops und 
dem der Musik trotzdem noch bestehe, obwohl er den bekannten 
Vergleich Hanslick's sehr treffend finde. Er glaubt, der Haupt- 
sache nach miisse der Grund hiervon in der physikalischen 
Natur des Klanges, n'aher der Klangfarbe, liegen, welcher im 



Feohner und Hausegger. 13 

Beiche des Sichtbaren nichts entspreche. An dieser Stelle 
spukt, nebenbei bemerkt, die beliebte Parallelisirung der Ton- 
und Farbenskala : diese ist nun nichts als eine werthlose Spie- 
lerei. Es giebt eine Farbenskala, aber eine ganze Masse ver- 
schiedener Tonskalen. DaB auBer der Moll- und Durtonleiter 
nocli Terschiedene andere fast zu alien Zeiten in der Musik 
haufig zur Anwendung kamen, weiB jeder Musiker; dass die 
Durtonleiter' uns heutzutage am natiirlichsten vorkommt, ist 
rein konventionell. Denn im Gegensatz zu den Farben, 
welche schon von vomherein ein Qualitats-, nicht nur ein 
bloBer Quantitats-TJntersclued voneinander trennt, sind die 
Tone an und fur sich, der Hohe nach, nur quantitativ von 
einander verschieden , sie bilden eine kontinuirliche Reihe; 
erst ihre Beziehung auf einen bestimmten Ton als Grundton 
in einer willkiirlich fixirten Tonleiter erfiillt die Tone mit 
einer Qualitat, indem sie niin immer gleichzeitig als harmo- 
nische Bestimmungen der Tonica gebort werden : — die chro- 
matische Skala kennt eine solche Qualitat der Tone iiberhaupt 
nicht; ebenso kann z. B. durch eine internationale Konferenz 
bestimmt werden, wie viele Schwingungen der Ton a haben 
solle, wogegen meines Wissens noch kein OptikerkongreB ge- 
tagt hat, welcher sich damit abgab festzusetzen, was griin und 
was gelb sein sein soUe. 

Nun beriihrt auch Fechner (a. a. O. S. 165) die Ansicht, 
daB unser ganzes Nervensystem durch die Tone der Musik in 
Mitschwingungen versetzt werde, und daher der spezifische 
Eindruck der Musik riihre. Die Moglichkeit hiervon giebt er 
zu, meint aber, damit sei nichts erklart, indem sich nicht ab- 
sehen lasse, warum diese Nervenschwlngungen gerade diese 
bestimmten Stimmungen — denn die Thatsache der »lebens- 
verwandten Stimmungen « beim musikalischen Kunstgenusse 
leugnet er so wenig wie Hostinsky — »auslosen«, um einen 
Lieblingsausdruck Fechner' s zu gebrauchen. 

Ich glaube, eine vollkommen hinreichende Beantwortung 
dieser Frage hat Hausegger in seiner Theorie des Tones als 
Ausdruck, als Gebardensprache fiir^s Ohr gefunden. Giebt 
man n'amlich diesem zu — und die Erfahrung beweist es — 
daB ein Empfindungslaut im Horer sympathetisch dieselben 



14 Bie Musik als Ausdruck. 

Empfindungen heiTorrufe als jene, welchen er seine Entstehung 
verdankte, so .ist einerseits erklart, wanim Tone im Stande 
sind Stimmungen zu erwecken, andererseits ^ warum dies bei 
der heutigen Musik^ welche sich von ihrer Urform als bloBem 
lautlichem Stimmungsausdruck schon weit.entfemt und firemde 
Elemente in sich aufgenommen hat, nicht mit jenei unaus- 
bleiblichen Bestimmtheit und Genauigkeit geschieht als wohl 
bei den anderen Kiinsten. 

Wenn aber Hanslick mein£, damit g^en die Thatsache 
des Stimmungsgehaltes der Musik etwas ausrichten zu konnen, 
dafi er jene Melodie Gluck's anfiihrt, welche von den.Zeit- 
genossen des Komponisten als das Non-plus-ultra charakte- 
ristischen Ausdrucks gepriesen wurde, wahrend wir dies gai 
nicht mehr finden konnen, so ist das ebenso klug — fast mochte 
man sagen »pfiffig9l — als wenn jemand aus dem Umstande^ 
daB manche Worte der Sprache heute eine »fast« entgegen- 
gesetzte Bedeutung haben als etwa zur Zeit Luther's, schlieBen 
woUte, daB den Worten der Sprache iiberhaupt keine feste 
und bestimmte Bedeutung zukomme. Gerade das Faktum, 
daB eine Melodie Tom Jahre 1700 auf uns nicht mehr die 
gleiche Wirkung macht als auf unsere Voreltern, beweist un- 
widerleglich , daB die Musik ganz hervorragend auf das Ge- 
miith wirkt; ja daB gerade darauf ihre Macht beruht. DaB 
eine Melodie, auch die edelste, trivial werden kann, daB uns 
etwas gefallt, was den Zeitgenossen Mozart's abscheulich ge- 
klungen haben wiirde und umgekehrt, laBt sich vom Stand- 
punkte der formalen Asthetik niemals erklaren. Ist der In- 
halt und Ausdrucksgehalt asthetisch werthlos, so miissen alle 
einmal mit Hecht fiir voUkommen gehaltene Kunstwerke dies 
auch noch heutzutage fiir uns in gleichem MaBe sein, was 
thatsachlich nicht der Fall ist. 

So sehr ist das Gegentheil der Hanslick'schen Ansicht 
wahr, daB vielmehr gerade die Ausdrucksfahigkeit der Musik, 
ihre unmittelbare Wirkung als Willensmanifestation (man ver- 
gleiche Schopenhauer's Musiktheorie !) das eigentlich Treibende, 
das oft verlorene und stets wieder angestrebte Ideal, in der 
Entwickelung unserer Kunst von jeher gewesen ist, welcher 
Gedanke ja auch dem Hausegger'schen Buche »Die Musik als 



Ausdrucksbeduifnis und Ausdrucksf&higkeit. 15 

Ausdrucka zu Grunde liegt , dem nur eine etwas bieitere Aus- 
fiihrung und groBere Beriicksichtigung der neben dem bloBen 
Stimmungsausdruck noch mitwirkenden Elemente zu wiinschen 
ware. Indem wir diese Ausicht benutzen, theilweise dieselbe 
aber erweitern und modificiren, stellt sich uns die XJrgeschichte 
der Musik folgendermaSen dar: 

Der Ursprung der Musik fallt in seinen ersten Anfangen 
mit dem der Sprache durchaus zusammen; ihr gemeinsames 
Eltempaar ist das Ausdrucksbediirfnis und die Aus- 
drucksfahigkeit des Menschen. Es drangt den Menschen, 
ein ihn bewegendes Gefiihl oder Empfinden nach auBen zu 
entladen und sich so von dem auf ihm lastenden Drucke zu 
befreien. »Die Stimmung als solche ist es, welche als Ner- 
venspannung den Drang hat, sich nach auBen zu setzen und 
so sprachschopferisch zu werdencr. (J. Bahnsen, Aphorismen 
zur Sprachphilosophie. Berlin 1881. S. 5.) An dieser Thatig- 
keit participirt der ganze Mensch: Ton und Gebarde dienen 
dem gleichen Zwecke des Ausdrucks. Was also R. Wagner 
als das Ziel aller Kunstentwickelung anstrebte, die Vereinigung 
sammtlicher »ausdruckenden Kiinstea im Drama, hat seinen 
tiefsten Berechtigungsgrund in dieser gemeinsamen Wurzel; 
denn in dem eben beschriebenen Yorgange des Ausdrucks als 
Stimmungsentladung haben wir den gemeinsamen Keim aller 
Zeitkiinste, in dem einen integrirenden Theil desselben bil- 
denden Lautausdruck den TJrquell der Musik. WoUen wir 
nun den Weg verfolgen, der von diesem urspriinglichen Natur- 
vorgange zur eigentlichen Entstehung der Kunst fiihrte, so 
miissen wir neben der Befriedigung des Ausdrucksbediirfnisses 
noch eine zweite Form der menschlichen Seelenthatigkeit be- 
riicksichtigen, welche hierbei von auBerordentlicher Bedeutung 
war, den Spieltrieb. Der Stimmungsausdruck ist zunachst 
nichts als eine Art Beflexerscheinung, auf die ja auch Stein- 
thai den Ursprung der Sprache zuriickf iihrt : der Mensch, unter 
dem Drucke eines iibermachtigen Gefiihls, sucht sich seiner 
durch den Ausdruck — urspriinglich noch nicht einmal zum 
Zwecke der Mittheilung: dieselbe ganz absichtslose Erschei- 
nung zeigt sich ja heute noch in jeder Interjektionl — zu 
entauBem. 



16 Der Spieltrieb. 

Das Hinzutreten des Spieltriebs ist es nun, das einerseits 
den menschlichen Stimmnngsausdruck zu derjenigen Kunst 
umschafft, in welcher nacb R. Wagnei »der Mensch sich selbst 
kiinstlerischer Stoff istff, zunachst noch in ihrer urspriinglichen 
Einheit von Musik, Mimik und Poesie, andererseits die Ent- 
stehung der sogenannten bildenden Kiinste allererst ermog- 
licht. Seinem innersten Wesen nach zwecklos, entsprungen 
aus der rein formalen Freude an Bethatigung iiberschiissiger 
Lebenskraft, findet der Spieltrieb als Stoff fur sein Wirken 
zunachst die Thatsache des oben geschilderten Gefuhlsaus- 
druckes vor, ferner aber auch die ganze Reihe der mensch- 
lichen Lebensverrichtungen und endlich Material im eigent- 
lichen Sinne des Wortes: Holz, Thon, Stein u. s. w. — Be- 
machtigt sich der Spieltrieb des Gefiihlsausdruckes , so wird 
aus dem, was in der Urzeit heiliger Ernst war, entsprungen 
aus einer tief empfundenen Noth des menschlichen Gemiithes, 
ein heiteres Spiel, Nachahmung eines Gefuhlsausdruckes, das 
TJngestiime und Elementare desselben maBigend und in ge- 
fallige Formen zwingend; nimmt er die menschlichen (prak- 
tischen, taglichen) Lebensverrichtungen, so entsteht zum ersten 
male nachahmende Darstellung, jener Theil der Schauspiel- 
kunst, welcher von der eigentlichen »Mimik((, der Nachahmung 
der Gebardensprache , des leiblichen Ausdrucks, zeitlich und 
sachlich streng geschieden ist. (Diese beiden Elemente hat 
die Schauspielkunst zu einem harmonischen Ganzen zu ver- 
binden ; die durch das Wort nicht unterstiitzte Mimik als 
»Tanzkunstcr hat das zweite, aus dem Walten des Spieltriebs 
hervqrgegangene, Element fast ganzlich auBer Acht zu lassen, 
will sie nicht als »Pantomimik« eine unlosbare Rathsel auf- 
gebende Pseudo-Kunst werden.) Endlich macht der Spieltrieb 
den Menschen aber auch zum »Bildner((, wenn er namlich ein 
roh vorgefundenes Material zur Nachbildung einer Gestalt oder 
Scene verwendet. 

Meine Ansicht ist nun, daB, sobald sich der Spieltrieb 
des Lauta us druckes bemachtigt, die zweite Periode in der 
Urgeschichte der Musik beginnt;' damit wird aber auch der 
Lautausdruck erst das, was wir nKunstff nennen konnen; 
denn sich eines Gefiihles durch den Ausdruck zu entledigen, 



Die 9 fjilf>ifjaiff« und das Material der Tonkunst. 17 

ist »keine Kunsta — im Doppelsinne des Wortes. Insofern 
ist ja die yixlixTjaig^ auch an der Entstehung der Ton-»kunst(( 
betheiligt, als erst dann, wenn das Subjekt des Empfindungs- 
ausdrucks sich soweit yerallgemeinert hat, dafi aus dem sick 
seines eigenen Gefiihls entauBernden Individuum das »willens- 
freie Subjekt des Erkennens« geworden ist, von Kunst die 
Rede sein kann, — damit aber von selbst aus dem thatsach- 
lichen Gefuhlsausdruck die Nachahmung, oder besser Nach- 
empfindung, eines solcben wird. (Hierdurch schranken wir 
einerseits die iiberspannte Kantische Ansicht von der abso- 
luten ))Interesselo8igkeit« des Asthetischen und die, gleich- 
falls iiber das Ziel hinausschiefiende Schopenhauer's vom 
wwiQensfreien Subjekt des Erkennens« auf ihr richtiges MaB 
ein, andererseits erklaren wir das, was namentlich E. von 
Hartmann als » Scheinhaftigkeit a der asthetischen Gefiihle so 
nachdriicklich betont hat.) — Dagegen ist es schon aus dem 
Grunde ganz verfehlt, von der Nachahmung als der Quelle 
der kiinstlerischen Thatigkeit auszugehen, daB fur die Archi- 
tektur im System der Kiinste dann kein Platz vorhanden ist, 
welche deductio ad absurdum A. Holz (Die Kunst, ihr Wesen 
und ihre Gesetze. Berlin 1891; man vergleiche den trefflichen 
Aufsatz von K. Erdmann im wKunstwarta, 2. Aprilheft 1891) 
wider Willen gegen sich selbst gefuhrt hat, indem er, aller- 
dings unerschrocken genug, die Baukunst iiberhaupt aus der 
Beihe der Kiinste verbannte. 

Wir haben gesehen, daB in unserer Genealogie der Kiinste 
die sogenannten Kiinste der Zeit einen Ahnen mehr aufizu- 
weisen haben als die bildenden Kiinste, namlich den mensch- 
lichen Ausdruck. Das Material der Baumkiinste ist ein schlecht- 
hin leb- und seelenloses, ihr Wesen die Darstellung durch 
dieses (= mittels seiner) ; umgekehrt bei den Zeitkiinsten ist 
schon das Material ein dem tiefinnersten Menschenwesen ent- 
keimtes Lebendiges und Beseeltes: sie stellen nicht durch 
ihren Stoff, sondem in ihm dar. Das psychologische Princip 
der bildenden Kiinste ist ein einfaches: der Spieltrieb. Gegen 
das Bediirfnis, das dieser einzig hat, sich an unmittelbar wohl- 
gefalligen Formen zu ergotzen, konnte der leb- und seelen- 
lose Stoff nicht reagiren. Schones zu schaffen blieb daher 

Louia, Widerspruch in der Mosik. 2 



? 



18 Die Kilnste des Baumes als »8ch0ne Ktlnste«. 

auf lange Zeit hinaus die einzige, unbestrittene Aufgabe der 
Kiinste des Raumes. Erst einer viel spateren Periode blieb 
es vorbehalten, auch im Reiche der bildenden Kiinste die ab- 
solute Alleinherrscbaft des Schonen zu erscbiittem; die Be- 
aktion, welcbe von dem unmittelbaren Stoffe nicbt ausgeben 
konnte — sobald dieser nur erst einmal iiberwunden und der 
kiinstleriscben Idee dienstbar gemacbt war — erfolgte von 
Seiten des mittelbaren Stoffes, des darzustellenden Objekts. 
Als sicb erst einmal die Einsicbt Babn zu brecben begann, 
daB die Kunst zwar Scbein, aber keine Liige, Illusion, 
aber kein Bet rug sein soUe, da wurde die Forderung nacb 
Wabrbeit auch in der Kunst immer lauter; und wenn es 
noch zweifelbaft erscbeinen kann, ob die deut3cben Maler des 
Mittelalters z. B. nicbt ))Scbon« malten, weil sie es nicbt 
konnten, weil sie die Sprodigkeit des Stoffes nocb nicbt 
ganz besiegt; nocb nicbt im YoUbesitze der Tecbnik waren, 
so tritt uns in den groBen boUandiscben Meistern zum ersten 
male bei raffinirtester Vollendung der Tecbnik die geflissent- 
licbe Yemacblassigung des Scbonen zu Gunsten des Wabren 
und Cbarakteristischen entgegen, und gerade in neuester Zeit, 
nacbdem die Renaissance (im weiteren Sinne des Wortes) den 
unbedingten Scbonbeitskult aucb im Norden zu Ebren ge- 
bracbt batte, ist ja der Streit zwiscben sogenannter » idealistic 
scber(( und »realistischer(( Kunst namentlicb in der Malerei 
wieder acut geworden, und es ist scbon jetzt Yorauszuseben, 
daB er mit dem Siege der letzteren, wenn aucb nicbt ibrer 
absolut unastbetiscben und manirirten Yerirrungen, enden wird. 
Anders lag die Sacbe bei den Kiinsten der Zeit. XJni 
deren Entwickelung ricbtig zu versteben, mussen wir auf den 
Ausgang unserer Betracbtungen zuriickkommen. Wir saben, 
daB der menscblicbe Stimmungsausdruck zunachst eine ganz 
unwillkiirlicbe , notbwendige und somit aucb zwecklose Er- 
scbeinung war. Aber dieses tief gefiiblte Bediirfuis, dem er 
entsprang, es ware nur balb befriedigt worden, wenn die Stimme 
des Jaucbzens und Jainmems, des Seufzens und Sebnens un- 
gebort verballt ware, wenn sie obne Resonanz geblieben, wenn 
sie kein Echo gefunden hatte in der Brust des Mitmenscben, 
wenn sie nicht hatte Mittbeilung werden konnen. Aus 



Die Umbildung des elementaren Lautausdruckes zur Sprache. 19 

dem Stimmungsausdruck wurde Stimmungsaustausch, indeni 
eben, wie oben gesagt, der EmpEndungslaut die Eigenschaft 
besitzt, sympathetisch in dem Horer die gleiche Stimmung 
zu erwecken. In der Mitleidenschaft der eihorten Liebe wurde 
der Mensch wohl zuerst der beseligenden Thatsache inne, 
daB er verstanden werde von einem Wesen, das dieselben 
Leiden empfand wie er selbst, und ihr weckselseitiges Inein* 
ander-Anfgeken konnte die Liebenden wenigstens momentan 
tauschen iiber die Unerfiillbarkeit des Sehnens, das unser 
innerstes Wesen ausmacht: — Adam und Eva im Paradies! 

Aber dieses Ur-Menschenpaar, es wurde vertrieben aus 
dem Gottes-Garten seiner ersten Jugendliebe, und vor ihrem 
Eden stand der Cherub mit flammendem Schwert; ihre eigene 
siindhafte Begierde war es, welche ihr Elend verschuldet, und 
doch war es wiederum ihre innerste Menschennatur , die sie 
hatte siindigen lassen. DaB dieser Widerspruch, dieser un- 
selige, daB das Heiligste zur Siinde wird, das Menschenpaar 
nicht ganz der Yerzweiflung in die Arme treibe, gab ihnen 
der sgiitige Gott« Noth und Miihsal mit auf ihren ferneren 
Lebensweg, und in ihrem Gefolge die Kraft sie abzuwehren 
in der Arbeit, dem Einzigen ja, was Menschen-Elend zwar 
nicht iiberwindet, so doch zum andern male vergessen machen 
kann. In ihrer Paradieseswonne, in der Zeit der ersten Liebe, 
hatte sich das Menschenpaar nichts mitzutheilen aLs ))Stim- 
mun'gen«: was sein Herz bewegte, lieB der Mann ausstromen 
in Tonen und Gebarden, und er war sicher, daB er yon seiner 
Genossin verstanden wurde. Aber nun wurde aus der Ge- 
nossin eine )>Gehilfin«; es hieB sich einrichten und schiitzen 
gegen die Natur, welche nicht mehr wie in Eden nur ihr 
sanftes Mutterantlitz dem Menschen zeigte ; die Nachkommen- 
schaft mehrte sich, die Kainsthat war begai^en: auch vor 
seinem Mitmenschen war der Mensch nicht mehr sicher. 

Die Liebe giebt sich, wie sie ist; sie fragt und forscht 
nicht, sie will nicht wissen, noch erkennen. Gegen feindliche 
Machte aber iat nur ein Mittel der Abwehr — ihre Erfor- 
schung. Wenn wir die Krafte der Natur erst einmal erkannt 
haben, dann sind wir auch nahe daran, die Herrschaft iiber sie 
zu gewinnen, sie unschadlich zu machen, und Menschenkenntnis 

2* 



20 ^^ imitatorische und symbolische Sprachelement. 

ist das beste Mittel gegen Hintergehung. Einer feindlichen 
Umgebung gegeniiber musste der Mensch also durch seine 
Sprache nicht mehr allein eigenes Empfinden ausdriicken, 
er musste auch Fremdes bezeichnen, wenn er es seinen 
Mitmenschen kenntlich machen woUte. Hierzu bot sich un- 
willkiirlich das Mittel der Nachahmung des zu bezeichnenden 
Gegenstandes oder Wesens durch Laut und Gebarde dar, und 
zwar war die tonende Natur hauptsachlich zur Imitation durch 
das Sprachorgan, der handelnde Mensch zur Nachahmung durch 
die Gebarde geeignet. Wir sehen also hier zu dem urspriing- 
lichenStimmungsausdrucke das imitatorische Sprachelement 
treten, das dann spater zur Symbolik wird, wie es uns in 
den vielen onomatopoetischen Wortwurzeln der meisten Sprachen 
noch heute deutlich erkennbar vorliegt. In diesem vorge- 
schrittenen Stadium war es, dass die menschliche Sprache, im 
Sinne der Laut und Gebarde umfassenden, allgemeinen Mit- 
theilung des ganzen Menschen an seinen Nachsten, dem Spiel- 
triebe in die Hande fiel, welcher sie zur Kunst umgestaltete. 
— Aus diesem urspriinglichen Kunstvereine, wie er uns sich 
noch in der antiken Tragodie zeigt, trat die Mimik zuerst aus 
und versuchte als »Tanzkunst(( allein ihr Gliick. Der Grund, 
warum dieser Austritt erfolgte, ist aus der Entwickelung der 
Sprache leicht einzusehen. Die Sprache hatte sich namlich 
Ton ihrer urspriinglichen Bedeutung als Lautausdruck immer 
weiter entfemt, das imitatorische, endlich bios noch symbolische 
Element in ihr — man konnte es das konsonantische, im Gegen- 
satz zum Tokalischen, nennen, welch^ letzteres mehr noch an 
den urspriinglichen Stimmungsausdruck erinnert, wie ja die 
meisten Inteijektionen rein vokalisch sind! — war immer mehr 
hervorgetreten, die Herrschaft des Logischen in ihr hatte 
sich immer mehr erweitert, sie wurde aus einem Medium des 
Ausdrucks ein blesses — Verstandigungsmittel. Zu jenem hatte 
die Gebarde vortrefflich als Erganzung gepasst, bei diesem war 
sie iiberfliissi^; was die Sprache zu sagen hatte, konnte sie 
nun allein sagen, sie bedurfte der Gebarde nicht mehr. Diese 
passte also auch im Kunstwerke nicht mehr zu der neuen Sprache. 
In der Ursprache war jeder Laut von einer entsprechenden 
Gebarde begleitet: zu niichtem-logischen Auseinandersetzungen 



Die Aufldsung des ursprtLiigliclien Kunstverbandes. 21 

konnte man keine, oder nur vage Gebarden machen. (Nebenbei 
bemerkt^ trat in der eigentlichen Schauspielkunst, also im 
Drama, in Folge dieser Entwickeliing der Sprache das urspriing- 
liche Ausdruckselement immer melir hinter dem darstellenden 
zuriick. Sie wurde immer amxer an eigentlich ausdrucksvollen 
Gebarden, bezw. diese verknocherten sich zur konventionellen, 
rein ausserliche »Pose«). — Am natiirlichsten noch gab sich 
die Tanzkunst in ihrer Yereinzelung in dem, meist das Liebes- 
werben in seinen verschiedenen Stadien bis zur endlichen Er- 
horung darstellenden, Nationaltanze ; hier trennte sich auch die 
Poesie (als »Tanzlieda) am spatesten ab. Der Darstellung eines 
solchen elementar-natiirlichen Vorganges war die Mimik voll- 
kommen gewachsen; woUte sie aber den ganzen Menschen in 
alien seinen Beziehungen iind Verhaltnissen, wie in der Panto- 
mimik, darstellen, so konnte sie nur eine Karikatur zu 
Stande bringen, wie wir 'sie im heutigen Ballett vor uns sehen 
— wo allerdings nur die pikanten ))Mitteltf den unsinnigen 
))Zweck« heiligen miissen. 

Dieselbe XJrsache nun, welche die Mimik von der Sprache 
getrennt hatte, soUte auch das Zusammenleben von Tonkunst 
und Sprache immer mehr erschweren und schliesslich zur 
Entstehung der (reinen) Instrumentalmusik^ zeitlich der letzten 
aller Kiinste, fiihren. War in gewissem Sinne in der XJrzeit 
alle Sprache nichts als Gesang, so geschah es sicher erst in 
historischer Zeit, dass sich eine nicht mehr gesungene, sondem 
lediglich gesprochene oder gar nur gelesene Poesie (Litteratur- 
poesie) bildete. Die oben erwahnte Entwickelung der Sprache 
nach der logischen Seite hatte zunachst eine gesonderte Sprache 
fair das Leben und fur die Kunst hervorgebracht ; aber auch 
letztere konnte sich der Beeinflussung durch erstere nicht auf 
die Dauer entziehen. Jene Fiille von Verhaltnissen und Be- 
ziehui^en des interindividuellen Daseins konnte die Sprache 
als Ausdruck, das Organ des interindividuellen Lebens, nicht 
zur Darstellung bringen. WoUte die Poesie ihre Aufgabe, auch 
diese Dinge kiinstlerisch zu gestalten, erfullen, so musste sie 
es au%eben, bios Stimmungsausdruck . zu sein, wie sie es sicher 
in der ersten Zeit nur war, und diirch Aufiiahme des sym- 
boUsch-deiktischen Sprachelementes zur Schilderung als 



22 I^ie Entstehung der »LitteTatur-Foe8ie«. 

Kunstmittel ihre Zuflucht nehmen. Damit aber war ihre 
Trennui^ yon der Tonkunst faktisch schon Tollzogen, als welche 
AUes, nur nicht 2)scliildem« kann. Nun hatte aber auch die 
Poesie aufgehort, Kunst im eigentlichen Sinne des Wortes zu 
sein : denn hierzu gehort die unmittelbare Sinnenfalligkeit, auf 
welche die Dicbtkunst jetzt zu .Gunsten eines weiteren Stoff- 
bereiches verzichtete, sie wurde »Litteratur(r. Was sie nun noch 
leisten^konnte, das war entweder der Ausdruck ihres nie zu 
stillenden machtigen Sebnens nacb ibrem paradieses - un- 
scbuldigen Zusammenleben mit der Scbwester Musik, wie sie das 
ewige und einzige Thema der Lyrik bildet — und bier gaben 
sicb ja Poesie und Musik immer wieder, wenn aucb, bei der 
jetzt nie mebr ganz zu verwindenden Inkongruenz von Ton und 
Weise, keineswegs ungetriibte, Rendezvous, namentlicb wenn 
es dem gebildeten Litteraturkiinstler gelang, die Scblicbtbeit 
des Volksliedes nachzuabmen, welcbes ja der innere Widerspruch 
des Zusammenbestebens modemer Spracbe mit der Musik in 
seiner unbewuBten Naivetat nicbt storte — oder sie versucbte 
im Epos die kiinstleriscbe Erfassung und Wiedergabe des 
gesamten menscblicben Lebens, in alien seinen Beziebungen 
und Verbaltnissen, mit seinem ganzen Hintergrunde und seiner 
gesamten Umgebung. 

Eine grosse, sebone Aufgabe! — aber zu gross, zu allum- 
fassend fiir die Poesie! Sie untemabm das, was einzig alle 
Kiinste im Verein leisten konnen: astbetisebe Wiedergabe der 
universalen Lebenstotalitat. Sie aber, die weiteste, darum aber 
aucb abstrakteste und entleerteste, die mittelbarste von alien 
Kiinsten, konnte ibrem StofFe niebt zu wirklicb sinnlicbem 
Leben verbelfen, sie konnte ibn nicbt wiedergeben, sie 
muBte sicb begniigen ibn anzudeuten, zu bezeicbnen; ibre 
Sinnlicbkeit ist — die Druckerscbwarze, im bocbsten Falle 
ein scbwarz-befrackter und glac6-bebandscbubter Recitator. 
Mit einem Worte : sie wurde »Scbilderung(r und bekam dadurch 
eine gewisse Yerwandtscbaft mit den bildenden Kiinsten ; diese 
Poesie war es einzig, welcbe Lessing in seinem beriibmten 
Laokoon beriicksicbtigte. (Vgl. R. Wagner, Oper und Drama II.) 

Aucb der gemeinsame MutterscboB, der einst alle Kiinste 
in sicb geborgen batte, wurde nun ein Tbeil des grossen 



Die Musik in der attiBchen Tragodie. 23 

Litteraturkorpers, aber er blieb zu ewiger Unfruchtbarkeit ver- 
dammt. Der Inhalt des Dramas hatte sich in die yeTscliiedenen 
Einzelkiinste verfliichtigt, nur die leere Form war geblieben. 
Abgesehen von dem zeitweiligen, einmal bis zu dem, die ganze 
franzosische, ,tragedie' samt ihrer Aristotelischen Poetik verzeh- 
renden, Riesen-Flammengeiste Shakespeare's emporlodemden 
Aufflackem des unter der Asche der verachteten Yolkskomodie 
schlummemden dramatischenFunkens, beschrankte sich das, was 
jetzt dramatisches Schaffen hiess, auf ohnmachtige, bei allerKlas- 
sicitat impotente, Restaurationsyersuche der antiken Tragodie. 

Was war unterdessen aus der Musik geworden? 

Diirfen wir der XJberlieferung Glauben schenken, so 
waren noch im attischen Drama der klassischen Zeit Dicht- 
kunst und Musik zu untrennbarer Einheit verschmolzen, 
bis mit dem bei Euripides anhebenden Yerfall dieser Kunst- 
gattung eine Anderung auch in diesem Verhaltnis eintrat. 
Wort und Ton waren bei dem durch die zeitgenossische Philo- 
sophie stark beeinflussten , in dem DDialoge^( oft stark an die 
sophistische )>Dialektik« Platonischer Gesprache gemahnenden^ 
letzten der drei grossen athenischen Dramatiker nicht mehr 
kongruent. Statt daB nun aber^ wie man hatte erwarten 
soUen, die Tonkunst aus dem Kuns'twerke, in welchem keine 
Stelle mehr fiir sie war; ganzlich ausgeschieden ware, hat es 
den Anschein, als ob gerade mit Euripides eine starkere Be- 
tonung des musikalischen Elementes in der Tragodie aufge- 
kommen ware, daB mit ihm eine Art von helleniseher sVir- 
tuosenoper« begonnen hatte. Dies konnen wir nur so verstehen, 
dass die Musik zu Gunsten ihres femeren Verbleibens im 
Kunstverbande ihre Eigenart als Kunst des Ausdruckes aufgab 
und sich zum leeren inhaltslosen Spiele mit ihren Formen 
hergab, was auch mit den Berichten iiber einen von dieser 
Zeit an zu datierenden Verfall der griechischen Musik iiber- 
einstimmt. Und so ist es im wesentlichen geblieben, so oft 
sich Kunst und Poesie^ seither wieder zum vorgeblichen Zwecke 
des Dramas verbanden, bis auf Richard Wagner: die Musik 
horte auf, Ausdruck zu sein, sie verzichtete auf den Anspruch 
eines In ha It es, und diese Musik ist es, welche Hanslick in 
seinem beriichtigten Buche einzig im Auge hatte. 



24 ^^^ Musik und das Ohristenthum. 

Aber an einer kaum beachteten, ja verachteten Stelle des 
Kunstlebens war die Musik noch das geblieben, was sie ur- 
spriinglich war, namlich Lautausdruck, und zwar da, wo sie 
die Bewegungen des menschlichen Korpers im Tanze begleitete, 
wo sie tonende Gebarde war, und von bieraus war es auch, 
daB nacb mebr als tausendjahrigei Entwickelung das eigentlicke 
Wesen der Tonkunst erst wieder entdeckt wurde — in der 
deutschen Sympbonie, und der Kolumbus dieser Entdeckung 
war Ludwig van Beetboven. Die Bedeutui^ seiner Er- 
scheinung ist aber ganz unverstandlicb obne Beriicksicbtigung 
erstlicb des Einflusses des Cbristentbums auf die Tonkunst 
und zweitens des Pbanomens der Entstebung der reinen In- 
strumentalmusik . 

Was wurde aus der entarteten griecbiscben Musik im 
Kultus des Cbristentbums der ersten Jabrbunderte? — Wir 
diirfen annebmen, daB man es sicb vor Allem angelegen sein 
lieB, wenigstens auBerlicb die iiberkommene belleniscbe Ton- 
kunst, so gut es ging, auf ibre alte Wiirde und Einfacbbeit 
zuriickzufubren , was scbon aus rein praktiscben Griinden ge- 
boten scbien. Aber als sicb der cbristlicbe Geist im Kampfe 
mit der ibn umgebenden Heidenwelt erst einmal so weit ge- 
kraftigt batte, daB er aucb in der Kunst ein wabrbaft neu- 
scbopferiscbes Leben entfalten konnte, da entdeekte er in der 
Musik eine neue Welt, welcbe dem Volke der Hellenen terra 
incognita geblieben war, das Reicb der Harmonie. Es be- 
durfte langen Sucbens und unsicberen Umbertastens , bis die 
cbristlicbe Sebnsucbt aucb in der Tonkunst die ibr einzig 
geniigende Befriedigung fand, es muBte der lange Weg zuriick- 
gelegt werden von den Quarten- und Quintenfolgen des Guide 
von Arezzo bis zu den wunderbaren Harmonien eines Palestrina 
und Orlando di Lasso. Tiber das Wesen der Vielstimmigkeit 
im Gegensatze zur Homopbonie werden wir spater zu sprecben 
baben : bier geniige die Bemerkung, daB wir in ibr die einzig 
dem cbristlicben Geiste voUkommen entsprecbende Manifesta- 
tion auf kiinstleriscbem Gebiete zu erblicken baben, weBbalb 
sie aucb der Antike vollstandig fremd geblieben war. Die 
Einstinmiigkeit ist analog dem menscblicben Individuum in 
seiner Vereinzelung , dem Egoismus; die Vielstimmigkeit ist 



Die Entstehung der Instramentalmusik. 25 

die Gemeinschaft , die Liebe und erreicht deshalb auch ihre 
hochste Bliithe erst im Kontiapunkt, wo alle einzelnen 
Glieder des groBen Ganzen gleichberechtigt mit einstimmen 
in den erhabenen Weltenchorus. 

Wenden wir uns nun zur Betrachtung der Instrumental- 
musik, so bietet sich nns das merkwiirdige Phanomen einer 
Kunst; die kaum vier Jahrhunderte selbstandiger Entwickelung 
binter sich hat. Die Elemente, welchen sie ihr Dasein ver- 
dankte, waren freilich nralt. Die Schalmei des einsam weiden- 
den Hirten, die Trompete des Kriegers — in ihnen haben wir 
die Uranfange dieser Kunst zu suchen. Wie mochte wohl 
diese erste Hirtenmelodie , welche vor vielen tausend Jahren 
in schweigender Nacht gen Himmel ertonte, gelautet haben? 
Wir wissen es nicht; aber wir konnen uns denken, daB der 
einsame Mensch der von ihm unverstandenen Natur gegen- 
iiber von einem ahnlichen Gefiihle iiberwaltigt wurde wie 
Jung-Siegfried unter der Linde beim Waldesweben und Vogel- 
gezwitscher: 

vHeil ich versuch's^ 

sing* ihm nach: 
auf dem Rohr' ton' icli ihm &hnlich! 

Entrath' ich der Worte, 

achte der Weise, 
sing' ich so seine Sprache, 
yersteh' ich wohl auch was er spricht.ff 

Ein solcher EntschluB mochte zur Erfindung des ersten 
musikalischen Instrumentes gefuhrt haben, und Nachahmung 
von Naturlauten war jedenfalls der erste Grund, weBhalb ein 
Mensch »der Worte entrietha, und die Flote ist es auch, bei 
der wir im alten Griechenland der ersten Spur von ))Programm- 
musika begegnen. — Andere Instrumente, namentlich der 
Gruppe unserer heutigen ))Blechblasera angehorig, verdankten 
ihren Ursprung einem rein praktischen Bediirfnisse, die Trom- 
pete dem des Kriegers, das Horn dem des Jagers, und waren 
bis auf eine viel spatere Zeit vom Gebrauche in der eigent- 
lichen Ton-^kunsttt ausgeschlossen. — Eine dritte Beihe von 
musikalischen Instrumenten , die Saiteninstrumente , dienten 
hauptsachlich zur Begleitung des Gesanges, und als nun eine 



26 Johaxm Sebastian Baeh. 

nur Yon Instrumenten vorgetrageBe Musik zueist seut Beglei- 
tung des Tanzes verwendet wurde, fiel diesei keine andere 
Aa%abe zu, als durch NachahmuBg der Sprachmelodie den 
Gesang so gut als moglich zu ersetzen. Zu einer selbstandi- 
geien Entfaltung konnte sie in dieser dienenden Stellung nicht 
srelamren: dies wurde anders, als die Instrumentalmusik sich 
von d^esem VerhiQtnisse zum Tanre zu emancipirea und eigene 
Wege zu beschreiten begann. 

Die christliche Vokalmusik in ihrer Vielstimmigkeit war 
das schonste Bild, der erhabenste kiinstlerische Ausdruck der 
Religionsgemeinschaft in Glaube und Liebe, der Gemeinde 
von Briidem und Sob western, die, alle gleich frei und gleicher- 
weise dem groBen Ganzen dienend, nur in ihrem Verhaltnisse 
zu diesem, nicht aber von ihm losgelost, Sinn und Worth fiir 
sich beanspruchten. Die menschliche Liebesgemeinschaft, das 
Reich Gottes auf Erdeu, das war das Ideal chrisUicher Ton- 
kunst. — Als sich die Welt am weitesten von diesem Ideale 
entfernt hatte, als die Lehre des Erlosers selbst, statt Frieda 
und Ruhe auf Erden zu stiften, zum Zankapfel hademder 
Parteien wurde , als sich kurz nach dem Tode des groBen 
Luther schon alle lebendige Religion in todte Theologie zu 
verknochem begann, — da erwachte dieses Ideal in der Brust 
eines deutschen Musikers als die Stimme verzehrendster Sehn- 
sucht; abgriindig tief, rathselhaft, wie sein Lieblingsautor Jakob 
Bohme, schwer verstandlich dem Novizen, dem Publikum ein 
Buch mit sieben Siegeln trotz alles simulirten Enthusiasmus, 
— im Ausdruck und in der Wahl der Ausdrucksmittel kiihn 
bis zur Verwegenheit, vor keiner Harte und Schroffheit zuriick- 
schreckend, wenn es gait, eine gefaBte Intention zu verwirk- 
lichen, und hinter dieser manchmal rauhen Schale der siiBeste 
Kern, das echt-deutsche Blauaugen-Gemiith mit seinen innigen, 
einfachen Melodien, — so war Johann Sebastian Bach, 
ohne Frage die wunderbarste Erscheinung der ganzen musi- 
kalischen Entwickelung, uuerreicht an elementarer XJrkraft des 
Empfindens, wie einzig dastehend in souvenlner Beherrschung 
der Ausdrucksmittel. Seiner Zeit muBte er ganzlich unver- 
standlich sein, bezeichnet ja doch Bach eine historische Anti- 
cipation sondergleichen. Diese Bach'schen Partituren sind 



Die Bechtfertigung der Melodie in ihrer Deutung als »Au8druck«. 27 

Hieroglyplien , eine Chifireschrift, zu der erst Beethoven uns 
den Schliissel auffand. Freilich, wer diese Werke nicht tief 
im Innersten erlebt hat, wer imstande ist, etwa die Matthaus- 
Passion in einem Athem mit Handel's Messias zu nennen, als 
ob das so ziemlich dasselbe ware, der kann iiberzeugt sein, 
dafi er von Baches edlem Haupte nur die Peiiicke erblickt, 
aber kein Strahl ans dem sonnigen Auge des Genius sein Herz 
getroffen hat. — 

Die Idee des Christenthums hatte das Mittelalter nur ein- 
seitig entwickelt und zum Ausdruck gebracht. In diesem lag 
uispriinglich die entgegengesetzte Tendenz sowohl nach Eman- 
cipation des Individuums, wie nach Unterordnung desselben 
unter ein Allgemeines gleicherweise begriindet. Indem die 
mittelalterliche Kirche sich zu einer starren Hierarchie ent- 
wickelte, wurde sie einzig und allein dem anti-individualisti- 
schen Element des Christenthums gerecht. Die einfache 
Konsequenz hiervon war die auf die Spitze getriebene Ver- 
achtung des Natiirlichen und Sinnlichen, als eines Werkes des 
Teufels. Diese Einseitigkeit rachte sich grausam: statt zur 
Tugend fiihrte die spiritualistische Verkehrtheit zur Heuchelei, 
statt zu christlicher Liebe und Duldsamkeit zu fanatisch-selbst- I 

geniigsamer, egoistischer Intoleranz. Die ethische Autonomic 
des Individuums ging unter in rein auBerlicher Heteronomie, 
der Mensch hatte sein Gewissen, seine Seele verloren, der ' 

lebendige sittliche Individualismus war in einen abstrakten I 

Monismus au%egangen. Wie in der Reformation das Indi- | 

viduum aus der Knechtschaft der Kirche, in der es fur sich I 

keinen Werth beanspruchen konnte, sich nach einem neuen ! 

Inhalt sehnte, so drangte es die Musik zur Bechtfertigung I 

der Melodie, zu ihrer Deutung als — Ausdruck. Die , 

Sehnsucht, aus der Unnatur zuriick zur Natur, aus einer Welt 
der Liige zuriick zur Wahrheit zu gelangen, dieselbe Sehnsucht, 
welche Luther's machtiges Herz zu so kiihnen Thaten ent- 
flammte, sie tout uns aus Bach's Musik entgegen, und deshalb 
konnte ihn auch seine Zeit nicht verstehen, weil sie seine 
Sehnsucht nicht kannte, und erst als Beethoyen die gesuchte 
Atlantis entdeckt hatte, begriff man, wohin das Schiff des 
alten Thomaskantors gesteuert hatte. 



28 Ciyilisation und italienische Oper, Bousseau und Beethoven. 

Dieser S^hnsucht, welche wir als den idealen Inhalt der 
Kuust Bach's erkennen, verdankt nun auch die Instrumental- 
musik ihre hohere Pflege und Ausbildung. Ihre ersten An- 
fange als selbstandige Kunst fallen zeitlich zusammen mit dam 
Niedergange der christlichen Earchenmusik und der immer 
wachsenden Ausbreitung der italienischen Oper ; ihre Bliithe, 
welche sie in Beethoven erreichte, muBte nothwendig zur 
(ideellen) Vemichtung dieses Pseudo-Kunstgenres fuhren. 
Hervorgegangen nicht aus der UnbewuBtheit des elementaren 
kiinstlerischen Naturtriebes, sondern aus einem bewuBt-reflek- 
tirten Bestaurationsversuche der antiken Tragodie^ wurde sie 
der YoUkommenste kiinstlerische Ausdruck des Egoismus; sie 
konnte sich iiber dieses ihr Wesen selbst tauschen und mit 
edlem, aber unfruchtbarem Streben nach Vereinigung des nicht 
zu Vereinigenden, in kindlicher Naivetat das reine Schonheits- 
ideal zu verwirklichen suchen — welches, an sich schon eine 
lUusion, im Drama vollends zur Liige wird — wie es Mozart 
that, Oder sie enthiillte ihr Wesen m selbstgefaUiger Scham- 
losigkeit, wie die eigentliche italienische Opernmusik, mit 
Rossini an der Spitze. 

Zu derselben Zeit nun, als die deutsche Symphonic, welche 
in striktem Gegensatze zu dieser Richtung sich entwickelte, 
mit Riesenschritten ihrem Kulminationspunkte in Beethoven 
entgegeneilte, kam dasselbe Streben, dessen Inhalt die Auf- 
suchung der unter dem Schutte der Civilisation verborgenen, 
wahren Natur bildete, in Frankreich in der Gestalt des J. J. 
Rousseau zu einer ergreifenden Erscheinung, und man wird 
nun aus dieser Parallele bestimmter erkennen, was ich meine 
mit dem Satze, daB die Beethoven' sche Symphonic die Riick- 
kehr zur Natur im Gegensatz zu der Civilisations- und Luxus- 
kunst der italienischen Oper bedeute. 

Bei diesem Streben muBte die Instrumentalmusik noth- 
wendigerweise auf einen Punkt gelangen, wo sich etwas offen- 
barte, wovon man, so lange es eine selbstandige Instrumental- 
musik nicht gab, auch keine Ahnung gehabt hatte, namlich 
das klangliche Wesen des Instrumentes selbst, der Naturlaut, 
dessen Nachahmung es seine Entstehung verdankte. Das 
klangliche und damit auch tonmalerische bezw. symbolische 



Bekapitulation des Ergebnisses. ^ 29 

Element gewann in der Tonkunst immer mehr Bedeutung. 
Die Musik war bisher eine rein »inter-individuelle(( Kunst ge- 
wesen, in dem Sinne, daB sie zunaehst die kiinstlerische Ver- 
werthung des Lautausdruckes war; in dem MaBe als letzterer 
symbolisch-deiktische Elemente in sich aufhahm und zur 
Sprache ward, entfemte er sich von seiner musikalischen Ur- 
natur; die reine Instrumentalmusik — vorzugsweise die Or- 
chestermusik — entdeckte nun in der klangliehen Natur des 
Instrumentes selbst ein solches symbolisches, erinnemdes und 
hinweisendes Element in der Musik, und damit gewann die 
Tonkunst eine Fiille neuer, ungeahnter Vermogen. — Nun 
konnte erst wieder eine lebensfahige Verbindung von Wort 
und Ton bewerkstelligt werden, und dies geschah im deutschen 
Lied (Schubert, Schumann, Liszt, Franz), in der programma- 
tischen Symphonic (Berlioz, Liszt) und im Wagner' schen 
Drama. 

Wir haben jetzt in historischer Folge die verschiedenen 
Elemente, aus denen sich der asthetische Eindruck der heu- 
tigen Musik zusammensetzt, nachgewiesen ; es eriibrigt uns 
noch, das Ergebnis zusammenfassend zu rekapituliren : 

Die Musik wirkt erstlich als Stimmungsausdruck. 
Es ist dies ihre elementarste und urspriinglichste Wirkung; 
wo sie ganz fehlt, kann von Musik iiberhaupt nicht mehr die 
Rede sein. Der Ausdruck ist das innerste Wesen der Melodic, 
gleichsam ihr nintelligibler Charaktera, er ist das, was das 
»Thema« von einer willkiirlichen, wenn auch angenehm klin- 
genden Folge von Tonen unterscheidet; ohne ihn ist die Musik 
nichtssagend. 

Die Musik wirkt zweitens sinnlich angenehm, hoher 
potenzirt »8chon«, in alien ihren Elementen, die ein un- 
mittelbares Wohlgefallen erregen, im Klangreiz, alien euhar- 
monischen und eurhythmischen Yerhaltnissen , in der Sym- 
metric des architektonischen Aufbaues u. s. w. Es ist dies 
wesentUch eine Wirkung auf den Vers tan d, und zwar auf 
die unbewuBte Intellektualitat der sinnlichen Anschauung. 

Die Musik wirkt drittens associativ (im Fechner'schen 
Sinne) in der Tonmalerei und Symbolik der Orchestermusik. 

Der Stimmungsausdruck ist, wie wir gesehen haben, der 



30 I^er realdialektische Charakter des Asthetischen. 

gemeinsame MutterschoB aller Zeitkiinste, er ist es aber auch, 
der das specifische innerste Weseu der Tonkunst ausmacht, 
weBhalb er mit Becht auch das musikalische Element an 
alien anderen Kiinsten genannt warden darf. Er ist das, was 
der lyrischen Poesie, nicht minder aber auch dem Inneren des 
gothischen Domes z. B. einen der Musik so nahe verwandten 
Charakter yerleiht. (Denn auch bei den bildenden Kiinsten 
zwang ja, wie wir bereits entwickelt haben, die Reaktion des 
darzustellenden Gegenstandes — in der Architektur der zu 
versinnlichenden Zweckidee — zur Aufhahme des Ausdrucks- 
gehaltes in das Bereich bildnerischer Wirkung.) Andererseits 
bringt die zweite Seite musikalischer Wirkung die Musik als 
schone Kunst, in eine direkte Beziehung zu den bildenden 
Kiinsten, deren psychologisches Ur-Princip wir in dem freien 
Walten des Spieltriebs erkannten, und es war, nebenbei be- 
merkt, lediglich die einseitige Pflege und Ausbildung dieser 
Seite der Musik, welche den beriihmten Goethe'schen Ver- 
gleich von der »gefiorenen Musik a oder der i»au%ethauten 
Architektura veranlaBte ; ebenso gut, wenn nicht besser, konnte 
man die Musik eine Dfliiss^e Plastikc, eine nunsichtbare Mimikc 
oder eine uwortlose Poesie(r nennen. 

In die engste Verbindung mit der Dichtkunst endlich 
kommt die Musik durch ihr drittes Wirkungselement, das 
associative. Denn dieses bedeutet die Einfuhrung eines Be- 
griff lichen in die Tonkunst, aber nicht in dem Sinne, daB 
nun die Musik das gleiche Ziel verfolgte wie die Dichtkunst, 
worauf einzugehen wir spater noch Gelegenheit haben werden. 

Die Aufgabe der Kunst ist der asthetische Ausdruck der 
Lebenstotalitslt, des Menschen und seiner Umgebung, des freien 
Charakters und der denselben necessitirenden Machte, des 
Willens und der Motive: damit ist schon der realdialektische 
Charakter des Asthetischen bezeichnet. Denn das ist ja das 
ewig Unbegreifliche , daB wir uns ganz und gar, bis in den 
innersten Kern, als autochthones Ich, als Individuum fiihlen 
und dennoch in unserer ganzen Existenz wie Essenz (Yer- 
erbung!) abhangig erscheinen vom }>Anderen«. Der Monismus 
lost diesen Widerspruch nicht, denn er kennt konsequenter- 
weise unmoglich eine Ethik, ihm wird die Freiheit zur 



DaB realdialektische Ur-Ph&nomen ixn Asthetischen. 31 

j)bewiiBten Nothwendigkeit«, und selbst ein Schopenhauer konnte 
sich liber diesen sZwiespalt der Nature nicht anders hinweg- 
helfen, als mit dem in seiner bildlichen Naivetat geradezu 
riihrend klingenden Eingestandnis , es sei nicht auszumachen, 
wie weit die Wurzel des individuellen Ich in den alleinen 
Willen hinabreiche. 

Yon jeher gait es nun einsichtigen Denkem (Schopen- 
hauer wie Wagner z. B.) als charakteristisches Merkmal der 
Musik, daB sie das Individuum, den Willen, losgelost von 
alien Motiven an und fur sich allein hinstelle. Darin lag 
aber auch das unwillkiirliche Streben der Tonkunst begriindet, 
iiber sich selbst hinauszugehen, um eine Deutung aller dieser 
unbestimmten Wollungen zu erlangen. Das ist der wichtige 
Fortschritt der modernen Musik, welchen mit vollem Bewufit- 
sein zuerst Berlioz vollzog, daB er diese phantastischen, 
geisterhaften Schemen der Tonkunst zu bannen versuchte durch 
das — Wort. DaB die Musik damit nicht aufhorte, eine ge- 
sonderte Kunst fur sich zu sein, dafiir war schon dadurch 
gesorgt, daB der innerste Kern der Sache doch ungedeutet 
und unbegriffen blieb, daB diese Willensthaten , die uns das 
Wort zu erklaren versucht, im tiefsten Grunde doch nicht 
dadurch verstandlicher werden, diese Willensthaten, welche 
es mit Urgewalt dazu drangt, in ihrer Vermahlung mit dem 
verniinftigen Gedanken sich selbst zu begreifen und gerad^ 
damit erst recht ihrer Unbegreifiichkeit inne werden. Daher 
muB jede Kundt, um ganz das zu werden, was ihr 
tiefinnerstes Streben ausmacht, aufhoren das zu 
sein^wassieist: sie muB in briinstiger Liebesumarmung 
ihre Jungfraulichkeit verlieren, wenn sie ihre Bestimmung er- 
fiillen soil. Aber wie die Sehnsucht des liebenden Menschen, 
ganz aufzugehen in dem geliebten Wesen, niemals sich erfullt, 
wie er in seinem Innersten auch von ihm nie verstanden und 
begriffen wird, wie er doch nach wie vor er selbst bleibt, so 
auch die Kunst, die ihre eigene Sonderexistenz in der Ver- 
bindung mit einer anderen aufgiebt; sie bleibt doch, was sie 
war, nur dafi ihr Sein sich jetzt erst zur voUsten Bliithe ent- 
faltet. Aber das Sehnen bleibt und es treibt zu immer neuen 
Umarmungen, und es verlaBt den Gegenstand seiner ersten 



32 Kunst und Fessimismus. 

Jugendliebe und sucht anderswo sein Gliick und findet es 
nicht, und es kehrt zuriick, aber die endgiltige Befriedigung, 
die Erlosung, sie wird ihm nie. Doch das ist ja gerade das 
Herrliche und Heilige an der Kunst, daB der Widerspruch in 
ihr alles Qualende und Beangstigende verloren hat: er kann 
nur dem wollenden Menschen etwas anhaben. Dem erken- 
nen und handeln wollenden Menschen, fur den das unerbitt- 
liche logische und Wirklichkeitsgesetz existirt, daB ein Ding 
nicht zu gleicher Zeit A und non-A sein, und daB man nicht 
in einem gegebenen Falle entgegengesetzte Entscheidungen 
treffen und verwirklichen konne, — ihm ist der Widerspruch 
das entsetzliche Ungeheuer, die grausame Sphinx, deren Bathsel 
er nicht losen kann, und die ihn in den Abgrund stiirzt. Dem 
asthetisch betrachtenden, dem kontemplativen Menschen, Wotan 
als Wanderer, der da sagt: ))Zu schauen kam ich, nicht zu 
schaffenff, — ihm verklart sich der Widerspruch zu der friede- 
duftenden Paradiesesblume der Resignation und des Humors. 
Aber dafiir fallt die ganze Tragik des Widerspruches in der 
Kunst, die dem KunstgenieBenden verhiillt ist, auf den schaf- 
fenden Kiinstler. DaB er den universalen Weltwiderspruch 
erlebt haben muB — ob an sich oder mitleidend mit anderen, 
gilt gleich — um ihn schauen und schaffen zu konnen, dieses 
Loos theilt er mit alien verniinftigen Wesen. Aber eben um 
ihn kiinstlerisch zum Ausdruck zu bringen, muB er ihn um 
so intensiver und gewaltiger gefiihlt haben als die Anderen. 
Es ist eine tiefe Noth, ein Schmerzensschrei und Sehnsuchts- 
laut, der uns aus jedem wahren Kunstwerke entgegenzittert, 
und hatte der Optimismus Eecht, so gabe es sicher keine 
Kunst. Die optimistische Weltanschauung ist zwar heutzutage 
so bescheiden geworden, daB sie ihren XJrsatz: Ttavra xaAa 
XLav wohl kaum mehr durch ein iarlv erganzt, sondern sich 
mit einem eaeTat begniigt und eine, sei es geradlinige, sei es 
im Schraubengange der Spirale sich vollziehende Entwickelung 
zum voUkommenen Zustande postuHrt. Trotzdem muB sie 
auch dann noch der Kunst, namentlich der Wissenschaft 
gegeniiber, eine inferiore Stellung anweisen (Hegel I); man 
kann die Kunst als unschuldiges Interims- und Palliativmittel- 
chen gegen des Lebens Noth und Miihsal gelten lassen, so 



Die Kunst ein K5nnen und Erkennen. 33 

lange das Ziel der wWeltenwanderunga noch nicht eireicht ist, 
wo dann unzweifelhaft die Wissenschaft an ilire Stelle treten 
muB, oder aber sie hochstens noch als luxuriose Spielerei in 
MuBestunden ein mehr geduldetes als berechtigtes Dasein 
fristen wird, wenn fiir dergleichen im »Staate der Zukunft« 
iiberhaupt noch Platz ist. Dagegen ist dem Pessimisten die 
Kunst die vermoge der Kraft der Phantasie ermoglichte Anti- 
cipation seines ewig iinerreichbaren Ideals, daher von unend- 
licher, nie zu vernichtender Bedeutung. 

Der Vemunft erscheint das Wesen der Welt als das 
schlechthin XJnbegreifliche , der Widerspruch; den Zugang zu 
ihm findet nur das unmittelbare kontemplative Innesein und 
Erfassen des Gegenstandes in' der kiiiistlerischen Phantasie. 
Und ein Werk zu schaffen, das, dem Widerspruch entriickt, 
in seiner vollkommenen Idealitat jedem ferneren WoUen Halt 
gebiete, das ist ja das Ziel alles menschlichen, wie immer ge- 
arteten, praktischen Strebens; dies erreicht aber der Kiinstler, 
indem er sich mit seinem Werke gar nicht an den wollenden 
und durch die Vemunft als Werkzeug des Willens erkennen- 
den Menschen wendet, sondem an die Phantasie, das Gemiith, 
fur die es keinen Widerspruch mehr giebt, oder derselbe 
wenigstens alles Peinigende verloren hat, und welche daher 
auch in der Anschauung desselben, wenn nicht Lust, so doch 
hochste Genugthuung empfinden. Denn hier, im Asthetischen, 
haben wir ein Konnen und ein Erkennen des Menschen, 
illusionar nur auf der Stufe des »Schonen« im eigentlichen 
Sinne des Wortes, in seinen hoheren Erscheinungsformen aber 
von hochster, aktuellster Bealitat, wie jeder zugeben wird, der 
den echten KunstgenuB erfahren hat, doch von einer ungreif- 
baren und unfaBbaren Realitat, ein Yerstehen, das kein Be- 
greifen ist, eine Widerspruchslosigkeit, die nur die Konsequenz 
im Widersprvch bedeutet, ein unmittelbar fiihlendes Innesein, 
fur das die Vernunft kein Organ hat. 

Deshalb kommt auch der Widerspruch in der Kunst nicht 
im Kunstgenusse selbst, sondern erst im reflektirenden Philo- 
sophiren iiber die Kunst zum BewuBtsein, was ja den Gegen- 
stand unserer folgenden XJntersuchungen bilden soil. So viel 
erkennen wir schon jetzt vom Standpunkte der Musikasthetik : 

Louis, Widerspruch in der Musik. 3 



34 ^^s Musikalische die wahre Essentia an aller &sthetischen Existenz. 

die moderne Entwickelung dei Tonkunst, ihre Yerbindung mit 
der Poesie, die als nothwendiges Resultat der gesammten 
neueien Musikgeschichte schon S.. Wagner nachgewiesen hat, 
und ihr trotzdem zuiiickgebliebenes Bediirfnis, eine Sonder> 
existenz fiir sich weiter zu fiihreu^ wie es namentlich in be- 
sonders riihrender Gestalt das Wesen des giofiten lebenden 
Symphonikers, Anton Bruckner's, ausmacht, hat fiir die 
Musik klar und unwiderleglich die Behauptung Bahnsen's er- 
wiesen, daB i^das eigentlich treibende Fortschrittsmoment in 
der Kunstgeschichte das realdialektische Agensa ist, und daB 
die Kunst nicht nur insofem an dem Widerspruehscharakter 
alles Seienden Theil hat, als ihr Objekt eben jenes wider- 
spruchsvolle Weltwesen ist, das die Kunst nicht bei der lUu- 
sion des Schonen verharren, sie vielmehr zur Tragik des £r- 
habenen und zur wehmuthsvoUen Heiterkeit des Humoristi- 
schen fortschreiten laBt, sondem daB dieser Charakter sich 
auch in den Erscheinungsformen des kiinstlerischen Gestaltens 
schon dadurch ausspricht, daB wir fiir jede Kunst eine ge- 
trennte Sonderexistenz beanspruchen, nichtsdestoweniger aber 
das Streben jeder Kunst iiber ihre Grenzen hinaus nach Yer- 
einigung mit einer oder mehreren der Schwesterkiinste als voU 
berechtigt anerkennen miissen. — So sind die einzelnen Kiinste 
chemischen Stoffen zu vergleichen, welche niemals rein und 
ohne Beimischung fremder Elemente in der Natur sich vor- 
finden, und gerade als das eigentliche Wesen der Musik hat 
ja schon R. Wagner das anerkannt, daB sie die eigentlich 
»erlosende Kunstv sei, d. h. doch wohl nur die, in welcher das 
Weltwesen sich am intensivsten bffenbart und die daher den 
mystischen Urgrund aller Kiinste ausmacht, daB dieses Wesen 
der Tonkunst aber auch so atherischer Natur sei, daB es nur 
in Yerbindung mit einem ihm urspriinglich fremden Elemente 
allererst zur Erscheinung kommen und ans Tageslicht tieten 
konne. (TJber Fr. Liszt's symphonische Dichtungen.) Das 
Musikalische ist die asthetische Essentia, losgelost von aller 
Existenz, oder vielmehr: die wahre Essentia an aller 
asthetischen Existenz ist das Musikalische; es ist, 
um den Yergleich noch einmal zu gebrauchen, der intelligible 
Charakter des Asthetischen, und daB das Musikalische sich 



Die Musik und die Schwesteiktinste* 35 

nur zeigt in und an den Daseinsfonnen des Nichtmusikalischen, 
hat sein Analogon daian, daB der Charakter sein Wesen ent- 
hiillt allein durch das Seagiren gegen die auf ihn einwirken- 
den Motive, trotzdem aber ewig unerkennbai und unbegreif- 
lich oft alle Menschenkenntnis zu Schanden macht. Dies ist 
der Grund, warum die Musik immer nur in Yerbindung oder 
Anlehnung an andere Kiinste aufbreten kann, warum sie aber 
aucb in keiner dieser Yerbindungen ihre endgiltige Beiriedi- 
gung findet, sondem es sie zu immer neuen Kombinationen 
treibt. 

Dieses Yerhaltnis ist der Tonkunst nicht allein eigen, es 
zeigt sich mehr oder minder deutlich an alien Kiinsten; aber 
hier tritt es am pragnantesten und wuchtigsten auf; deshalb 
ist auch die Musik so iiberaus geeignet, um an ihr ein Yer- 
standnis fiir die asthetischen Probleme im allgemeinen zu 
gewinnen, und ein Beweis der UnzulangUchkeit unserer ge- 
sammten bisherigen Asthetik diinkt es mich, daB sie vor allem 
gerade der Tonkunst nie gerecht zu werden vermochte. — 
Aus der Geschichte der anderen Kiinste Belege fiir diese Theorie 
anzufiihren, halte ich fiir iiberfliiBig; der Eingeweihte wird 
sie, und zwar gerade vorzugsweise aus der Entwickelung der 
modernen Kunst, sich leicbt selbst auf&nden konnen. Auf 
die Beziehungen der Musik zu den iibrigen Kiinsten werden 
vni ohnedies noch des ofberen zuriickkommen miissen. 

Als Ergebnis dieser unserer einleitenden Betrachtungen 
woUen wir niir einstweilen festhalten, daB, wenn wir die Musik 
als Kunst, wie sie uns heutzutage entgegentritt , analysiren, 
wir nicht auf ein einfaches Princip kommen, sondem auf 
deren mehrere, und zwar solche, die gegenseitige KoUisionen 
herbeizufiihren geeignet sind, daB aber das eigentlich und 
specifisch Musikalisehe das im tiefsten Grunde ^Uen Kiinsten 
gemeinsame Asthetische ist, namlich das iibervemiinftige Inne- 
sein der Einheit im Widerspruch, daB das Hervortreten des- 
selben in die Erscheinung nothwendig mit einer Annahme 
raum-zeitlicher Formen, also fiir die Musik mit der Anleh- 
nung an andere ; den iibrigen Kiinsten angehorende, Lebens- 
auBerungen verbunden, und daher das Streben nach Yereini- 
gung aller Kiinste zu einem Gesammtkunstwerke von jeher 

3* 



36 ^^e Unendlichkeit der ktlnstlerischen Entwickelung. 

das tiefste asthetische Eediirfnis gewesen ist. Dieser ProceB 
ist ein ewiger; aus der Yereinigung streben die Einzelkiinste 
wieder zur Trennung, und aus der Sonderexistenz zu neuer 
Verbindung; immer neue Fahigkeiten gewinnt dabei jede ein- 
zelne, aber das Ende, das scblechthin Befriedigende kommt 
nie; denn, was die Kunst uns ergriinden soil, ist das Uner- 
griindliehe, was' sie uns begreifen machen soil, das Unbegreif- 
liche, und sie konnte dies nur, wenn sie jeder Beziehung auf 
die AuBenwelt entrathen, wenn sie stofflos werden, das Licht 
der Yernunft ganz ausloschen konnte, — dann ware es aber 
auch aus mit allem sSchauena. 1st ja doch das Asthetische 
die Nacht-weisheit, die der Kiinstler ans Tageslieht fordem 
will, die Erda, deren Sinn wirr und triibe wird, wenn des 
Machtigen Spruch sie heraufbeschworen, jenes Unaussprech- 
liche, von dem Tristan meint: »Doch was ich sah, das kann 
ich dir nicht sagena. — Und der Kiinstler sagt es uns doch, 
und unsere Phantasie kommt ihm entgegen, daB wir ahnen, 
was er meinte; aber er selbst wird schliefilich am unzufrie- 
densten sein mit dem Erreichten, und es wird ihn zu immer 
neuen Versuchen treiben, und seine Nachfolger werden das 
iiberkommene Geisteserbe antreten und weiter pflegen , und 
so fort und fort, bis wieder eine Kalpa abgelaufen und die 
Mutter ISatur alle ihre Kinder, das Niedertrachtige und Ge- 
meine mit dem Edlen und Heiligen, in ihren SchoB zuriick- 
nimmt, um den Kreislauf von neuem zu beginnen. — 

Wir aber wenden uns jetzt zu der Betrachtung der drei 
Erscheinungsformen des Asthetischen , namlich des Schonen, 
des Erhabenen und des Humoristischen , im Bereiche der 
Tonkunst. 



Das Mnsikalisch-Asthetische in seinen drei Grnndformen. 



I. 

Das Schone in der Musik. 

JHjs hat sich x>das Urtheil iiber eine Musik auf die £r- 
kenntnis deijenigen Gesetze zu stutzen, nach welchen von der 
Wirkung der schonen Erscheinung, welche die allererste Wir- 
kung des bloBen Eintrittes der Musik i^it, zur Offenbarung 
ibres eigensten Charakters^ durch die Wirkung des Erhabenen, 
am unmittelbarsten fortgeschritten wird. Der Cbarakter einer 
recbt eigentlich nichtssagenden Musik ware es dagegen, wenn 
sie beim prismatischen Spiele mit dem Effekte ihres ersten 
Eintrittes verweilte, und uns somit bestandig nur in den B-e- 
lationen erhielte, mit welchen die auBerste Seite der Musik 
sich der anschaulichen Welt zukehrt. 

Wirklich ist der Muisik eine andauemde Entwickelung ein- 
zig nach dieser Seite bin gegeben worden, und zwar durch 
ein systematisches Gefiige ihres rbythmischen Periodenbaues, 
welches sie einerseits in einen Vergleich mit der Arcbitektur 
gebracht, andererseits ihr eine Uberschaulichkeit gegeben hat, 
welche sie dem oben beriihrten falschen Urtheilea — Musik: 
schone Kunst — «nach Analogic der bildenden Kiinste aus-* 
setzen muBte.« 

Mit diesen Worten hat R. Wagner (Beethoven, Ges. Schr. 
u. Dicht. 2. Aufl. IX, 78), in wenigen Satzen mehr bietend 
als manche dickbandige Asthetik, das Wesen und die Bedeutung 



38 Scheinhaftigkeit des Schonen. 

des Schonen in der Musik liberaus klar und einleuchtend 
pracisiit; sie sollen uns bei der gegenwartigen Untersuchung 
als Leitstem dienen. — 

Wir erkannten in dem Schonen eine Erscheinungsform 
des Asthetischen, und zwar die unterste und einseitigste. Das 
Asthetische iiberhaupt war uns das in reiner Kontemplation 
erschaute Wesen der Welt. Als den innersten Kern dieses 
Weltwesens bezeichneten wir im AnschluB an Bahnsen die 
widerspruchsvoUe Einheit des in sich selbst gespaltenen Willens, 
der seinen Inhalt eben so wohl und eben so sehr bejaht, als 
auch vemeint. Wird nun in der asthetischen Kontemplation 
die eine Seite dieses Weltwesens »einseitig(( hervorgehohen, 
so zeigt sich uns entweder, wenn namlich die Einheit am 
Wesen des Willens einzig betont wird, das Schone, oder, 
wenn der dem Weltwesen essentielle Widerspruch vorzugs- 
weise hervortritt, das Erhabene; wird endlich diese Antithese, 
nicht zu einer Synthese — denn dann miifite der Widerspruch 
in ihr sich aufheben — sondem zu einer widerspruchsvoUen 
Einheit zusammengefaBt; so haben wir die dem Weltwesen, 
dessen Essentia eben in jener widerspruchsvoUen Einheit einer 
voluntas volens eademque nolens besteht, einzig adaquate asthe- 
tische Gestalt des Metaphysischen, im Humor. 

Es ist also wesentliche Eigenschaft des Schonen, daB der 
Wille in ihm »vermittels seiner Grundeinheit iiber seine fun- 
damentale Selbstentzweiung sich selber beliigta, daB es bloBer 
»Schein« ist: »es scheine das Schone !« — Wie ist dies nun 
moglich? 

Das Streben nach Einheit zeigt sich vornehmlich im Er- 
kennen-WoUen und im erkennenden WoUen des Men- 
schen, in seiner intellektuellen Thatigkeit. Wird das Erkennen 
auch schlieBlich gegen seinen Willen durch die Natur seines 
Gegenstandes dazu gezwungen, sein eigenstes Wesen aufzu- 
geben, darauf zu verzichten, alle Widerspriiche in Einheit auf- 
zulosen, und sieht es sich auch endlich genothigt, das Alogi- 
sche als eine Realitat anzuerkennen , so ware doch, wenn es 
gelange, das Erkennen iiber diesen wahren Sachverhalt zu 
tauschen, die Moglichkeit einer wenigstens illusionaren Er- 
reichung seines Strebens gegeben. Und in der That tritt ja 



Die Naturschonheit. 39 

der Widerspruchscharakter nicht immer so deutlich zu Tage, 
eT liegt nicht iiberall so an der Oberflache, daB nicht der Fall 
eintreten konnte, daB der betrachtende Mensch sich iiber den 
Kern der Sache tauschen lieBe. Das Herz geschwellt von 
eister Jugendliebe, alles Junglings-Sehnen und -Hoffen in der 
wogenden Brust, versetzt den Menschen in den duftenden 
Bliithenhain der Friihlingsnatur, und er wird die Welt schon 
finden. DaB jeder Bliithe ein Wurm im Herzen nagt, der 
sie in kurzer Frist verdorren und verwelken laBt, das weiB 
und ahnt er nicht, er schwelgt im Wonnerausch des Schonen : 

— das ist Naturschonheit. Der gliickliche Mensch 
sieht sich in die Natur hinein, und, wie aus einem 
Spiegel; tritt einzig sein eigenes schones Bild ihm 
aus ihr entgegen. 

Das Schone ist die »Versohnung von Seele und Ver- 
stand, von Natur und Ubernatiirlichkeit, von Materie und Geist 

— in der Form, denn eben sie ist die Gewahr, daB die 
Yersohnung) die Ineins-Bildung des Gegensatzlichen zu Stande 
gekommen ist, daB ein innerliches, geistiges Leben den ihm 
entsprechenden Ausdruck, daB die Seele ihren Korper, die 
Sache ihr entsprechendes Zeichen, daB ein Pol und Weltfaktor 
sein Korrelativ gefunden hat. Darum eben istGeschlechts- 
lie be als die gegenseitige Erganzung des mannlichen und 
weiblichen Lebens, der vemiinftigen und sinnlichen Bildung, 
das ewige Urbild der Schonheit der Welt.« (B. Goltz, Das 
Menschen-Dasein II, 119 f.) 

Als ein ))&eies Spiel der Phantasie und des Verstandesa 
hatte Kant die Empfindung des Schonen definirt, und wir 
konnen dies in IJbereinstimmung mit Schopenhauer vom 
Standpunkte der Willensmetaphysik dahin kommentiren, daB 
wir einen Gegenstand dann schon finden, wenn er in uns die 
Illusion erweckt, als ob das Ideal des Erkennen-Wollens, die 
schlechthinige Widerspruchslosigkeit in der Anschauung , eine 
»formale ZweckmaBigkeittf, das restlose greif- und erkennbare 
In-die-Erscheinung-Treten des Weltwesens sich uns darbote. 
Wir haben dies als eine Tauschung erkannt: schon aus dem 
einzigen Grunde, daB jede Erscheinung fliichtig und vergang- 
lich ist, erhellt, daB das Ewige nicht vol! undganzals Realitiit 



40 Dtts Sebdoe bei Kaot 

m sie eingelien kann ; daS aber em kbendiges^ beaeeltes Ding 
der Maeht der Zeit nnterwoifen sei dies wizd but dann er- 
UirfiehY wean mis die Ezkenntms aii%egaiigeii ist^ daB alles 
Seiende ein in sich selbd WideistreilendeSr cine Einheik Ton 
Gegenttlzen ist^ welche sich gegensettig bekampfen und Ter- 
nicbten^ Danun ist das Leben kein ewiges nnd seliges Leben, 
sondem ein endlicbes nnd nnseligea, ein Yer-leben nnd ein 
Ver-enden, 

Das Scbone ist die snbjektiTste — aber nicbt die indi- 
Tidnellste — Ton alien Eischeinnngirfbnnen des Asthedseben: 
denn es beriebt setnen Gegenstand diiekt anf die Eigenart 
nniseres Erkenntnisrennogens : nnr das dem Intellekt Ange- 
messene, ibn Befiriedigende, ibm CrenSge Leistende ist scbon. 
Ob die Tbatsacbe, daB ein Natuigegenstand una islhetiseb 
>ge£dle«y d. b. Veistand nnd Phantasie in jenes fireie Spiel 
dex nnwillkurlicben Ubereuisdmninng Teisetse^ eine Dlnsion 
sei oder nicbt, ob dieses Woblge&llen nnr dem Umstande zn 
Terdanken sei, daB eben der scbone Gegenstand das Wesen 
des Seienden nnr einseitig nnd nnToUkonunen in der Erscbei- 
nnng darstelle, oder ob im Gegentbeil das Scbone die toU- 
endete Sicbtbarmacbnng des Weltwesens, das dem Ding an 
sicb, dem Nonmenon, einzig adaquate Pbanomenon sei, diese 
Frage bat Kant offen gelassen, neigt aber entscbieden zn der 
Auffassnng, daB das Scbone kein bloBer Scbein, daB es ivirk- 
licb die Sicbtbar-Werdung des Wesens der Welt sei : denn sonst 
batte die (reflektirende) Urtheilskraft, das Yeimogen der 
astbetiscben Urtbeile, ja nicbt dazu getaugt, die beiden Fliigel 
des kritiscben Lebrgebandes, in denen Yerstand und (prak- 
tiscbe) Yernunft als souverane Alleinbenscber thronten. 
dorcb den macbtigen Mittelbau der Astbetik nnd Teleologie 
zu Tereinigen. Dann erst wird die ganze Kantiscbe Astbetik 
Terstandlicb, wenn man diese letzte Endabsicht des Pbiloso- 
phen mit beriicksicbtigt. Solcbem mebr angedeuteten als 
ausgesprochenen Winke des groBen Yemnnfikritikers folgend, 
war es der unmittelbaren Erbin der Kantiscben Pbilosopbie — 
abgesehen Ton dem fur die Astbetik ganz und gar bedeutungs- 
losen parodistiscben Nacbspiele, das sie in Ficbte's Lebre er- 
lebte — der Scbelling-Hegerscben Identitatsmetapbysik, eifrig 



Kant's Nachfolger. 41 

darum zu thun, jede Spur von Kant's genialer Lebensarbeit 
zu verwischen, die Theorie aufzustellen^ daB unsere Vemunft 
dem Weltwesen voUkommen adaquat, yoUkommen im Stande 
sei, den innersten Kern des Dinges an sicb zu erfassen, ja daB 
dieses groBe X, dies verschleierte Bild von Sais, nichts anderes 
sei als die Vemunft selbst. Obwohl hierbei Kant^s sonder- 
bare/ ungerechtfertigte Terminologie mit ihrer »praktischen 
Vemunft « als iiberleitender Mittelbegriff diente, war Kant 
selbst doch vorsichtig genug gewesen, diesen Scbritt nicht 
selbst zu thun: denn es hatte sich wahrlicb nicht der Miihe 
verlohnt, mit einer erstaunlichen Denkkraft, die heute noch 
gerade so bewundernswerth erscheint als vor 100 Jahien — 
und so yiele sind es jetzt her, daB Kant sein »kritisches Ge- 
schafttf zu Ende brachte — feste Grenzen fiir unser Erkenntnis- 
vermogen zu ziehen, genau zu bestimmen, was ihm zuganglich 
sei und was nicht^ wenn die Vemunft (als erkennende) , diese 
Schranken kiihn iiberspringend, sich doch schlieBlich riihmen 
konnte, das sprode ))Ding an sichcc bewaltigt, ihm sein Ge- 
heimnis entrissen, es »erkannt<( zu haben. Schopenhauer war 
es Yorbehalten , den anderen Weg einzuschlagen , mit Kant 
daran festzuhalten^ daB das Wesen der Welt unserem Intellekt 
schlechthin unzuganglich sei, daB er das seiner Herrschaft 
unterworfene Reich der »Welt als Vorstellung « nicht verlassen 
diirfe, ohne in leere Traumereien zuverfalleh; ihm »erschloB(( 
sich das Ding an sich nicht durch irgend einen Vernunft- 
»SchluB<(, sondem durch das unmittelbar.gefiihlte und erfaBte 
Inne-Sein unseres Wesenskernes , fiir welches Unsagbare er 
don Terminus »Willetf lediglich deshalb wahlte, weil der Wille, 
obwohl auch noch dem Reiche der Vorstellung angehorig, sich 
doch am weitesten hinab verfolgen laBt in das nachtige Land 
des der Vemunft Unzuganglichen und so die Sache mehr 
andeutet [be-'»zeichnetff), als begrifflich erfaBt. Dies ist auch 
der Grand, warum die Schopenhauer^sche Philosophic nicht 
gelehrt werden kann: man muB sie erlebt haben, um ihre 
unwiderlegliche Grundwahrheit einzusehen. 

Das Wesen der Welt ist also hier, ganz im Gegensatze zu 
Hegel, ein XJn- und Uber-Logisches ; daB es damit aber auch 
ganz von selbst ein Antilogisches wird, daB nun der Widerspruch 



42 Limitirung des eigenen Standpunktes. 

als Ausdruck des innersten Weltmhaltes sich offenbart^ diese 
Konsequenz ist dem Meister selbst nie so voUstandig zum Be- 
wuBtsein gekommen, daB er sie klar und pracise ausgesprochen 
hatte^ woran ihn hauptsachlich auch sein, mit der Willens- 
metaphysik eigentlich unvereinbarer, Monismus yerhinderte. 
Mit kiihner Unerschrockenheit und zagloser Genialitat hat 
Bahnsen, der einzige echte »Schopeiihauerianer(( , der nicht 
nur a la Frauenstadt in verba magistri schwur, sondem ein 
»Selbstdenker(r in des Meisters Geiste war, diesen Weg be- 
treten iind damit die Gedankenkette, welche Schopenhauer 
von Kant iiberkommen hatte, geschlossen. 

Diese ganze Abschweifung war unbedingt nothwendig, um 
die verschiedenen Auffassungen des Schonen in den Nach- 
Kantischen Systemen zu begreifen. Kant selbst hatte es, wie 
gesagt, unentschieden gelassen, ob das Ding an sich, kurz 
ausgedriickt, ein vemiinftiges sei oder nicht, tendirt aber ent- 
schieden zu ersterer Auffassung; demgemaB spielt in der 
Kantischen Asthetik das Schone, als diejenige Form des Asthe- 
tischen, in welcher eine unwillkiirliche XJbereinstimmung eines 
Naturgegenstandes mit unserem Erkenntnisvermogen in der 
Anschauung hervortritt, zwar die HauptroUe, es besteht aber 
neben ihr voUstandig unabhangig die Form des Erhabenen, 
in welcher das den Sinnen sich darbietende Objekt entweder 
der BeschajSenheit unseres Intellekts ganz unangemessen ist 
(Mathematisch-Erhaben) , oder gar unsere eigene Existenz mit 
iibermachtiger Gewalt bedroht (Dynamisch-Erhaben), wo dann 
die asthetische Lust nicht mehr in einem freien Spiel von 
Verstand und Phantasie besteht, sondem es einzig unser eigener 
unendlicher und unabhangiger metaphysischer Wesenskem 
ist, welcher iiber die feindliche AuBenwelt triumphirt; von 
einer solchen Ubereinstimmung zwischen der Sinnenwelt und 
den Postulaten unserer Yernunft, wie sie die Erscheinui^ des 
Schonen verbiirgt zu haben schien, konnte aber hier nicht 
mehr die Rede sein. — Was wir nun oben (S. 8 f.) als eine 
Versiindigung am Gesetze der Specifikation sowohl als am 
Geiste der deutschen Sprache riigen muBten, indem wir einzig 
den Gegenstand im Auge batten, daB namlich fast die ge- 
sammte neuere Asthetik die scharfe Trennung des Schonen 



Fortsetzung. 43 

vom Erhabenen aufhob, ersteres als einzige Grundform des 
Asthetischen und letzteres als eine sBesonderungu derselben 
ansah, sodaB die Asthetik iiberhaupt zu einer »Philosophie 
des Scli6nen« wurde, dies begreifen wir jetzt als nothwendige 
KonsequenZ; nachdem wir die ganze Tendenz der Hegerschen 
Richtung kennen gelemt haben. SoUte in der That, wie es 
Kant nur angedeutet hatte, das Weltwesen als ein dem mensch- 
lichen Intellekt vollkommen Adaquates und Zugangliches be- 
griffen, ja schlieBlieh geradezu in seinem Inhalte mit ihm 
identificirt werden, so wai es ganz folgerichtig , daB das £i- 
habene, in welchem das Asthetische als ein Anti>Logisches 
auftritt, als eine Vorstufe betrachtet wurde, auf welcher es 
noch Widerspriiche giebt, welche eben die hocbste Stufe des 
Schonen in eitel Harmonie und Wohlgefallen aufzulosen be- 
rufen ist. Einen absoluten Widerspruch zwischen Welt und 
menschlicher Vemunft, ein Absolut-Erhabenes, konnte diese 
Schule unmoglich kennen — weder ein (absolut) Mathematisch- 
Erhabenes; denn warum soUte die Vemunft das mit ihr 
wesensidentische »Ding an sicha nicht erfassen konnen, wo 
soUte es etwas geben, wohin sie ihre Fackel nicht tragen, was 
sie rticht erhellen konnte? — noch ein (absolut) Dynamisch- 
Erhabenes: denn schlieBlieh muBte es ja doch der Vernunft 
gelingen, ihren eigenen Inhalt in einer Welt zu verwirklichen, 
deren innerster Wesenskem mit ihr selbst identisch ist! Hier 
war also nicht das Schone die illusionare Gestalt des Asthe- 
tischen, sondern das Erhabene. Das Letztere ist ebensowohl 
das Nicht- mehr-Schone (Schon = unbewuBte, naive Wider- 
spruchslosigkeit, die den Widerspruch noch gar nicht entdeckt 
hat), als auch das Noch -nicht- Schone (Schon ^= durch den 
Widerspruch hindurchgegangene , ihn iiberwunden habende 
Widerspruchslosigkeit) . 

Wir aber, die wir mit Bahnsen die Synthese als eine 
Illusion perhorresciren, kennen nur ein Einfach-Schones, eine 
imaginare Widerspruchslosigkeit, die noch nicht bis zum in- 
nersten Kern der Sache vorgedrungen ist, das Schone als 
Noch-nicht-Erhabenes ; das Erhabene hingegen ist uns, als 
das Nicht-mehr-Schone, die dem Weltwesen adaquatere Form 
des Asthetischen, und das Analogon einer Synthese haben wir 



44 1^16 athetdschen Gnindformen und der Widerspruch. 

nur ia der Thatsache, daB der Wille ^uf der hochsten Stufe 
des Asthetischen, im Humor, allerdings beiden Seiten seines 
Doppelwesens gerecht zu werden vermag, sowohl seiner fun- 
damentalen Selbstentzweiung als auch seiner Grundeinheit, 
indem er eben die entgegengesetzten Enden zur widerspruchs- 
YoUen Einheit zusammenfaBti und so zwar den Widerspruch 
nicht aufbebt, indem er sein Wesen (logisch) begreift, sondem 
seiner innersten widerspruchsvollen Natur ahnend und fiih- 
lend J»inne« wird. Deshalb ist das Humoristische auch die 
intimste und individuellste Form des Asthetischen, und darum 
auch die i>deutschestea — so deutsch wie die Beethoven'sche 
Kammermusiky so deutsch wie ein »langweiliger(r, handlungs- 
armer Roman von G. Keller oder W. Baabe, so deutsch wie 
eine Bruckner'sche Symphonic. S. 40 haben wir das Schone 
die subjektivste Gestalt des Asthetischen genannt in dem 
Sinne, daB bei ^hm das Objekt des Asthetischen, das Meta- 
physische, am wenigsten erfaBt, am wenigsten in seine Tiefen 
hinabgedrungen wird. In demselben Sinne ist das Humo- 
ristische die objektivste asthetische Form : in ihm treten beide 
Seiten des Weltwesens, Widerspruch wie Einheit, gleicher- 
weise deutlich hervor, wahrend im Erhabenen der Wahrheit 
zwar schon naher getreten, dieselbe aber noch nicht ganz er- 
reicht wird, indem der Widerspruch (als Entzweiung) hier 
ebenso einseitig betont wird^ als beim Schonen die Einheit. 
Beim Schonen verhalt sich das Subjekt naiv; im Erhabenen 
erkennt es: nZwei Seelen wohnen, achl in meiner Brustlcc 
— und im Humoristischen wird es inne, daB diese zwei Seelen 
nichts anderes sind als die beiden untrennbaren Halften seines 
eigenen untheilbareU; wie unverganglichen Ich. 

Welche Folgerungen ergeben sich nun aus diesen Vor- 
aussetzungen fur das Kunstschone? Wir hatten S. 39 die 
Naturschonheit in der unwillkiirlichen Empfindung des Zu- 
sammenstimmens der Natur mit dem Gemiithszustande des 
gliicklichen Menschen erkannt. Gleichzeitig hatten wir diese 
Empfindung als eine doppelte Illusion bezeichnet, sowohl nach 
der objektiven wie nach der subjektiven Seite bin , indem 
einerseits das schone Naturobjekt als restlose Objektivirung 
seines Wesens (der Flatonischen Idee bei Schopenhauer) in 



Der Empfindungsinhalt beim Schdnen. 45 

wohlgefalliger Form sich darstellt, d. h. das dem Gegen- 
stande zu Grunde liegende WoUen sein Ziel yollkommen er- 
reicht zu haben scheint^ andererseits unser eigener Wille durch 
seine interesselose Befiriedigung — und wenn das Schone iiber- 
haupt je rein und »&eia in Natur oder Kunst vorkommt, so 
miissen wir an dieser Kantischen Bestimmung festhalten — das 
widerspruchsvoUe Phanomen eines genuBlosen GenieBens dar- 
bietet, welchem Umstande die schlechthin illusionare Schein- 
haftigkeit und momentane Fliichtigkeit der asthetischen Em- 
pfindung des Schonen entspricht. Nun haben wir schon 
gesehen, daB jedes Reflektiren iiber den schonen Naturgegen- 
standy jeder Versuch, in seinen Wesensinhalt einzudringen, 
die reine Schonheit desselben sofort beeintrachtigt : der Schein 
wird aufgedeckt. Es ist also in der That die bloBe Form- 
beschaffenheit, welche die asthetische Lust in uns erweckt. 
Aber hierbei bleiben wir nicht stehen, sondern diese Lust 
wird uns unwillkiirlich zu einem Empfindungsinhalte, 
der dann »als Seele in den geformten Gegenstand verlegt, 
dessen Gestalt von innen bedingta. (Vgl. Schiller, Tiber 
die asthetische Erziehung des Menschen.) So ist es nicht 
eigentlich die Seele des schonen Gegenstandes selbst, die den 
innersten Kern der Empfindung des Schonen ausmacht, son- 
dern allein der Umstand, daB die formale Gestaltung, die 
AuBenseite eines Gegenstandes, seinem Wesen nicht voU- 
kommen adaquat ist, indem sie eine reine Widerspruchslosig- 
keit darstellt, welche dem Willen seiner Natur nach nicht 
zukommen kann, erweckt in uns den asthetisch lustvoUen 
Empfindungsinhalt, den wir nun als jenen verborgenen 
Wesenskern des schonen Objekts hypostasiren. Hiermit ware 
die illusionare Negativitat des Schonen voUstandig nachge- 
wiesen. 

Fiir den Kiinstler nun, der ))Schones(r schaffen wollte, lag 
die Thatsache des Naturschonen vor; seine Wirkung muBte 
er nachzubilden suchen. Wenn nun hierbei fast ausnahmslos 
von alien Asthetikem gefordert wird, daB es nicht geniige, die 
schone Natur so getreu als moglich zu kopieren, daB man viel- 
mehr dieselbe »idealisieren((, d. h. Detail vernachlassigen, 
»Unwesentliches(( weglassen miisse u. s. w., so hat dies theilweise 



4Q I>ie K.''ir.t(deTiMctie Thadxdteit oei der ProdiuEXiaii iet Seiiaiien. 

aaeh seinen Gmnii darin. da£ 'ler KnTwrii»r ahwrhtiick das 
in sefner Nach ^ ildun$r heseici^en. mn£. was der ^iackliciie 
Mennch an der Namr, wenn «* ^ie schoa tmdec ^ibcscHidtt, 
will er die ^ieiche Wiiinmg' errpirhen. Dieae Foidenm^ iat 
in gewi^f^er Hinsicht ein JTidirRkipr Beweia mr die uesati^e 
Natur de» Schoneo. 

In Wahrheit sind ea nicht die der Namx za Gzmide 
liegenden Platoniscfaen Ideoi. welciie der Kiinytler znr Dar- 
stellang hrinst. aondem der lein ^sobjektiYe EmpTrndiiTi gwnlialL 
welcber die AuBenseite des Gegenstandea in uns eizegty 
zwingt una. ihn ala Sobstzat jeneaai Ge^enatande zn Gnoide 
liegend za iTnagrniren, Diese Sobreption ist daa Wezk der 
aathetisclien Phantaaie. ubex welciie achon toil so Vieleii, 
Herufenen wie Unbem&aien. phantasirta worde. nnd das 
Einzige. was aie aof dieaer Stnfe des A^tfaetiachen leistet. 

Die kiinatlenache Thatigkeit bei der Froduktion des Schiinen 
laBt sich nun folgendermaBen ^izziren: Die Natarschonheit 
ist scblechterdings ubezall die Yoianssetzun^ der Kunstachdnr- 
heit ; sie bewirkt im Kiinsder jenen ezsten Eindmck. erweckt 
jenen » Empfindungsinlialt i , welcher zur kiinsdeTTfichen Pro- 
daktion den eisten AnstoB giebt. Es braacbt wobi kaum erst 
aufldriicklicb bem^kt zu werden. daB dieses Namrscbdne nickt 
immer gerade eine * Landscbaft -^ oder der;^ za sein braacbt^ 
woran man zunacbat bei Natuzacbonbeit immer denkt. sondem 
es kann dies ebensognt ein reeller Yorgang der Gescbichte,. 
des gesellscbaftlicben Lebens oder was immer sein. Ja^ es 
ware denkbar. daB aucb ^n anderes Kunstwerk bei dem. 
Kiinstler die Stelle des Xaturscbonen vertxete. daB der Ein- 
druck desselben einen so specifiscben Empfindnngsinbalt gerade 
bei ibm bervomife, daB er dadurck zur Scbi>pfang eines neaen 
Kunstwerkes begeistert wird. — Jedenfdis baben wir in einem. 
solcben Eindrucke den Moment der eigentlicben kiinstlenscben 
Konception:in dieser » allgemeinen musikaliscben Stimmung v, 
welcbe bei Schiller dem eigentlicben Produciien Toranguigy 
ist der erste Keim des Kunstwerkes zu sucben; in dem Ver- 
iegen des Inbaltes dieser Stimmung in den Gegenstand, der 
sie bewirkte, als dessen jiSeele« bestebt die Tbatigkeit der 
kiinstleriscben Pbantasie. 



Schonheit und Gottlichkeit. 47 

Bei der Ausarbeitung nun. konstruirt der Kiinstler eine 
Nachahmung des Natmgegenstandes und zwar derart, daB er 
nur diejenigen Formen in seine Nacbahmung aufhimmt, welcbe, 
zuerst in die Augen fallend, jenen lustvollen Empfindungsinhalt 
erweckten; alles Andere laBt er als nunwesentlicbft bei Seite. 
Ob es objektiv auch in der Tbat unwesentlich sei, das 
kiimmert ihn nicht; fur ihn ist es unwesentUch, ja hinderlich 
— namlicb fur die Erweckung des von ihm beabsichtigten 
Empfindungsgehaltes. Es ist also in der Tbat eine fremde 
Seele, die dem Naturgegenstande eingebaucht wird; eine Seele, 
an welcher er allerdings insoweit auob Tbeil bat, als der An- 
blick seiner Formen dieselbe in uns wachrief. Deshalb hat 
das Schone in der Kunst eine Domane, aus welcber es nicbt 
so leicbt vertrieben werden kann, solange dieses Gebiet iiber- 
haupt nocb kultivirt werden wird, ich meine die Darstellung 
des XJbematiirlichen, des Gottlicben, und aus demselben 
Grunde bat aucb das Scbone in der Kunst nur einihal einen 
Gipfelpunkt erreicht, zu dem es sieb spater nie mebr auf- 
scbwingen konnte, in der belleniscben Plastik. Der (ab- 
solut und in jeder Hinsicht) scbone Menscb ist nicbt mebr 
Menscb, er ist — Gott. Solange die Menscbbeit an Gotter 
glaubte, die in leibbaftiger Sinnlicbkeit und korperlicber 
VoUkommenbeit, Qaia ll^djovzeg auf den wolkigen Hoben des 
Olymp thronten, solange war das Scbone mebr als ein Scbein, 
nicbt bloBe Illusion, es lag ibm eine Realitat zu Grunde. 
Als aber dieser Glaube gescbwunden war, als man das Natiir- 
licbe scbon darstellte, sicb und der Welt vorzuliigen sucbte, 
daB das Wesen dieser unserer endlicben, unvollkommenen, 
elenden "Welt im Scbonen zur Erscbeinung komme, da konnte 
es sich, genau genommen, nur nocb um die Alternative bandeln : 
entweder die Kunst giebt ibr wabres, eigenstes Wesen, namlicb 
sinnenfaUiger , aber ebrlicber und adaquater Ausdruck eines 
Realen zu sein, auf und emiediigt sicb zu Heucbelei und 
leer em, inbaltslosem Formenspiel, . — oder aber sie verlasst 
den einseitigen Kultus des Scbonen und wendet sicb dem Er- 
babenen und Humoristiscben zu. Beide Bicbtungen bat sie 
eingescblagen , und zwar die Musik die zweite gerade nocb 
zeitig genug, um ibr wahres Wesen mit in die neue Zeit 



48 ^^ Socialismas und das Kunstproblem. 

hiniiber zu retten. — Entweder ein Kiinstler glaubt heutzutage 
noch an eine yollkommene, widerspruchslose Welt ( — nur suclie 
er sie dann gefaUigst siiber'ni Stemenzeltc : denn diese unseie 
Erdenwelt dafiir anzusehen, einen solchen srachlosen* Opti« 
mismus wiirden wir doch nicht so ohne weiteres passiren lassen, 
den betreffenden Herm vielmehr bitten, sich diesen optimam 
mundum einmal gehorig anzusehen, vne er denn eigentlich 
ausschaue!) — gut, dann schaffe er schone Formen! Hat 
aber der Kiinstlex diesen Glauben verloren, so prostituirt er 
seine Kunst, wenn er ihre Au%abe darin findet, sich in schonen 
Formen zu ergehen. Dann wird die Kunst wirklich das, was 
man ihr, theilweise mit Recht ( — besonders in Biicksiclit auf 
gewisse Bichtungen und Erscheinungen im Bereiche der bil- 
denden Kiinste — ] ohne weitere Bestriktion ausgesprochen, 
mit Unrecht oft vorgeworfen hat: sie wird unsittlich. In 
dieser Beziehung diinkt es mich eine interessante Erscheinung, 
wie der Socialismus, dem ja in alien solchen Fragen 
wenigstens das Lob riicksichtslosen Freimuthes, allerdings nur 
zu haufig verbunden mit philosophischer Boheit und asthetischer 
Banausitat, nicht leicht vorenthalten werden kann, zum Kunst- 
problem Stellung genommen hat. Zwei Socialisten nun — 
soviel ich weiB, auch die Einzigen, welche sich ausfiihrlicher 
hieriiber haben vernehmen lassen — diirfte jener Vorwurf 
kaum treffen, ich meine P. J. Proudhon und Bichard "Wagner 
in seiner revolutionaren Periode; und merkwiirdi^er Weise 
gelangen Beide, ganz unabhangig von einander, fast zu dem 
gleichen Besultate. 

Der eigentliche Tendenzinhalt von Proudhon's, bei alien 
Sonderbarkeiten durch scharfsinnige Dialektik ausgezeichneten, 
Buche »Du principe de Tart et de sa destination sociale« (Paris 
1865) laBt sich namlich folgendermaBen zusammenfassen : Die 
Kunst der Yergangenheit hatte zum Ideale die gottliche 
Schonheit; die Kunst der Zukunft wird die menschliohe 
Schonheit ziim Ideale haben. Aber erst wenn die XJmwal- 
zung unseres gesammten socialen Lebens schone und gliick- 
liche Menschen hat entstehen lassen, kann die Kunst dieses 
ihr neues Ideal erfassen. Yorderhand bleibt uns als einzige 
Aufgabe die Kritik der modernen Pseudo-Kunst, welche den 



Socialismus und Pessimismus. 49 

Idealismus der Form zu ihiem Principe erhobeii; und da- 
her, ohne wahien Inhalt, in keinem lebendigen Zusammen- 
hang mit unserem Gewissen steht. — Nicht viel anders lautet 
aber das Wagner'sche Dogma vom vKunstwerk der Zukunfta, 
welches zu seiner Yerwirklichung eine ganz andere Lebens- 
grundlage als die unserer heutigen Gesellschaft verlangt, nur 
daB Wagner nicht wie Proudhon die Moglichkeit eines posi- 
tiven Strebens nach diesem Ideale auch in der Kunst, einer 
Dasthetischen Erziehung des Menschencc leugnet. — Da uns 
hier nicht die Entwickelung der asthetischen Ansichten Wag- 
ner's, sondem nur die allgemeine Seite des Problems beschaf- 
tigt, so konnen wir den Weg nicht weiter verfolgen, auf dem 
der Meister iiber die Asthetik des Socialismus hinausgegangen 
ist, um einen Standpunkt einzunehmen, der uns berufener- 
scheint, die Nichtigkeit aller bisherigen Asthetik und deren 
XJnvereinbarkeit mit dem, was wirklich edel und beachtens- 
werth in der modernen Kunstgeschichte erscheint, aufzudecken. 
Wenn die Kunst iiberhaupt vor alien Dingen schone Kunst 
sein soil, dann ist sie in der modernen Welt eine Liige: also 
schafft zuerst eine schone Welt, dann wird die schone Kunst 
auch ihre XJnsittlichkeit verlieren. Ist aber diese ertraumte 
)) schone Welt a eine Illusion, dann kann und darf es nicht 
den Hauptzweck der Kunst bilden: schone Kunst zu sein. 
Socialist oder Pessimist, so lautet auch fiir die Kunst 
die Alternative, und da beide fiir mich — soweit es sich um 
denkende Menschen handelt — einen kontradiktorischen 
Gegensatz bilden, muB gesagt werden: tertium non datur, — 
Aber man meine nicht, daB nun das Schone aus der Kunst 
einfach zu verbannen sei, daB die Kunst, um ihr edleres We- 
sen, die Wahrhaftigkeit , zu retten, nun haBlich werden 
miisse, ein Irrthum, in den manche »modeme Kichtunga ja 
in der That verfallen ist. Nichts ware verkehrter! Die Kunst 
soil allerdings auch schon sein, aber sie soil dies nicht allein 
sein, und zwar soil das Schone, als das niedrigere Princip, 
iiberall da weichen, wo es mit den hoheren Forderungen des 
Wahren und Charakteristischen in Konflikt kommt. 

Wie es noch keinen echten Pessimisten gegeben hat, der 

Louis, Der Widerapruch in der Muaik. 4 



50 [^M Schdne in der Kunst. 

so wahnsinnig gewesen wUre zu leugnen, daB auch das Schdne, 
das Edle, das Liebens- und Bewundemswerthe in dieser 
jDgrundschlechten Welta faktisch existirt — eine Thatsache, die 
iibrigens, nebenbei bemerkt, nicht, wie man yielleicht glauben 
sollte, geeignet ist, das Weltelend zu mindem, sondem es im 
Gegentheil gerade noch verscharft; denn sie ist es ja, welche 
die Resignation erst zu einem schweren, unter Umstanden sogar 
reeU unmogUchen und ethisch verwerfUchen Opfer macht; 
denn ^das ist gerade der tiefstbohrende Stachel, daB wir nicht 
ganz Nichts sindtf, beiBt es im DPessimisten-Brevierff — so fallt 
es auch mir nicht ein, die relative Berechtigung der Ford^ 
rung nach Kunst-9Schonheit<r abzustreiten, und es liegt uns 
jetzt ob zu untersucheU; wie sich das Schone in der Kunst, 
speciell in der Musik, zunachst einseitig realisirte, und so- 
dann, welche Rolle es auch dann noch spielen kann, wenn 
es seine Alleinherrschaft im Reiche des Asthetischen ver- 
loren hat. 

Wir haben gesehen, daB der Kiinstler, welcher sSchonestf 
schaffen will, idealisiren muB, daB das Objekt des Kunst- 
schonen in der Natur nur scheinbar, nicht aber auch faktisch, 
gegeben ist. Wir konnen unsere oben dariiber ausgesprochene 
Ansicht jetzt noch erweitem, bezw. vertiefen. DaB die for- 
male Naturschonheit im Menschen einen Empfindungsinhalt 
wachruft, welchen er dann dem geschauten Gegenstande als 
dessen Seele unterzulegen gezwungen ist, dies ware in der 
That unmoglich, wenn die Naturformen nicht wirklich zu uns 
sprachen, d. h. uns als sinnlicher Ausdruck eines uns homo- 
genen Willenswesens erschienen. So hat ja Schopenhauer 
das kiinstlerische Ideal eine Anticipation genannt, ermoglicht 
durch eine apriorische Einsicht in das, was die Natur eigent- 
lich mit der betreffenden Erscheinung habe »sagenff wollen, 
aber nicht habe sagen konnen. Aber, so muB man fragen, 
warum nicht sagen konnen? Was hat den allmachtigen 
Willen verhindert, seinen Inhalt voll und ganz sichtbar werden 
zu lassen ? Kann es etwas anderes sein als seine eigene wider- 
sprubhsvoUe Natur? Wenn aber der thatsachliche Willens- 
inhalt der Natur es nicht zulaBt, daB ein absolut und in jeder 
Beziehung Schones realiter existirt, dann irrt sich der Kiinstler 



Idee und IdeaL 51 

wenn er meint, dafi sein schones Ideal dem Weltwesen 
adaquater entsprache als die Welt selbst; er irrt sich, wenn 
er glaubt; daB er mit seinem Schonheitskanon das offenbare, 
was die Natur eigentlich wollte. Das Sehnen seiner eigenen 
Biust, in welcher der Wille zum SelbstbewuBtsein gelangt ist, 
gab ihm das ein, was der Wille immei und immer wo lien 
mochte, aber nicht wollen kann, eben vermoge seiner 
Natur, welche ihren eigenen Inhalt ebenso vemeint wie be- 
jaht. Dem Ideale entspricht also bei uns keine objektiv und 
real yorhandene Idee, sondern es ist das Frodukt einer that- 
sachlichen Illusion, die dem Willen einen Inhalt unterlegt, 
den er faktisch nicht hat. 

XTm die specifischen Formen, welche das Schone in der 
Musik annahm, nun vollkommen zu verstehen, miissen wir 
uns an das erinnem, was iiber die Entstehung der Musik ge~ 
sagt wurde. Es war der Lautausdruck, wie wir gesehen haben, 
Aem. die Tonkunst ihr Dasein verdankte. Sobald dieser Laut- 
ausdruck als elementarer Naturvorgang von dem Spieltriebe 
aufgegriffen wurde, fing er an »Kunst(( zu werden. Wir haben 
auch auseinandei^esetzt , wie die Sprache immer mehr auf- 
horte Ausdruck zu sein und verstandige Mittheilung wurde, 
was wir durch das Vortreten des symbolisch-deiktischen und 
logischen Elementes in ihr erklarten. Auch die Kunst muBte 
sich nun dieser Entwickelung anbequemen und entweder selbst 
logische Elemente in sich au&ehmen, oder zum leeren, in- 
haltslosen Formenspiele werden. Hier konnte nun zuerst die 
Foiderung einer schonen Kunst auftreten. Der natiirliche 
Lautausdruck war der Sympathie des Horers unmittelbar ver- 
standlich, er war weder schon noch unschon : auf ihn konnten 
diese Bezeichnungen iiberhaupt noch gar keine Anwendung 
finden. Erst als diese direkte Yerstandlichkeit verloren ge- 
gangen war, muBte man suchen, auf indirektem Wege eine 
solche anzustreben. Das unvermittelte Uberstromen unserer 
Stimmung in die Seele des Anderen war fur die Kunst nicht 
mehr vorhanden, es bedurfte der Vermittelung durch den 
Intellekt. Da nun, wie wir seit Schopenhauer wissen, alle 
Anschauung intellektual , unbewuBte Yerstandesthatigkeit ist, 



52 ^^ Schone in den Zeitkilnsten. 

80 konnen wir in dieser Hinsicht das Schone als das Logische 
in der Erscheinung bezeiclmen, d. h. Kantisch gesprochen, 
die der Natur unseres Erkenntnisvennogens angemessene, mit 
ihr in XJbereinstimmung befindliche, Erscheinung. 

Wie nun der Bealdialektiker den Intellekt und speciell 
die Vemunft keineswegs darum verachten wird, weil sie dem 
tiefsten Kerne des Weltwesens nicht gerecht zu werden ver- 
mag, 80 werden auch wir nicht veigessen, daB, wie es das 
allerdings un&uchtbare Bemiihen der Vemunft, das Wesen der 
Welt zu erfassen, allein ermoglichte, schlieBlich dessen Alogi- 
citat einzusehen, so auch das Schone es war, welches eine 
hohere Entwickelung der Kunst allererst zu Wege brachte und 
duTch seine eigene deductio ad absurdum die Kunst den Gipfel- 
punkt ihrer Existenz erklimmen lieB, wo keine Tiefen und 
Abgriinde des Seins ihrem Blicke mehr unzuganglich sind. 

Die Forderung nach Kunstschonheit konnte in den Zeit- 
kilnsten demnach erst nach erfolgter Auf losung des urspriing- 
lichen Kunstverbandes in die Einzelkiinste auftreten. Da, wie 
wir gesehen haben, die bildenden Kiinste ihren Ursprung direkt 
dem Spieltriebe verdankten ohne Betheiligung der mensch- 
lichen Ausdrucksthatigkeit , so fand bei der Aufnahme ihrer 
Gebilde von vomherein ein solch unmittelbares Erfassen eines 
Stimmungsgehaltes ohne Yermittelung des Intellekts gar nicht 
statt, vielmehr wandten sie sich von Anfang an nur an die 
Anschauung und konnten nur dann verstaudlich werden und 
asthetische Genugthuung erwecken, wenn sie der intellektualen 
Beschaffenheit unseres Anschauungsvermogens entsprachen. 
Ging nun im Verlaufe der Kunstentwickelung auch fur den 
Lautausdruck seine urspriingliche unmittelbare Yerstandlich- 
keit verloren, und sollte eine solche nun indirekt wieder an- 
gestrebt werden. so konnte dies nur geschehen, wenn der Laut 
in der Musik in eine Analogie mit dem Reiche des Sicht- 
baren gebracht wurde, und in dieser Kichtung bewegte sich 
zunachst allein die Entwickelung der Tonkunst. Ein An- 
kniipfungspunkt hot sich in dem Umstande. daB die Musik in 
der Begleitung des Tanzes schon von jeher raumlich-sicht- 
baren Bewegungen horbaren Ausdruck verliehen hatte, und 
so war und blieb die reine Instrumentalmusik, die wir aller- 



Der »Schrei« als Urelement der Musik. 53 

dings die Musik xar' e^oxriv nennen konnen, in gewissem 
Sinne bis auf Beethoven nichts als ideale Tanzmusik. 

Wie der Mensch iiberhaupt auf der Grenze zweier Welten 
steht, an denen er gleichermaBen participirt, von welchen die 
cine, die Innen-, die Gefiihlswelt, das Keich des Alogischen, 
des Gemiiths, sich nach AuBen setzen^ Erscheinung werden, 
die andere, die AuBen-, die Verstandeswelt , die Welt der 
Sinne und des (scheinbar, auBerlich] Logischen ein Innerliches^ 
begriffen und gedeutet werden will, so gehort auch, wie alle 
Kiinste, vomehmlich die Musik zwei Welten an. Was Fr. 
Nietzsche von R. Wagner sagt, gilt von der Musik iiberhaupt : 
» — in Wagner will alles Sichtbare der Welt zum Horbaren sich 
vertiefen und verinnerlichen, und sucht seine verlorene Seele ; 
in Wagner will ebenso alles Horbare der Welt auch als Er- 
scheinung fur das Auge an's Licht hinaus und hinauf, will 
gleichsam Leiblichkeit gewinnena, — wogegen das Wesen der 
»nichtssagenden(( Musik darin besteht, daB die Leiblichkeit in 
ihr die Seele verloren hat, daB, recht im Sinne des Positivis- 
mus, die ganze Welt in der Erscheinung rein aufgeht, eine 
Welt, von der man ganz eigentlich sagen kann: ))'s ist nichts 
dahinterla — So ist das Urelement der Musik £ur uns nicht 
der Ton, sondem der Schrei (man vergleiche Taine, Philo- 
sophic de Fart I, pag. 51) ; denn wenn dieser auch zunachst 
noch nicht der Kunst angehort, so fiihlen wir doch bei ihm 
ein Analoges zu dem, was uns in einer wahrhaft gehaltreichen 
Musik so machtig erschiittert und bewegt, was der reine, un- 
beseelte, einzelne Ton gar nicht mit sich bringt. Konnten 
wir uns Tone gewissermaBen in abstracto ohne alien »Vor- 
tragff und ohne alle Klangfarbe vorstellen, so lieBen sich diese 
zwar auch gerade so mannigfach kombiniren wie die wirk- 
lichen Tone, aber das gabe nimmermehr Musik. Das Wesen 
des »Vortrags« besteht aber im beabsichtigten Hervortreten von 
UnregelmaBigkeiten, im Durchbrechen der logischen Starrheit 
durch die Willkiir des Individuums, und wenn die Akustik 
uns belehrt, daB die Verschiedenheit der Klangfarbe von der 
groBeren oder geringeren Anzahl der mitklingenden Obertone 
abhangig sei, so sehen wir, daB es gerade das dissonirende 
Element in jeder Konsonanz ist — und die Lehre von den 



54 I)er Ton. 

Obertonen hat ja in der That jede Konsonanz als eine Illu- 
sion, eine subjektive Tauschung nachgewiesen — was ihr 
Seele und Inneilichkeit verleiht. 

DaB der Schrei, das XTrelement des Lautausdruckes, zum 
Ton wurde, darin bestand der erste Schiitt der Musik nach 
der oben bezeichneten Richtung, und den Unterschied beider 
macht eben aus, daB der Ton aus einer kontinuirlichen, in 
gleichen Zeitihtervallen erfolgenden, Keihe von Lufischwin- 
gungen besteht, also von meBbarer Hohe ist. Wir sehen hier 
deutlich das logische Element eintreten, der musikalische Laut 
wird eine mathematische GroBe, die Musik fangt an ein 
nexemplum arithmetices nescientis se numerare animia zu wer- 
den. Diese Mathematik des Tones gab nun auch femerhin 
der Musik ihre Gesetze, nach welchen ihr vor alien Dingen 
Klarheit, IJbersichtlichkeit , Verstandlichkeit vorgeschrieben 
wurde, alles Dinge, welche der Befriedigung des Intellekts 
beim Kunstgenusse dienen sollten, und welche man durch 
einen wohlgeordneten Rhythmus und Periodenbau, die sym- 
metrische Architektonik des ganzen Tonstiickes, die Einhal- 
tung der Tonalitat u. s. w. vor allem zu erreichen suchte. 
Das Harmonische — im allgemeinen, nicht im specifisch- 
musikalischen Sinne — wurde das oberste Gebot fur die 
Tonkunst. 

Man hiite sich aber wohl diese Entwickelung als eine will- 
kiirliche Erfindung etwa zu verachten. Wir haben yielmehr 
einzusehen, daB dieselbe tief im Wesen der Sache begriindet 
lag. Wenn es die innerste Tendenz alles kiinstlenschen Thuns 
ist, die beiden Welten des Innerlichen und AuBerlichen zu- 
sammenzubringen, einerseits indem der Kiinstler das Innerliche 
zur deutlichen und klaren — wenn auch nicht nothwendig 
logisch begreiflichen und sinnUch schonen — Erscheinung 
bringt, und andererseits dem 9,sthetisch GenieBenden ein 
AuBeres ganz zum innerlichen Erlebnis wird, indem einmal 
das Objekt — wenigstens als Gefiihl — voU und ganz, ohne 
Rest im Subjekte aufgeht, so war es nur naturgemaB — es sei 
uns gestattet, wiederholt darauf hinzuweisen — daB die Kunst 
diese ihre Aufgabe analog zu losen yersuchte wie die Philo- 
Sophie die ihre, welche zunachst darauf ausging, die Welt 



Die Mehrstimmigkeit. 55 

I 

logisch zu ))begreifen((, — dadurch namlich; daB sie als ))Schoneff 
Kunst vor alien Dingen dem Subjekte Geniige zu leisten 
suclite und vorerst unmittelbar verstandliche , harmonische, 
regeliuaBige , unseren Intellekt bei der Anscbauung befrie- 
digende Gebilde scbuf. DaB sie sicb einer Illusion hingab, 
wenn sie glaubte, auf diesem Wege auch ihrem Objekte 
gereclit werden zu konnen, dies konnte ibr so wenig wie der 
Philosophie in ibrem analogen Verbalten von vornherein klar 
sein. Diesen Jugendrauscb des Scbonbeitskults muBte die 
Kunst in der Tbat durcbgemacbt baben, um spater recbt.deut- 
lich zu der Erkenntnis zu kommen, daB bierin ibre bocbste 
und einzige Aufgabe niebt besteben konne. 

Und gerade fiir die Tonkunst soUte diese Entwickelung 
am* langsten wabren. Der erste bedeutsame Fortscbritt nacb 
der )»neuen Bicbtungff wurde durcb die Einfiibrung des Mebr- 
stimmigen gemacbt. Hiermit kam das in die Musik^ wasja 
Tor allem Anderen immerfort klar und deutlicb den Wider- 
sprucb alles Seienden entbiillt — die Coexistenz. Zunacbst 
trat das Harmoniscbe nur als solcbes xar' i^oxriv^ als Konsonanz 
auf, der unbewuBte, verbiillte Widersprucb, in ibrem Wesen 
scheinbar ein einfacbes Zablenverbaltnis ausdriickend, durcb 
das Miterklingen der Obertone aber, wie wir geseben baben, 
in Wabrbeit sebon Dissonanz. Als nun spater die unyerbullte, 
wirklicbe Dissonanz binzutrat, gait es als unumstosslicbes 
Gesetz, dieselbe nur voriibergebend, unwesentlicb, also ent- 
weder als Durcbgang oder Vorbalt — vorbereitet — zu ge- 
braucben. Aucb so nocb war die Widerspruchslosigkeit 
scbeinbar gerettet, indem der Konflikt eben nur als unwesentlicb, 
unselbstandig, als die Antitbesis zwiscben Tbesis und Syntbesis 
auftrat, der Nacbdruck auf Vorbereitung und Auflosung, nicbt 
auf die rein passagere Dissonanz, gelegt wurde. Als aber 
Monteverde zuerst den Dominantseptaccord frei eintreten lieB, 
da begann jene nun nicbt mehr zu bemmende Bewegung, 
welcbe die Harmonik der Neuzeit scbuf, deren Wesen wir in 
dem Streben nacb » Emancipation der Dissonanz « erkennen zu 
miissen glauben, und welcbe wie nicbts Anderes dazu beige- 
tragen bat, die Alleinberrscbaft des Scbonen in der Musik zu 
stiirzen. 



56 I)i« Melodie. 

Als Wirkungen des Strebens nach Schonheit in der Musik 
haben wir also znnachst die Verwandlung des Ur-Ausdrucks- 
elementes, des Schreies, in den musikalischen, der Hohe nach 
genau fixirten Ton erkannt, damach die Statuirung dei Kon- 
sonanz als einziger^ selbstandigerHarmonie, zu der die Dissonanz 
entweder nur als Durchgang, oder geborig vorbereitet und auf- 
gelost treten kann, zu vergleichen der Antithesis in der Hegel- 
schen Dialektik, welche nur als Durchgangsstufe zwischen Thesis 
und Synthesis rein passagere Bedeutung hat. — Dies war das 
Material, aus dem das musikalische Kunstgebaude au%efuhrt 
werden soUte. Als nachstes Konstruktionselement finden wir 
die Motive, welche erweitert und kombinirt die Themen, in ihrer 
Gesammtheit die Melodie bilden. Wie konnte, mufi man 
fragen, die nothwendige VerstandUchkeit in der melodischen 
Folge erreicht werden? Solange die Musik Ausdruck war, 
hatte sie in ihrer Verbindung mit der Poesie an der Einheit 
und Konsequenz im Stimmxingsgehalte das Band, welches die 
Succession der Melodie nicht als bios willkiirliche Folge, sondem 
als ein gewissermaBen causales »Erfolgena erscheinen .lieB. 
Wie diese unmittelbare Gefiihlsverstandlichkeit fiir die musi- 
kalischen Gebilde verloren ging, haben wir durch den Hinweis 
auf die Entwickelung der Sprache bereits gezeigt. So wie nun 
die Allgemeinverstandlichkeit der Sprache nur durch Satzung 
und Konvention, durch die Grammatik, gewahrt werden konnte, 
muBte es sich auch die Musik angelegen sein lassen, durch 
eine auBerliche Logik, die, als ihrem Wesen fremd, sie nur 
anderen Gebieten entlehnen konnte, die innere Konsequenz, 
welche ihr verloren gegangen war, zu ersetzen. Auf diesem 
Wege allein konnen wir uns verstandlich machen, wie die 
Forderung nach Schonheit, namentlich uach ))Schoner Melodie « 
in der Tonkunst, als ein ihrem Wesen durchaus fremdes Ver- 
langen, erhoben werden konnte. 

In Wahrheit ist Wagner^s »unendliche Melodies, richtig 
verstanden, — namlich als diejenige Melodie, welche nicht den 
Gesetzen der sinnlich sichtbaren Welt folgt — die einzige der 
musikalischen Urnatur gemaBe Form. Unendlichkeit und 
Schrankenlosigkeit sind der Tonkunst ebenso wesenthch als 
dem menschlichen Gefiihle, welchem sie entspringt. Die ge- 



Der Bunausgedrtlckte Resta. 57 

schlossene Form ist ein fremdes, der Analogie mit dem Sicht- 
baren seinen XJrsprung verdankendes Element in der Musik. 
Wir brauchen nocb gar nicht einmal an das eigent- 
lich sSinnlich-Angenehmeff, das bios die Ohren Eitzelnde 
zu denken, das — fur sich allein — auBerasthetisch ist und 
dessen Beiz allerdings zum groBen Theil darauf beruht, daB es 
einen ganz restlosen Genuss, ohne Besiegung irgend einer 
Hemmimg; ohne jegliche geistige Anstrengung bedeutet; um 
einzusehen, auf welche Abwege das Streben nach »Allgemein- 
verstandlichkeitff gerathen muBte , vielmehr scbon die voll- 
standige tjberwindung jenes hemmenden Restes, die ganzliche 
Bewaltigung des Auszudriickenden in und durch den musi- 
kalischen Ausdruck, was eben das Wesen des Musikalisch- 
Schonen ausmacht, wird dem innersten Kern des Musikalischen 
nicht gerecht, oder genauer: es erweist sich als eine Illusion, 
indem allemal, wenn der Schein einer solchen absoluten Kon- 
gruenz, sagen wir der Kiirze halber, zwischen Inhalt und 
Form sich zeigt, entweder ein Ausdrucksgehalt in Wirklichkeit 
gar nicht vorhanden ist, oder derselbe doch mehr oder minder 
flach, trivial, gewohnlich sein muB, um ohne Kest ausgedriickt 
werden zu konnen. Das ist es ja gerade, was bei einer wahr- 
haft ergreifenden Musik uns so machtig packt, jener mehr 
geahnte und gefiihlte als verstandene und begriffene Rest, der 
nicht ganz in die Erscheinung getreten, nicht ganz in der 
Form aufgegangen ist. Deshalb hat die Musik eines Bach 
oder Bruckner etwas so Tief-Mystisches, weil uns unwillkiir- 
lich der Gedanke aufsteigt, daB all dies machtige Tonespiel 
eben doch nur das vergebliche Ringen und Streben nach Aus- 
druck eines Unausdriickbaren sei und bedeute, und dieselbe 
Erkenntnis hat C. Fuchs die paradoxe, nichtsdestoweniger aber 
kaum im Ernst zu bestreitende, These aufsteUen lassen : » Etwas 
ist in der Musik, was gar nicht gehort wird, und das ist das 
Beste darana. Ich bin mir voUkommen bewusst, daB ich hier 
etwas sage, was sehr leicht miBverstanden werden kann, und 
ebenso fest bin ich iiberzeugt, daB Reiner, der mich nur miB- 
verstehen will, diese giinstige Gelegenheit voriiber gehen lassen 
wird. Fiir diejenigen aber, welche das ehrliche Bestreben 
haben sollten, meine Absicht zu verstehen, will ich noch 



58 Schonheit und AllgemeinYerstandlichkeit. 

einmal ausdriicklich wiederholen, daB ich keineswegs die Berech- 
tigung des Schonen in der Musik bestreite — und dieses 
konnen wir doch dahin definiren, daB es der voUstandige 
Ansdruck des Auszudriickenden in einer unserem Auffassungs- 
vermogen schlechthin angemessenen Form sei — . Nur lassen 
wir vorderhand wenigstens die Moglichkeit offen, daB sich 
hinterher herausstelle : das von der Kunst Auszudriickende laBt 
sich nicht in die Formen des Schonen zwingen, ohne seine 
Wahrheit zu verKeren, der durch die schone Form geschmei- 
chelte Intellekt verlegt einen rein subjektiven Empfindungs- 
gehalt dem geschauten Objekt als Seele unter (wie oben 
ausgefuhrt wurde), wahrend die wirkUche » Seele « des Gegen- 
standeS; will sie sich ganz offenbaren, die schone Form zer- 
sprengt und vernichtet, — mit einem Worte wir lassen neben 
der optimistischen Kunst des Schonen noch einen Platz 
fiir die pessimistische Kunst des Erhabenen und Humo- 
ristischen frei. — Wenn wir sagen konnen, daB eine Musik, 
von der sich von vornherein mit Bestimmtheit vorhersehen 
laBt, daB sie »allgemeinen Anklanga finde, sicher gar nichts 
taugt; so laBt sich von dem » Schonen cc in der Kunst behaupten, 
daB es ebenfalls, wenn auch nicht ausschlieBlich, auf diesen 
j>Gemeinsinn« des generis humani spekulire. DaB dieser 
j)Gemeinsinn« aber nichts anderes ist als der alien Menschen 
gemeinsame )>gemeine« Sinn, von dieser Erkenntnis kann uns 
kein noch so ehrwiirdiger Unsinn a la r^Vox populi vox Deif( 
abbringen. Was allgemein gefallt, ist das »6emeine(r, und 
nur darin liegt die Gewahr fiir einen Fortschritt in der Kunst, 
daB sie — im Gegensatze zu dem politischen und kulturellen 
Leben — nicht ausschlieBlich mit der Masse zu rechnen hat. 
So oft ich Jemanden gestehen hore, daB ihm Bach und Beethoven 
(in seiner letzten Periode) Biicher mit sieben Siegeln seien, 
empfinde ich wenigstens die moralische Genugthuung, einen 
ehrlichen Menschen gefiinden zu haben, wog^en mir nichts 
verhaBter ist als der Mode-Wagnerianismus unseres »jetzt- 
zeidichentt Opempublikums oder der Beethoven-Enthusiasmus 
unserer Konzertabonnenten. Die Entwickelung der Kunst 
geht nur auf den Hohen vor sich wie ein leichtes Wellenspiel, 
das nur die Oberflache erregt, die unteren Wasserschichten 



i 



Fortsetzung. 59 

aber in trager Ruhe verharren laBt, odei ein besseres Bild: 
wie ein unterirdischer Quell, der nur in der Tiefe sprudelt, 
aber die Alltags-Oberflache ungestort laBt. So ererbt ein 
Meistei von seinem Yorganger das Heiligtbum der Kunst und 
arbeitet weiter daran und iiberliefert es dem Nachsten, und 
die Menge hat von dem was vorgeht keine Ahnung. Tritt 
dann ein so in der Stille gereifter Riesengeist unvermuthet an 
die Offentlichkeit und zeigt einen gigantischen KoloB wie z. B. 
Bruckner's (I.) C-moU-Sympbonie, dann gerath die ganze 
»Oberflacblichkeit« in Aufruhr und schreit: vDas ist keine 
Musiklff — Aber, meine Herren, was wiBt denn Ihr davon, 
was Musik ist: nCavalleria rusticanaci und nGuillaume Telhy 
alle Gbarfreitag etwa nocb das nTuha mirumai aus Mozart's 
Requiem — zur Beruhigung fiir's angstUcbe Gewissen, daB es 
mit dem Weltgericht doch nicbt gar so weit her ist — solche 
Kost sagt Euch zu: uns aber laBt in Ruhe! 

Jeden ehrlichen Kiinstler aber wame ich vor dem gefahr- 
lichen Irrthume, Scheinerfolge fur baare Miinze zu nehmen. Wie 
entriistet hat man sich geauBert iiber die »Unersattlichkeitff 
R. Wagner's, der nach seinen glanzendsten Triumphen muth- 
loser und enttauschter war denn je in seiner traurigsten Exils- 
zeit! Der Wissende, der einmal erlebt hat, was solch ein 
auBerer Erfolg zu bedeuten hat, aus welchen Faktoren er sich 
eigentlich zusammensetzt, wird anders urtheilen. »Wir sind 
nie entfemter von unseren Wiinschen, als wenn wir uns ein- 
bilden, das Gewiinschte zu besitzen: — steht in Ottiliens 
Tagebuche. Wenn aber ein Werk wie z. B. Wagner's » Tristans 
zur allgemeinen Anerkennung gelangt, so beruht diese Popu- 
laritat, soweit sie nicht rein erheuchelt ist, auf einem MiBver- 
standnis, und so kann da der possirliche Fall eintreten, daB 
einer anfanglich gerade fur dies MiBverstandnis schwarmt, um 
sich spater entsetzt von seiner Verirrung abzukehren. Dann 
heiBt es in salbungsvollem Predigertone, man miisse umkehren, 
zuriickkommen von solcher sGefuhlsvergroberunga, die Musik 
miisse wieder akindlicha werden u» s. w. Aber die Herren 
Apostel des temperenzlerischen »Pudorft vergessen, daB man 
einen Erwachsenen, der zu den Gewohnheiten des Kindes zu- 
riickkehrt, nicht vkindlichor nennt, sondern ^kindischffl Und 



go Mosait. 

die Musik ist den Kindersehuheti entwachsen, so wahr es eine 
Beethoven'sche Symphonie giebt! Die Musik hatte ein kind- 
liches Zeitalter, oder vielmehr eine Stromung in ihr tragt 
kindlichen Charakter: das ist die Naivetat eines Haydn und 
Mozart, und namentlicli um dem Genius des Letzteren, dessen 
Popularitat und Allgemeinverstandlichkeit bei gleichzeitig un- 
leugbar edelster Intention ja oft mit einem niclit miBzuver- 
stehenden Seitenblicke auf die »neue Richtungff angefiihrt wird, 
die ihm gebiihrende Ehrung nicht zu versagen, war diese — 
allerding? fast etwas zu lang gerathene — Abschweifung nothig. 
Mozart ist ganz in der Illusion des Schonen gefangen; darum 
ist freilich seine Musik fiir uns das ^verlorene Paradiesff. Aber 
ich fuhle docb so viel von dem Stolze des gefallenen Engels, 
wenn man einmal so will, in mir, um es nicht zu bedauem. 
daB wir nicht mehr so Drein« komponiren konnen wie der 
Salzburger Meister. 

Man hat sich in letzter Zeit viel Miihe gegeben, die 
Wahrheit der dramatischen Charakteristik Mozart's nachzu- 
weisen, und sicher mit Recht. Aber es handelt sich um die 
principielle Frage : welches Element ist bei einem vorkom- 
menden Konflikt als das wichtigere zu bevorzugen, das Sub- 
jektive des Schonen oder das Objektive des Charakteristischen? 
Wie fur Mozart die Entscheidung lautete, braucht wohl kaum 
ausgesprochen zu werden. Man wende nicht ein, dafi nur in 
der Versohnung beider Principe die kiinstlerische Meisterschaft 
liege ; der realdialektische Pessimismus kennt eine solche Ver- 
sohnung nicht. Und wenn jemand glauben soUte, daB eine 
derartige Synthese in Mozart faktisch erreicht sei, der erklare 
dann gefalligst die Erscheinung Beethoven's (besonders in 
seiner letzten Periode) — » Verirrung ! « nicht wahr? — Dem 
grojBten Meister des Schonen in der Musik aber bezeugen wir 
geme den schuldigen Respekt; nur verwahren wir uns mit 
aller Entschiedenheit gegen jede Uberspannung eines dazu 
meist noch erlogenen »Mozart-Enthusiasmus((. Wer jemals das 
Entziicken gekostet hat, in welches der bezaubemde Wohllaut 
und die fein detaillirte Struktur eines Mozart'schen Streich- 
quartetts z. B. versetzen, wird gewiB nicht gering von diesem 
Meister denken, aber er wird mit Faust ausrufen: 



Relative Bedeutung des Schonen in der Musik. 61 

»Welcli* Schauspiel I « — 

»Aber ach, ein Schauspiel niir.« 

»Wo faC ieh Dieh, unendliche Natur?« 

Die Antwort auf diese Frage suche er bei Bach odei 
Beethoven; bei Mozart wird er sie nicht finden. — 

Es eriibrigt uns jetzt noch anzudeuten, welche Rolle das 

Schone auch dann noch zu spielen berufen ist, wenn seine 

Alleinherrschaft im Brciche der Musik gestiirzt ist. Selbstver- 

standlich und kaum der Erwahnung werth diinkt es mich, 

daB iiberall da, wo kein zwingender Grund dazu vorliegt, das 

Schone auch nicht zu verlassen ist. DaB ich die ^interessantecc 

Schreibweise , den ZuguB raf&nirt-pikanter Saucen zu einem 

iibergegangenen Beminiscenzen- und Trivialitatengerichte a la 

Rubinstein als unkiinstlerisch perhorrescire, davon kein Wort ! 

Aber wenn in der That die Forderung nach Schonheit in 

letzter Hinsicht von unserem Intellekt, als dem Biirgen der 

interindividuellen Kohasion, ausgeht, so ist nicht zu leugnen, 

dafi'die iiber das Schone sich hinwegsetzende Kunstrichtung 

Gefahr lauft, schlieBlich an einen Punkt zu gelangen, wo sie 

absolut unverstandlich wird, und Beethoven z. B. kann 

man von dem Vorwurfe nicht unbedingt freisprechen , daB er 

in seiner letzten Zeit diese Grenze manchmal iibersphritten 

habe. Es muB also vor allem gesagt werden, daB die ein- 

seitige Verfolgung des »Antilogischen« — wer meinen Grund- 

gedanken begriffen, wird den Ausdruck an dieser Stelle nicht 

miBverstehen — ebenso wenig zu einer wahren Kunst fiihrt, 

wie die alleinige Pflege des Schonen zu einer wahren Kunst. 

Wenn die Kunst Ausdruck sein soil, so muB sie dem Auszu- 

driickenden auch irgendwie faBliche Gestalt verleihen; wenn 

sie das Objekt und das Subjekt zusammenbringen soil, so 

darf sie nicht die Beschaffenheit des letzteren ganz auBer Acht 

lassen. 

Da brauchen wir uns denn nur an das am Eingange dieses 
Kapitels angefuhrte Wort R. Wagner^s zu erinnern, daB die 
Empfindung des Schonen die Wirkung des ersten Eintritts der 
Musik sei, von welcher zu der des Erhabenen. zur Offenbarung 
des eigensten Wesens der Tonkunst, fortzuschreiten sei, um 
zu der Einsicht zu gelangen, daB alles das, was im weitesten 



'%. IIIMWI .d 




;-^»^ :xi j^^tj^wt Hirj»ii:rii 3:L:5r^:rfeL '--Lei:«L '^'^i^ L i. one 

ersKmi'Zh. li^ ia* ier Inrf-TeHrma W'ag inwiia ^TWfrnTmzsg KaBr> 
fomu? :uui zwfrizesa uLs on levnik? 7r:iaptIt*iir:af4T#t^ oil Bcsd^ 

mache^. Xnr i**-! ies esscesi F jrm- lesn. ITnrewudr-^iiiiiXiiit- 
fot^'ilekTueLlea. kann toti S«:j:i-jrrif?i iie Rede sxn.. :mii 
^hen ^<^tzt. weurhe JAngmflegi F : r ! ; r igPTwrrr-irrpa. lie 
heme'aaft de» Schvr.pn fn. -i^ M^o^rg enbzac^ae. ZiLTsSrdfscac 
i«t e% der jiaihgrr. arLych. - 'TTine Tin.. we'rr!< 

chem der Schail ron onbesCTiiiircr H -iie osc fa x i teiug T mie 
^n Fr^se kommt: sodaxm daa Syscezn. i^ remea.. anf dem 
Gesetze der ToiiaIit«U s.ca aofliaiiesiiieiL . Hazmonie. Dock 
«oll hier aas<iricklieh. zemerir wcnicfii. da3 aTpges^ iGeaefev 
kem a r solutes 1st — soiche giebt es far nna. wie jchua ge- 
Hafft in der Kanst i^eriaiipt nickr — . wo Grazui daxa. Tor— 
handen ist, kann von fhm acgewicheai werden. -las isc aelbst- 
verstandlich. Aber es dinkx midi ein unnTieiirbares Femihen, 
verf ihrt durch die hiianjen hararoubciifiii Unreg^inrfi ^igkeiteii 
der neaercn Musik- nun cine, dieaen niche widersprechende, 
neae Harmonielehre aufetellen xa wollen. M.m haire rielTnehr 
gctr*wt an der alten. and zwar so stien^ aL* ni»3siicli, fest, 
mit Berucksichtisrnng der reinen Snininang. wie dies far den. 
mu^ikali^chen Satz in dem anlcertrodBnoi Lehrbaclie Simon. 
Sechters geschehen ist. "VTas in der PiaxLs damit nicat aber- 
einstimmt. das sitd eben jFreiheiten*, zewoRre* bewuBte Un« 
richti^'keiten, wenn man so scharf sich. aa:&dra.cken will. Und 
wer-.n M. Hauptmann Nator der Haxmomk and Metnk« 2. AxdL 
.>, 7 uagt: ^So wcnig der Maler darch die absLchdiche Ver- 
yj:\f:hn»Tt^ einer kiiostlerisclien Intention wird nachkommen 
wffVt^rif eben so wenig wird der Mosiker das Inkorrekte zmn 



Das Motiv. 63 

Zweck charakteristischer Datstellung anwenden konnexKr, — so 
laBt sich; ganz abgesehen von der scbiefen Parallelisirung der 
Nichtiibereinstimmung einer Darstellung mit dem darzustel- 
lenden Gegenstande in den bildenden Kiinsten mit dem Aufier- 
achtlassen rein subjektiver, theilweise nur konventioneller, 
Kegebi in der Musik, darauf entgegnen, daB aucb in der 
Malerei der Fall nicht ausgeschlossen ist, daB der Kiinstler 
(z. B. im Kolorit) von der Naturwahrheit zu Gunsten der 
hoheren kiinstlerischen Wahrheit (z. B. einer gewissen zu er- 
reichenden Stimmung) XTmgang nimmt. — In der Musik mag 
man nun die Ausnahmen, die Regelwidrigkeiten so weit aus- 
dehnen^ als man sich dazu genothigt siebt ; die Freibeit kennt 
bier keine Grenzen : aber man macbe das UnregelmaBige nicbt 
zur Kegel, man bleibe sicb bewuBt, daB die Ausnabme eben 
eine Ausnabme ist. Und so seben wir denn aus solcb strenger 
Scbule immer aucb die groBten »Freibeitsbelden(r beivorgeben, 
aus der des alten Tbomaskantors Weinlig einen £. Wagner, 
aus der Secbter's einen Anton Bruckner, wlQirend das nln- 
Freiheit-Dressirena in der Kunst nocb niemals zu etwas Recbtem 
gefiilirt bat. 

Das zweite Gebiet, wo von der Forderung formaler Ge- 
scblossenbeit nur unter Gefabr des Unverstandlicbwerdens ab- 
gegangen werden kann, ist das der Melodie, zwar nicbt der 
Melodic in ibrer Gesammtbeit — denn bier baben wir Wag- 
ner's >unendlicber Melodic « im Gegensatze zum acbtaktigen 
Tbema mit seinen Reprisen und Yariationen voile Berecbti- 
gung zugestanden — , son dem der Melodieelemente, der Mo- 
tive. In der neueren Musik, die sicb ja den »Ausdruck« 
wieder zuriickerobert bat, entspricbt die formale Einfacbbeit 
und Selbstgeniigsamkeit des Motives gewissermaBen der sicbt- 
baren Leiblicbkeit des Individuums. Daber ist die Pragnanz 
der Tbematik ein Hauptkennzeicben wabrbaft scbopferiscber 
Begabung, und sie erscbeint um so bober, je einfacber diese 
Naturmotive in ibrer urspriinglicben Gestalt sicb uns dar- 
bieten (Beetboven, Wagner, Bruckner!), und gerade der so 
individuell geartete Bruckner entgebt durcb seine, icb mocbte 
sagen »selbstevidenten«, Tbemen der Gefabr des Unverstand-- 
licbwerdens. Ertont so ein Bruckner'scbes Symphonie-Motiv 



g4 ^^0 Programmmusik. 

60 weiB man sogleich, wo das »Mnaus«r will; wir mogen nun 
im Verlaufe des Satzes wohin immer gefiihrt werden, in welche 
Abgriinde wir hinabsteigen , welche Hohen wir erklimmen 
miissen, das Thema verbiirgt die Einheit, welche uns nie den 
leitenden Ariadne-Faden in diesen symphonischen Labyrinthen 
▼erlieren laBt. 

Der andere Weg, die Klippe des [Jnverstandlichwerdens 
zu umschiffen, fiihrt zur Aufnahme bewuBter, begrifflicher 
Ideen in die Musik, und dies geschieht in der Programm- 
musik. Sie ist als selbstandige Kunstgattung eine Schopfung 
des in seiner ganz unvergleichlichen Genialitat immer noch 
nicht hinreichend gewiirdigten H. Berlioz. Was Berlioz zur 
Programmmusik trieb, war die richtige Einsicht, daB Beethoven 
die konventionelle musikalische ))Form(( zertriimmert habe. Wie 
wir gesehen, hatte Beethoven erstlich die Musik wieder zum 
Ausdruck seelischer Stimmungen gemacht, zweitens aber den 
individuellen Klangcharakter der Orchesterinstrumente und 
damit die Moglichkeit ausgedehnterer musikalischer Charakte- 
ristik allererst eigentlich entdeckt. Nun eroffnete sich die 
Aussicht, den subjektiven Stimmungsgehalt durch die instru- 
mentale Charakteristik objektive Erscheinung werden zu 
lassen. Damit muBte aber die formale Gestaltung der Musik 
nothwendigerweise in eine andere Beziehung zur raumlich- 
sichtbaren Welt treten, als es in der klassischen Tanz-Sym- 
phonie der Fall gewesenwar: die Musik wurde dramatis ch, 
wie sie zuvor vorzugsweise lyrisch war. Diese neue Beziehung 
zur AuBenwelt konnte nun die Tonkunst entweder in ihrer 
Yerbindung mit der Poesie zum musikalischen Drama oder in 
der Unterlegung eines Programms finden. Wir miissen hier 
nochmals darauf hinweisen, daB das eigentlich Musikalische in 
seiner reinen Innerlichkeit aus sich heraus eben kein form- 
gebendes Princip produciren kann, wie es denn auch in der 
That keine rein musikalische Form giebt, noch je gegeben 
hat, sondem dieses fremden Lebensgebieten entlehnen muB. 
Das Weib muB erst empfangen haben, wenn es Mutter werden 
will: eine ))immaculata conceptioa giebt es in der Kunst so 
wenig wie in der Natur! 

Beide BichtungeU; die des musikalischen Dramas wie die 



Der fundameatale Widerspruch im Wesen der Musik. 65 

der programmatischen Symphonie sind gleicherweise bereth- 
tigt, ja nothwendig, was ja Wagner in semem Briefe iiber Fr. 
Liszfs symphonische Dichtungen selbst anerkannt hat: denn 
QS giebt Tiefen des Gemiithslebens, die nuT in eine mebr oder 
weniger entfemte Beriehung zur AuBenwelt gebracbt ^erden, 
nie aber als solche jemals Erscheinung werden konnen, und 
in gewissem Sinne sind dies die denkbar musikalischesten Yor- 
i¥iiTfe. Man rufe sich nur den letzten Satz von Berlioz' j»Sym- 
phonie fantajBtiquea in's Gedachtnis, und man wird g«steben 
miissen, dafi eine dieser Musik adaquate Handlung auf kein^r 
Bubne moglich ware, und selbst bei Wagner lassen sich manche 
Dinge — ich erinnere an die sneuea Venusberg -Musik im 
»Tannhauser« — auf unserem heutigen Theater wenigstens nwt 
andeuten, nicht aber restios in Leiblichkeit umsetzen. Ein& 
eingehendere Wiirdigung der bis jetzt fast allenthalben nook 
miBverstandenen Frogrammmusik miissen wir uns auf das 
nachste Kapitel, wo sie eigentlieh hingehort, versparen. 

Das Ergebnis unserer nunmehr abgeschlossenen Betrach*^ 
tung iiber das Schone in der Musik konnen wir aber dahin 
zusammenfassen, daB die Geschichte der Tonkunst das Musi- 
kalisch-Schone in seiner Alleinherrschaft als eine, dem tie&ten 
kiinstlerischen Streben nur scheinbar geniigende, Illusion auf- 
gedeckt hat, und somit hier zum ersten male der fun da- 
mentale Widerspruch im Wesen der Musik sich uns ent- 
hiillte, dafi der Kiinstler, je tiefer er sich in. die Natur des 
Auszudriickenden versenkt, desto mehr Gefahr laufk, sein Ob- 
jekt nicht mehr bewaltigen, es nicht mehr zur restlosen Er- 
scheinung bringen zu konnen. Das »Ding an sichc, dessen 
einziges Bestreben es ist, aus seiner reinen Potentialitat in das 
Leben, in die reale Existenz zu gelangen, erreicht sein Ziel 
auch in der Kunst nie voUstandig; die logischen Gesetze, 
welche die pWelt als Vorstellunga beherrschen, widersprechen 
seiner Natur, und in dem endlosen Kampfe dieser beiden 
Principe liegt auch far die Kunst die Gewahr, daB es immer 
noch etwas in ihr zu sagen giebt, daB sie niemals zu Ende 
kommen kann: ein Yorwarts in's XJnendliche! Indem wir 
diesen Ur -Widerspruch in der Musik als treibendes Element 
ihrer geschichtlichen Entwickelung hinstellen, haben wir una 

Louis, Der Widerspruch in der Husik. 5 



66 Das Gemiith als Adiessat des Kunstwerkes. 

wohl gehiitet, in einer illasionaren Yersohnimg das kiinsde- 
rische Ideal zu erblicken ; wenn eine solche je eneicht werden 
konnte; so miiBte in diesem Augenblicke nicht nur jede Kunst, 
sondem die ganze Welt in Nichts zerfallen, sie ware begriffeix, 
entsiindigt, erlost — Nirwanal Denn einzig »der Widerspruch 
ist es, Yon welchem das Leben am Leben erhalten bleibta 
(B. Goltz). Jndem wir aber jedem, noch so vollendeten Kunst- 
werke eine nur approximative Erreichung seines idealen Zieles 
zugestehen, sichem wir uns einerseits eine unendliche Ent~ 
wickelung in der Kunst, andererseits konnen wir aber fur das 
Phanomen des Kunstgenusses trotzdem unentwegt daran fest- 
halten, daB das asthetische j»Schauenc in der That einer rest- 
losen Welterkenntnis gleichkomme, indem eben das Kunstwerk, 
da es sich nicht an die Yemunft, sondem in letzter Hinsicht 
an das in unsagbarer Tiefe in jedem von uns Schlummernde 
wendet, in jenes allerheiligste ^^dvtov eindringt, dessen Vor- 
hang sich uns selbst nur an solchen allerhochsten Seelenfeier- 
tagen ofihet; auch jenen unausgedriickten, weil unausdruck- 
baren, Best uns ahnen und fiihlen laBt, und so jeder Kiinstler 
gewissermaBen gerade durch das, was er nicht sagt, weil er 
es nicht sagen kann, weil es ein Unsagbares ist, am mach- 
tigsten und ergreifendsten spricht zu jenem XJnbegreiflichen, 
fur welches nur die deutsche Sprache ein Wort kennt, bei 
dem sich auch nichts mehr denken, aber alles fuhlen laBt — 
dem Gemiith. 



Das Erhabene in der Musik. 

»Der Wille bedarf der wechselnden Motive, der Intellekt 
des alien Wechsel durchdauernden substantialen Kerns , wenn 
jenes Doppelwesen entstehen soil, welches wir leh nennenu 



* Wir konnten uns bei diesem Kapitel kurz fassen, weil einen guten. 
Theil der hierhei gehdrigen Betrachtungen A. Seidl in seiner ausgezeich- 
neten Schriffc nVom Mu8ikalisch-Erhabenen« uns vorweg genommen hat. 



Der alogische Charaktei des Erhabenen. 67 

[Bahnsen, Realdialektik II, 62); in diesem Satze der real- 
dialektischen Psychologic erkcHnen wir einerseits den letztcn 
Grund derjenigen Seite des ftsthetischen Bediirfnisses, die in 
dem bekannten Fechner'schen Princip der cinhcitlichen Ver- 
kniipfung des Mannigfaltigen (Vorschnle der Asthetik I, 53 ff.) 
ihren Ausdruck fand, andererseits konnen wir im Anschlufi 
hieran den Hauptunterschied zwischen der asthetischen Kate- 
gorie des Schonen und der des Erhabenen darin finden, dafi 
jene, durch den asthetischen Schein des Schonen erreichte, 
widerspruchsfreie Vereinbarung beider Principien — der Ein- 
heit wie der Mannigfaltigkeit — im Erhabenen gelost, oder 
doch wenigstens gelockert wird, indem der Wille (durch die 
»Mannigfaltigkeit(() tinter Vernachlassigung der Bediirfnisse des 
Intellekts (der »Einheit«) eine vorwiegende Beriicksichtigung 
erfahrt. Der Wille ist bei der Kontemplation des Schonen 
direkt gar nicht betheiligt (Kant's interesseloses Wohlgefallen), 
indirekt nur insofem, als ja auch der Intellekt schlieBlich im 
tiefsten Grunde nichts anderes ist als eine Funktion des Wil- 
lens, ein, wenn auch einseitiger, Ausdruck des von Anfang 
an in ihm ruhenden Strebens nach Selbsterfassung seines eige- 
nen Inhalts. Seinen Willenscharakter als Erkennen-Wollen 
verliert der Intellekt aber dann ganzlich, wenn er sein Ziel 
YoUstandig erreicht, das Subjekt eine voUkommen adaquate 
Einsicht in das Wesen des Objekts erlangt zu haben glaubt, 
worin wir eben, wenn es sich um asthetische Einsicht han- 
delte, das Wesen des Schonen erkannten. 

Enthiillt sich nun dem asthetischen Betrachten das Schone 
als Illusion, so wird dieses durch die zweite Erscheinungsform 
des Asthetischen, das Erhabene, abgelost. DaB das Erhabene 
iiberhaupt percipirt werden kann, zeugt schon von einem iiber 
die Logicitat des Intellekts hinausgehenden Auffassungsver- 
mogen des Menschen, und daB das in jener unmittelbaren 
Selbsterfassung des Willens Geschaute (oder Vernommene) zum 
begriff lichen BewuBtsein gebracht die logische Form der con- 
tradictio in adjecto aufweist, dies erweist die Ansicht der- 
jenigen als Irrthum, welche diese iiber das discursive Denken 
hinausgehende Erkenntnisweise als eine vintellektualeir oder 
))yemunft-An8chauungtt bezeichneten. So ist uns das Erhabene 



0g Die Arten des Erhabeaen. 

Tom Schonen asanachst toto genere verschieden, es wendet sicli 
Yon yomheiein an eine viel tiefer gelegene Funktion, als der 
werstehendea Intellekt oder die UoB »begreifende« Yemunft 
welche sind, eben direkt an jenes im Willen ruhende Streben 
nach Selbsterfassung seines eigenen Inhalts, von welchem Yer- 
stand und Yemunft nur einseitige Erscheinungen sind, an 
jenes Yennogen, welchem aucb das Unverstandliche und Un- 
begreifliche nicht mehr scblecbtbin unzuganglich ist. (Derart 
ist z. B. das nWissend-Werdem der BriiniiJulde in der iGotter- 
dammerunga: 

»Allds! AUes! 

AUes weiB ich: 

alios ward mir nun frei!<t 

— und das adurch-Miileid-wissend-Werdentf des sreinen Thoren« 
Parsifal). -^ Soviel vordeihand zur Fixirung des alogischen 
Charakters des Erhabenen. 

Die von Kant aufgestellte Unterscheidung des Erbabenen 
in ein Matbematisch-Erhabenes und ein Dynamiscb-Erhabenes 
konnen wir beibebalten, indem wir ersteres als das Erbabene 
des Intellekts, letzteres als das Erbabene des Willens — 
das Erbabene xar' I^oxt^p — definiren. Das Erbabene des 
Intellekts zeigt von vornberein als sein wesentKcbes Merkmal 
Unangemessenbeit gegeniiber der Yerfassung unseres Erkennt- 
nisvermogens. Wir braucben dies aber niebt nur wie Kant 
in einer unendlicb groBen Extension zu sucben, sondem 
scblecbterdings alles, wias wir nur schwer, erst nacb langem 
Kampfe fassen konnen, oder auf dessen Yersti&ndnis wir 
iiberbaupt ganzlicb verzicbten miissen, kann den Charakter 
des Erbabenen an sich tragen, und beiBt ak solcbes das Er- 
babene des Intellekts. Aber aucb das Erbabene des Willens 
verdankt — abgeseben davon, daB in ibm nacb dem »inter* 
esselosena Traume des Scbonen der Wille zur Aktualitat er- 
wacbt — seine mH.cbtige Wirkung einem Widerstreit mit der 
Logicitat unseres Intellekts. Das Dynamiscb- Erbabene er- 
scbeint namlicb als eine unsere leiblicbe Existenz bedrobende 
auBere Gewalt^ iiber die wir uns vermittels der Einsicbt in 
die Unabbangigkeit und Unverganglicbkeit unseres metapby- 
sischsen Wesenskerns hinwegsetzea : so ist also das, was diese 



' 



Das Erhabene und das HS.filiohe. 69 

auBere Gewalt uns furchtbar und wideiwartig erscheinen iSBt, 
der an die raum-zeitliche »Welt als Vorstellung« gebundene 
InteUekt; was ihr diesen Stachel raubt, sie in einen Gegen- 
stand des fisthetischen Wohlgefallens yerwandelt, jene an die 
Erscheinungswelt nicht gebundene ^ hohere Einsiebt (Selbst- 
erfassimg des Willens) , welche uns unsere Aseitat verbiirgt. 
Es vnri demnacb in beiden Formen des Erhabenen eine hobere 
Einsiebt zu Hilfe gerufen, um das dem InteUekt Widerstrei- 
tende als Einbeit zu erfassen. 

Es ist aber klar, dafi dieses disproportionale Yerbaltnis zu 
unserem InteUekt nicbt aUein das ganze Wesen des Erbabenen 
ausmacbt, d. b. wir miissen nxm seben, wie sicb das Erbabene 
als ein »Nicbt-Scbonesff zu dem HaBlicben, dessen Wesen 
ja aucb darin bestebt, daB es unseren InteUekt in der An* 
scbauung disbarmoniscb, widerwartig beriibrt; verbalt. DaB 
wir bei der Kontemplation eines erbabenen Gegenstandes, vom 
InteUekt im Sticbe gelassen, zu jener metapbysiscben Erkennt- 
nisart des unmittelbaren Selbstinne-Seins unsere Zufluebt 
nehmen, um nicbt Ton der auf uns rubenden Last erdriickt 
zu werden, dieser subjektiven Tbatsacbe muB in der Natur 
des erbabenen Objekts etwas als seine Ursaebe entsprecben. 
Denn die geringste XJberlegung zeigt, daB nicbt aUemal, wenn 
ein unserem InteUekt XJnangemessenes uns entgegentritt , der 
Biickgang auf jene bobere Erkenntnisart stattfindet ; vielmebr 
erkennen wir den eigentUcben Cbarakter des HaBlicben darin, 
daB es der Logicitat unseres Erkenntnisvermogens widerstreitet, 
obne daB es auf etwas Hoberes binweist. Das HaBlicbe ist 
Yorzogsweise das ))Nocb-nicbt-Scbone(r, wabrend wir das 
Erbabene ein »Nicbt- mebr-Scbonesv nennen konnen. 
(Vgl. Seidl, Vom Musikaliscb- Erhabenen.) Wir seben nun 
ein, wie es moglicb ist, daB das Erbabene als die unserer 
specifiscb logiscb gearteten Subjektivitat widersprecbende Form 
des Astbetiscben trotzdem einen viel boberen und mSlcbtigeren 
Eindruck Hervorbringt als das Scbone, und wir erkennen un- 
schwer, daB der subjektiven Tbatsacbe, daB wir bei der Kon- 
templation des Erbabenen auf jene iiber den logiscben In- 
teUekt J) erbabene ((, bobere Erkenntnisart zuriickzugeben ge- 
notbigt werden, im Gegensatz zum Scbonen, dessen Wesen in 



70 ^fts Erhabene als 0£fenbarung des Widerspruchs. 

seiner den Anforderungen der Logicitat unseres Erkenntnis- 
vermogens entgegenkommenden Widerspruchslosigkeit besteht, 
beim Erhabenen als dessen innerstes Wesen entspricht, dafi in 
ihm der Widerspruch als Offenbarung des inner- 
sten Kerns der Welt sich uns darbietet. XJnbegreif- 
lichkeit macht den eigentUchen Charakter des Erhabenen aus, 
und eben deshalb tritt es uns zunachst auch als iibermachtige 
Gewalt entgegen, als ein Unendliches : denn begreiflich ist 
nnr das Endliche^ Begrenzte, an Schranken Gebundene. In- 
dem wir eine ebensolche Schrankenlosigkeit in unserem 
eigenen Gemiithe yorfinden, fiihrt die Kontemplation des Er- 
habenen zu asthetischer Genugthuung. Konnte der Meusch 
sich selbst voUkommen verstehen, und trate ihm dann ein 
schlechthin Unverstandliches gegeniiber, so konnte dies ihm 
nur XJnbehagen verursachen. Aber eben weil ihr eigener 
Wesens-Urgrund der Vernunft das AUerrathselhafteste ist, 
darum hat es bei ihrem Widerstreben gegen den Eindruck des 
Erhabenen nicht sein Bewenden, sondem es wird weiter ge- 
gangen zu jener intuitiven (alogischen) Erkenntnisart , mittels 
welcher das Subjekt in der Selbsterfassung seines Wesens als 
ein widerspruchsToUes sich erkennt und in der Alogicitat des 
erhabenen Gegenstandes die Offenbarung eines homogenen 
Willenscharakters begriiBt. So ist bei dem empfangenden Sub- 
jekte selbst eine gewisse Tiefe erforderlich, damit das Erhabene 
asthetisch wirksam werde, und wir sehen hier das Merkmal 
der Allgemeinheit des Gefallens verloren gehen oder doch 
wenigstens eine bedeutende Einschrankung erleiden. 

Zur XJnterscheidung vom Hafilichen muB indeB festgehal- 
ten weirden, dafi nur dann, wenn das Nicht -Schone Oflfen- 
barung eines Wesens ist, fiir das die schone Form eben keine 
adaquate Erscheinung vorstellen kann, Ausflufi einer iiber- 
machtigen, alle Schranken zertriimmemden Kraft, es den Namen 
des Erhabenen verdient, wogegen, wenn dieser Charakter der 
Nothwendigkeit fehlt und das Nicht -Schone in der Erschei- 
nung nicht Ausdruck einer widerspruchsvoUen Essentia ist, 
sondern lediglich hemmende a ulcere XJmstande das Zustande- 
kommen der schonen Form verhinderten, weiter nichts sich 
;zeigt als HaBlichkeit. So ist es also doch wieder die trotz 



A. Seidl. 71 

des Widerspruchs hinduichschimmemde Wesenseinheit, welche 
die asthetische Lust am Erhabenen in letzter Hinsicht bewirkt. 
Es ist, so zu sagen, die Aseitat des Widerspruchs, welche, 
im Gegensatz zu dem auBerlichen, bloB aus dem Zusammen- 
treffen zweier wesensverschiedener Krafte resultirenden Kon- 
flikte, das Wesen des Erhabenen ausmacht, und darin liegt 
auch im Grunde der Unterschied des )>Traurigen « yon dem 
)»Tragischen((, worauf ich hier indeB nicht naher eingehen 
kann. — Es zeigt sich also, kurz. gesagt, iin Erhabenen die 
Erscheinung eines Unendlichen , oder vielmehr eine Erschei- 
nung, die wir als Offenbarung einer Kraft erkennen, welche 
«icli der Sisyphusarbeit hingiebt, einen unendlichen (alogischen} 
Inhalt in endliche (logische) Formen zu gieBen, einer schranken- 
losen Kraft, die sich vergeblich abmuht, sich selbst Schranken 
zu setzen, eben weil ihr Willensinhalt sich selbst widerspricht 
und durch Bealisirung seines einzigen Strebens [Offenbarung 
seines Inhalts in endlicher Form) diesen selbst (die XJnend- 
lichkeit] vemeint. 

So fiihrte die iibermachtige Kraft eines Bach, Beethoven, 
Berlioz, der keine Formen weit genug waren, ihren unend- 
lichen Inhalt zu fassen, die schlieBlich alle zersprengte, zu 
einer erhabenenMusik, wahrend der eigentUche Charakter 
der schonen Musik darin besteht, daB Form und Inhalt in 
ihr YoUkommen kongruent sind, daB man das Gefahl hat, der 
Tondichter wolle durchaus nicht mehr sagen, als klipp und 
klar in der Partitur steht. In diesem Sinne sagt A. Seidl 
in seiner trefflichen Schrift sVom Musikalisch- Erhabenen a: 
» Dieses ,dem Stoffe Abringen^, dieser ,Kampf zwischen Un- 
endlichem und Endlichem', dieses ,XJberlegensein des Geistes 
in seiner groBten Tiefe' iiber die Materie bestatigt uns iibri- 
gens im letzten Grunde auch unsere Auffassung von dem in 
der Schonheit eingegangenen KompromiB, der scheinbaren 
Yersohnung und dem tauschungsvollen Frieden zwischen jenen 
beiden Gegensatzen im Schonen und von der Aufdeckung 
dieses Kompromisses und der Stoning dieses harmonischen 
Friedens im Erhabenen. Es liegt ein Konflikt in der Welt, 
ein Konflikt, resultirend aus dem Widerstreit dieser beiden 
Gewalten, ein. Konflikt der Idee gegen die Bealitat; die Idee 



72 ^^ Myrterinm det Erhabenen. 

moB dem Stoff ent wieder entnmgen werden, d. h. rait andeien 
Worten : diese Idee, in stofflicher Darstellmig mit dem Tiber- 
gewicht der Idee auftretend, ist erhaben, L e. nicht mehr 
8chdii.c — Abgesehen von der irreleitenden Tenninologie 
[Qeist und Materie, Idee und Stoff) meint Seidl bier das Nam- 
licbe wie icb. Aber es leuchtet ein, daB, wenn jenes Uber- 
machtige, das in der Darstellnng des Erhabenen zom Durchr- 
bruch gelangt, Idee oder Geist genannt wird, das Eibabene 
immer nor die Bedentong einer Dnrcbgangsstnfe zu neuer 
Harmonie und Yeisohnang haben kann ; und wenn man nicht 
auf dem Standpunkte eines ganz rohen Dualismus steht, so 
ist nicht einznsehen, warum der »Geist« sich in der »Materiet 
nicht Yollstandig zu offenbaren vermoge, da diese selbst ja 
nichts Anderes sein kann als »Sichtbarkeit des Geistest — 
die 9 Idee in ihrem Andersseint im Jargon der Hegel'sehen 
Philosophie. Uns aber ist das, was im Erhabenen an die 
OberflEche herauf, was sichtbar werden will, darum ein ab- 
solut »Erhabenes«, weil die Bedingung aller Sichtbarkeit eben 
die intellektuale Anschauung des menschlichen Subjekts 
ist, weil nur das ganz und restlos — als »begriffena — ins 
menschliche BewuBtsein eingehen kann, was der Logicitat 
unseres Erkenntnisvermogens konform ist, was der alogische 
Charakter des wahrhaft Erhabenen unmoglich macht. — DaB 
wir des ^Unbegieiflichena ahnend und fiihlend inne werden, 
darin besteht das Mysterium des Erhabenen, und wir erinnem 
uns hierbei daran, wie R. Wagner in seiner Beethoven-Fest- 
schrift die SchluBverse des Goethe'schen Faust II. Theil dahin 
kommentirte, daB unter dem dAIIcs Yergangliche ist nur era 
Gleichnistt der » Geist der bildenden Kunsta — fur die wir 
ja die asthetische Form des Schonen als Grundprincip auf- 
stellten — , unter dem nDas Ewig-Weibliche zieht uns hinancr 
aber der 9 Geist der Musika zu verstehen sei, sder aus des 
Dichters tiefstem BewuBtsein sich emporschwang, nun iiber 
ihm schwebt und ihn den Weg der Erlosung geleitetv. Der 
erhabene Geist der Musik ist es, welcher das »XJnzulangliche« 
zum 9Ereignis«, das »Unbeschreibliche<!( x>gethan« macht, — 
^nd wie hier an dem, der » immer strebend sich bemiihta die 
iiebe von obenv Theil genommen haben muB, damit er 



FortsetKung. 73 

erlost werde, so findet das Streben der erhabenen Kiinstler- 
natuT, das sich immer nur approximativ (»unzTilaiiglichc) in 
Wirklichkeit umsetzen laBt, erst in dem theilnehmend-liebe- 
YoUen Entgegenkommen des Empfangenden seine endgiltige 
Eilosung. Das ist der tiefste Orund, warum der Kiinstler 
eines Publikums bedaif, und bestande es auch nur aus einem 
einzigen Freunde, der ihm zuruft: »Ioh habe dich ver- 
standen 1 « — 

Wir miissen uns also strenge hiiten; durch die miBverstand- 
liohen Bezeicbnungen »Geist« oder nldeeff den Anschein zu 
erwecken, als ob das im Erhabenen Sich- offenbaren-WoUende 
in seinem Wesen ein logisch Geartetes sei; denn nur durch 
das strikte Festhalten an der inhaltlichen AlogicitUt des er- 
habenen Kunstwerkes sichem wir uns das Mysterium des Er- 
habenen. Andemfalls bleibt immer wieder die Kantische dAII- 
gemeinheitdr des asthetischen Urtheils bestehen, von der das 
Dogma der Klassicitat eine einfache Konsequenz i»t, und ewig 
bleibt unbegreiflichy warum der wahre Kiinstler doch immer 
nur r>paiun8 nait$8 est a, bis er als :»klassisch« einbalsamirt ist, 
um dann unter allgemeinen Lobeshymnen thatsachlich desto 
griindlicher vergessen zu werden. Der erhabene Kiinstler sagt 
eben das nicht, was er eigentlich sagen will, weil es sunsag- 
bara ist, und es bedarf der liebevollen Sympathie, um das 
ahnend aus dem Werke herauszulesen , was darin nur mehr 
oder minder angedeutet ist. 

Ganz deutlich zeigt sich aber der specifische Charakter 
des Erhabenen in der Musik dann, wenn die schaffende Kraft 
des Kiinstlers so gewaltig ist, daB ihr die Kunst in ihrer Yer- 
einzelung iiberhaupt nicht mehr geniigt, wenn jenes wunder^ 
bare Phanomen eintritt, dafi der Musiker Dichter wird, wenn, 
wie bei Wagner, diese heilige Noth, das XJnausdriickbare 
zum Ausdruck zu bringen, im eminentesten Sinne des Wortes 
sprachschopferisch wird und zu Konceptionen hinreiBt, 
gegen welche ganz unbegreifliche Wunder die creatio mundi 
ex nihilo des Jehovah als wahrhaftes Kinderspiel erscheint. — 
Wir werden aber, nachdem wir den Begriff des Erhabenen 
einer allgemeinen Analyse schon unterzogen haben, es vor- 
ziehen, zunachst als konkrete Exemplifikation jener abstrakten 



74 Bekapitiilation der Entstehang der MuBik. 

Satase in ihrer Anwendung auf die Tonkunst das Wesen der 
Kunst jener Meister zu ergriinden zu suchen, welche wir 
hauptsachlich als 9erhaben« kennzeichneteii, — anstatt umge- 
kehit zuerst das vErhabene in der Mosikt allgemein zu charak- 
teiisiren und dann an Beispielen zu verdentlichen , welcli' 
erstere Metbode ja aucb mebr dem spedfischen Cbarakter 
unaerer Astbetik entspricbt, als welcbe dem Wege der Kunst- 
entwickelung genau folgen, nicbt aber diesen selbst vorzeicbnen 
will, und so von vomberein bei alien, nicbt ganz allgemeinen 
Fragen einer Betracbtung der Kunslgescbicbte nicbt ent- 
ratben kann. 

Da wir Bacb bereits ausfiibrlicber besprocben baben, und 
iiberdies bei dem eminenten EinfluB der Polypbonie Bach's auf 
die neuere Musik auf ibn nocb wird zuriickgekommen werden 
miissen, so bandelt es sicb bier vor allem um die sogen. j»neue 
Bicbtnngtf in der Musik mit ibren drei Korypbaen Hector Ber- 
lioz, Franz Liszt und Richard Wagner. 

Wir erinnem uns an den Ausgangspunkt unserer histo- 
riscben Betrachtungen : Der urspriinglicbe i>Grefuhlsmenscha 
verbielt sicb zu den Eindriicken der AuBenwelt zuerst rein 
subjektiv, sie afficirten in seinem Leib zunacbst den ssicbt- 
baren Willena, bewirkten Lust und Schmerz. Diese Willens- 
affektionen, ebenso wie die spontanen Begungen der menscb- 
lichen Triebe objektivirten sicb mittelbar — fiir das Auge — 
als Gebarde, unmittelbar — fiir das Ohr — als Ton, bezw. 
Schrei. Ging nun der Mensch von der anfanglichen Passivitat 
den Erscheinungen der AuBenwelt gegeniiber zur Aktivitat vor, 
so war seine erste Aufgabe, die XJrsacben seiner Empfindungen 
zu erkennen. Sie deutlich und unterscheidbar zu diesem 
2^ecke zu bezeichnen, dazu reicbte jene primitive Gefiibls- 
sprache nicbt mebr aus, er ging also dazu iiber, die seine 
Empfindungen verursacbenden Objekte zur Bezeichnung nach- 
zuahmen, und zwar in dei Sprache hauptsachlich durch eine 
onomatopoetische oder symbolische »Tonmalereia. — ie unab- 
hangiger nun das Lidividuum von seiner XJmgebung wurde, je 
objektiver es sich den Erscheinungen gegeniiber stellte, desto 
mebr trat, wie wir gesehen haben, das Gefiiblselement in 
der Sprache hinter dem Yerstandeselement zuriick; aus 



Die That Beethoven'eu 75 

einem Ausdrucksmittel wurde die Sprache ein Yerstan- 
digungsmittel. — Die Natui, welche dem )»Natuniienschena 
in alien ihren Eindriicken Empfindung wird, sie war dem 
DYerstandesmenschena fremd geworden^ sie stand ihrn als reine 
Negation, als »Niclit-Icli(r — Welt als Yorstellnng — gegeniiber, 
deren Ersdieinungsreihe in Baum und Zeit ei zwiar verfolgen 
konnte, deren inneie Bedeutung zu enthiillen ihm aber un- 
moglich wat. 

Hatte sich nun neben der Sprache das ihr urspriinglich 
inharente Gefuhlsmoment als Tonkunst selbstandig weiter 
entwickelt, so konnte diese durch die ihr eigenthiimlichen Ele- 
mente der schrankenlosen Melodie und Harmonie nur die Un- 
endlichkeit und Schrankenlosigkeit des unbewuBten Sehnens 
ausdriicken (Bachl). Um es zur gegenstandlichen und ver- 
standlichen Erscheinung zu gestalten, entlehnte sie zunachst 
der Gebardensprache (Mimik, Tanzkunst) den Bhythmus, der 
Wortsprache die festgeschlossene (gleichsam syntaktische) Form 
der Melodie; denn es bedarf wohl kaum eines Nachweises, 
daB jede abgeschlossene Instrumentalmelodie die Nachbildung 
einer Gesangsmelodie sei, wie auch die typische Bedeutung 
der Kadenzen sich nur aus einer Analogic mit den Absatzen 
der logischen Bede, wie sie durch die Interpunktionszeichen 
markirt werden, begreifen laBt (vergl. Sechter, Grundsatze der 
musikalischen Komposition II, S. 54 u. f.). 

So entwickelte sich die Tonkunst bis zu Beethoven als 
cine idealisirte »Tanzkunst fur's Ohra ; der Trager des Ganzen, 
der tanzende Korper, war das »Indiyiduuma der Melodie, schon 
Individuum, aber gleichsam erst in seinem reinen An-sich, 
als bloBe Potentialitat (man yergleiche Schopenhauer's Musik- 
theorie). Als Beethoven es nun unternahm, diesen geister- 
haften Essenzen den lebendigen Odem der Existenz einzu- 
hauchen, daB sie Menschen von Fleisch und Blut wiirden, da 
erwies sich die Tonsprache als ungeniigend , er griff — zum 
Wort, indem er die menschliche Stimme mit gottlicher Naivetat 
dem wogenden Orchester zurufen laBt: »Freunde, nicht diese 
Tone la — DaB die Herbeiziehung des Wortes, des logischen 
Sprachelementes, zur Yergegenstandlichung des musikalischen 
Inhalts nach diesem kiihnen Schritte Beethoven's in zweifacher 



76 BerlioB. 

Weise vor sich ging, haben wir gesehen : neben dei Entwicke- 
lungsreihe Beethoven-Wagner geht die parallele von Beethoven 
iiber Berlioz zu Liszt. 

Auch Berlioz' ganzes, so unendlich tiefes Streben erkenne 
ich in dem Bemiihen, den geisterhaften Schemen der Ton- 
kanst zu lebendiger Existenz zu verhelfen. Fiihrte Wagner's 
Entdeckungsfahrt zum sprechenden Menschen, so gelangte 
Berlioz zur tonenden Natur^ Wagner fand von Beethoven 
ausgehend sein »Kunstwerk der Zukunfta, Berlioz -Liszt die 
))symphonische Dichtungtf. Jenes Element, das einst den 
primitiven Interjektionen der urspriinglichen Gefuhlssprache 
einen gegenstandlichen Halt, ein festes Gerippe gegeben hatte, 
als tonmalende Sprachwurzeln , jenes Element nahm Berlioz 
als »Tonmalerei« in die Musik auf und fiihrte so die Instru- 
mentalmusik erst ihrem eigentlichen Berufe zu, indem er nicht 
eine lediglich in Riicksicht auf den menschlichen Gesang er- 
fundene Melodie auf ein Orchesterinstrument iibertrug, sondern 
jedes Instrument seine eigene Sprache reden liefi : so kann 
man in gewissem Sinne sagen, dafi Berlioz der Erste war, der 
eigentlich fiir das Orchester komponirte, nicht bloB seine Kom- 
positionen orchestrirte. 

Und auf diesem Wege gelangte er nun ebenfalls dazu, 
das unbewuBte Lallen, das gegenstandslose Jauchzen und Jam- 
mem der Tonkunst zur Sprache zu erheben, nicht zur bewuBt- 
ausdriickenden Rede des Menschen, vielmehr zu einer Deutung 
der unbewuBten Sprache der Natur; aber das eigentliche 
Objekt der Musik, die Melodie, behielt auch bei Berlioz ihren 
individuellen Charakter, d. h. ihm erschienen nun auch die 
Naturgegenstande als Individuen, als Objektivationen desselben 
Willens, der in uns sich sehnt und ringt: 

wWie einst mit flehendem Yerlangen 
Pygmalion den Stein umacbloB, 
Bis in des Marmors kalte Wangen 
Empfindung gliihend sich ergoO, 
So sohlang ich mich mit Liebesarmen 
Um die Natur, mit Jugendlust, 
Bis sie zu athmen, zu erwarmen 
Begann an meinex Dichterbrust. 



Beethoven, Berlios und Wagner. 77 

Und theilend meine Flammentriebe 
Die Stumme eine Spraohe fand, 
Mir wieder gab den KuO der Liebe 
Und meines Herzens Klang verstand; 
Da lebte mir der Baum, die Bose, 
Mir sang der Quelle Silberfall, 
Es ftthlte selbflt das Seelenlose 
Yon meines Lebens WiderhalLa 

Als Beethoven aus der Vereinsamung und nuntnotivirtena 
Ghrundlosigkeit seines Individuums sich hinaussehnte, da fand 
er seine Briider: 

»Seid umschlungen Millionen, 
Diesen KuO der ganzen Welti* 

Als Berlioz von derselben Sehnsuclit ergriffen wurde, 
bnA er die Natur, aber nicht mehr (Ue fremde, starre, leb- 
lose, sondern die als unseres Gleichen erkannte. Beetlioven's 
IX. Symphonie hat zum Inhalt die Erlosung des Menschen 
zur Freude durch sein Aufgehen in die allgemeine Liebes- 
gemeinschaft ; dei erlosungssiichtige Schmerzensschrei der gan- 
zen Natur tont uns aus dei nSymphonie fantastique^ entgegen 
(letzter Satz!). Beethoven zertriimmert die Konvention — »was 
die Mode frech getheiltl« — um Baum fur die Freude zu ge- 
winnen: daB er sich damit, wie jeder »Bevolutionare<ic, einer 
Illusion hingab, konnte sich erst zeigen, als man zu der £in- 
sicht gelangt war, daB das die Freude triibende, Konflikte 
schaffende Element nicht das Werk zufalliger Willkiir, son- 
dern Ausfluft der innersten widerspruchsvollen Natur des 
Willens selbst sei, und diesen Schritt iiber Beethoven hinaus 
machte Wagner. £s war der holde Wahn, als ob sich das 
verlorene Faradies zuriickerobern. als ob nach den Tode&kampfen 
des Erhabenen der Friede des Schonen ungetriibt sieh wieder- 
herstellen lieBe, waa Beethoven sein Lied an die Freude singen 
machte. Wir glauben auch in der Kunst nicht mehr an 
Utopien, auch da soil das wahre Wesen der Welt zum Vor- 
schein kommen , wir werden daher spater noch Gelegenheit 
heben, den Grrundwesens-Unterschied zwischen Beethoven, 
Berlioz und Wagner, was ihre kiinstlerische vEschatologiec so- 
zusagen betrifft, einer nEheren Betrachtung zu unterziehen. 



78 Lisst und Wagner. 

Doch sei hier schon gesagt, dafi Berlioz zunachst bei der Auf- 
losung der Antinomie des Erhabenen den Beethoven stxikte 
entgegengesetzten Standpunkt einnahm, d. h. die Moglichkeit 
einer solchen iiberhaupt leugnete: ihm ist die ganze Welt in 
zwei Halften nzerfallentf^ das Band der Einbeit ganzlicb ver- 
loren gegangen. Das ganz Eigenthiimlicbe und Anziebende 
seiner Kunst besteht, man konnte sagen, in ihrer XJnfertigkeit; 
Berlioz' Musik gleicbt ebenso oft einer noch barten, festrer- 
scblossenen Bosenknospe in ibrer berben Jungfraulicbkeit, wie 
einem welken Herbstblatte , in gliibender Farbenpracbt, aber 
weltmiide und wurmzer&essen. 

Ibm war es, wie seinerseits Beetboven, nur vergonnt, mit 
fliicbtigem FuBe das neuentdeckte Land zu beriibren ; ganz klar 
und deutlicb wird sein Bestreben erst durch seine Nacbfolger 
und YoUender, Liszt und Wagner. Letztere beiden Meister, 
obwobl auf verscbiedenen Wegen dem Ideale^ welcbes Beet- 
boven vorgescbwebt batte, nacbstrebend, begegneten sicb dann 
aucb konsequenterweise auf der Hobe ibres Scbaffens; aucb 
der erloste Mensch neigte sicb nun in seliger Freudenwonne 
berab zu der nacb Erlosung durcb ibn und in ibm scbmacbtenden 
Natur : 

»Auch deine Thrane ward zum Segensthaue: 
du weinest, sieh', es lacht die Aue.« — 

Zur Erlauterung meiner im Yorigen ausgesprocbenen An- 
sicbt iiber Berlioz diene nocb das Folgende: der franzosische 
Meister scblagt, wie Liszt, gerade den umgekebrten Weg ein 
als Wagner; letzteren konnte man einen Kiinstler Avon innent^ 
im Gegensatze zu einem solcben »von auBenff, nennen. Berlioz' 
Auss^ansspunkt ist die melodiscbe Fbrase der Beetboven'scben 
SymphoBie: diese projicirt er gewissermaBen als leibUche Er- 
scbeinung in die AuBenwelt binaus und sucbt sie musikalisch 
zu recbtfertigen und zu erlpsen. Wagner dringt zuerst in das 
innerste Wesen der alten Sympbonie-Melodie ein, erkennt das- 
selbe als Ausdruck einer Willens-Urtbat, und indem er diesen 
Willen frei walten laBt, erscbafft sicb ibm die Welt von selbst. 
Bei Berlioz erscbeint aucb das Individuum — die Melodie — 
als Naturprodukt , als motivirt, abbangig von seiner Um- 



Tonalit&t und Enhannbnik. 79 

gebung; — sein Sehnen ist die Freiheit. So war es da, wo 
Berlioz sich am hochsten erhob, am meisten Wagner naherte, 
in den »Tiojanem«t nicht der mythische Mensch, der eine 
Welt aus sich heraus gestaltet und die von ihm vorgefundene 
Welt der Siinde erlost, sondem der Mensch der geschicht- 
lichen Sage, der aus den ihn umengenden und umdrangenden 
Verhaltnissen sich heraussehnt zur Verwirklichung des gott- 
lichen Ideals. Winer's Weg ging vom Himmel zurErde: — 
Lohengrin: wie sein Gralsritter bringt er uns Erl5sung aus 
jenen reinen Hohen, wo nur er geweilt. Liszt's Bahn fuhrte 
von der HoUe (= Erde; vrgl. Bayr. Bl. 1879 S. 124 »0 mon- 
sieur ^ Venfer est sur la ierreai — und Schopenhauer, Welt als 
Wille 3. Aufl. I, 383) zum Himmel: — Dante -Symphonic. 
Auch Berlioz schlug diesen letzteren Weg ein, aber mehr 
geahnt als wirklich erfaBt, erscheint ihm der Himmel nur in 
weiter Feme, im verheiBenden Gliihen des — romischen 
Capitols! — 

Wir woUen nun sehen, in welcher Weise dieses ins XJn- 
gemessene schweifende, vom Himmel in die HoUe und vom 
Abgiund in die Hohe rasende Streben, welches der neueren 
Musik eine so machtige, mit keiner andere nasthetischen Wir- 
kung zu vergleichende Sprache verUeh, die Ausdrucksformen 
der Tonkunst umwandelte und veranderte. Zunachst in 
harmonischer Beziehung war Berlioz der erste, der ohne Vor- 
behalt, kiihn und unerschrocken , alle die Konsequenzen zog, 
welche durch die Annahme des temperirten Systems bereits 
implicite acceptirt waren. Wie der Name Bach's , des ersten 
groBen Meister's des Erhabenen in der Musik, mit der Reception 
des temperirten Tonsystems unzertrennlich verbunden ist, so 
der Berlioz' mit der XJmstoBung der strikten Giltigkeit des 
Gesetzes der Tonalitat. Dadurch gelang es, jene reiche 
Enharmonik auszubilden — man konnte die Entwickelungs- 
reihe Chopin, Liszt, Wagner fur diese » Specialitatv auf- 
stellen — welche dann besonders in Wagner's spateren Werken 
so herrUche Friichte zeitigen soUte. Zeigt sich nun in der 
Enharmonik das erhabene Streben als ein in die Weite, das 
Feme Schweifendes, welches das Entfemteste, das Heterogenste 
zusammenbringt und identificiert , so haben wir in der 



go Chromatiky Harmonik und Djmamik. 

Chromatik dei modemenHarmonie gleichsam das Gegenstuck 
dasu: ein Streben in's Unendlich-Kleine, eine Sucht naeh 
allerfeinster melodischer Theilimg und Nuanciruiig, die, nament- 
lieh bei Chopin, unwillkiirUch den Gedanken erweckt, als sei 
ihm der halbe Ton noch nicht klein genug, als hindere ibn 
nur die konventioneUe Tonsprache dazan, sich in Viertelstonen 
zu ergehen. 

Yon der ^Emancipation der Dissonanzc haben wir schon 
gespiochen; bier gab es keine Grenzen, und beute sind wir 
so weit, dafi praktiscb alle Dissonanzen frei sind, und die An- 
zabl der moglicben Akkorde hat sich so erweitert, dafi kaum 
eine Tone-Zusammenstellung denkbar ist, die nicht auch fiik- 
tisch anwendbar wUre. (Am weitesten sind hierin« wie uber- 
haupt in harmonischen Freiheiten, die Komponisten der neu- 
russischen und neu-firanzosischen Schule gegangen — -- ick 
erinnere Beispiels halber nur an Borodin, 6. Godard, Worm- 
sex's » Enfant prodiguea u. A. — wo, wenigstens in technischer 
Beziehung, ein thatsachlicher Fortschritt iiber Wagner und 
Liszt hinaus zu erkennen ist.) Jene »Anhaufungen« von Tonen, 
welche kaum mehr Akkorde genannt werden konnen, in wel- 
chen ja Bach sehon so Aufierordentliches leistete, hat die neue 
Schule erst recht ausgenutzt und hart bis an die Grenze des 
Moglicben gefuhrt. Aber nicht nur der Eintritt der Dissonanz 
wurde so ungeziigeltei Freiheit preisgegeben , auch ihre Auf- 
losuDg ist an keine Hegel mehr gebunden, und ich erinnere 
nur an das Liegenbleiben wie Wegspringen von Yorhaltsnoten, 
um zu zeigen, in welch' ausgedehntem Mafistabe der anar- 
ehische Freiheitsdrang der Modemen die Ausdrucksmittel der 
Musik zum Entsetzen aller bezopften Harmonielehren schrei-* 
benden und Kanon-komponirenden Philister- und Frofessoren- 
seelen zu erweitem wufite. 

Von der erhohten dynamischen Wirkung mochte ich 
am liebsten gar nicht sprechen, da man ja immer noch nicht 
ganz aufgehort hat, Amodeme Musik« und vkolossalen Larmc 
als Wechselbegriffe zu gebrauchen. Aber man hiite sich gerade 
in dieser Beziehung eine vGefuhlsvergroberui^a anzunehmen, 
nur immer darauf hinzuweisen, daB der abgestumpfte Gaumen 
immer mehr Paprika yerlange: daB die Genufifahiigkeit des 



. Die Instrumentation. 81 

Willens, .welche, um nicht in ganzlicher Blasirtheit zu endeii, 
immer scharfere Beizmittel verlangt, bei der elementar-sinzi- 
lichen Wirkung der Musik so gut wie jeder anderen Kunst 
ihre Rolle spielt, das brauchen wir gar nicht zu leugnen ; aber 
man iibersehe nicht die Wechselbeziehung, in welcher Forte 
und Piano, als lediglich relative Begriffe, zu einander stehen, 
und wenn es sicher ist, daB dynamische Wirkungen wie z. B. 
die des nTuba mtrumt in Berlioz' Requiem friiher unerhort 
waren, daB so — wenigstens scheinbar — unvennittelte Kon- 
traste, wie sie sich bei dem groBen franzosischen Symphoniker 
und auch bei Liszt, weniger bei Wagner, finden, der alten 
Musik abgehen, so bedenke man, daB andererseits die klassi- 
sche Musik auch jene allerfeinsten Pianissimo -Effekte, jene 
anhaltenden, kontinuirlichen, ins unermeBliche emporlodemden 
Steigerungen eines Wagner, Liszt und Bruckner entbehren 
muBte. Und auch ganz abgesehen von dieser Wechselbeziehung, 
gab es Tor Berlioz je eine solche zarte Keuschheit und duf- 
tige Feinheit der Erfindung, als sie uns aus dessen wunder* 
baren »Sommemachtena ent^egenweht? Und kann man in der 
That von »grob materiellen Effektena sprechen angesichts einer 
Instrumentation von solcher Durchsichtigkeit und Klarheit, 
wie die Wagner's es bei aller Kraft und Wucht ist, zumal 
wenn man sie mit den banalen Orchesterwitzen eines Meyer- 
beer, Oder der schwerfalligen Unbeholfenheit Schumann^s oder 
gar Brahms' vergleicht? Aber wenn man gewisse ^Musik- 
asthetikera hort, soUte man glauben, daB ein bedeutender 
musikalischer Inhalt nothwendigerweise in dem, wie sie meinen, 
Dschlichtena GefaBe einer stiimperhafiten Listrumentation kr^ 
denzt werden miisse, um unsere iiberreizten, modemen Nerven 
zu erquicken: daB dieser Labetrank dann allerdings meist als 
unfehlbares Dormitiv wirkt, will ich geme konstatiren, aber 
damit sind wir ja schon bei den — An-AaestheticiscI 

Jenem Streben nach Unregelmafiigkeit, welches wir eben 
nur aus der Alogicitat des auszudriickenden Inhalts, der die 
intellektual-adaquate Form, wie wir auseinandergesetzt haben, 
als seinem Wesen nicht entsprechend, zersprengt, erklaren zu 
konnen glauben, sind als einzige, nicht ohne Gefahr zu iiber- 
springende, Grenzen die subjektive der Verstandlichkeit 

Loui0, Widerapmch in der Maaik. 5 



g4 Die »Beehtfertigo]ig« der PignonMH. 

Encheinung zu bringen, wird konstleriscli erreiclit einzig im 
Drama, an dessen Yerwirklichimg sich der ganze Menscli mit 
der gesammten Ansdrucksthatigkeit seines Leibes betheiligt 
nnd das sick ebenso an den ganzen Menschen, nicbt bloB an 
einen einzelnen der fonf Sinne desselben wendet. Eine Einzel- 
kunst wird nun dann dramatischy wenn sie dies Bedurfiiis 
nach totalem Aosdrack erkennt and somit ibre Einzelexistenz 
Terlafity um sieb mit einer der Scbwesterkiinste za yerbinden. 
Gescbiebt dies, so kann sie nicbt mebr — wie die sogenannte 
vabsolnte Mnsikt — in dem An-sicb reiner Potentialitat, in der 
bloBen Innerlicbkeit des Gefiibls verbarren, sondem sie ringt 
nacb sinnenfalligem, leiblicbem Ansdruck, sie will Fleiscb und 
Bint werden, eine Mnsik aber wie die klassiscbe Epigonen- 
masik unseres Jabrhunderts zeigt nichts als ein obnmacbtiges 
Streben, das aos seinen kraMosen Velleitaten nie zum fakti- 
scben Wollen gelangt, einen impotenten Kitzel obne Zeu- 
gungskraft, ein Mit-sicb-selbst-Spielen inbaltsloser Formen. 

Dadnrcb, daS die Dissonanz in den Mittelpunkt der Mnsik 
getreten ist, wtirde sie dramatiseb, nnd eben das Hinausgeben 
iiber den engeren Ausdmcksbereicb der nabsolutena Mnsik im 
musikaliscben Drama nnd der Programmmusik bedeutet nicbts 
weiter als die ^Recbtfertigung^ der Dissonanz in dieser 
ibrer nenen Bedeutung. Das macbtige Streben, dessen asthe- 
tiscber Ausdruck einzig im erbabenen Kunstwerk yor sich 
geben kann, emancipirte die Dissonanz aus ibrer untergeord- 
neten Stellung und fubrte in demselben ProceB die Mnsik, 
ibre bisbeiigen konyentionellen Formen zersprengend, iiber 
ibr eigenes Gebiet binaus zur Vereinigung mit der Scbwester- 
kunst. 

Die »alte Mnsik « ist diejenige, aufwelcbe Scbopenbauer's 
Mnsiktbeorie uneingescbrankte Anwendung finden kann: sie 
erzablt die Gescbicbte des Willens in seinem reinen An-sich, 
losgelost yon den Motiyen, sie ist sozusagen abstrakte Gefiibls- 
spracbe, oder yielmebi Ausdruck der abstrakten, allgemeinen 
Gefuble. Sie ist daber, in ibrem Principe konsequent yer- 
folgt, bomopbon, und kennt den Kontrapunkt lediglicb als 
anmutbiges, beiter-neckiscbes Spiel tonender Formen. (Man 
vergleicbe beispielsbalber die »erbabene« Polypbonie Bacb's 



Der emst genommene Kontrapunkt. g5 

mit der Mozart's.) Mozart, den wir als den grofiten Meister 
des DMusikalisch-Schonena bereits kennen gelemt habeu; war 
nun viel zu sehr Kiinstler, um diese Bichtung jemals ein- 
seitig zu verfolgen, und viel zu sehr naive r Kiinstler, um 
sich von der Yergeblichkeit seines Bestrebens, die Forderungen 
kiinstlerischer Wahrheit und Schonheit gleichenuaBen zu er- 
fullen, iiberzeugen zu konnen. So bildet er den Wendepunkt 
in der Geschichte der neueren Musik: bei ihm laufen noch 
beide Seiten der spateren musikalischen Entwickelung unge- 
schieden neben einander her, er tragt den Widerspruch in 
sich, ohne eine Ahnung davon zu haben ; daher der Charakter 
riihrender Naivetat, welcher der Erscheinung des Salz*- 
burger Meisters anhaftet. — Mozart hatte zwei unmittelbare 
Nachfolger, Beethoven und Bossini, welche, jeder in seiner 
Art, ersterer positiv, letzterer negativ, die Illusion, in welcher 
Mozart's Schaffen befangen geblieben war, aufdeckten und 
zerstorten. Die absolute Musik sans phrase ist, wie schon B. 
Wagner so iiberzeugend dargethan, die Bossini'sche Arie — 
man erinnere sich an Schopenhauer's Vorliebe fiir diesen 
Meister — , Beethoven aber fiihrt direkt zum musikalischen 
Drama und zur Frogrammmusik. 

Nun konnte auch Bach eine Auferstehung feiem, jener 
Allgewaltige , mit dem doch selbst ein so geschickter Talent- 
mann wie Mendelssohn nichts Bechtes anzufangen wuBte, in- 
dem es eben auch mit der Folyphonie wieder Ernst wurde. 
— Die Coexistenz mehrer Individualwillen und die hieraus 
nothwendig sich ergebenden Konflikte, die asthetische Dar- 
stellung dieser Verhaltnisse wird in der Musik einzig durch 
den emst genommenen Kontrapunkt erreicht. Emst nenne 
ich den Kontrapunkt aber dann, weixn die Themen ausdrucks- 
voll, also asthetische Willensreprasentanten sind, wie bei Bach, 
nicht aber lediglich Tonfolgen, mit denen sich gut kontra- 
punktiren laBt, aber nichts weiter. Kommt nun zu dem so 
gefaBten Kontrapunkte , als Symbol namlich der Coexistenz 
und der hieraus sich ergebenden Konflikte, die ErschlieBung 
der untermenschlichen Natur fur den musikalischen Ausdruck, 
wie sie durch die Auffindung des specifischen Klangcharakters 
der Orchesterinstrumente durch Berlioz ermoglicht wurde, 



gg Weitere Wirkangselemente der modemen Miuik. 

die Erweckung aller nur denkbaren Stimmimgen nnd Lebens- 
beziehnngen durch die Anwendnng von Ideenassociationen 
— Leitmotiy, symboliBche [im Unterschiede you der imitirenden] 
Tonmalerei a. s. w. — so zeigt sich ans die modeme Musik 
als ein in seinen Elementen so vielfach znsanunengesetztes, 
bei dem GenieBenden ein so hobes MaB kanstleriscber Bildnng 
und liebevoller, selbstloser Yersenknng in sein innerstes Wesen 
erfordemdes Gebilde, dafi es nicbt zn Yerwnndem ist, wenn 
zuT Zeit nocb sebr Wenige anch nur bis in die Yorballe des- 
selben Yorgedmngen sind. Es zeigt sicb aber andrerseits in 
der modemen Tonkonst, vor allem wenn sie ans eigener Kraft 
das Gesammt-Knnstwerk des Drama's erscbafft, ein asthetisches 
Weltbild von einer Totalitat, wie es bisber in der Kunst- 
gescbicbte unerbort war, nnd mit dem ancb die erbabensten 
Litteraturwerke scbon ans dem Grunde kaum ye^licben 
werden konnen, weil sie der unmittelbaren Sinnenfalligkeit 
und leiblichen Konkretbeit unserer Kunst notbwendig ent- 
bebren miissen. Liszt^s » Dante -Sympbonie^ oder Wagner^s 
9 Tristan i z. B. — und man kann ja ancb diesen ganz allein 
fiir die Musik in Ansprucb nehmen; denn obwobl, zum Ent- 
setzen aller Litteraturprofessoren sei es gesagt, der 9Text« des 
xTristanv yielleicbt das tie£sinnigste Drama ist, das die deutscbe 
Litteratur besitzt, so ist bier docb die Tragodie ganz ans dem 
»GeiBte der Musik « geboren, um Nietzscbe'isch zu reden — 
reprasentiren Hoben der Kunstentwickelung, wie sie seit den 
»Spielenir Sbakespeare's nicbt entfemt mebr erreicht wurden. 
Gerade die eminente Bedeutung der sympboniscben Dicb- 
tungen Liszt's ist nocb so wenig anerkannt, dafi es beilige 
Pflicht jedes wReifena i3t immer und immer wieder darauf 
hinzuweisen, wie ja Wagner Yom »Binga an ohne den musi- 
kaliscben Einflufi Liszt's gar nicbt denkbar ware. Jener Scbritt 
Yom ))Lobengrin« zum »Tristanir; jener Scbritt, der in das neue 
Wunderland der modemen Musik hiniiberfubrte, er ist zuerst 
von Liszt gemacbt worden, und Wf^er ist ibm nacbgegangen. 
Freilicb solange iiber das Problem der Frogrammmusik nocb 
so kindiscb-bomirte Ansicbten berrscben, wie man sie immer 
nocb von den srenommirtestena Musikkritikem zu boren be- 
kommt, ist an ein Yerstandnis Liszt's gar nicbt zu denken. 



Das Programm als formgebendes Princip. 87 

Nicht eine Eb^ndlung will die Programmmusik musikalisch 
illnstrireii; nicht dasselbe in Tonen sagen, was der Dichter in 
Worten gesagt, sondem sie benutzt das Programm lediglich 
als formgebendes Princip) wie der 9 absolute « Musiker das 
Schema der klassischen Symphonie benutzt. Seine asthetische 
Rechtfert^ung muB das Programmmusik- Werk in sich selbst 
trageU; so gut wie jedes andere Tonstiick. Diese Einheit und 
Konsequenz der Entwickelung, worin Liszt gerade so grofi ist, 
zeigt sich hier nur nicht so schon auf den ersten BUck, es 
bedarf vielmehr liebevoUen Entgegenkommens von Seiten des 
Horenden. Diese Werke miissen von inn en heraus verstanden 
und erfaBt werden, von aufien kommt man ihnen nicht bei: 
da sieht man nur planlos aneinander gereihte, mehr oder 
minder interessante Detail's. Erst wenn in einem kongenialen 
Gemiithe dieselbe Sehnsucht erwacht ist, aus der das Werk 
heraus geboren wurde, dann leuchtet auch die innere Noth- 
wendigkeit ein, die air diese Einzelheiten yerbindet und zu- 
sammenhalt, die ihren eigentlichen iibersinnlichen Inhalt aus- 
macht. Auch bei der formalen Anordnung der alten Symphonie 
soUte eigentlich die Forderung nach (qt4asi logischer) Konse- 
quenz erhoben werden, die Frage — wenn auch nicht bewuBt- 
abstrakt — gestellt werden, warum folgt auf jenes Thema ge- 
rade dieses u. s. f.; aber faktisch unterbleibt diese Fragestellung 
meist, lediglich aus dem Grunde, weil es ja immer so war, 
daB auf ein erstes Thema ein zweites als Seitenthema folgte 
u. s. w. Also wurde hier anStelle der innerlichen, asthetischen, 
sozusagen, autonomenRechtfertigung eine auBerliche, hetero- 
nome, eine solche aus der Konvention gesetzt. Weil dies 
bei der Programmmusik, die nie nach einer Schablone arbeitet, 
nicht der Fall sein kann^ deshalb soil sie formlos sein. 
XJnserem denkfaulen, in der gewohnheitsmafiigen Schablone 
versumpften Publikum, das Beethoven nur deshalb vergottert, 
weil er Beethoven und, wohlgemerkt, voile 65 Jahre todt 
ist, und Liszt degoutirt gerade so wie es am Anfang dieses 
glorreichen, hochgebildeten Jahrhunderts Beethoven ungeheuer- 
Uch fand, ihm konnen wir voll Verachtung das Wotan's-Wort 
zurufen : 



8$ Das Typiflche und das Chaiakteristische. 

»Stet8 GeWohntes 
nur magst du yersteh'n: 
doch was nie sich traf, 
danach trachtet znein Sinnln 

Diesen nacb dem Neuen, dem Ungewolmten trachtenden 
Sinn haben wir abei nur dann als gesund und asthetisch be- 
recbtigt zu erkennea, wenn er Ausflufi ist jenes ur-gewaltigen 
Sebnens, das es di&ngt, sein Innerstes ganz und obne Rest 
mitzutbeilen, das Unsagbare, XJnaussprecblicbe wenigstens zu 
lallen und zu stammeln. Es ist leicbt klar zu scbreiben, 
wezm die Gedanken seicbt sind; aber wo die bocbsten Hoben 
und tiefsten Abgriinde des Weltendaseins uns enthiillt warden, 
da soUte man billigerweise yerzicbjten auf banale Allgemein- 
verstandlicbkeit. Hier kann Ton »scboner Forma nicbt mebr 
die Rede sein. Das j^Idealisirenv des Scbonbeitskiinstlers a taut 
prix besteht ja gerade in der Weglassung dessen, was uns 
asthetiscb am wertbvollsten diinkt, des Cbarakteristiscben. 
Seine Kunst scbafft im besten Fall Typen. Wir verlangen 
aber von der Kunst Individualitat scbon deshalb, weil uns 
aucb metapbysiscb — im Gegensatz zum abstrakten Idealis- 
mus — die Individuen das einzig Reale sind, die Gattungen 
dagegen nicbts als Abstraktionen, d. b. Produkte der menscb- 
licben Gebimthatigkeit. Weil die schone Kunst typiscb ist, 
bat sie aucb naturgemafi ein yiel groBeres Publikum. Gleicb- 
zeitig aber typiscb und mdiyiduell sein, d. b. mit anderen 
Worten das Beale in's Ideale bineinzubilden , es in der und 
durcb die Anscbauung gleicbzeitig begrifflicb 2u deuten, ist 
die ewig unlosbare Aufgabe aller Kunst, unlosbar desbalb, 
weil das Reale in seiner Alogicitat nie im Begrifflicben voU 
und ganz aufgeben kann, weBbalb die Kunst, wie scbon be~ 
merkt, gerade durcb die XJnIosbarkeit ibrer Aufgabe — wie 
das Leben selbst — immerfort am Dasein erbalten wird, 
wS.brend sie, wenn sie jemals ibr Ziel erreicben konnte, sofort 
in Pbilosopbie umscblagen miiBte. So ist der Widersprucb 
in Kunst wie Natur das Agens, welcbes AUes treibt und er- 
bait, obne den alles Web, aber aucb alle Wonne des Seins 
ins indifferente Nicbts zuriicksinken wiirde. Fiir die Tonkunst 
speciell aber manifestirt sicb das Streben, dem Widersprucbs- 



Die Epigonenxnusik. . g9 

charakter der Welt asthetisch gerecht zu werden, als das 
Musikalisch-Erhabene, wie wir es im Obigen entwickelt 
haben. 

XJnserer Tendenz gemafi, alle Erscheinungen der Kunst, 
so verkehrt sie auch unserem subjektiven asthetischen Em* 
pfinden erscheiuen mogen, zu begreifen zu suchen, will ich 
nun hier noch in Ausfuhrung des S. 84 Angedeuteten aus- 
einandeisetzeu; wie ich mir eine Eischeinung in der modemen 
Musik, die in ibren Hervorbringungen mit der Kunst des 
Erbabenen eng zusammenbangt, ja mit ibr verwecbselt werden 
kann, erklare. Icb bemerke dabei ausdriicklich , da£ es sich 
hier nur um eine subjektive Ansicht handelt, welche ich zwar 
ganz offen und ehrlich, aber mit allem Vorbehalt einer solchen 
ausspreche. Es kann namlich der Fall eintreten, daB diejenigen 
Ausdrucksformen^ welche das unendliche Sehnen des erbabenen 
Kiinstlers aus seinem tiefsten Innem heraus erzeugte, von 
Nachahmem rein auBerlich aufgegrifien werden, um mit ihnen 
ganz ebenso zu schalten, als der Kiinstler des Musikalisch- 
Schonen mit seinen absolut wohlgefalligen Formen umging, 
d. h. in ihrer mannigfaltigen harmonisch-rhythmischen Kombi- 
nation, in ihrem kaleidoskop-artigen Um- und Durcheinander- 
wiirfeln findet der Kiinstler seine voile Befriedigung : das ist 
das Wesen der Epigonenmusik^ der mit stolzem BewuBt- 
sein sich so nennenden »absoluten Musika xar^ i^oxi^v. 

Als Schumann von seinem urspriinglichen Wege, der eine 
wahrhaft originelle Bichtung verfolgte, namentlich durch den 
unseligen Einflufi Mendelssohn's gliicklich abgebracht war, 
fiel er ganz diesem halb schwiilstigen, halb trocken-niichtemen 
Formalismus anheim — als krassestes Beispiel diene das 
» Requiem fur Mignoncc — , und Mendelssohn selbst registrirt 
ebenfalls unter diese Kategorie iiberall, wo er nicht entweder 
— z. B. in seinen herrlichen musikalischen »Landschafiken(( 
a la Hebriden-Ouverture — sich Berlioz nahert oder, allerdings 
oft mit vielem Gliick, iiber die Sphare des Musikalisch-Schonen, 
im Sinne des absolut Wohlgefalligen, iiberhaupt gar nicht 
hinausgeht. — Jene formalistische Verwendung erhabener Aus- 
drucksmittel kann nun, wenn sie von einer entsprechend gut 
geschulten musikalischen Technik unterstiitzt wird, manchmal 



90 Fortsetzung. 

den Anfichein unergriindlichsten Tiefsinns aufweisen, so daB 
es einem mit solchen Werken ahnlich ergeht wie mit den 
Schriften mancher deutschen Philosophen aus der ersten Halfte 
unseres Jahrhunderts: man martert yergeblich sein Gehim um 
dahinter zu kommen, was die ganze Sache eigentlich zu be^ 
deuten habe. Wer die Gednld bat, bei dieser vzwangvollen 
Plage « auszubarren, wird freilicb scblieBlicb inne werden, daB 
sie eine i>Mub' obne Zwecka war; denn was dabinter steckt, 
ist in den allenneisten Fallen entweder ein XJnsinn oder eine 
Trivialitat, wenn nicht gar ein gescbickt verbiilltes Flagiat — 
wofur die hoflicbere musikaliscbe Ausdrucksweise den 
Eupbemismus vReminiscenza anzuwenden liebt — . Aber in 
der Musik wird sicb ein solcbes gebaltloses Scbaffen immer 
offenbaren an der Erfindungslosigkeit, d. b. dem Mangel 
an pragnanten, sselbstevidentena Tbemen. — Ausdriicklicb sei 
bemerkt, daB icb bei dieser Cbarakteristik der Epigonenmusik 
nicbt an Brabms — allein gedacbt babe, sondem aucb an 
solcbe Herren, die sicb weniger Dconservativir geriren als jener 
Wiener Sympboniker und es vondeben, ibre »NotbanIeiben«r 
bei den Korypb§.en der modernen Musik zu macben, statt immer 
und immer wieder auf dem wilden Streitrosse Beetboven'scben 
Titanentrotzes einen Bitt in die csaidasreicben PuBten zu 
untemebmen, wobei ja aucb allzusebr die Konkurrenz Oper- 
etten — , in neuester Zeit sogar Opem-komponirender Kollegen 
im Wege stebt. 

Unsere Betracbtung iiber das Musikaliscb-Erbabene soil 
aber folgende Erwagung zu ibrem endgiltigen AbscbluB bringen. 

Wir baben geseben, daB- die Dscbone Erscbeinungc die 
allererste Wirkung des bloBen Eintritts der Musik ist, daB 
das Sebone gleicbsam die Vorballe bildet, durcb welcbe wir 
erst ins innerste HeiHgtbum der musikaliscben Offenbarung 
eintreten : 

»Nur durch das Morgenthor des Schdnen 
Dringt ihr in der Erkenntnis Land!« — 

beiBt es aucb bier. Darum konnte ja Scbopenbauer in der 
Spracbe seiner Metapbysik sagen, daB die Musik direkt ein 
Abbild des Willens als Ding an sicb, selbst eine Idee der 



Losung dee Konflikts im Erhabenen. 91 

Welt sei, — weil sich in der That die Musik zu alien anderen 
Kiinsten verhalt, wie das Reicli der Ideen znr raumlich-siiin- 
lichen Aufienwelt: die Musik ist das, was die anderen Kiinste 
nachbilden ; und wenn wir auch nicht geneigt sind, die Ideen- 
lehre des Schopenhauer'schen abstrakten Idealismus zu ver- 
treten, so ist doch so viel an seiner Musiktheorie richtig, daB 
die Musik uns um ein betrachtUches Stiick weiter hinabfiihrt 
in den Urgrund des Seienden als alle anderen Kiinste. — 
Aber ihre asthetische JoScheinhaftigkeita wahrt die Musik da- 
durch) daB sie ihren Inhalt in irgend eine Beziehung zur sinn- 
lichen AuBenwelt bringt, d. h. zunachst in die Form der schonen 
Erscheinung kleidet, welche der erhabene Inhalt allerdings im 
Laufe der Entwickelung zerstoren und zertriimmem kann, die 
aber trotzdem die auBersten Enden der musikalischen Mani- 
festation bilden muB. Denn ebenso wie wir durch das vMorgen- 
thor des Schonen « in das sdunkelnacht'ge Land a eintreten, so 
verlassen wir es auch wieder durch dasselbe, d. h. der Wider- 
spruch, welcher sich in der Offenbarung des Erhabenen zeigt, 
muB irgend einer Losung zugefuhrt werden, oder es kann doch 
wenigstens bei ihm nicht stehen geblieben werden. Die Be- 
deutung der SchluBkadenz liegt eben in diesem Zuriick- 
leiten aus dem Reiche des Erhabenen in das der schonen Er- 
scheinung und von da in die reale Welt. Dieser SchluB selbst 
ist rein konventionell bei Bach: Bach kennt keine Losung 
des Widerspruchs des Erhabenen, er kann gar keine kennen, 
aus dem einfachen Grunde, weil, wie schon friiher auseinander 
gesetzt, es ihm einzig moglich war, das gegenstandslose 
ewige Sehnen musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Die 
Kadenz bei Bach bedeutet einfach : et cetera in infinitum, Man 
sieht nicht ein, warum das Tonstiick gerade jetzt aufhort und 
nicht noch weiter geht und immer fort. Erst als die Musik 
dram at is ch — im oben besprochenen Sinne — geworden und 
der Widerspruch des Erhabenen als dramatischer Kojiflikt 
vergegenstandlicht war, erst dann wurde es moglich, den Wider- 
spruch durch ein Hoheres abzulosen. Dies konnte nun so ge- 
schehen, daB der Widerspruch als iiberwunden, in einer hoheren 
Einheit aufgegangen betrachtet, also der musikalische Aus- 
druck des Erhabenen zu der Erscheinungsform des Schonen 



92 IJbei^ang zum Humoristischen. 

zuriickgeleitet wnrde, oder aber, was allemal dann eintreten 
muBte, wenn der Widerspruch wixklicli tief uad in seiner 
schlechthinigen Ewigkeit erfaBt war, der Widerspruch wurde 
bloB in eine Einheit zusammengefaBt, ohne seinen Wider- 
spruchscharakter zu verlieren, woraus sich dann die Wirkung 
des Humoristischen ergiebt, was den Gegenstand unseres 
letzten Kapitels bilden soil. 



m. 

Das Hamoristisohe in der Masiki 

Wir haben in den vorstehenden Kapiteln gesehen, wie das 
Schone in der Musik als eine Illusion sich selbst zerstorte, um 
dem Erhabenen zu weichen. Als das Wesen des Erhabenen 
batten wir den in's XJnendliche strebenden Drang erkannt, 
dessen einziges Ziel es aber doch nur ist, sich in endUchenFonnen 
zu manifestiien, zu offenbaren. Diese Sehnsucht des erhabenen 
Strebens fiihrte nothwendigerweise zum Dramatischen, da es 
eben nicht ruhen kann, bis es seinen Inhalt in voile Leiblich- 
keit umgesetzt hat, was einzig im Drama geschieht. Der 
Widerspruch eines Willenswesens, das damach ringt, einen 
unendlichen Inhalt in endliche Formen zu bannen, ist im er- 
habenen Streben gegeben. Kommt dieses nun in der kiinst- 
lerischen Darstellung sich selbst zum BewuBtsein, so muBte 
der Widerspruch in irgend einer Weise schlieBlich wieder zur 
Einheit emporgehoben werden. Bei Bach verbleibt, wie wir 
gesehen haben, das erhabene Streben ganzlich in seiner ele- 
mentaren Unbewufitheit; hier kommt der Widerspruch des 
Erhabenen dem Kiinstler als solcher iiberhaupt nicht zum Be- 
wuBtsein, weil eben die Sehnsucht gegenstandslos , der Wille 
unmotivirt, die Welt gleichsam vor der Erschaffung des Men- 
schen uns entgegentritt. Erst fiir Beethoven^ als die Musik 
aus ihrem eigenen Bereiche heraustrat, um in der XJmarmung 
der Schwesterkunst ihre Erlosung zu finden, konnte das Be- 
diirfnis entstehen, den Widerspruch des Erhabenen zu losen. 



BeethoYen und Beilioz. 93 

Bei Beethoven tritt dieser Widerspnich als der Konflikt des 
auszudriickenden Inhaltes mit der konventionell-herkommlichen 
Symphonieform auf ; die Losung suchte er einfach in der Zer- 
triimmerung dieser Form. Es ist der Wonnerausch der groBen 
franzosischen Kevoltitibn, in der sich die Naturschwarmerei 
Rotlsseau's in Wirklichkeit umgesetzt zu haben glaubte, der 
berauschende »Wahn«, der im modemen Socialismus wieder 
auflebte und der ja nie aussterben wird, daB, wenn nnr erst 
einmal tabula rasa gemacht sein wird,^ alles wieder gut werden 
muB, dieser Wahn war es, der Beethoven sein 9 Lied an die 
Freude« singen KeB. Nach diesem »Rau8che« — und ein 
solcher war es — bedeutet Berlioz' »Syniphonie fantastiquec 
nichts anderes als die nothwendige )>£miichterung((. Es ist 
die furchtbare Damonie des Byron'schen »Weltekel8<r, der graB- 
liche Vemichtungsschrei der Verzweiflung, der diese natur- 
gemaBe Beaktion einleitete. Und wie sehr spaterhin Berlioz 
sich auch kiinstlerisch abklarte, der nWeltschmerz (r war und 
blieb das Grundmotiv seines Schaffens; und wie, worauf ich 
schon friiher hinwies, Berlioz der musikalische Interpret der 
Natur im weitesten Sinne des Wortes genannt werden darf, 
erscheinen seine Menschen durchweg als Kinder der Leiden- 
schaft, als wilde, ungezahmte Naturprodukte. Beethoven 
kennt nur das autonome Ich, das alle hemmenden Schranken 
der Konvention zertriimmert, um in den Naturzustand der 
))Freude<c zuriickzukehren : Rousseau. Berlioz kennt nur die 
unerbitdich waltende Nothwendigkeit der Natur, des Seienden, 
wie sie das tragische Verhangnis des Individuums ausmacht: 
Bjnron. Bei Beethoven ist das Subjekt seinem Milieu, bei 
Berlioz umgekehrt das Milieu dem Subjekt iiberlegen. Beet- 
hoven tauscht sich dariiber, daB auch die historisch-gewordene 
Welt eine vom Willen gewoUte ist — denn wie ware sie sonst 
geworden? — und daB somit auch die neu zu schaffende Welt 
demselben Widerspruchsgesetze verfallen, also ebenso »unvoll- 
kommenir werden muB wie die zerstorte. Fiir Beethoven existirt 
in letzter Hinsicht nur der all- eine, allmachtige Wille als 
erhabenster Drang nach hochster Lebensbethatigung in der 
idealen Freude ; Beethoven ist ein monstrumper excessum von 
der denkbar groBten Einseitigkeit : er gewahrt den Widerspnich 



94 It. Wagner. 

zwischen Ideal und Welt, und infolge dieser Wahmeh- 
mung vemeint er die Existenzbeiechtigung des Realen und 
lafit es durch die Flamme der idealen Sehnsucht verzehrt 
werden. Fiir Berlioz war dies nicht moglich; bei ihm waren 
die 9zwei Seelenor, die in unserer Brust wohnen, sich zu sehr 
ebenbiirtig an Kraft und Macht , als daB eine durch die andere 
ganzlich hatte vemichtet werden konnen. Deshalb zerfallt ihm 
die Welt in zwei sich widersprechende und gegenseitig ver- 
neinende Halften, und vergeblich bleibt sein Bezniihen, das 
geheime Band zu entdecken, das beide vereint. So wird ihm 
das Erhabene vomehmlich zum Damonischen, er wird Ro- 
mantiker im eigentUchsten Sinne des Wortes (vergl. E. Th. A. 
Hofimann], die Natur kann nicht iiberwunden werden, aber 
ihre damonische Macht wird begriifen als ermoglicht durch 
ihre Identitat mit der einen der beiden in uns vorhandenen 
»Seelena. Als Grundstimmung ergiebt sich ein Verzweiflungs- 
pessimismus, der alle Hoffiiung weit hinter sich gelassen hat, 
ohne noch zu dem Endresultate der Resignation gelangt zu 
sein. Wie diese Einsicht als der »Weisheit letzter SchluBa 
Berlioz in den »Trojanem« zu dammem beginnt, indem der 
Held auf das Gliick yerzichtet, um dem Rufe seiner gott- 
lichen Sendung zu folgen, darauf haben wir schon hingewiesen : 
hiermit muBte Berlioz sein Schaifen abschliefien, weiter konnte 
er nicht gelangen. 

Als Wagner in Paris von verzehrendster Sehnsucht ange- 
trieben wurde, iiber das Wesen seiner Kunst sich selbst klar 
zu werden, da trat ihm von neuem die Gestalt Beethoven's 
entgegen, und indem er sich mit der ganzen Hingabe, deren 
diese wunderbare Kiinstlerseele fahig war, in das Wesen der 
Beethoven'schen Melodic versenkte, erkannte er sie als Aus- 
druck, als AusfluB und Manifestation der kiinstlerischen Sehn- 
sucht. Als er sich nun weiter bewuBt zu werden suchte, 
welches Verhaltnis diese Sehnsucht zur realen AuBenwelt, oder 
mit anderen Worten der In halt des Kunstwerkes zur kiinst- 
lerischen Form haben konne, gelangte er zu der Forderung, 
daB die Sehnsucht ihre Welt sich selbst schaffen, daB der 
Inhalt die Form aus sich heraus erzeugen miisse. So lieB er 
den kiinstlerischen Willen frei schaffen, und es ergab sich als 



Das Wesen des Humors. 95 

Besultat, dafi diese neue, der hergebrachten Konvention ganz- 
lich entriickte Welt dies Eine mit dei realen Welt gemeinsam 
hsihe, daB sie namlich gerade so mit einem unlosbaien Wider- 
spiuch behaftet ist als jene. Die neue Welt, die sich aus 
den Triimmem der alten Kunst erhob, war nicht das Reich 
der Freude, wie Beethoven gewahnt, sondem dem tragischen 
Verhangnis der Selbstvemichtung verfallen, wie es sich schon 
Berlioz geoffenbart hatte; nur war dieses Verhangnis jetzt 
begriffen als nothwendige Folge des Widerspruchs ^ der dem 
Willen tief in seinem Innersten anhafbet. Der Wille kann 
nichts anderes woUen als was seinen urewigen Inhalt aus- 
macht, und das Produkt dieses WoUens ist eben die reals 
Welt. Wissend geworden bleibt ihm nichts iibrig., als sich 
selbst zu verneinen; aber als Subjekt dieser Vemeinung, 
deren Objekt er selbst ist, bleibt der Wille immer noch wol- 
lend (nolo = volo non esse), d. h. der Widerspruch ist un- 
losbar, auch die Vemeinung des Willens zum Leben, die Er- 
losung ist im letzten Grunde, wenn auch die erhabenste, so 
doch eine Illusion, das nie endende, ewige Schicksal des Wil- 
lens wird als nothwendig begriffen durch den auch auf eine 
endgiltige und restlose Erlosung verzichtenden — Humor. 

Ware eine restlose Losung des Weltenwiderspruchs mog- 
Uch, oder auch nur denkbar, so miiBte der Schlufieindruck 
eines Kunstwerks, dem der asthetische Ausdruck des Erhabenen 
zu Grunde liegt, allemal derselbe sein wie der des Einfach- 
Schonen, nur weit intensiver, verstarkt durch die Hemmung 
des nun iiberwundenen Widerspruchs. Dies ist aber that- 
sachlich nicht der Fall, und der SchluBchor der Dante-Sym- 
phonie oder die letzte Scene des » Parsifal « sind zwar von einem 
Faradiesesfrieden durchweht, aber es ist nicht der Faradieses- 
friede des ersten Menschenpaares im Garten Eden, sondem 
die Todesruhe des sterbensmatten siindigen Erdenpilgers, der 
die Tragodie auf Golgatha erlebt und immer noch sehnsiichtig 
der Wiederkehr des Erlosers harrt. Wir haben fur diese Stim- 
mung, in welcher aller Widerspruch in Einheit zusammenge- 
faBt ist, ohne in Einheit aufgegangen zu sein, ohne etwas 
von seinem Widerspruchscharakter verloren zu haben, diese 
Stimmung, in deren poetischer Schilderung ein Jean Faul 



96 Beispiele. 

SO grofi war, nur einen Ausdruck: wir nennen sie humo- 
ristisch; und der iibliche MiBbrauch, der mit diesem Worte 
getrieben wird, indem jeder fade WitzKng ein Humorist heiBen 
will, kann uns nicht abhalten, diese Bezeichnung beizubehalten. 
Meine Meinung wird deutlicher werden, wenn man sich Bei- 
spiels halber den SchluB des » Tristan « vergegenwartigt, wo 
(Kl.-A. S. 260, Z, 3 — 4) das Sehnsuchtsmotiv nOch einmal auf- 
taucht, wo sich gleichsam der )>Wille zum Lebencr epilogisch 
an den Zuhorer wendet und ihm zuzurufen scheint: sO glaubt 
nur nicht, daB ich todt bin, ich triumphire ja doch schlieB- 
lich iiber alle Nirwana-Wonne. Ich bin das Erste und das 
Letzte, das A und i2, von dem Jegliches ausgeht und zu dem 
Jegliches wieder zuriickkehrt. Die Erlosung alles Seienden 
ist zwar die hochste und edelste, aber doch nur — eine Illu- 
sion !« »Wonneklagenda — auch ein echt und tief humo- 
ristischer Ausdruck! — ))Alles sagend« ist diese Stimmung! 
Oder man erinnere sich an die ^Gotterdammerungo. Wenn 
da schlieBlich das Siegfried -Motiv sich noch einmal in der 
Tiefe aufbaumt, um von den niederschauernden GotterdHm- 
merungsklangen verschlungen zu werden, bekommt dann nicht 
die folgende Melodie der Liebeserlosung jenen wehmiithigen 
Beigeschmack, der aller Freude und Wonne den specifisch 
humoristischen Charakter verleiht? Scheint sie nicht zu klagen: 
»Ruhe ward nun den miidenGottem: aber um welchen Preis ! 
Ist das in der That eine ersehnenswerthe Erlosung, welche 
von dem Edelsten und Herrlichsten der Welt mit seinem Unter- 
gange erkauft werden muBte?« — Endlich verweise ich nooh 
auf den SchluB des ))Parsifal«, den schon H. v. Stein so tief 
gemiithvoll dahin kommentirte, daB er aus dem Kiinstwerke 
hinaus auf die Anwendung seiner Lehren im Leben hindeute : 
»Seht, das war es, was ich euch zu sagen battel Nun geht 
hinaus in die Welt und lebet danachlcc — Da wird es denn 
auf einmal klar, daB der Widerspruch nicht definitiv aus der 
Welt geschafft ist, daB das Drama nur die id e ale Vorweg- 
nahme jener Losung bedeutet, die wir praktisch alle anzu- 
streben haben und die keiner jemals erreicht. Aber indem 
sich der Kiinstler am Schlusse seines Werkes gleichsam 
iiber dieses selbst erhebt und es ebenso vor den Spiegel des 



Das Humoristlsche und das Komische. 97 

BewuBtseins riickt, wie das Kunstwerk selbst die Welt abspie- 
gelt, geht er iiber die Sphare des Erhabenien und eine eia- 
seitige Losung des Konflikts hinaus zu der widerspruchsvoUen 
Einheit des Humoiistisclien. 

Auf diese Weise kann dei Kiinstler seine ganze eigene 
Kiinstlerschaft zum Gegenstande asthetischer Betrachtung und 
Deutung machen; wie Wagner in den »Meisteisingema, wo 
dann die humoristische Stimmung das ganze Werk durchzieht 
und sich nicht erst als SchluBresultat ergiebt. 

GeschichtUch sehen wir das Humoristische aus dem Ko- 
mischen hervorgehen , und es verhalt sich zu diesem wie die 
Lehre yom realen Widerspruch zu der Yerbaldialektik HegeVs. 
Auch. die Lust, welche das Komische erweckt, beruht auf dem 
BewuBtwerden einer identitas contrariorum, aber diese ist nur 
scheinbar, nur eine begriffliche, ja (im Wortspiel z. B.) nur 
verbale Tauschung. Im Humoristischen aber wird es voUer 
ErDBt damit, daB ein von unserem Gefuhl unmittelbar als 
Einheit ErfaBtes der Yemunft sich als contradictio in adjecto 
darstellt: wenn diese dem und imGefiihle sich offen- 
barende Einheit zu dem gewuBten Widerspruche 
und ihm gegeniiber in die Sphare des BewuBtseins 
erhoben wird, dann tritt die Wirkung des Humo- 
ristischen ein. 

Da wir die Verbindung der Musik mit der Foesie im 
Wagner'schen Tondrama und in der symphonischen Dichtung 
als eine aus dem innersten Wesen der Tonkunst mit Noth- 
wendigkeit erfolgte Entwickelung begriffen haben, so kann 
man gegen die oben auseinandergesetzten humoristischen Wirr- 
kungen nicht einwenden, dafi sie nicht der Musik angehoren, 
sondem erst durch ein ihr fremdes Reflexionsmoment in sie 
hineingetragen werden: denn was dem ganzen Frocesse zu 
Grunde liegt, ist ja jenes Streben, welches die Musik ganz 
von selbst iiber ihre Grenzen hinaustrieb, weil sie eben fiir 
sich allein ihren Inhalt unmoglich zur voUen vExistenza — 
i. e. ))motiyirtenff Erscheinung — bringen konnte. Es ir'dLgt 
sich nun aber, ob, abgesehen von dieser poetbch-musikalischen 
Humoristik, auch die sogenannte » absolute « Musik humoristi- 
scher Wirkung fahig sei, und zwar miissen wir hier scheiden 

Louia, Widertprucb in der Monik. 7 



98 ^&s HumorlBtische in der absoluten Musik. 

zwischen nur voriibergehender humoristischer Wirkung und 
der humoristischen Grundstimmung; welche entweder das 
ganze Werk durchzieht, oder sich schlieBlich. als Endresultat 
ergiebt. Erstere kann gar nicht geleugnet werden ; in einzelnen 
Elementen, auf Augenblicke kann die Musik sogar komisch 
wirken, z. B. durch gewisse Instrumentaleffekte ; aber die ge- 
ringste tjberlegung zeigt, daB ein Tonstiick, welches als Ghinzes 
nur komisch wirkt — natiirlich beabsichtigt : denn die komische 
Wirkung eines Brahms'schen Klarinette- Trios gehort nicht 
hierher — iiberhaupt die Grenzen der Musik als Kunst iiber- 
schreitet. Selbst rein komische Sujets verklart die Musik zum 
Humoristischen, wofdr ich Beispiels halber an Chabrier's ge- 
niale »Marche joyeusea erinnere, als wo eine iiberaus gewandte 
Kontrapunktik , sonst die Manifestation der Musik als »exem- 
plum arithmetices nescientis se numerare animie: xar' ^I^X^^? 
einzig dazu verwendet wird, wirres Durcheinander und heil- 
lose Unordnung zum asthetischen Ausdruck zu bringen, — oder 
an die Priigelfuge in den »Meister8ingem«, wo allemal das 
Komische in solche Hohe erhoben scheint, daB es als ein 
Abbild des realdialektisch - humoristischen Charakters alles 
Seienden iiberhaupt sich darstellt und demgemaB wirkt. (DaB 
ich hier nicht etwas in das Werk hineinphantasire, woran der 
Autor selbst nicht dachte, dafiir diene zum Beleg die Stelle 
aus Sachs^ AWahner-Monolog: 

»Doch eines Abends spat, 
ein Ungldck zu verhilten 
bei jugendheifien Gerndthen, 
ein Mann weiB sich nicht Bath; 
ein Schuster in seinem Laden 
zieht an des Wahnes Faden: 
wie bald auf Gassen und StraBen 
fangt der da an zu rasen U u. s. w. 

Aber was will es heiBen, wenn wii von einem Werke der 
absoluten Musik; z. B. dem Scherzo einer Beethoven'schen 
Symphonic sagen, es wirke humoristisch? Nach meiner 
Meinung ergiebt sich hier die humoristische Wirkung aus der 
mit groBter Scharfe sich in's BewuBtsein drangenden und doch 
als igewoUta erkannten Inkongruenz zwischenForm und 



Die Besignation des Humoristen. 99 

Inhalt. Gerade in manchem Beethoven'schen Scherzo steht 
die geschlossenste Form, welche iiberhaupt in der Musik denk- 
bar ist, einem Inhalte gegeniiber, welcher oft mehr als der 
irgend eines anderen Satzes der Symphonie das MaBlose, XJber- 
schwangliche, alle GrenzenDurchbrechende ausdriickt, wie denn 
ja Wagner das Scherzo der »Neunten« durch das Faustwort: 
»GenieBen will ich, gliihend heiB genieBena kommentirte. 
Aber es ist, als ob hier eine — wenn auch unbewuBte, in- 
stinktive — Uberzeugung davon, daB, welche neue Formen der 
musikalische Inhalt sich auch schaffe, die ihm yollkommen 
adaquate doch nie gefunden werden konne, den Kiinstler von 
Yornherein resigniren lasse auf alles Streben nach restlosem 
Ausdruck des Auszudiiickenden , und er sich beschranke, 
durch die Inkongruenz zwischen unendlichem Inhalt und kon- 
ventionell beschrankter Form das fast iibertrieben kenntlich zu 
machen, was sich ja als Resultat alles kiinstlerischen Strebens 
schlieBlich ergeben muB, — die Unerreichbarkeit des eigent- 
lich Angestrebten , was sich naiv auch in den alten Satzen 
ausspricht: die Kunst spreche zum Gefiihle, der Kiinstler 
miisse der Fhantasie des GenieBenden etwas zu thun iibrig 
lassen u. s. w. 

Der humoristische Kiinstler der absoluten Musik verhalt 
sich der konyentionellen Form gegeniiber zu dem Kiinstler des 
Erhabenen gerade so, wie der humoristische Charakter zu der 
erhabenen Heldennatur gegeniiber den Verhaltnissen des 
politischen und socialen Lebens. Er resignirt, verzichtet auf 
eine Umgestaltung, eine Reform, von der er weiB, da£ sie 
doch keine definitiv abschlieBende sein konne, daB sie zu immer 
neuen Umwalzungen fiihren miisse, und so fort in's Unendliche. 
Miissen wir als Pessimisten hierin dem Humoristen Recht 
geben, so konnen wir aber auch andererseits den Helden nicht 
tadeln, der mit unverza^em Jugendmuthe das UnmogUche 
versucht, wogegen der realdialektische Asthetiker iiber beide 
Richtungen folgende Bemerkungen nicht wird unterdriicken 
konnen. 

Ist die erhabene Kiinstlematur namlich von iiberwaltigen- 
der Genialitat, wie z. B. die R. Wagner's, so kann ihr Werk 
die Illusion erwecken^ als ob das Angestrebte faktisch voU und 



• • •;• 



100 ^6' Kunstjiinger und seine Leitsteme. 

ganz erreicht sei, im Sinne einer definitiven Erlosung des dem 

kiinstlerischeii Schaffen zu Grunde liegenden Sehnens, daB 

also die Kunst fertig sei, dariiber hinaus aichts rnehr zu sagen 

habe: — 

»Zu End' ewiges Wissen! 

Der Welt melden 

Weise nichts melii!« — 

daB in der That yerwirklicht sei, was der ^holde Wahn« des 

Schonen uns vorspiegelt. Dies kann natiirlich nie der Fall 

sein: wie fiir den Christenmenschen die Heilsthat des Erlosers 

nicht die Siinde aus der Welt schafft, sondem lediglich den 

Weg zeigt, auf dem sich Jeder selbst zu erlosen hat, wenn 

ihm der Glaube an den Heiland die Kraft hierzu verleiht, so 

sind jene kiinstlerischenMessias-Gestalten, einBach, ein Wagner, 

ein Liszt, ewig unverriickbare Polarsteme, die der auf dem 

uferlosen Meere kiinstlerischen Sehnens von den wilden Wogen 

rastlosen WoUens umhergeworfene Kunstjiinger immer vor 

Augen haben muB, — und soUte sich auch zeigen, daB der 

Polarstern nicht ganz zusammenfalle mit dem mathematischen 

Nordpole — wenn er Muth und Kraft zu neuen Thaten 

gewinnen will. Aber er wird sich nicht bei ihnen beruhigen, 

er wird dasselbe Recht fiir sich beanspruchen , welches jene 

ihren Yorbildern gegeniiber mit soviel £nergie gewahrt hatten; 

denn 

>Was der Meister nicht kann, 
vermdcht' es der Knabe, 
h&tt* er ihm imxner gehorchtP* 

Andererseits wird der Kiinstler des Humoristischen in der 
Musik leicht in Gefahr kommen, iiberhaupt nicht verstanden 
zu werden. Wenn wir als das Wesen seiner Kunst die gleich- 
sam apriorische Resignation auf voUkommene Kongruenz 
zwischen Form und Inhalt erkaimten, so ist schon hier dem 
Missyerstandnisse zu begegnen, als ob damit »den Stiimpern 
ein Loch geoffneta werden solle : es handelt sich hierbei natiir* 
lich lediglich um die dem Inhalte inadaquate Beibehaltung der 
konventionellen Form — in Sonderheit der klassischen Sym- 
phonie-Form — , nicht aber etwa um ein Nicht-Beherrscheu 
der Ausdrucksmittely welches jene Inkongruenz im Gefolge 



Anton Bruckner. tOl 

habe. Was ich meine, wird klar werden, wenn ich auf einen 
modemen Symphoniker hinweise, dessen ganz eigenthiimlicher 
Charakter nur dann wahrhaft verstandlich wird, wenn man ihn als 
den musikalischen Humoristen -Aai^ l^o%r\v erkannt hat: es ist 
Anton Bruckner. 

AUes das, was eine iibelwoUende oder missverstehendeKritik 
an diesem Meister als formlos, bizarr, unyerstandlich u. s. w. 
tadeln zu miissen glaubte, erklart sich, wenn man das sym- 
pbonische Schaffen Bruckner's unter dem Gesichtspunkte des 
Humoristischen betrachtet. Yergegenwartigen wir uns die 
Bruckner'sche Symphonic, so ist nicht abzuleugnen, daB hier 
eine auffallende Inkongruenz zwischen Form und Inhalt sich 
uns zeigt. Das Schema der Beethoven'schen Symphonic ist 
nirgend verlassen, mit der einzigen Ausnahme, dafi die Be- 
petition des ersten Theils des Allegro -Satzes wegfallt: aber 
ist einmal Ernst damit gemacht, daB die Musik eine rein 
zeitliche (succesive) Kunst, daB sic Streben nach Ausdruck 
eines Unausdriickbaren , aber nicht bios das zeitliche Aus- 
einander-Legen einer geschlossenen, gleichsam raumlich fixirten 
und umgrenzten (logischen) Idee ist, also die Unendlichkeit 
des musikalischen Inhalts einmal zugegeben, so verliert die 
symmetrische Anordnung als musikalische Gestaltungsform von 
selbst alle asthetische Bedeutung, und wo das urspriingliche 
Wesen der Symphonic -Form als Tanz nicht mehr deutlich 
erkennbar ist, wie z. B., abgesehen vom Scherzo, schon in der 
Beethoven'schen Symphonic und Ouverture, wirkt eine solche, 
ganzlich unmotivirte Wiederholung rein konventionell und 
storend (man erinnere sich an die groBe Leonoren-Ouverture 
in C) . — Da wir nun aber gesehen haben, daB die Entdeckung 
des absolut erhabenen Grundwesens der Tonkunst mit Noth- 
wendigkeit die tlberschreitung der Grenzen der Musik zur 
Folge hatte, sie andere Beziehungen zur raum-zeitlichen AuBen- 
welt aufsuchen lieB, als sie in der Form der Tanz-Symphonie 
gegeben waren, welch' letztere eben den allem musikalischen 
Schaffen zu Grunde liegenden Widerspruch, Ausdruck eines 
Unausdriickbaren sein zu wollen, nicht geniigend zu versinn- 
lichen vermochte, so fragt es sich, wie Bruckner, aus dessen 
Werken dochjener Charakter der Unendlichkeit und Erhabenheit 



102 Chaiakterisirung des musikalisohen Humoristen. 

80 deutlich spricht, bei dei klassischeu Symphonie-Form 
veiharren konnte, und da uns mit einer nur psychologischen 
Erklarung dieses merkwurdigen Phanomens wenig gedient 
wS.re, inwiefern dieses Steckenbleiben in einer dem Inhalte 
absolut inadaquaten Form asthetisch berechtigt sei. 

Wir haben schon angedeutet^ daB die Sacke nur dann 
erklarlich wird, wenn man annimmt, dafi der Kiinstler schon 
von Anfang an darauf resignirt habe, kurz ausgedriickt, den 
Dualismus zwischen Form und Inhalt yollstSudig zu iiber- 
winden. Die instinktive tJberzeugung, daB auch mit Zuhilfe- 
nahme der Schwesterkunst Poesie es dem musikalisohen In- 
halte niemals gelingen werde, sich voU und ganz zum sinn- 
lichen Ausdruck zu bringen, daB es nur dem unmittelbar 
sympathisirenden Gefiihle gelingen konne, ahnend bis zum 
innersten Kern des Kunstwerks yorzudringen, laBt den Kiinstler 
das Anstreben einer Einheit zwischen Form und Inhalt als 
ein unerreichbares Ideal iiberhaupt aufgeben und sich dabei 
beruhigen^ die trotz einer so ganz krass ausgesprochenen 
fundamentalen Selbstentzweiung im Grunde dennoch gewahrte 
Einheit der auch die scharfsten Antinomien als Grundeinheit 
erfassenden Macht des menschlichen Gemiiths zu iiberlassen. 
Um den Vergleich noch einmal zu gebrauchen, es verhalt sich 
das Schaffen Bruckner's zu dem Berlioz' und Liszt's, vfie der 
Quietismus des Besignirten zu dem revolutionaren Streben des 
Beformators: bei ihm steht von vomherein fest, was beijenen 
sich einzig als Endresultat nach alien den langen Kampfen 
ergiebt, die XJnerreichbarkeit des in der Kunst Angestrebten. 
Wir konnen auch den Humoristen vergleichen mit demjenigen, 
der auf Schopenhauer's SevraQog Ttlovg zur Heiligung gelangt 
im Gegensatz zu dem, dessen Einsicht in das Wesen der Welt 
die Willensumkehr zu Stande brachte. Er verzichtet, ohne 
zu wissen, warum, wahrend die erhabene Kiinstlernatur, wenn 
sie schlieBlich zur Besignation genothigt wird, dies dem Um- 
stande verdankt, daB sie das Bathsel alles Seienden yoUkommen 
durchschaut hat. So weist der eigentliche Humorist immer 
gleichzeitig eine gewisse NaiyetsLt und XJnbewuBtheit in seinem 
Charakter auf, welche zu seinem, in mancher Hinsicht wieder 
sehr stark entwickelten, reflektirenden Geiste in eigenthiim- 



Der KdnsUer und das Fublikum. 103 

lichem Kontraste steht. In formeller Beziehung ist der 
Humorist formlos im eminentesten Sinne des Wortes, und in 
dieser Beziehung erinnert Bruckner unwillkiirlich. an — Jean 
Paul. Und daB dabei und dazu im Gegensatz Bruckner oft 
geradezu sklavisch sich unter die konventionelle Form beugt, 
erhoht den humoristischen Charakter seiner Kunst vielmehr, 
als daB es ein Einwand sein konnte. Humoristen sind immer 
konservativ, sie haben etwas Altvaterlicbes , sie sind im 
besten Sinne des Wortes »unzeitgem'aB<r* Dem Fublikum gegen- 
iiber charakterisirt sie eine oft in's MaBlose gehende Riick* 
sichtslosigkeit , sie schreiben nur fur sich, sie lieben es, dem 
Leser oder Horer ein Schnippchen zu schlagen, dessen Ge* 
duld auf die hartesten Proben zu stellen: man denke an 
Sterne! Sie sind Individualisten extremster Obserranz. 

Nun wird ja der einheitUche Eindruck auch des erhabenen 
Kunstwerks einzig garantirt durch die Befahigung des Ge- 
nieBenden, in ahnender Anticipation des Gefuhls den Kreis 
zu schlieBen, den der Kiinstler selbst nie ganz beschreiben. 
kann, weil er dahin zuriickkehrti von wo er ausging, in das 
Unausdriickbare , XJnnennbare, das ))Taoft der chinesischen 
Fhilosophie; — die gerade Linie, die sich nach entgegenge- 
setzten Sichtungen endlos ausdehnt, muB aufgefaBt werden 
als ein Kreis, dessen Radius unendlich groB geworden ist. Da 
ist es denn der Charakter des kiinstlerischen Helden auszurufen : 
)>Ich will die Sache so deutlich machen, daB ich verstanden 
werden mufi, ich will zur Evidenz nachweisen, daB auch das 
allerverzweifeltste Bingen nicht iiber den Widerspruch hinaus- 
fiihrt. Freilich das moderne Fublikum wird mich nicht be- 
greifen konnen, aber ich schaffe mir selbst ein Fublikum, es 
wird das ,Volk der Zukunft' seina, — ja freilich, der ^Zukunfta, 
die nie Gegenwart werden kann! — » Ich will ein Fublikum !(t 
Aber wie muB dieses Fublikum beschaffen sein? Es muB da 
die Einheit entdecken, wo sich nur Widerspruch zeigt. 
Dies kann nur das Gefiihl. Was fiir ein Gefdhl aber? Einzig 
die Liebe! »Nur wer mich liebt, kann mich yer8tehen!« — 
In der That, wie ware dieser oft belachte Ausspruch uuseres 
Meisters, den ein witziger Becensent sogar einmal in das 
schone Hysteronproteron: »Wer Wagner versteht, der muB ihn 



1 04 I^ie RtlcksichtBloBigkeit des Humoristen dem Fublikum gegentlber. 

liebenitf — als ob der Nicht-Liebende, der kalte Verstand, 
jemals zum »Yerstehenff eines Kiinstlers gelangen konnte! — 
verkehrt hat, zu erklSiren, wenn eben der Meister sicli nicht 
auch im tiefsten Innem bewuBt gewesen ware, daB Eyidenz 
im Sinne des totalen, restlosen Ausdrucks des Auszudriicken- 
den in der Kunst ewig unmoglich, daB zur voUen Verwirk- 
lichung der kiinstlerischen Absicht das Fublikum, sein liebe- 
volles Entgegenkommen, seine asthetiscbe Sehnsucht, die 
es dem Kiinstler entgegen, in die Anne treibt, unbedingt 
nothig sei. Darum lautet ein Hauptsatz des kiinstlerischen 
Glaubensbekenntnisses R. Wagner's: Nicht der Kiinstler allein 
macht die Kunst, sondern der Kiinstler im Yerein mit dem 
ihn Kebenden und des ha lb verstehenden Fublikum — um 
das analoge Yerhaltnis, welches zuvor schon gelost sein muB, 
n'amlich das zwischen schaffendem und ausiibendem Kiinstler, 
hier gar nicht zu beriihren. Daher: nWoUen Sie, dann haben 
wir eine deutsche Kunst! a 

Anders der von vomherein resignirende Kiinstler, wie wir 
ihn oben beschrieben haben. Er hat gar kein Fublikum im 
Auge, er kommt dem GenieBenden gar nicht entgegen, er 
verharrt bei sich, er schreibt nur fur sich selbst. (In Faren- 
these sei bemerkt, daB auch H. Taine in seiner »Histoire de 
la litt^rature anglaisea bei der Charakteristik des Humoristen, 
die er seiner, iibrigens fur einen Franzosen mit anerkennens- 
werthem Verstandnis ausgefuhrten Besprechung Carlyle's vor- 
ausschickt, diese DBiicksichtslosigkeita dem Fublikum gegen- 
iiber ausfiihrlich erortert.) — Deshalb ist der W^, den hier 
der GenieBende zuriicklegen muB, um zum Verstandnis zu 
gelangen, noch einmal so weit. Trafen sich dort Kiinstler 
und Fublikum auf halbem Wege, so muB hier das Fublikum 
den ganzen Weg alleine machen, es muB den Kiinstler bei 
ihm selbst aufsuchen: daher die nSchwerverstandlichkeita. 

Wie die Einheit aller unabhangigen Indiyiduen fur uns 
nicht als Realitat besteht, sondern nur als die verzehrende 
Sehnsucht der Liebe, und wie das Wesen der Liebe nicht 
einfache Selbsthingabe ist, sondern aus einem widerspruchs- 
voUen Ineinander von Aufopfern und Behaupten des in- 
dividuellen Ich sich zusammensetzt, so verbirgt sich die Liebe 



Der scheinbare Egoismus des Humoristen. 105 

des humoristischen Kiinstlers hinter der Maske einer anschei- 
nend egoistischeh , herben Versclilossenlieit. Der asthe- 
tische Individualist — hierin zu vergleichen dem Jiingling, 
der ruhig abwartet, bis »die Rechte kommta, im Gegensatz zu 
dem in jede Schiirze sich vergaffenden Commis — appellirt 
nicbt, wie Kant wollte, an einen i^sensus communis « der ge- 
sammten Menschheit, sondern lediglich an ssein Publikum«, 
das er als erganzendes Korrelat seiner Individualitat ebenso 
fordeit und, konnen ^ir hinzusetzen, ebenso wenig in der ge- 
traumten Idealitat findet, wie der wahrhaft liebebediirftige 
Mensch sein alter ego. Und daB so mancher Klinstler, der 
duich seine verbissene Zuriickgezogenheit in seine eigene, 
scheinbar bizarre, Individualitat von vomherein auf ein Publi- 
kum irgend welcber Art zu verzichten schien, gerade die 
allerheiBeste Sehnsucht empfindet verstanden zu werden, hat 
sein realdialektiscbes Analogon im Liebesleben darin, daB gar 
haufig die kaltesten, im starrsten Egoismus sich versebKeBen- 
den Naturen — namentlicb beim weiblichen Gescblecht — im 
Grunde das tiefste Bediirfhis baben sich hinzugeben, eben 
nur nicht dem ersten Besten, sondern einzig dem Einen, der 
als der ))Rechtec< erkannt wird. (Eine verwandte Erscheinung 
bildet ja, nebenbei bemerkt, die eigentliche charakterologische 
Wahrheit von Shakespeare's Katharina in »Der Widerspenstigen 
Zahmunga, allerdings fast zu sehi* versteckt unter dem grotesk- 
komischen Detail einer nur auBerlich dramatisirten Novelle, 
und voUends eine George Sand war Meisterin in der Dar- 
stellung solcher weiblicher Charaktere, welche die Sehnsucht 
verzehrt, lieben zu wo 11 en und nicht lieben zu konnen.) 

Aber welch' kostliche Vortheile bringt andererseits dieses 
Besigniren des musikalischen Humoristen mit sich! Die ge- 
waltige Kraft des kiinstlerischen Sehnens, eingedammt in das 
enge FluBbett der konventionellen Form, auf's auBerste kom- 
primirt und angestaut, tobt noch furchtbarer in diesem Zwange, 
als wenn sie in wilder tJberschwemmung alle Damme einreiBt, 
das ganze feste Land, so weit das Auge reicht, in eine wogende 
See verwandelnd. Da baumt es sich auf, da rast es hinan in 
wildester Steigerung, um plotzlich machtlos, vemichtet zu- 
saminenzusinken : da haben wir das ganze, voile Abbild des 



106 I^ic Kunst und die AuBenwelt. 

real en Lebens, des ewig sich sebnenden, nie sein Ziel er- 
reichenden Willens. Dort, beim kiinstleriscben Heldencba- 
rakter, stehen sicb der individuelle Wille und die AuBenwelt 
im Todeskampfe gegeniiber, der erstere, iibermachtig , wirft 
seinen Gegner zu Boden, urn mit Entsetzen in seinem Tod- 
feinde die Realitat seines eigenen Inhalts zu erkennen. Er 
verneint ibn, er glaubt sicb erlost: aber wer verneint, wenn 
der Wille sicb selbst verneint ? — Er ist ewig, zu nie endender 
Qual verdammt! 

Dagegen stebt dem individi^ellen Willen im Scbaffen des 
resignirenden Kiinstlers die AuBenwelt, und zwar in Gestalt 
der konventionellen Fomi; gleicb stark, ja iibermacbtig gegen- 
iiber; an ibrem Widerstande prallt all sein Miiben ab. Und 
wenn er dann erkennt, daB er nur gegen sicb selbst wiitbet, 
so giebt er den Kampf ganz auf : es braucbt diese General- 
resignation ja nicbt immer die Form kraftlosen Zuriicksinkens 
aufzuweisen, sondern ebenso gut kann sie sicb im beroiscben 
Trotze der Coda eines Bruckner'scben Finales vollzieben. Dort, 
vom erbabenen Kiinstler, wird der ganze Weltenkreis durcb- 
messen, gezeigt, wie der Wille sicb sein eigenes Leid scbafft, 
wie er dagegen ankampft, wie er in diesem Kampfe zu Grunde 
gebt. Aus der sNacbtv zum ))Tag« und vom Tag wieder in 
die Nacbt zuriick, von der Zeugung zum Leben in den Tod, 
die ganze Weltenmoglicbkeit wird erscbopft : — bier giebt der 
bumoristiscbe Kiinstler nur einen Ausscbnitt aus dem Kreise, 
aber seine Kurve laBt uns das Ganze mit Sicberbeit im Geiste 
konstruiren ; dort erzeugt sicb die Welt aus dem dunkeln Ur- 
grunde alles Seienden und kebrt in ibn zuriick, bier werden 
einfacb die vorbandenen Gegensatze einander gegeniibergestellt: 
»Wie das ward« und »Wie das wirda — die Beantwortung dieser 
Fragen bleibt unserm abnenden Fiiblen iiberlassen. Daber 
aucb das Tief-Mystiscbe in solcben Werken, das »Heimlicb- 
tbun« — wer Bruckner kennt, wird diesen Ausdruck ver- 
steben — ; das letzte Wort wird nicbt ausgesprocben, wie vor 
einer Profanation scbeut der Kiinstler davor zuriick. Wir 
werden bier einerseits, wie in der Humoristik der )>Tragedy of 
common life« — die ja immer mebr oder minder tragi-komiscb 
bezw. komi-tragiscb ist — mitten in die widersprucbsvoUen 



Die musikalisclie Form als Symbol der AuBenwelt. 107 

Thatsachen des Lebens hineinversetzt, und es bleibt unserm 
eigenen Witze iiberlassen, sich sein Yerslein dazu zu machen, 
zu begreifen, wie das alles im letzten Grunde so kommen 
muBte, andererseits der Bildlichkeit und Symbolik der ersteren 
Kunstrichtung gegeniiber — welche ja eine »ewigea Thatsache 
als historisches Faktum zum Ausdruck bringen mufi, mit zeit- 
lichem Anfang und AbschluB — ein Abbild, das gleichsam 
mit der Eealitat parallel geht, das Strahlenbiischel nicht durch 
das Brennglas des Begriffs in einen Focus sammelt — oder 
wenigstens zu sammeln sucht — sondem dies dem GenieBenden 
anheimstellt. Hier ist die konventionelle Form das ))liistorisch 
Gewordenetf, vor dessen Schranken sich der himmelstiirmende 
tlbermuth des Titanen beugt, und die unbegriffen und schein- 
bar ungerechtfertigt als nichts empfunden wird denn als ein 
lastiger Zwang. Der Geist der Musik, der in Wagner eine 
sichtbare Welt aus sich heraus erschuf , ganz in Leiblichkeit 
au%egangen zu sein schien, ist nun wieder in weite Feme 
entriickt; in keiner anderen Beziehung zum raum-zeitlichen 
Dasein als dem der Inkongruenz seines Inhalts mit der Form, 
welche eben jene »Welt der Vorstellung« hier symbolisch re- 
prasentirt. Auf diese Weise gelingt es der Bruckner'schen 
Symphonie, eine im eminentesten Sinne des Wortes humo- 
ristische Wirkung hervorzubringen, ohne der Mithiilfe eines 
begrifflichen Elementes hierzu zu bediirfen. Derselbe Geist 
der Musik, der auf einer friiheren »ObjektiYationsstufe« sozu- 
sagen die Formen der Tanzsymphonie beseelt hatte, findet 
jetzt in diesem von ihm selbst Gezeugten nichts als seinen 
vollstandigen Gegensatz, er, der ewig flieBende, der nie rastende 
Drang in's UnendUche, in der geschlossenen Form eine listige 
Fessel ; die er doch so wenig vemichten darf und kann , wie 
es Wotan erlaubt ist, die Yertrage zu yerletzen, welche er 
selbst eingegangen. Was der Wille als seinen eigenen Inhalt 
aus sich heraus projicirt hat in die Welt des SinnUchen, wendet 
sich nun als feindliche AuBenwelt gegen seinen eigenen Er- 
zeuger. So offenbart sich hier, ohne daB die Ausdruckssphare 
der sogenannten absoluten Musik iiberschritten wiirde, der 
alte Widerspruch des Willens mit sich selbst und bewirkt den 
humoristischen Eindruck. 



108 ^^^ Klinstler des Erhabenen und der des Humoristischen in Farallele. 

Aber schon hore ich selbst den wohlwoUenden Freund un- 
muthig ausrufen: »Wie kann man glauben, daB ein so naiver 
Kiinstler wie Bruckner an dergleichen Dinge beim Komponiren 
gedacht habe, oder wie kann man gar dem Horer zumuthen; 
sein asthetisehes Wohlgefallen aus solcben philosophischen 
Hohen herabzuholen? ! cr — Thue ich denn das? Nein! Teh 
behaupte nur Folgendes : Bruckner, obwohl mit seinem Schaffen 
ganz der s)neuen Richtung« angehorend^ hat niemals auch nur 
den leisesten Yersuch gemacht, in formeller Beziehung iiber 
Beethoven hinauszugehen. Da Bruckner nun zwar allerdings 
einedurchaus naive, aber keineswegs gedankenloseKiinstlernatur 
ist, so muB eine, wenn auch noch so instinktive und ihm selbst 
unbewuBt gebliebene Ursache ihn zu dieser Beschrankung be- 
wogen haben. Welches ist diese Ursache, und war die Begung, 
welcher der Meister in seinem Schaffen nachgab, asthetisch 
berechtigt oder nicht? — das war die Frage, welche wir zu 
beantworten suchten. Andererseits wird Niemand leugnen, daB 
auf den verstehenden Horer eine Bruckner'sche Symphonie 
einen ganz specifisch gearteten Eindruck macht, den man 
am kiirzesten als das Gefiihl einer als nothwendig ge- 
ahnten Willkiir bezeichnen konnte. Dieses Gefiihl einer- 
seits am Lichte des abstrakten Gedankens zu analysiren, zu be- 
grifflicher Deutlichkeit zu bringen, aus welchen Elementen 
es sich zusammensetze, andrerseits die Berechtigung jenes Yer- 
barrens bei einer dem Inhalte inadaquaten Form nachzuweisen, 
dies woUte die obige Auseinandersetzung leisten, nichts mehr. 

Wir haben also gesehen, daB wahrend bei Wagner ein 
einziges, allerdings schon in sich selbst widerspruchsvolles, 
Princip dem kiinstlerischen Schaffen zu Grunde liegt — das 
Streben nach Ausdruck eines Unausdriickbaren — , bei Bruckner 
sich von Anfang an zwei Elemente, der unendliche Ausdrucks- 
gehalt und die konventionell beschrankte und beschrankende 
Form, feindlich gegeniiber stehen. Meistert Wagner die Aus- 
drucksformen so, daB man schlieBlich glaubt, das Wunder sei 
wahrhaft Realitat geworden, das Unendliche habe sich restlos 
verendlicht, und bedarf es der Reflexion, um sich dariiber klar 
zu werden, warum denn eigentlich die eroberte Paradieses- 
stimmung doch einen schmerzlichen Beigeschmack behalte, so 



r^ Das Indiyiduum und die Kausalitatsreihe. 109 

tritt bei Bruckner der Widerspruch so wuchtig, so prononcirt, 
so unverhehlt auf, daB dariiber — wenn namlich der Horer 
nicbt ganz eindringt in die Tiefen des Werkes — schier die 
Einheit verloren gebt, die Einsicht namlich, wie dieses frei- 
heitsdiirstende Individuum mit seinem alle Konvention ver- 
spottenden, iibermacbtigen Sehnen scbHeBlicb doch nicht bloB rein 
mecbanisch bineinversetzt wurde in eine seinem Wesen so 
gar nicht entsprechende , kleinliche, philistrose Formenwelt, 
sondern hineingezeugt und hineingeboren , organisch mit ihr 
verwachsen, auch nur ein Glied in der Kausalitatskette ihrer 
Erscheinungen ist, gerade wie der Mensch in seinem Verhalt- 
nis zur AuBenwelt. Das alte Kathsel, daB mein Ich gerade 
als individuelles Ich ohne Frage mehr ist denn ein bloBes 
Phanomen — und was sagt uns das Gewissen Anderes? — 
und daB es doch in der Zeit entstanden, fliichtig und vergang- 
lich durchaus und ganz in die Erscheinungsreihe der »Welt 
als Vorstellunga fallt, — wer denkt es aus? — Sucht Wagner 
diesen gordischen Knoten zu durchhauen, indem er kiihn die 
Alleinberechtigung des Individuums proklamirt, es von allem 
»historisch Gewordenena emancipirt, schlieBlich aber doch da- 
bin gelangt, daB der Wille sich in seiner »eigenen Fesselcc 
fangt, daB er sich den Feind aus seinem eigenen Innersten 
erzeugt, daB er, seinen widerspruchsvollen Wesensinhalt er- 
kennend, entsagt und verzichtet, so durcbziebt diese Resignation 
auf Gestaltung einer »freien« Welt Bruckner's Werke von An- 
fang an. Haben Wagner's Gestalten bei aller Individualitat 
immer etwas Typisches, AUgemein-Symbolisches, so ist Bruckner 
in seinem Schaffen extremster Individualist, so daB er noch 
in viel eminenterem Sinne sagen konnte: »Nur wer mich 
liebt, kann mich verstehen. a Ohne hingebenstes Versenken 
in diese trotzig-verzagte, himmelstiirmend ergebene, so wider- 
spruchsvoUe und doch dem liebenden Auge so verstandliche 
Fersonlichkeit , dieses echte Menschenkind in seiner ganzen 
himmlisch-irdischen, genial-philistrosen Wunderbarkeit — ist 
mit Bruckner nichts anzufangen. So ist er denn recht ein 
Mann fur die Geweihten, die Auserw'ahlten, nicht aber fiir die 
»berufenenft — Kritiker und Sachverstandigen : denn hier be- 
halt ja auch das Bibelwort, allerdings in anderem Sinne als 



110 AbschluB der Charakteristik Bruckner's. 

es gemeint ist, seine Wahrheit: »Viele sind ,berufen^, aber 
wenige auserwahlt ! a 

Mein Zweck ware erreicht, wenn ich Einem oder dem 
Anderen, dei sich an manchem Bizarren in Brucknei's Werken, 
an jenem oft getadelten Stocken des musikaliscben Flusses, 
jenem scheinbar unmotivirten Abbrechen der Gedanken mitten 
in der Entwickelung, trotz des besten Willens noch stieB, den 
Weg gezeigt hatte, auf welchem auch diese T>Sonderbarkeitena 
als nothwendig zu begreifen sind, wie sich zu einem Bruckner- 
schen Werke in dieser Beziehung ein »formvollendetes« verhalt, 
wie ein elegant gedrechselter Theatermonolog zu den Angst- 
schreien und Herzensseufzern, wie sie in der realen Welt der 
Brust des gequalten Mensclienkindes sich entringen, dem Mono- 
logisiren, wie es in der That vor sich geht, wo auch nicht 
ein Gedanke wartet, bis der vorhergegangene schon und rein 
abgewickelt ist, sondern Pro und Contra sich iiberstiirzen; ein 
Gedankenfaden, kaum angesponnen, wieder zerreifit, dann eine 
qual voile Pause eintritt, wo der Kopf sich vergeblich abmar- 
tert, sich zum Bewufitsein zu bringen, was das Herz eigentlich 
will, bis eine neue, frische Stromung alles wieder in FluB 
bringt. Mag sein, daB Bruckner das asthetische Princip der 
»Anschaulichkeit« bisweilen verletzt ; aber giebt es nicht Dinge, 
die iiberhaupt nicht, oder doch nur sehr andeutungsweise, an- 
schaulich gemacht werden konnen? Ist es nicht auch eine 
Aufgabe des kiinstlerischen Schaffens, von Zeit zu Zeit durch- 
blicken zu lassen, wie eben im tiefsten Grunde auch die Kunst 
an einer unlosbaren Aufgabe arbeitet, losbar nur insofem, als 
sie das ahnende Gemiith des GenieBenden erweckt, das als Ein- 
heit zu fassen, was sie nur als widerspruchsvoUe Zweiheit zei- 
gen kann? XJndliegt darin nicht der Humor der Kunst?* — 



* Nachtr&glich finde ich bei Schopenhauer eine Stelle, welche als 
Bestatigung meiner Entwickelung des HumoristiBchen um so mehr ein 
Anrecht darauf hat citirt zu werden, als ja der Meister den Begriff des 
Humors yiel enger faBt, trotzdem aber . nicht umhin kann , das Humo- 
ristische folgendermaBen zu charakterisiren (Welt als Wille, II, 3. Aufl., 
S. 110): » — nSher betrachtet, beruht der Humor auf einer subjektiven, 
aber emsten imd erhabenen Stimmung, welche unwillkurlich in Kon- 
flikt ger&th mit einer ihr sehr heterogenen, gemeinen AuOenwelt, der 



Besumirender Eilckblick. Ill 

WIr sind am Ende, und ich fuhle nun erst, wie apho- 
ristisch meine Ausfuhrungen geblieben sind, wie wenig es mir 
gelungen ist, meiner Aufgabe geiecht zu werden. AUein das 
glaube ich mit einiger Zuversicht behaupten zu diirfen: das 
Problem der Musikasthetik ist noch. von keinem meiner 
Vorganger in gleich tiefer und umfassender Weise hingestellt 
worden. Inwiefern mir freilich die Losung gelungen ist, das 
vermag ich schon darum nicht zu beurtheilen, weil ich un- 
moglich wissen kann, ob ich denjenigen Grad begrifflicher 
Klarheit auch fur andere erreicht habe, welcher bei der Er- 
klarung einer so intimen Gefuhlsthatsache, als es der musika- 
lische KunstgenuB ist, unbedingt nothwendig erscheint. Viel- 
leicht vermag ein resumirender Riickblick auf manches dunkel 
Gebliebene noch ein helleres Licht zu werfen. 

Als Kant die Asthetik und Teleologie neben einander in 
der Kritik der Urtheilskraft behandelte, war dies nach meiner 
Ansicht nicht eine aus der sonderbaren Anlage seines Systems 
hervorgegangene Schrulle, wie man oft zu horen bekommt, 
sondem ihn leitete dabei ein tiefer Gedanke, namlich der, 
daB das Wohlgefallen am Schonen wie am Zweckmafiigen im 
letzten Grunde darauf beruht, daB beide uns ein einheit- 
liches, widerspruchsloses — also verniinftiges — iiber- 
sinnliches Substrat der Welt zu verbiirgen scheinen, und daB 
beide gleicherweise subjektiv und illusionar sind. Der lust- 
voile Eindruck der schonen Form wirkt noch nicht als solcher 
asthetisch, sondern erst dann, wenn er uns zu einem Em- 
pfindungsgehalt wird, den wir dem schonen Gegenstand 
als dessen formschaffende Seele unterlegen, wie ich in dem 
Kapitel iiber das Schone in der Musik auseinandergesetzt habe. 
(Deshalb laBt sich ja auch dariiber streiten, ob das Minimum 
von Lust, welches die elementaren Formen des wMathematisch- 
Schonena hervorrufen, schon asthetisch genannt werden darf.) 
Der asthetisch wie der teleologisch lusterweckende Gegenstand 



Bie weder ausweiohen, noch sich selbst aufgeben kann; daher sie, zur 
Vermittelung , versucht, ihre eigene Ansicht iind jene Aufienwelt dutch 
dieselben Begri£fe zu denken, welche hierdurch eine doppelte, bald auf 
dieser, bald auf der anderen Seite liegende Inkongruenz zu dem dadurch 
gedachten Kealen erhalten.a — 



It2 ^^ Widesapmdi in der Kmut. 

veidanken ihre Wiikaog dem Umstand, daS die latioDelleQ 
Beziehangen , die haimoaischen YeihaltiusBe aof eine dem 
MamugfUtigen m Gmnde liegende Einheit hinweisen. Das 
Schone sowohl aU daa ZweckmaBige ist in dei realen Welt 
fiaktisch Torhanden, aber nar fur eine einseitige Anschanangs- 
weise. AUes Scbone and ZweckmaBige ist dies nni lelatiT 
und momentan, absolot nor fiir den, dei die Kehrseite der 
Medaille onberucksiclitigt laBL Was inunei als Bcbon and 
zweckmaBig in der Welt eischeint, liat die Tendens in aich, 
in sein Gegentheil » omaasclilagen «. Jede Yollkommenheit ist 
nnr ermogliclit dorch einen ihr entsprechenden Defekt desselben 
G^;enstande8 in aoderer Beziehnng; jeder Fottschritt ist als 
eolchei zugleich ein Kuckacbritt, nnd alle lAofklareia moBten 
fiich ja jedeizeit von der Kotte der •Dankelmaonerc den 
Vorwuif gefollen lassen, dessen Berechtignng kein Einsichtiger 
leugnen kann, daB jeder iotellektuelle Fortschritt, jede Hebung 
des allgemeinen geistigen Nireaa's die Bande det beteronomen 
(leligiosen, gesellscliaftJicben) Sittlichkeit lockert, ohne die 
Masse jemals lur aatonomen [individualen] Sittlichkeit enieben 
za konuen. 

Diesel Zwiespalt, dieser Wideispmch, dei die Welt dorcb- 

ziebt, ei mu6 sicb nnn aacb in dei Eunst zeigen, and wenn 

dies nicht det Fall ware, batte die Ennst langer kein Anrecbt 

daiauf, for die erbabenste Manifestation des menscblicben 

Geistes angeseben zu werden. Ich babe nnn veraucbt, fiii 

die Musik nscbzuweisen , wie in dei That ein unlosbaier 

Wideisprticb das eigentlicbe Agens in dei Entwickelung der 

Tonkunst von jeber gewesen ist, wie es alien gioBen Meistem 

der Musik als die bocbste Aii%abe ihrer Eunst eiscbienen ist, 

sick nicht in einem bedeutungslosen, absolnt wohlgefalligen 

Spiel tonender Formen zu ergeben , sondem anf ibre Art nns 

ndas Wesen der Welt scbauen zn macbenc . Das Unendliche, 

line sicb selbst wideispiecbende Einbeit, hatte das Streben, 

zu verendlicben, sicbtbar zu weideu, in das menscblicbe 

iBtsein einzugeben, der Vemunft znm Tiotz zu zeigen, 

ein Ton ibr ganzlich YerBcbiedenes den innersten Eem 

Welt ausmacbe. Wir baben geseben, daB znnacbst das 

en del Welt als Einbeit erfaBt wurde im Schonen, wie 



Idealist und Humorist. 113 

dieses dem Erhabenen weichen muBte; wo der Widerspruch 
als Wesen der Welt sich enthiillte, um dann im Humor als 
widerspruchsvoUe Einheit erkannt und begriffen zu 
werden. 

Der Kiinstler des Schonen vermeint entweder zu zeigen, 
wie die Welt in Wahrheit ist: dann feBt er die Hemmungen^ 
Storungen und Konflikte als so unbedeutend auf, daB sie das 
Gesammturtheil iiber die Welt als eine vollkommene nicht 
alteriren konnen; — oder wie sie sein sollte und konnte: 
dann ist er der wahre Idealist, als dessen erhabenstes Beispiel 
mir Schiller vorschwebt^ der zum Kampfer in der Scblacht 
der Geister wird, wobei ihn die nie yerloschende Hoffnung 
beseelt, das Gute werde doch endlich siegen. 

Dem humoristiscben Kiinstler ist diese Hoffiiung ge* 
schwunden ; er kampft, aber nicht mit dem stolzen Y orgefuhle 
des Sieges in der Brust, sondern einzig aufrecht erhalten durch 
das EewuBtsein seiner hohen Fflicht, auszuharren bis zum 
letzten Blutstropfen auf einem — verlorenen Posten. Er hat 
seine Mitkampfer dariiber aufgeklart, daB nichts mehr zu hoifen 
sei: seine Kunst ist nicht mehr schon. Aber nun ist 
auch Ruhe in seine Brust eingekehrt, er weiB, woran er ist. 

Jetzt erkennen wir aber auch erst den Zweck und 
die Bedeutung der Kunst fur die Gegenwart. Der mo- 
dems Kiinstler muB die Kampfe mitkfimpfen, von denen 
die Welt durchtobt wird, nicht sich aber in ein imaginares 
Wolkenkuckucksheim , das angebliche ))Beich des Schdnenc 
fliichten, um dort ))himmlische Wonnent zu genieBen, wahrend 
seine Mitmenschen in hochst »irdischera Noth und Triibsal 
schmachten; Erlosung bringen, Trost spenden soil die 
Kunst, wenn man so will, indem sie durch die Einsicht in 
das Wesen der Welt, welche sie uns eroffhet, die Nothwen- 
digkeit des Elends, die Unentrinnbarkeit aus dieser Welt des 
Jammers begreifen macht, aber nicht uns shinwegtHuschenc 
iiber die Leiden des Daseins, sie uns vergessen machen. Erst 
recht soil sie uns aufriitteln, den Stachel tief in's Herz bohren, 
damit das warme Herzblut des Mitleidens hervorquelle , die 
scharfe Pflugschar soil sie sein, die den harten Boden durch- 
fiircht, daB die Saat der Liebe keimen und gedeihen moge; 

Lou if, Widerspruch in der Huiik. g 



114 Die Bedeutung der Kunst far das moderne Leben. 

wie die Posaune des Gerichts soil sie dem Tauben in's Ohr 
schmettem, was sie als Wahrheit erkannt, und ihre einzige 
Tendenz ist die, dem so leicht in leeier Hoffiiung und tau- 
schendem Wahn sich einluUenden Menschenherzen zuzunifen, 
sei es mit dem Entsetzensschrei der Tragodie, sei es mit dem 
wehmiithigen Lachelix des Humors oder mit dem bittern Sar- 
kasmus der Komik: )>Sieh^ so ist diese Welt I a 

Bei Gottl — wenn das die Aufgabe der Kunst ware, un- 
serem ennuyirt-genuBsiichtigen, blode-blasirten Koncert- und 
Theaterpublikum seine Langeweile zu vertreiben, wahrend der 
von alien diesen nGeniissend ausgeschlossene Anne hungernd 
vor der Thiire liegt, dem behabigen Banquier etwas vorzu- 
singen und vorzugeigen, wahrend die sociale Frage drohend 
am Horizonte der Gesellschaft steht, jeden Augenblick bereit, 
diesem ganzen vergoldeten Unsinn ein jahes Ende zu bereiten, 
mit einem Worte, wenn die Kunst mit unserem modernen 
jiKunsttreiben« identisch ware, dann thate jeder Kiinstler, dem 
noch ein Funke yon Idealismus in der Brust glimmt, besser, 
Holz zu hacken, als sein Talent herzugeben zu einem solchen, 
wahrhaft Jtunsittlichena Luxus, von dem kein Mensch 
etwas hat. f 

Hatte der Optimismus Recht, ware in irgend welcher 
Form ein definitives Heil fur die Welt zu erwarten, dann hatte 
die Kunst iiberhaupt keine Berechtigung. Dann konnte es nur 
eine Losung heutzutage geben: Alles, was Kopf und Hande 
hat, arbeite auf dem direktesten Wege darauf los, daB dieses 
Erdenparadies moglichst rasch verwirklicht werde, Wissen- 
schaften treibe man, soweit sie praktischen Nutzen haben — 
etwa Chemie, um aus Cellulose Brod zu machen — aber was 
soil Kunst? Freilich konnte der Dichter als Yolksredner oder 
socialistischer Agitator die Biihne betreten und sein Werk 
zum tendenziosen dramatisirten Pamphlet machen: aber das 
ware keine Kunst in unserem Sinne. 

Hat aber der Pessimismus Recht, dann ist es eine wahr- 
haft wiirdige Aufgabe fur die Kunst, die Nothwendigkeit des 
Ubels darzulegen, indem sie den mit sich selbst entzweiten 
Willen als Wesen der Welt nachweist, den Weltschmerz zur 
Resignation des Humors verklart. DaB diese Resignation