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Full text of "Descendenzlehre und Darwinismus"

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INTERNATIONALE 
WISSENSCHAFTLICHNE BIBLIOTMEK. 


I. BAND. 


DESCENDENZLEHRE 


UND 


DARWINISMUS,. 


VON 


OSCAR SCHMIDT, 


PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT ZU STRASSBURG. 


MIT 26 ABBILDUNGEN IN HOLZSCHNITT. 


ZWEITE VERBESSERTE AUFLAGE. 


LEIPZIG: 
MA-BROCKHAUS. 


1875. 


x 0 Das Recht der Uebersetzung ist vorbehalten. 


LIBRBRAHN 


VORWORT. 


Wenige Monate nach dem Erscheinen der ersten stellt 


sich die erfreuliche Nothwendigkeit einer neuen Auf- 
‚lage dieses Werks heraus. Es ist nicht bloss von den ent- 


schiedenen wissenschaftlichen Parteigenossen mit Freude 


begrüsst, sondern auch von jener Seite, welche sich 
 zweifelnd , ja entschieden ablehnend gegen die Ab- 


stammungslehre verhält, mit Anerkennung aufgenommen 
worden, wie man u. a. erklärte, wegen des in der Sache 
festen, in der Form gemässigten Tones. 

Ich habe Farbe bekannt und damit nur das gethan, 
was in unserer, auf dem religiösen oder kirchenpoli- 
tischen und auf dem naturwissenschaftlichen Gebiete 


ausserordentlich erregten und bewegten Zeit jeder ge-. 


bildete Mensch thun müsste, wenn es nicht sehr Viele 


_ vorzögen, in der religiösen Frage zu schweigen und den 
- alten ererbten Schlendrian mitzumachen, in der natur- 
wissenschaftlichen aber „das fundamentale Entweder — 


ut 


vI VORWORT. 


Oder“ (Fechner) durch recht jämmerliche Wenn und 
Aber abzuschwächen, zur grossen Erbauung unserer ge- 
meinschaftlichen Gegner. 

Nur unwesentliche ‚Verbesserungen waren anzubringen. 
Das Beispiel der Artveränderung, welches der Stein- 
heimer Planorbis multiformis zu bieten /schien, ist nach 
neuern Untersuchungen hinfällig. Diese Einbusse eines 
Beleges wird mehr als aufgewogen durch zahlreiche be- 
stätigende Beobachtungen, auf welche ich später einmal 
eingehender mich berufen zu können hoffe. 


Strassburg, im Juli 1874. 


OSCAR SCHMIDT. 


Einleitung. Hinweis auf die Ergebnisse der _ B 
' Sprachforschung. Positive Vorkenntnisse für 
‚die Descendenzlehre. Wunderglaube. Die 
era der Naturforschung . IT 


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= Die Erscheinungen der Ba in der 


Belkerwel.. 2. ... 5 a Dr 
eb Eye in Ihrer ES Biekenchen! päläon: $2 

tologischen Entwickelung. . . . 53: 
Nochmals der Wunderstandpunkt ii ge Nator- Re 

forschung. Schöpfung öder natürliche Ent- a 


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 wickelung. Linne. Cuvier. Agassiz. Unter- 
Fsuchuns des Artbegrilfes . . ..". 2.22 2°. 
. Die Naturphilosophie. Goethe. Prädestinirte _ 
Umbildung nach Richard Owen. Lamark . . 94 
Lyeli und die neuere Geologie. Darwin’s Se- 
_ leetionstheorie. Anfang des Lebens. . . ... 
_ Vererbung. Rückschlag. Veränderlichkeit. ke 
 passung. Folgen des Gebrauchs und Nicht- 
 gebrauchs der Organe. Differenzirung führt 
zur Vervollkommnung . .... 


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du > ist eine Wiederholung der 
ni  wickelung des Stammes (Phy 
...X. Die geographische Verbreitung 


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Aue = , Lichte der Abstammungslehre . 
“XI Der Stammbaum der Wirbelthiere. 
en XI. Der Mensch. Hu 

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£ m lee und Citste en. 2 ge > 


- Einleitung. Hinweis auf die Ergebnisse der Sprach- 
- forschung. Positive Vorkenntnisse für die Descen- 
denzlehre. Wunderglaube Die Grenzen der 
Naturforschung. 


F Der die Menschheit und das Leben jedes sei- 
ner selbst sich bewussten Individuums zieht ein Ringen 
_ nach dem Verständniss des Daseins. Alle philosophi- 
Eichen Systeme haben in die Natur der Dinge zu dringen 
versucht, sind aus dem Streben nach der Erkenntniss 
des Zusammenhanges hervorgegangen, des Zusammen- 
hanges der grossen Reihen körperlicher und geistiger 
Erscheinungen, deren Mittelpunkt oder Endpunkt zu 
- sein der Mensch sich schmeichelt. Die Einen beruhigen 
sich mit der Hervorhebung des Gegensatzes zwischen 
" Geist und Körper, Idee an. Erscheinung, die Andern 
. mit dem Schlagwort der Identität, die Einen haben 
ich und die Welt in schönster Harmonie gefunden, 
‘die Andern, von den Buddhisten an seit dem 6. Jahr- 
E:«: vor unserer Zeitrechnung bis zu den wunder- 
lichen Heiligen der Gegenwart, den Anhängern und 
- Verbesserern Schopenhauer’ Ss, in der rdischen 
_ Welt nur eine Anhäufung von Unbehagen und Conflict, 
- welchem der Weise durch ein gänzliches Zurückziehen 
_ auf sich selbst und eine vom eisernen Willen erzwun- 
gene Rückkehr in die Bedürfnisslosigkeit und das Nichts 
_ entfliehen könne. 
Bei allen diesen Versuchen, sich mit der Welt zu 
stellen und abzufinden, hat das allgemeine Bewusstsein 
 ScHMIDT, Descendenzlehre. 1 


er be 


on Va rs m To 2.0 m BEER a al > FB DETR Le 
5 5 £ SE, PURE r% 


2 Einleitung. 


nicht gerade bedeutende Fortschritte gemacht. So 
sehr man nämlich auf der einen Seite staunen muss 3 
über die Errungenschaften unsers Zeitalters, sei es 4 
auf den er wissenschaftlichen Gebieten, sei es 
auf dem Felde des Verkehrs und der Industrie, so 
wenig sicher und vorgeschritten ist das Urtheil der 
Menge bei jenen allgemeinen Fragen, so sehr lässt 
sich noch heute, wie zu Aristophanes’ Zeiten, die 


ERIRT 2 I e 


Menge, auch ein grosser Theil der „Gebildeten“, durch ä 
Schwindel und Phrase imponiren. Wir verbrennen & 
keine Hexen mehr, aber noch immer blühen die Ketzer- 
gerichte. Unsere ae Physiologie als Grund- > 
lage einer wissenschaftlichen Mediein erfreut sich einer 4 
staatlichen Förderung und allgemeinen instinctiven 
Anerkennung, wie nie, was nicht hindert, dass in Ss | 
allen Kreisen der Ger@tschet der verwen Cur- B: 
pfuscherei die Thüre geöffnet bleibt. Man halte Rund- 
schau über die Spiritisten und Geistereitirer, welche FR 
jetzt eigene Sekten und Gesellschaften bilden, über die 


länger der sympathetischen und Besprechung, @ 
curen u. s. w., und man muss erstaunen über die Aus- 8 
dehnung der Herrschaft eines Aberglaubens, welcher 
dem Fetischdienst der von uns verschiedenen Menschen- $ 
art der Neger kaum etwas nachgibt. Es sind dasnur 
specielle Fälle der sehr verbreiteten Urtheilslosigkeit, A 
wenn es sich um das vermeintliche Räthsel des Men- 
schendaseins handelt. Millionen und aber Millionen, s 
welche mit Entrüstung sich abwenden würden, wenn = 
sie glauben sollten, in der complicirtesten Maschine, ee er 
in an verwickeltsten Erzeugnissen der chemischen 
Retorte, den sonderbarsten Resultaten des physikalischen 
Experimentes ginge irgend etwas nicht völlig natürlich A 
ı, diese Millionen sind geneigt, hinter ds Lebens- en 
vorgängen einen Dosen zu ce und überall, wo 
es Fo um die Erklärung des Lebens, die Zur ei 
führung der Lebenser scheinüngen auf die wahren natür- | 
lichen Ursachen .handelt, die Möglickeit einer solchen | 
Erklärung und Erkenntniss geradeweg zu leugnen und 


0 Sa A er er Ze a Dr Da: N 9 


4 Ergebnisse der Sprachforschung. | 3 


schen zu verweisen. Oder, wenn man auch die Lösung 
der Lebensfrage im allgemeinen zulässt, so will man 
wenigstens für das liebe Ich etwas Bean: und ein 
anderes Mass, als das, womit die übrigen Lebewesen 
gemessen werden. ’ 
Sehen wir so auf der einen Seite den einen grossen 
_ Theil unserer Zeitgenossen entweder in völliger Rath- 
3 und Resultatlosigkeit der wichtigsten Frage gegen- 
überstehen, oder eeelbe mit der Offenbarungs-Theologie 
'abmachen, so dürfen wir glücklicherweise auf der an- 
dern Seite auf die stattliche Schar derer hinweisen, 
welche, seit die Entwickelung der Wissenschaften es 
überhaupt zuliess, der Untersuchung über die Stellung 
des Menschen in der Natur eine aufrichtige Theil- 
nahme entgegenbrachten und das Problem mit Ver- 
ei ständniss erwogen. Das Bedürfniss nach dieser philo- 
N: sophisch-naturwissenschaftlichen Erkenntniss bricht etwa 
4 vor einem Jahrhundert durch und fällt mit den An- 
 fängen der Sprachwissenschaft zusammen, worauf hier 
hinzuweisen um so passender ist, als die Theorien von 
- dem Ursprung der Sprache von den Ansichten über 
- den Ursprung. des Menschen, und umgekehrt, innig 
_ berührt und beeinflusst werden. Nachdem im Jahre 
1580 das Resultat einer Untersuchung über die Sprache 
2 des Paradieses war, dass Gott dansch, Adam schwe- 
3 - disch und die Schlange französisch gesprochen, war 
es Leibniz, der in Beten an Newton die Methode 
der Sprachforschung zu regeln suchte, indem er von 
dem Studium der neuern und bekannten Sprachen 
Be emschen anempfahl. Und als in der Mitte des 
_ vorigen Jahrhunderts die Ansichten, ob die a 


Sa 


Y: 


standen, und Süssmilch (1764) gegen Maupertuis 
- und Jean J. Rousseau geltend gemacht hatte, dass 
E Erfinden ohne Denken, Denken aber ohne Sprache 
= nicht möglich, folglich ein een der BET ein 


er n j 1 ki 


4 Ergebnisse der Sprachforschung. 


tes Herder, 1770, mit seiner epochemachenden Schrift 


über die Sprache hervor. Sie beginnt nach ihm mit 
anfänglich fast unbewusster Schallnachahmung, als dem 
Kennzeichen, wie er sich ausdrückt, bei welchem die 
Seele sich einer Idee deutlich besinnt. Er lässt die 
Sprache sich aus den rohesten Anfängen in dem stei- 


genden Bedürfniss nach solchen Wortzeichen entwickeln; 
und mit der Entwickelung der Menschheit habe auch 


der Sprachschatz von selbst, d. h. unbewusst und in- 


stinectiv zugenommen. Die Mannichfaltigkeit der Spra- 


chen sei durch das Auseinandergehen der Völker be- 
dingt, deren Eigenart sich in den verschiedenen 


Sprachen abspiegele.. Schon Herder also hebt die 
Wichtigkeit einer Völkerspsychologie hervor. An ihn 


schloss sich Wilhelm von Humboldt an, dessen 


Ansichten die Grundlage der heutigen Sprachwissen- , 


schaft bilden. Die Schallnachahmungen, lehrt er, fixiren 
sich instinetiv zu Worten, und mit dieser Wort- und 
Sprachbildung beginnt das Denken. Es geht aus der 
Natur dieser Anfänge hervor, dass die Sprache der 
natürliche Ausdruck des Volksgeistes ist, dass sie nicht 
stillsteht, sondern in steter Wandlung begriffen ist. 


Die Sprachwissenschaft mit ihren grossen Erfolgen 
setzt die wichtigste Seite des menschlichen Wesens 


ins Licht; sie zeigt uns aber doch nur diese eine Seite, 


den Menschen in seiner allmählich errungenen Er- 
hebung über die übrige Lebewelt. Obgleich schon 


jene oben erwähnten Begründer der Sprachforschung, 


halb unbewusst, halb bewusst den Menschen erst mit 
der aus primitiven Anfängen hervorgehenden Sprache 
zur Vernunft kommen und zum Menschen werden 


liessen, hat man sich allgemein doch damit begnügt, 


die privilegirte Stellung des Menschen als eine schlecht- 
hin gegebene oder sich von selbst verstehende anzu- 
nehmen, und dies so lange, als die Naturwissenschaft 


ihre Befriedigung in dem blossen oberflächlichen Ordnen 


der Organismen fand. Der Mensch, als aus Fleisch 
und Blut bestehend, erschien freilich als ein Ver- 


Was ist Verwandtschaft? 5 


 wandter der höhern Thiere; allein so lange die Her- 
 kunft dieser, ihre eigene Blutsverwandtschaft nicht 
_ erörtert war, und man sich mit ihrer Nebeneinander- 
; stellung nach der Uebereinstimmung ihrer Kennzeichen 
begnügte, ohne die tiefere Ursache der Abweichung 
_ oder Gleichheit zu discutiren, nahm der Mensch im 
tem der lebenden Wesen ohne Widerspruch die 
höchste Stufe ein. Linne stellt in der Ordnung der 
; Primaten mit den Gattungen Fledermaus, Halb- 
affe und Affe den Menschen zusammen, ohne deshalb 
- von Kanzeln und Kathedern eines Attentats auf die 
Würde der Menschheit angeklagt zu werden, wie denn 
_ auch Buffon ungestraft die Laune haben konnte, 
gerade bei Beschreibung des Esels sehr speciell unser 
Geschlecht zu besprechen. Erst als in der neuesten 
Zeit die Welt hörte, dass jenes bisher mit grosser 
- Gleichgültigkeit ausgesprochene Wort „Verwandtschaft“ 
 ernstlich und wörtlich genommen werden solle, indem, 
_ was verwandt, auch = Frucht eines und desselben 
Baumes sei, durchzuckte diejenigen, denen der Mensch 
als ein durchaus innerhalb der Natur stehendes Wesen 
erschien, ein Strahl der Erkenntnissfreude. Die übrigen 
_ aber, welche sich den Menschen nur als absolut vor 
_ seiner natürlichen Umgebung privilegirt vorstellen 
können, mussten in der Deduction, den eine allum- 
Eassende Lehre in unabwendbarer Consequenz auf 
den Menschen machte, eine Art von Verbrechen er- 
Policken. 

Die Theilnahme, welche man der neuern Verwandt- 
Ehafts- und Kistammungsthäorie entgegengebracht, 
geht daher nicht blos von Freunden, sondern ebenso 

sehr von Gegnern aus, denen mehr oder minder klar 
_ die Gefährlichkeit der neuen Lehre für ihren Wunder- 
- standpunkt vorschwebt. Obschon auch in England die 
Opposition gegen den grossen Landsmann, an. dessen 
_ Namen sich die Umwälzung knüpft, sehr bedeutend, 
besonders seit es offenbar, dass er, sich getreu De 
bend, auch den Menschen in das Bereich seiner Unter- 


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Fe er 


6 Hinweis auf Darwin. 


suchungen gezogen und alle Folgen seiner Lehre auf 
ihn angewendet wissen will, scheint mir doch diesseit 
des Kanals der Streit und die Aufregung noch leben- 
diger, wo der Darwinismus das tägliche Brot der 


Tagesblätter, der philosophischen und theologischen 


Zeitschriften. Nun, diese Erscheinung liegt vor aller 
Augen, und wir sind von der einschneidenden Wich- 
tigkeit des Gegenstandes überzeugt, der, je nachdem 


man für oder wider ihn gewonnen wird, unsere ganze 


Lebensanschauung beeinflusst. Und dabei begegnet es 
vielen, wie so häufig bei Fragen, deren Schwierigkeit 
durch eine scheinbar allgemeine Vertrautheit mit der 
Sache verdeckt wird: über das Leben meint jeder ur- 
theilen zu können; und da für den Laien das Alpha 
und Omega der Abstammungslehre die berüchtigte 


Affenverwandtschaft ist, und oft gerade die unklarsten 


Köpfe am unfehlbarsten von ihrer eigenen Höhe über- 
zeugt sind, so hört man über keine Angelegenheit so 
häufig oberflächliche, von der gröbsten Unwissenheit 
zeugende Urtheile, meist verdammende, als über die 
vorliegende. 


Ich Di nun den Leser in den Stand zu setzen, 
das ganze verzweigte und verwickelte Problem der 


Abstammungslehre und ihre Begründung durch Dar- 
win zu übersehen und die Cardinalpunkte desselben 
zu verstehen. Dabei ist zuerst eine Vorfrage von all- 
gemeiner Wichtigkeit und besonderer Bedeutung zu 


erledigen, welche so oft von den philosophischen und 


theologischen Gegnern hingeworfen wird, die Frage 


nach den Grenzen der Naturforschung überhaupt. Denn 
wenn es principiell feststände, dass das Geheimniss des 


Lebendigen ein anderes sei, als das des Nicht-Leben- 
digen, dass dieses enthüllbar, jenes mit einem nie zu 
hebenden Schleier verdeckt, wie man das jetzt noch 
so oft behaupten hört, dann wäre auch die auf die 
Ergründung des Lebens gerichtete Forschung von vorn 
herein eitel und aussichtslos.. Sollte sich aber der 


Erforschlichkeit des Lebens und Werdens kein aprio- 7 


Systematik. 7 


ristisches Bedenken entgegenstellen, sollten vielmehr 
die jedenfalls vorhandenen Grenzen der Forschung und 
- Erkenntniss für die belebte Natur keine ander sein, 


en. für die unbelebte Körperwelt, so dürfen wir un- 


serer Aufgabe näher treten. Ich meine, dass dies am 


zweckmässigsten damit geschieht, dass wir uns mit 


dem Object der Abstammungslehre etwas vertraut 
machen, wobei wir uns auf die Thierwelt beschränken. 


_ Wenn ich also sage, dass wir eine Unterlage für die 


Abstammungs- oder Descendenztheorie, für die Lehre 
von der allmählichen directen Entwickelung der höhern 
und jetzt existirenden Organismen aus niedrigern Stamm-. 
formen, die Lehre von der Continuität des Lebens 
gewinnen müssen, so handelt es sich zuerst um einen 
Ueberblick über die jetzt über die Erde verbreiteten 
Thierformen. Wie die Himmelskunde mit der blossen 
Fixirung der Gestirne und Sternbilder und der Kennt- 
niss ihrer scheinbaren Bewegungen beginnt, so fixiren 


auch wir in grossen Zügen das Material und zwar in 


der Weise, wie sie durch die historische Entwickelung 
der Wissenschaft geboten ist. 

Was dem Beobachter der Thierwelt unmittelbar in 
die Augen fällt, ist ihr Bestand an scheinbar un- 
zähligen Formen. Das erste Bedürfniss ist das des 
Unterscheidens und Ordnens. Die Zoologie mit Bo- 
tanık und Mineralogie musste im ersten Stadium ihrer 
Entwickelung blosse Beschreibung sein, ein Kennen- 
lernen der fertigen Objecte, während Physik und Che- 
mie es mit der Untersuchung von Erscheinungen zu 


_ thun haben, deren Bestand unmittelbar auf das Ent- 


stehen hinweist, das heisst mit Reihen von Erschei- 
nungen, die als Ursachen und Wirkungen miteinander 
verbunden sind, deren Kenntniss also zugleich zu einer 
den Geist befriedigenden und beruhigenden Erkennt- 


niss führt. Diese anfänglich blos auf das Aeussere 


sich beschränkende Beschreibung zog nach und nach 
auch das Innere heran, wurde zur Zootomie und ver- 
gleichenden Anatomie, und hatte es in der Anhäufung 


8 Vergleichende Anatomie und Entwickelungsgeschichte. 


unendlichen Details schon vor funfzig Jahren so weit _ 


gebracht, dass Cuvier damals sich die Aufstellung 
des natürlichen Systems zutraute. 
Diese Thierbeschreibung ist aber nach zwei Seiten 


hin zu ergänzen und im Laufe der Ausbildung der $ 
Wissenschaft fast gleichzeitig ergänzt worden. Zur 


- Kenntniss des Seins eines Thieres gehört auch die 
Beschreibung seines Werdens. Ich sage ausdrücklich 
„die Beschreibung“, denn die thierische Entwickelungs- 


geschichte ist an sich noch keine Naturwissenschaft im 


Sinne der mathematisch-physikalischen Disciplinen; sie 
„ist blosse Naturbeschreibung. Sie gibt aber eine weit 
genauere Kenntniss, sie enthüllt in tausend Fällen 
erst.die Bedeutung der Organe und gibt der verglei- 
chenden Anatomie die Sicherheit, oft überhaupt die 


Möglichkeit der Auslegung. Den Flügel des Vogels 


kann man ohne Schwierigkeit, so wie er ist, in seinen 
einzelnen Theilen auf die vordere Extremität eines 
Reptils oder eines Säugethieres zurückführen. Das 
Bein des Vogels dagegen stimmt als fertiges Organ 
nicht mit dem Bein der übrigen Wirbelthiere überein, 
bis die Entwickelung des Vogels im Ei zeigt, dass 
die Anlage der Stücke und Glieder genau dieselbe ist 
hier wie dort, und nur einige spätere Verwachsungen 
sonst getrennt bleibender Knochen die scheinbare Ano- 
malie hervorrufen. Das fertige Vogelbein (A) zeigt 


uns in a den Ober-, in D den Unterschenkel, aber 


statt der Knochen der Fusswurzel und des die Zehen 
tragenden Mittelfusses finden wir nur den langen Kno- 
chen ce und an seinem untern Ende einen kleinen Trä- 
ger der vierten Zehe. Die frühere Beschreibung 
begnügte sich, zu sagen, dass der Lauf (c) Fusswurzel 


und Mittelfuss ersetzt. Dem ist aber nicht so, sondern 5 


der Vogel im Ei zeigt (B), dass das Vogelbein aus 
dem Oberschenkel (a), dem Unterschenkel (b), zwei 
Fusswurzelknochen (m n), drei oder vier Mittelfuss- 
knochen (c) und den Zehen besteht, dass der obere 
Fusswurzelknochen mit dem Unterschenkel und der 


ae 


gendes Beispiel ist etwas 
wieriger. Die ver- 
chende Anatomie ver- 
g ohne die Entwicke- 
jgsgeschichte nicht zu 
klären, warum der 
ensch drei Gehörknö- 
helchen, der Vogel nur 
nen besitzt. Die Entwik- 
elungsgeschichte zeigt, 
dass aus dem Material, 
elches beim Menschen 
u Hammer und Amboss 
2 erwendet wird, beim 


chädeltheile hervor- 
gehen, die mit dem 

rate wenig 

_ odernichts zu thunhaben. 


chichte, welche den 
Aufbau des Organismus 
ar veschreibt, ist Schritt 
ir, Schritt eine Leuchte 
Y de vergleichende Ana- 
mie. Auch sie bleibt 
' sich auf dem Range 
X ner blos beschreibenden 
Disciplin stehen. Wenn 
wir nun aber wahrneh- 


re mit den unter sich verschmelzenden Mittelfuss- 
eilen verwächst. Erst damit ist die richtige Auf- 


ogel ein paar andere 


nicht die Ursache des Pioibestände: gegeben. Fol- 


P2 


Beeren 


Pr 


5 


Sem nr 


en 1% 


10 - Stellung der Paläontologie. 
Entwickelung Zustände durchläuft, welche in den aus- 
gewachsenen Formen der niedrigen Wirbelthiere fixirt 
bleiben, so werden wir damit auf einen vor der Hand 


geheimnissvollen Zusammenhang der Entwickelung des 
Individuums mit dem Gesammtbestand der Thierwelt 


hingewiesen, der eine wissenschaftliche Lösung, eine 
Zurückführung auf Ursachen verlangt, und dies um 
so dringender, als eine dritte Reihe von Erscheinungen, 
deren erste Bewältigung ebenfalls der Naturbeschrei- 


bung angehört, diese noch unenthüllten Beziehungen 
noch wahrscheinlicher macht. Das ist der Befund der 


 Vorwelt. 

Zur unerlässlichen Grundlage, auf der wir operiren, 
gehört also auch Kenntniss der paläontologischen That- 
sachen. Die Geologie ist vor vierzig Jahren in das 
richtige Fahrwasser gebracht worden. Wir wissen jetzt, 
dass die Erde nicht ruckweise, sondern in ganz all- 


mählicher Aus- und Umbildung entstanden; wir dür- 


fen, ja wir müssen schliessen, dass das Leben zu 


einem gewissen Zeitpunkte der Abkühlung auf natür- 
lichem Wege, d. h. ohne einen unbegreiflichen Schöpfungs- 


act erschien, und wir sehen während jener langsamen 


Veränderung der Erdrinde auch die Lebewesen allmäh- 


lich anwachsen, sich specificiren und vervollkommnen. 


Noch mehr! Wie zuerst einer der eifrigsten Gegner 
der Descendenztheorie, Agassiz, im einzelnen über- 


zeugend nachgewiesen: wir erblicken die paläontolo- 
gischen oder historischen Reihen der Organismen in 


ähnlicher Aufeinanderfolge, wie die Entwickelungs- 
phasen des Individuums. Noch sind hier ungeheuere 
Lücken durch spätere Beobachtung auszufüllen, wenn 


nicht überhaupt an vielen Enden an diesem Gelingen 


zu verzweifeln ist. Dass der paläontologische Ent- 


wickelungsgang aber im allgemeinen der bezeichnete 
ist, suchen nur solche Naturforscher zu bestreiten, 


welche, wie Barrande, seit Jahrzehnten in uner- 
schütterlichen Ueberzeugungen wie ım Glauben an 
Dogmen sich festgefahren haben. 


Su Lei 


Wesen der Descendenzlehre, 11 


Diese aufeinander hindeutenden Gruppen von That- 
sachen muss natürlich derjenige einigermassen. über- 
sehen, der sie verstehen will. Mit andern Worten, 
_ wir müssen erst eine Umschau über dieses ungeheuere 
Material halten, ehe wir uns mit der Zauberformel 
beschäftigen können, welche dasselbe sichtet und zum . 
_  WVerständniss bringt. Gross ist das Mühen, aber auch 
herrlich der Lohn! Denn das dem menschlichen Geiste 
_ inne wohnende Verlangen nach der Erkenntniss der 
Ursachen, das Causalitätsbedürfniss, wird bezüglich der 
Welt der Organismen einzig und allein durch die 
 Descendenzlehre gestillt. Wir halten sie noch nicht 
für vollkommen, sie bleibt uns in vielen speciellen 
Fällen noch die Antwort schuldig, sie erfüllt aber ım 
ganzen, was irgend eine geniale Theorie gethan: sie 
erklärt aus einem Princip jene grossen Erscheinungs- 
reihen, welche ohne sie Anhäufungen von unbegriffenen 
‘ Wundern bleiben. Sie macht überhaupt erst die or- 
ganischen Naturwissenschaften zur Wissenschaft. Gar 
vieles nennt sich noch heute Wissenschaft, was nur 
handwerksmässig erworbenes Wissen ist. Indem aber 
die Descendenzlehre das Leben umfasst, kann sie vor 

| dem Menschen nicht stehen bleiben. Selbst wenn man 
- über den Ursprung der Sprache unklar wäre oder so- 
ri gar die gänzliche Unwissenheit über diesen Punkt zu- 
gestehen müsste, so dürfte man aus dem Vorhandensein 


der Sprache nicht die Unanwendbarkeit der Abstam- 
 mungslehre auf den Menschen herleiten, ohne, wie uns 
scheint, die Kette der Verstandesoperationen willkür- 
lich abzubrechen. 

Ei Hier nun kehren wir zu der oben bezeichneten Vor- 
-- frage nach: den Grenzen der Naturforschung zurück. 
= Sie ist um so wichtiger, als der Naturforschung oft 
3 von unbefuster Seite der Vorwurf der Grenzüber- 
_  schreitung gemacht wird. Der Leichtsinn der Logik, 
_ mit welcher diese Vorwürfe der grossen Menge plau- 
_  sibel gemacht werden, übersteigt alles Erlaubte. Wir 


schlagen z. B. die „Apologetischen Vorträge über die 


12 Naturforschung und Wunder. 


Grundwahrheiten des Christenthums“ von Luthart 
auf und sehen, wie dieser Mann die Wirklichkeit der 
Wunder verficht. ‚Die Wunder“, sagt er, „sind nicht 3 
einmal Wunder! Es ist nicht inınal an dem, dass Br 
das Wunder die Naturgesetze selbst aufhebt, sonder = 


> 
es entnimmt nur a Vorgänge jenen Gesetzen e> 
und stellt sie unter das Gesetz eines höhern Willens 
und einer höhern Kraft. Wir haben im niedern Ge- 
biete viele Analogien dafür. Wenn mein Arm einen 


Stein in die Luft schleudert, so ist das wider die 


Dyc 
13 £ 


Natur des Steins und nicht eine Wirkung des Gesetzes 
der Anziehung, sondern es tritt eine höhere Kraft und “3 
ein höherer Wille ein, .der Wirkungen hervorbringt, 
welche nicht Wirkungen der niedrigen Kräfte sind. 
Damit werden diese Kräfte und Gesetze nicht aufge- 
hoben, sondern bleiben bestehen.“ Verweilen wir hier 
einen Augenblick. Zu sagen, es sei wider die Natur 
des Steins, dass die Muskelthätigkeit für einige Mo- 
mente scheinbar die Schwere überwindet, ist ein phy-> 
sikalischer Unsinn. Der Stein bleibt eben schwer und 
durchaus innerhalb seiner Natur, auch während er in 
der Wurfbewegung sich befindet, und es ist völlig un- 
gerechtfertigt und sophistisch, von der Muskelkraft 
als einer höhern Kraft der Schwere gegenüber zu 

faseln.. Wenn der Stein zwei Centner wiegt, wo bleibt 

denn da die höhere Kraft? Nachdem aber der Ver- 

treter des Uebernatürlichen seine Hörer durch diese 

ganz verwerfliche Analogie irre geführt und vorbereitet 
hat, fährt er fort: „So tritt beim Wunder eine höhere 
Causalität wirkend ein und ruft eine Wirkung hervor, 
welche nicht Wirkung des Zusammenhangs jener nie- 
drigern Causalitäten ist, wohl aber nachher diesem 
Zusammenhange sich fügt. Diese höhere Causalitätt 
aber fällt im letzten Grunde zusammen mit den höch- 
sten sittlichen Zwecken des Daseins. Ihnen zu dienen 
ist der höchte und schönste Lauf der Natur. Steht 
also das Wunder hiermit im Zusammenhange, ist es 
sittlich bedingt und nicht willkürlich, so ist es nicht 


Be" TE A a Pu, 
et 5 


Wahrheit und Wissen. 13 
_ wider die Natur und ihre Bestimmung, sondern im 
_ höhern Sinne derselben gemäss.“ Sobald also die 
- Wundergläubigkeit mit der Naturforschung in Conflict 
_ geräth, sagt sie: „Du überschreitest deine Grenzen 
_ und hast dein Urtheil hier zu suspendiren. Es han- 
delt sich um einen höhern sittlichen Zweck, das Ge- 
 biet der Ethik ıst höher als das der Physik, und des- 
halb hat eine höhere Causalität, deren Beurtheilung 
_ nicht Sache der Physiker, die euch Naturforschern 
 geläufige Verkettung von Ursache und Wirkung auf- 
gehoben.“ Jene Stelle!, worin einer der gelehrtesten 
- und verehrtesten Vertheidiger des Wunderglaubens trotz 
einem Sophisten die Naturforschung über ihre Grenzen 
belehrt, gehört noch zum Glimpflichsten, was in die- 
_ ser Art geleistet wird. Unsere Anschauungsweise und 
Logik ist aber darin fundamental von derjenigen der 
Gegner dieses Schlages verschieden, dass uns der 
- Gegensatz zum Wissen das Nichtwissen ist, während 
jene das Wissen durch ein sogenanntes höheres Wissen 
und durch den Glauben ergänzen. 

Indem man sich an den Ausspruch eines Picus von 
Mirandola hält: „die Philosophie sucht, die Theologie 
findet, die Religion besitzt die Wahrheit“ ?, vergisst 

man, dass Wahrheit und Wahrheit sehr verschiedene 
_ Dinge sind. Die subjectiven Gesichte und Tonempfin- 
' dungen, von denen Geisteskranke erregt und geängstigt 
_ werden, sind für sie Realität, und "doch eine ganz 
_ andere, als die Bilder und Töne, die man mit gesun- 
den nn eswerkzengen anne. Philosophie und 
2 Wissenschaft adchen die Wahrheit, welche sich aus 
_ dem erfassbaren Zusammenhange der Dinge ergibt. 
_ Die andern Wahrheiten, Nele die erste so oft negi- 
3 ren, pflegen aber unfassbar zu sein und sind zu den 
enschaftlichen Wahrheiten incommensurabel. Wir 
e es daher bei Goethe’s Worten: 
B: Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, 
m Hat auch Religion; 


Wer jene beiden nicht besitzt, 
Der habe Religion. 


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14 Grenzen der Forschung. “ 


Und nun, nachdem wir unberufene Einwendung und 


Gefecht mit zweideutigen Begriffen vorläufig abgewie- 
sen, können wir uns die Grenzen der Naturwissen- 
schaft ruhig ansehen. Halten wir uns dabei einmal an 
den mit grossem Beifall aufgenommenen Vortrag, 


welchen der Physiolog Dubois-Reymond bei der 
50. Versammlung der deutschen Naturforscher und 


Aerzte hielt. Es wurde darin auf eine Stelle aus einem 
der classischen Werke von Laplace in der Einleitung 
zur Theorie der Wissenschaft hingewiesen, die wir uns 
nicht versagen können vollinhaltlich mitzutheilen. Der 
Verfasser der Mechanik des Himmels sagt: „Die gegen- 


wärtigen Ereignisse sind mit den vergangenen durch 


ein Band verknüpft, welches auf dem augenschein- 
lichen Princip beruht, dass ein Ding nicht anfangen 
kann zu sein, ohne eine Ursache, welche es hervor- 


bringt. Dieser unter dem Namen des Principes von 


der ausreichenden Ursache bekannte Grundsatz dehnt 
sich auch auf solche Ereignisse aus, die man für nicht 
davon berührt hält. Auch nicht der freieste Wille 
kann ohne ein bestimmendes Motiv sie hervorrufen.“ 
„Wir müssen also den gegenwärtigen Zustand des Welt- 
alls als die Folge seines frühern Zustandes und als die 


Ursache des folgenden betrachten. Ein Geist, der für 


einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche 
die Natur beleben, und das gegenseitige Verhältniss 
der dieselben zusammensetzenden Wesen, ein Geist, 
der ausserdem eine hinreichende Fassungskraft besässe, 
um alle jene Thatsachen der Analyse zu unterziehen, 
würde die Bewegungen der grössten Weltkörper und 
die des leichtesten Atomes unter eine Formel bringen 


können: nichts wäre für ıhn ungewiss, und die Zu- 
kunft wie die Vergangenheit läge offen vor seinen 


Augen. Der menschliche Geist bietet in der Vollendung, 
welche er der Astronomie zu geben verstanden hat, 
ein schwaches Abbild jenes Geistes dar.“ „Alle An- 
strengungen des menschlichen Geistes in dem Suchen 
nach Wahrheit gehen darauf hin, sich jenem soeben 


Arsen. ri 


—— > 


Or 


Naturwissenschaftliches Erkennen. 1 


_ von uns dargestellten Geiste zu nähern; er wird aber 
immer unendlich von ihm entfernt bleiben.“ Der ber- 
 liner Physiolog eitirt hierzu das Faustische: „du gleichst 
_ dem Geist, den du begreifst“, und meint, dass dem 
g Er schliechen Geiste also nicht principiell de Einsicht 
in die Weltformel verschlossen sei. Wir gestehen aber, 
dass uns an einer principiellen Vollkommenheit, die 
Er in die Erscheinung tritt, herzlich wenig gelegen 
ist, und sehen jedenfalls in der Unerreichbarkeit jener 
= Ebelhaften Weltformel eine leicht zu verschmerzende 
i Grenze der menschlichen Forschung. Aber abgesehen 
von dem zweifelhaften Troste mit der Weltformel wer- 
* den wir Dubois-Reymond beistimmen müssen, wenn 
_ er die Grenzen, vor welchen jene höchste denkbare 
ae Halt machen muss, auch für den mensch- 
lichen Geist als unübersteiglich hält. 
, In Uebereinstimmung mit den jetzt herrschenden 
Ansichten der Physiker und Biologen hat Dubois- 
Reymond diese eine der Naturforschung gezogene 
Grenze dahin formulirt®: „Das oben näher bestimmte 
naturwissenschaftliche Erkennen ist kein wahres Er- 
kennen. Beim Versuche, das Constante, worauf die 
Veränderungen in der Körperwelt zurückgeführt sind, 
zu begreifen, stösst man auf unlösliche Widersprüche. 
Ein Atom, als kleine, untheilbare, wirkungslose Masse 
gedacht, von der Kräfte ausgehen, ist ein Unding. 
In der Unmöglichkeit, das Wesen von Materie und 
; Kraft zu begreifen, liest also die eine Grenze des 
8: naturwissenschaftlichen Erkennens.“ Diese Sätze be- 
%: dürfen einiger Erläuterungen. Ueber die Ir 


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En Mestoklerrd denken. Dieser Atome hat man nach 
dem jetzigen Standpunkt der Wissenschaft so viele 


verschiedene Arten anzunehmen, als chemisch nicht 
& weiter zerlegbare einfache Stoffe bekannt sind. Es 


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ist nun kein Zweifel, dass diese Atome im eigentlich- 
- sten Sinne des Wortes imaginäre, hypothetische Grössen 


16 Begreiflichkeit des Draaseen 


sind, wie denn die Theorie darauf zu leiten scheint, 
“ dass aller Materie in den verschiedensten Erscheinungs-- 
weisen der Körperwelt nur eine einzige Atomenart zu 
Grunde läge. Man kann sich in einem jeden Lehr- 
buch der Physik oder’ Physiologie überzeugen, dass, 
um die Eigenschaften dieser Atome und ihrer Verbin- 
dungen zu Bestandtheilen zusammengesetzter und che- 
misch zerlegbarer Körper sich klar zu machen und 
zu berechnen, man sie unter verschiedenen körper- 
lichen Gestalten, kugelig, kubisch u. s. w. bildlich 
darstellt, ferner, dass man sie in ihrem Zusammen- 
treten und Zusammenwirken als Körper umgeben den- 
ken muss von einer minimalen Atmosphäre eines all- 
verbreiteten Aetherstoffes. Allein das Atom an sich 
und damit das Wesen der Materie ist etwas unvor- 
stellbares, unerreichbares. Es inhäriren diesen Atomen 
Kräfte, welche sich in Anziehungen und Abstossungen, 
überhaupt in Bewegung äussern. Was aber die tiefste 
Ursache dieser Bewegungen und inwiefern diese Be- 
wegungen mit der Existenz der Atome gleichsam Eins 
sind, gehört mit zur Unbegreiflichkeit des Stoffes. 
„Setzen wir uns darüber fort“, sagt Dubois-Rey- 
mond weiter, „so ist das Weltall zunächst begreiflich. 
Auch durch das Auftreten von Leben an sich auf 
Erden wird es noch nicht unbegreiflich. Denn Leben 
an sich ist vom Standpunkte der theoretischen Natur-- 
forschung betrachtet nichts als Anordnung von Mole- 
keln in mehr oder minder festen Gleichgewichtslagen, 
und Einleitung eines Stoffwechsels theils durch deren 
Spannkräfte, theils durch von aussen übertragene Be- 
wegung. Es ist ein Misverständniss, hier etwas Super-- 
naturalistisches zu sehen.“ Dieser Punkt pflest am 
heftigsten bestritten zu werden. Wenn man alle Be- 
wegungen und Ruhezustände der unbelebten Welt der 
Erklärung preisgibt: mit des Lebens Grunde soll das 
Unerklärliche beginnen. Was man mit dieser Annahme 
der Urtheilskraft zumuthet, lässt sich mit den Worten 
eines andern gediegenen und besonnenen Physiologen, 


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ialsmaue. Mechanische Auffassung. _ 17 


Ss 


F zu folgender Frage formuliren: „Ist die 
arakteristik eines solchen Theilchens, wie sie vorhin 


noch gültig und zureichend, während welcher es in einem 
Organismus verweilt? Wird also z. B. die Bewegung 
_ eines Sauerstofftheilchens durch ein benachbartes Wasser- 
3 ‚stofftheilchen noch nach denselben Gesetzen beeinflusst 
und verändert, wenn beide oder eins davon Theil 
eines Örganismus ist, wie ausserhalb?‘ Wenn man 
dies verneint, Dekdans man sich zur vitalistischen 
_ Lebensauflassung, das heisst, man nimmt seine Zuflucht 
_ zu unbekannten, ganz Vi der Materie liegenden 
2 "Kräften, man gibt zu, dass ein und dasselbe Theilchen, 
‚Je nachdem es innerhalb oder ausserhalb des Organis- 
mus sich befindet, seine Natur ändern könne, mit an- 
£ _ dern Worten: man statuirt ein Wunder. Wägt man 
_ diese Ansicht gegen die physikalische ab, „welche in 
ihrer Vollendung jeden organischen Process zu einem 
_ Problem der reinen Mechanik macht“, so kann man 
dies mit den gewiss unparteiischen Worken des eben 
citirten Naturforschers thun: „Ich glaube, die mecha- 
nische Ansicht vom organischen Leben ist erst dann 
bewiesen, wenn alle Bewegungen im Organismus wirk- 
lich aufgezeigt sind als Wirkungen der den Atomen 
_ auch sonst inne wohnenden Kräfte. Ebenso würde ich 
aber auch dann die vitalistische Ansicht für erwiesen 
- halten, wenn in irgendeinem Falle die mechanische 
möglichkeit einer bestimmten, im Organismus als wirk- 
lich bachteien Bewegung ip: wäre. Weder an 
das eine noch an das are ıst vor der Hand zu 
- denken. Gleichwol bekenne ich mich, wenn einmal 
ohne vollständigen Beweis entschieden werden muss, 


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- ganz unbedenklich einstweilen zur mechanischen An- 
or 

sicht. Sie empfiehlt sich nicht blos durch ihre grössere 
- Wahrscheinlichkeit und Einfachheit a pröori, sie wird 
_ vielmehr durch den Entwickelungsgang der Wissen- 
schaft fast zur Gewissheit. Wenn man sieht, wie ge- 
"wisse Erscheinungen — man denke nur z. B. an die 
ScHuiDr, Descendenzlehre. 2 


18 Wärme und Bewegung. 


Bildung der thierischen Wärme, die man früher nicht 
ohne die Lebenskraft erklären zu können glaubte, jetzt 
selbst von solchen, die im allgemeinen eine eigen- 
thümliche Lebenskraft annehmen, den überall wirk- 
samen Kräften der materiellen Theilchen zugeschrieben 
werden, so sieht man sich fast zur Ueberzeu- 
gung gedrängt, dass nach und nach alle Er- 
scheinungen des Lebens einer mechanischen 
Erklärung zugänglich werden müssen.“ Fügen 
wir zur Erläuterung des eben gegebenen Beispiels von 
der thierischen Wärme hinzu, dass die neuere Physik 
die Wärme als eine besondere Art der Bewegung 
kennen gelernt hat. Die Bewegung des auf den Am- 
boss fallenden Hammers geht nicht verloren, sondern 
wird in die zwar unsichtbare, aber als Wärme fühl- 
bare Atomenbewegung der getroffenen Stellen umgesetzt. 
Aber auch die Vereinigung der Theilchen des in der 
Athmung des Thierleibes eingeführten Sauerstoffes mit 
gewissen sauerstoffarmen Blutbestandtheilen ist eine 
der Berechnung unterliegende Bewegung, welche als 
Oxydation, Verbrennung oder als Entwickelung der 
thierischen Wärme. sich äussert. Dieser chemisch- 
mechanische Act der ‘Verbrennung unterhält die thie- 
rische Dampfmaschine in Bewegung. Auf diesem Wege 
der Anwendung der mechanischen Principien hat also 
die neuere Physiologie eine grosse Anzahl von Vor- 
gängen im Organismus auf ihre Ursachen zurückgeführt; 
und das Gespenst Lebenskraft, welches sonst den ganzen 
Darmkanal beherrschte, die Drüsenzellen und Muskel- 
fasern zu ihrer Thätigkeit antrieb und an den Nerven 
hinglitt, weiss kaum noch, wo es sein Unwesen trei- 
ben soll. 

Die Naturforschung scheut also nicht zurück vor 
der Einreihung des Lebens und der Lebensprocesse in 
die Welt des Begreiflichen. Wir scheitern erst am 
Begriff der Materie und der Kraft überhaupt. Wir 
sind aber viel weiter als Schopenhauer und seine 
Anhänger, die für den Begriff der Kraft den des 


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. Bewusstsein. - 19 


Eillens ei weil wir eine Menge von Vor- 
 gängen, die das an sich unverständliche Wort ‚Wille‘ 


in ihrer Ganzheit erklären soll, in ihre einzelnen sich 
u Momente aufgelöst haben, und auch viel 


weiter als der Modephilosoph von heute, v. Hartmann, 


_ der auf dem Gebiete der organischen Welt mit den 


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Wirkungen des „Unbewussten‘‘ uns abspeist. 

„Und doch“, so formulirt Dubois-Reymond, eine 
abermalige Grenze, „tritt ein neues Unbegreifliches ein 
in Gestalt des Bewusstseins, auch schon in seiner nie- 


 dersten Form, der Empfindung von Lust und Unlust. 
Es ist ein für allemal unbegreiflich, wie es einem 
Haufen Molekeln, Stickstoff, Sauerstoff, Wasserstoff, 
Kohlenstoff, Phosphor u. s. w. nicht gleichgultie sein 
_ kann, wie sie liegen und sich ‚bewegen; hier ist also 


die ie re naturwissenschaftlichen Erkennens. 


Selbst der von Laplace gedachte Geist kann nicht 


darüber hinaus, geschweige der unserige. Ob übrigens 
die beiden, dem naturwissenschaftlichen Erkennen ge- 
zogenen Schranken vielleicht nur eine und dieselbe 
sind, lässt sich nicht entscheiden.“ Mit diesen letzten 
Worten wird die Möglichkeit angedeutet, dass das 
Bewusstsein ein Attribut der Materie sei oder zur 
Wesenheit der Atome gehöre. Und da dürfen wir 


denn hinzufügen, dass der Versuch, den Empfindungs- 


process zu verallgemeinern und als eine allgemeine 
Eigenschaft der Materie darzulegen, in neuester Zeit 
wiederholt gemacht ist, so von Zöllner in seinem, so 
 gerechtes Aufsehen erregenden Werke über die Natur 
der Kometen. Derselbe meint, wenn man vermöge 
feiner ausgebildeter Sinnesorgane die Molecularbewe- 
_ gungen in einem Krystalle beobachten könnte, wenn 


derselbe an irgend einer Stelle mechanisch verletzt wird, 


- so würde man nicht unbedingt verneinen können, dass 
_ die hierdurch erregten Bewegungen absolut ohne gleich- 


zeitige Erregung von Empfindungen stattfinden. Man 


RER 7 


müsse entweder verzichten auf die Begreiflichkeit des 
 Empfindungsphänomenes in den Organismen, oder „die 


2*F 


20 Empfindung ein Attribut der Materie. 


allgemeinen Eigenschaften der Materie hypothetisch um 


eine solche vermehren, welche die einfachsten und 
elementarsten Vorgänge der Natur unter einen gleich- 
mässig damit verbundenen Empfindungsprocess stellt.‘ 


Man könnte meinen, dass man mit derartigen Be- % 
trachtungen an die trügerischen Abgründe der Specu- 


lation geleitet würde; wenn wir aber, um bei den 
Organismen zu bleiben, von den durch die Lust- oder 
Unlustempfindungen geleiteten Aeusserungen des höhern 


Bewusstseins des Menschen und der höhern Thiere 


immer tiefer hinabgehen, bis wir bei den einfachsten 
Protoplasmageschöpfen alle Reaction auf äussere Reize 


sich in kaum wahrnehmbare Bewegung verlieren sehen, 


so ıst klar, dass hier weder von einem Bewusstsein, 
noch von einem Willen die Rede sein kann. Wir 


können da den Begriff der zu den Bewegungen an- 
regenden Lust- oder Unlustempfindungen nicht loslösen 


von den Elementareigenschaften der Materie, wie wir 
dies im Gebiete der höhern Thiere zu thun gewohnt 
sind’. 


Ganz in diesem Sinne hat schon vor mehreren Jah-: 


ren einer der genialsten Sprachforscher, der leider 


schon dahingegangene Lazarus Geiger gesagt‘): „Aber 


wie, wenn weiter hinab, wenn jenseit der Ner- 
venwelt eine Empfindung vorhanden wäre, die wir 
nicht mehr verstehen? Und es muss wol so sein. 


Denn so wenig wie ein Körper möglich wäre, den wir 
fühlen, ohne dass er aus Atomen bestände, die wir 


nicht fühlen; und so wenig wir eine Bewegung sehen 
könnten, wenn sie nicht von Lichtwellen begleitet wäre, 
die wir nicht sehen: ebenso wenig würde in .einem 
complicirten lebendigen Wesen eine Empfindung zu 


Stande kommen, so stark, dass wir sie infolge der 
Bewegung, durch die sich Bussert, mitempfinden, wenn 
nicht in den Elementen, in den Atomen etwas Aehn- 
liches, nur weit Schwächeres vor sich ginge, was sich 
uns entzieht. Man bedenke nur, dass wir ebenso wenig 
wissen können, dass der fallende Stein nichts empfindet, 


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Eu. ‚dass er empfindet: es steht uns also die Entschei- 
dung nach der Seite der grössern Wahrscheinlichkeit, 
& der Erklärlichkeit des Weltganzen, völlig offen.“ 

Br! Wir haben die Grenzen, welche sich die Natur- 
forschung zieht, begangen. "Weit gefehlt, dass das 
Ei Organische sich als ein unbegreifliches Etwas vor uns 
SR aufrichtete, ladet es vielmehr zur Ergründung seines 
Wesens ein und verspricht noch Licht zurückzustrahlen 
auf die Welt des Unlebendigen. Wir dürfen nun den 
_ Rundgang durch einen grossen Theil der lebendigen 
= Natur antreten, bei dessen Beendigung wir zu dem- 
selben Resultate gelangt sein werden, welches sich 
- auch dem Sprachforscher — wir citiren nochmals seine 
Worte — mit unumstösslicher Gewissheit aus histori- 
= schen Betrachtungen ergeben: dass der Mensch aus 
einer niedrigern, thierischen Stufe emporgestiegen sei. 


Er». II. 
Die Thierwelt in ihrem gegenwärtigen Bestande. 


Um der Descendenzlehre näher zu treten und das Be- 
_ dürfniss nach derselben vorzubereiten, haben wir uns 
= vorgenommen, zunächst einen Haupttheil ihres Objectes, 
= ‚den gegenwärtigen Bestand der Thierwelt in allge- 
= meinen Zügen uns vorzuführen. Die er unter- 


> heinungen, welche an die rer che Auf- 
re nahme und Abgabe von Stoffen gebunden sind. Die 
 Theilchen, an welchen die Umwandlungen, in letzter 
_ Instanz Molecularbewegungen, daher berechenbar, be- 
 stimmbar, der Untersuchung zugänglich, ablaufen, be- 

finden ie im Zustande der Quellung, das heisst, sind 
 durchtränkt mit Wasser und wasserhaltigen Flüssig- 
_ keiten, und dieser, obwol eigenthümliche, doch rein 


22 Organismus. Niedere Lebewesen. 


mechanische Zustand reicht aus, um die Nothwendig- 
keit einer Reihe von Erscheinungen des Lebens zu 
erklären und zu verstehen. Die Erfahrung lehrt, dass 
diese Quellbarkeit und Beweglichkeit wesentlich an 
den Verbindungen des Kohlenstofis haftet, und eben 
die Summe jener Bewegungen und Umsetzungen, von 
denen ein grosser Theil schon der mathematisch sichern 


Erforschung zugänglich gewesen, wird Leben genannt. 


Man kann sich’nun des Eindruckes gar nicht erwehren, 
dass es einfache und zusammengesetzte, niedere und 
höhere Lebewesen gibt; auch fühlt man mehr, als 
dass man ihn in Worte fassen kann, einen gewissen 
Gegensatz zwischen Pflanze und Thier. Poetisch auf- 
gefasst ıst die Pflanze der passive Organismus, wie 
ihn Rückert schildert: 


Ich bin die Blum’ im Garten 

Und muss in Demuth warten, 
Wann und auf welche Weise 

Du trittst in meine Kreise. 


Der Gegensatz der duldenden, in sich gekehrten 
Pflanze zu dem seiner Haut sich, wehrenden, handeln- 
den Thiere verliert aber an Schärfe, je tiefer wir die 
Stufenleiter beider Reiche hinabsteigen. Das höher 
entwickelte Thier bekundet seine Thierheit durch die 
Lebhaftigkeit, mit welcher es gegen äussere Einwir- 
kungen und Reize reagirt. Die Lebenserscheinungen 
niederer Thiere werden mehr vegetativen Charakters, und 
bei vielen Gruppen niederer Wesen, welche Haeckel 
neuerlich unter dem Namen Protisten zusammen- 
gefasst hat, sehen wir zwar die Processe des Stoff- 
wechsels, der Ernährung und Fortpflanzung ablaufen, 
aber in so einfacher und indifferenter Weise, dass wir 
diesen Wesen auch eine indifferente Stellung zwischen 
Pflanzen und Thieren anweisen müssen. Wir gewinnen 
die Ueberzeugung, dass die Wurzeln von Pflanzen- 
und Thierreich nicht voneinander völlig gesondert sind, 
sondern, um im Vergleich zu bleiben, durch Ver- 


; 
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3 


Protisten. 93 


& mittelung eines Zwischengeflechtes unverkennbar inein- 
_ ander übergehen. In diesem Mittelreiche ist der viel- 
-  verspottete „Urschleim‘“ der Naturphilosophen wieder 


zu Ehren gekommen. Viele tausend Kubikmeilen 
Meeresboden bestehen aus einem seifig anzufühlenden 
Schlamm oder Schlick, zusammengesetzt theils aus 
offenbar erdigen, unorganischen Theilen, theils aus 
eigenthümlich geformten, ihrem Wesen nach vielleicht 


noch zweifelhaften Kalkkörperchen (den Coccolithen 


und Rhabdolithen), endlich, was die Hauptsache, aus 


_ einer eiweissartigen Substanz, welche lebt. Dieser 


lebende Schleim, der sogenannte Bathybius, zeigt 
nicht einmal Individualität oder Abgeschlossenheit des 
Einzelwesens, er gleicht den formlosen Mineralsub- 
stanzen, von denen jedes Partikelchen die Merkmale 


der Gesammtmasse an sich trägt. 


Der Begriff des Organismus, als des aus verschie- 
denen Theilen mit verschiedenen Leistungen oder 
Funetionen zusammengesetzten, unter bestimmter sich 
entwickelnder Form erscheinenden Wesens, ist unserm 
Zeitalter noch so anerzogen und inhärent, dass wir 
uns nur mit grosser Anstrengung in die Vorstellung 
der absolut formlosen und unbegrenzten oder zufällig 
und willkürlich begrenzten lebendigen Masse hinein- 
versetzen können, Wer dies nicht kann und will, 
halte sich an ein anderes einfaches Lebewesen, z. B. 
Haeckel's „Protamoeba“ Ein Eiweissklümpchen 
wächst durch Nahrungsaufnahme und Stoffaneignung 


bis zu einem gewissen Umfange; dann pflanzt es sich 


fort, indem es sich in zwei Hälften durchschnürt. Für 
unsere Beobachtungsmittel sind diese und ähnliche 
Wesen die einfachsten Organismen ohne Organe. Wir 
lassen jedoch, indem wir die Grenzen der Untersuchung, 
bedingt durch die unzulänglichen Beobachtungsmittel, 
betonen, Rollet's Einwurf gelten’, dass unser Ver- 
stand solche homogene Organismen, welche nur ver- 
möge ihrer atomistischen Constitution sämmtliche 
Lebensfunctionen vollziehen, eigentlich nicht zugeben 


Fr . nr 


94 Protisten. 


kann, dass es sich um den noch gänzlich unbekannten 
Bau der aus dem Zusammentritt der Atome hervor- 
gehenden Molecüle handle, und dass wir, wenn Brücke 
sagt: „Wir müssen den lebenden Zellen, abgesehen 


von der Molecularstructur noch eine in anderer Weise 
complicirte Structur zuschreiben, und diese ist es, 


welche wir mit dem Namen Organisation bezeichnen“, 


dass wir diese uns noch unbekannte Zusammensetzung 


auch den Haeckel’schen Moneren zuschreiben müssen. 

Aber diese Complication der Molecularstrucetur bei- 
seite ist es für die Erforschung der belebten Natur 
von höchster Wichtigkeit, solche für das bewaffnete 
Auge und die anatomischen Hülfsmittel einfachste Kör- 
per kennen gelernt zu haben. Die Substanz, welche 
ihnen ihr Gepräge verleiht, findet sich sowol in den 
Pflanzen als in den Thieren wieder, und Pflanzen und 
Thiere sind uns nun zwei Klassen von Organismen, in 
denen die Vorgänge der Selbsterhaltung und der Fort- 
pflanzung durch die Sonderung der ursprünglich homo- 
genen Substanz in verschiedene Formgebilde und Or- 
gane nach verschiedenen Seiten hin den Charakter 
einer höhern Zusammensetzung und Ausbildung an- 
genommen haben. 

Da wir noch Gelegenheit haben, uns über die An- 
fänge des thierischen Lebens und seine Berührungs- 
punkte mit den Protisten und Pflanzen auszusprechen, 
wollen wir uns aus dem Felde der Grenzstreitigkeiten 
gleich mitten in die Fülle der Thierwelt versetzen, um 
sie sichtend und ordnend zu bewältigen. Dem ersten 
Eindruck der unendlichen Mannichfaltigkeit folgt ein 
anderer, dass es niedrige und höhere Thiere gibt. Es 
herrscht darüber voller Einklang. Denn wenn man 
auch in, für uns ungültiger, teleologischer Betrachtung 
der Natur jedes Geschöpf an sich vollkommen, d. h. 
seinem Zweck oder seiner Idee entsprechend, nennen 
wollte, so nimmt jedermann es als etwas Gegebenes 


und Selbstverständliches hin, dass eine Werthscala 


besteht, ohne sich über das Mass, wonach dieselbe 


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Niedere und höhere Thiere. 5 


steigt und sinkt, Rechenschaft zu geben. Indessen 
_ wird dieser Masstab sich bei einer Vergleichung eines 


_  niedern mit einem höhern Thiere bald herausstellen. 


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Greifen wir den Süsswasserpolypen und die Biene 
heraus. 
Das einige Linien lange Thierchen, welches in un- 


_ sern Gewässern gewöhnlich an Pflanzen angeheftet 
lebt, ist ein Schlauch, dessen Wandungen aus zwei 
Zellenlagen, einer Muskellage und einem sogenannten 


Stützblatt bestehen, welches letztere dem Ganzen Zu- 
sammenhalt gibt und einem Skelet vergleichbar ist. 
Vier bis sechs ebenso gebaute Arme umstehen den 
Mund. In der Oberflächenschicht des Körpers befin- 
den sich zahlreiche nesseinde Bläschen, durch deren 
Berührung die in das Bereich des Polypen gerathenden 
kleinern Thierchen betäubt werden, sodass er sie leicht 
als Beute bewältigen kann. Das ist in kurzem der 
Bau dieses Thieres. Es hat kein ‚.Adersystem, keine 
besondern Athmungswerkzeuge, die Rolle der Nerven 
und Sinnesorgane wird durch die einzelnen Theile der 
Oberfläche übernommen. Seine Fortpflanzung bewerk- 
stelligt sich gewöhnlich durch das Hervorsprossen von 
Knospen, welche gereift abfallen; zeitweise auch durch 
die Producte sehr einfacher Geschlechtsorgane. 
Hiergegen reichen Stunden nicht aus, den Bau einer 
Biene zu beschreiben. Schon von aussen "verspricht 


ihr vielgegliederter Körper eine reiche Entfaltung des 


Innern. Ihre Fresswerkzeuge können erst durch Ver- 
gleichung mit den Mundtheilen der gesammten In- 
sektenwelt verständlich gemacht werden. Die ver- 
schiedenen Abtheilungen des Ernährungskanales wer- 
den je von besondern Drüsen begleitet. Das reiche 


- Seelenleben aber, all das von Auffassung der äussern 


Situation, Verständniss und Berechnung zeugende Trei- 
ben wird durch ein höchst entwickeltes Nervensystem 
und die damit verbundenen, bewundernswerth com- 
plieirten Sinnesorgane, namentlich die Augen, ermög- 
licht. Abgesehen endlich von den aus vielerlei Haupt- 


96 Systematischer Rang. 

und Nebentheilen bestehenden Fortpflanzungsorganen Q 
erfsrdert die Vermehrungs- und Entwickelungsgeschichte ri 
der Biene ein Studium für sich. = 


Es erscheint uns die Leistung und damit der Rang 
und Werth des Bienenkörpers um so viel höher, als 
diejenige des Polypen, als jener zusammengesetzter ist. 
Die grössere Complication und Mannichfaltiskeit der 
Theile liegt anatomisch vor, ebenso die höhere Ge- 
staltung des Lebens. Die höhere Energie des Daseins, 
die Leistungsfähigkeit und die Vollkommenheit der 
Biene im Gegensatz zur Aermlichkeit des Polypen ist 
ganz offenbar eine Folge oder richtiger ein Ausdruck 
der grössern mechanischen und physiologischen Ar- 
beitstheilung. Bei dem einen und dem andern Thiere 
verläuft das Leben in den Functionen der Selbst- 
erhaltung und der Erhaltung der Art oder der Fort- 
pflanzung, bei beiden ist der Kreis der Erscheinungen 
ein geschlossener, ein Ganzes, allein die Mittel der 
Ausführung sind sehr verschieden und darum auch der 
Gesammteffect. Wir haben aber in der Mannichfaltig- 
keit und Correlation der für die verschiedenen Lebens- 
äusserungen bestimmten Organe einen Masstab für 
den Rang der Thiere. Dieser Rang hat einen zwei- 
fachen Charakter, einen allgemeinen und einen spe- | 
ciellen. Mit andern Worten: der Platz eines Thieres R 
im System- wird einmal bestimmt durch die allgemei- 
nen Eigenschaften, welche es mit den in den Grund- 
zügen der Organisation übereinstimmenden Formen 
gemein hat, und zweitens durch die speciellern Kenn- 
zeichen, welche das Thier innerhalb seiner Stammes- 
verwandtschaft in Reihe und Glied stellen. Eine 
Einsicht in diese Gliederung des Thierreiches ist natür- 
lich unerlässlich, wenn man die Ursachen derselben 
prüfen und erkennen will; eine Darlegung davon ge- 
hört ganz eigentlich zu unserer Aufgabe. 

Seit dem Ausbau der Zoologie durch Cuvier im 
ersten Drittheil unsers Jahrhunderts hat sich unsere 
Wissenschaft mit dem schon weit früher von Buffon 


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4) ‚yon will Ya 


. e Typus und Stamm. | 97 


eingeführten Ausdruck „Typus“ oder „Grundform“ ver- 
_ traut gemacht. Von Cuvier wurde nämlich zuerst 
E: durch umfassende Zergliederungen und Vergleichungen 
der Nachweis geliefert, dass die Thiere nicht, wie 

man früher anzunehmen geneigt war, über einen Lei- 

sten geschlagen, nach einer Schablone gebaut seien, 
_ sondern dass sie in mehrere grosse Haufen zerfielen, in 
deren jedem eine eigenthümliche Beschaffenheit, An- 

“ordnung und Lagerung der Organe, kurz ein eigen- 

thümlicher Stil zum Ausdruck käme. Man nannte 
sowol das Ganze dieser charakteristischen Besonderheiten, 
als die Gesammtheit der hierin vereinigten Arten einen 
„Iypus‘ Es herr- — 
schen zwar über 
den Umfang mehrerer 
dieser Typen oder 
Stämme, wie wir sie 
schon jetzt nennen 
wollen, gegenwärtig 
noch verschiedene An- 
sichten, sehen wir aber 
von den zweifelhaften 
und vielfach verdäch- 
tigen Existenzen ab, 
die man grösstentheils 
als „Urthiere‘“ unter 
einen Hut bringt, so ist man über die folgende Zahl, 
weniger über die Reihenfolge der thierischen Typen 
als über diejenigen Gruppen einig, deren jede eine 
eigene Physiognomie und besondere Grundzüge des 
Baues besitzt. 

Der Stamm der Cölenteraten umfasst die Polypen 
und Quallen, auch steht ihm die interessante und für 
den directen Beweis der Abstammungslehre höchst er- 
giebige Klasse der Schwämme oder Spongien am näch- 
sten. Die Organe dieser Thiere sind fast immer kreis- 
förmig um eine durch den Rücken- und Bauchpol 
gehende Axe gestellt. Die Höhlung, welche man den 


a Be an A a 


Ei 
28 Die Stämme. 


meisten andern Thieren als Leibeshöhle bezeichnet, ; 


z. B. beim Menschen der Raum zwischen Darmwand 
und Leibeswand, mangelt ihnen, dagegen gehen in der 
Regel vom Magen aus allerlei Kanäle und Fächer, die 
in gewisser Weise die Leibeshöhle ersetzen. Fig. 2. 


Eine Qualle, Tiaropsis diadema nach Agassiz. Die 


dunkel schattirten Organe bilden den sogenannten 
cölenterischen Apparat. 

Von den Stachelhäutern sind dem Leser gewiss 
wenigstens die Seesterne und Seeigel bekannt, deren 
Gestalt im allgemeinen auch eine strahlige zu sein 
pflegt. Ausser einer eigenthümlichenKalkablagerung oder 
geringern oder stärkern Verkalkung der Hautbedeckun- 
gen kommt ihnen als Stammescharakter ein System 
von Wasserkanälen zu. Von diesen aus werden die 
Reihen von Bläschen gespeist, welche vorgestreckt und 
sich ansaugend, als Bewegungsorgane dienen. Cuvier 
glaubte wegen des vorherrschenden strahligen Baues 
Stachelhäuter, Quallen und Polypen näher verwandt, 
und hat sie alle zusammen unter dem Namen Strahl- 
thiere eingeführt; allein diese Aehnlichkeit ist eine 


nebensächliche, und wenn schon die Anatomie die 


grosse Verschiedenheit der Cölenteraten und Stachel- 


häuter aufdeckt, so verweist noch viel entschiedener 


- die Entwickelungsgeschichte unsere Stachelhäuter aus 
jener Nähe und setzt sie in engere Beziehung zur 
folgenden Abtheilung. - 

Mit dieser, den Würmern, hat der Systematiker 
der alten Schule sein wahres Kreuz, so verschieden- 
artig gehen sie auseinander, so gross ist der Abstand 
zwischen niedrigen und höhern Formen, so wenig bleibt 
nach Abzug der Ordnungs- und Klassenkennzeichen 
als gemeinsamer Charakter übrig, so buntscheckig end- 
lich ist die Schar vereinzelter kleinerer Thiergruppen 
und sogar einzelner Arten, welche Einlass begehren 
in das System der Würmer. Wenn wir ihr typisches 
Wesen in wenigen Worten auszudrücken versuchen, so 
"kann es etwa damit sein: die Würmer sind mehr oder 


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weniger gestreckte symmetrische Thiere, welche keine 


2 wirklichen Beine besitzen, sondern ihre Ortsbewegun- 
gen vermittelst einer mit den Hautbedeckungen eng 
 — werbundenen Muskulatur, die oft zu einem en 


Muskelschlauch wird, ausführen. Wir wollen hinzu- 
fügen, dass die systematischen Wirrnisse und Schwie- 


 rigkeiten sich für den Anhänger der Descendenzlehre 
 ın Quellen der Erkenntniss verwandeln. 


Die Beziehungen des vorigen Stammes zum Typus 
der Gliederthiere liegen so auf der Hand, dass die 


„Verwandtschaft‘‘ dieser beiden auch von den ältern 


Zoologen nie angezweifelt worden ist. Schon der Name 
der einen, höchsten Abtheilung der Würmer, der Glie- 
derwürmer, hat dies Verhältniss bezeichnet. Das Ge- 
präge der Krebse, Spinnen, Tausendfüsse, Insekten 
besteht darin, dass ihr Körper sich aus scharf vonein- 


‚ander abgesetzten Ringen oder Gliedern aufbaut, an 


welcher Gliederung die Beine, Fühlhörner und Mund- 
werkzeuge theilnehmen. Ein getreuer Ausdruck dieser 
äussern Segmentirune ist die Form des Nervensystems, 
welches strickleiterartig am Bauche, d. h. unter dem 
Darmkanal liegt, und nur mit seiner vordersten Schlinge 
den Schlund umfasst. Das Hervortreten der Gliederung 


wird dadurch begünstigt, dass durch Ablagerung einer 


hornigen Substanz die Hautbedeckungen skeletartig er- 
starren. 

Ganz das Gegentheil zeigen die Hautbedeckungen 
der Weichthiere, unserer Muscheln und Schnecken 
und.der Tintenschnecken. Denn so viele ihrer auch 
mit schützenden Schalen und Gehäusen versehen sind, 


diese letztern sind doch nur blosse Absonderungen der 


eigentlichen Haut, welche weich bleibt, eigenthümlich 
nass und schleimig infolge der Ausscheidungen zahl- 
reicher darin enthaltener Drüsen, und die Neigung hat, 


sich in Falten- zu legen und eine mantelartige Hülle 


um den Rumpf zu bilden. Dabei bleibt der Körper 
mehr oder weniger klumpenhaft, die Eleganz des Glie- 
derthieres, besonders des Insektes ist ihm fremd, es 


30 . Gliederung in den Stämmen. a 


fehlt ihm eben die Gliederung, und dieser Mangel 
kommt auch im Nervensystem zum Ausdruck. Es re- 
ducirt sich auf einen Schlundring und einzelne klei- 
ner Nervenmassen. 

Am leichtesten verständigen wir uns über die Wir- 
belthiere, den Stamm, dem der Mensch sich 
untrennbar anschliesst. Wesentlich ist der Theil des 
innern, knöchernen oder knorpelig bleibenden Skelets, 
die Wirbelsäule, in welcher der Haupttheil des Ner- 
vensystems enthalten. 

Es steht also fest, dass die Grundlage der syste- 
matischen Eintheilung des Thierreichs durch gewisse 
hervorstechende Eigenthümlichkeiten der Gestaltung 
und des innern Baues gegeben wird, und es ist sehr 
leicht, aus jedem Typus Formen herauszugreifen, um 
an ihnen die in der systematischen Diagnose zusammen- 
gefassten Kennzeichen in aller Vollkommenheit vor 
Augen zu legen. Hieran reiht sich aber unmittelbar 
eine weitere Beobachtung, diejenige der Gliederung 
innerhalb der Typen. Wenn wir oben Polyp und 
Biene miteinander verglichen und ihnen einen sehr 
verschiedenen Rang anweisen mussten, so kommt ein 


Theil dieses Stufenunterschiedes allerdings auf die 
Stammesverschiedenheit; allein auch die durch die 


Stammeseigenthümlichkeiten zusammengehaltenen For- 
men gehen weit auseinander, und die Systematik spricht 
von niedrigen und höhern Klassen innerhalb der ein- 
zelnen Typen, von niedrigen und höhern Ordnungen 
innerhalb jeder Klasse. Das Urtheil wird hierzu durch 
dieselben Betrachtungen gezwungen, welche sich uns 
beim Vergleich von Polyp und Biene aufdrängten. 
Warum steht die Muschel niedriger als die Schnecke? 
Weil sie noch keinen Kopf hat, weil ihr Nervensystem 
nicht so concentrirt und voluminös ist, weıl ihre 
Sinnesorgane mangelhafter sind. Das Baumaterial ist 
bis zu einem für die Ausbildung des Typus ausrei- 
chenden Masse da wıe dort vorhanden, in der Schnecke 
ist es aber mehr entfaltet, und schon der einzige Um- 


ORSER RERE TR, 
dr Vi je 


| Baumförmige Gruppirung. 31 


stand des Aneinanderrückens verschiedener Theile zum 


Kopf verleiht der Schnecke ein höheres Ansehen. Es 
ist unnöthig, diese Abstufung innerhalb der Stämme 
mit mehr Beispielen zu erläutern; der oberflächlichste 
Vergleich eines Fisches mit einem Vogel oder Säuge- 
thiere, eines Schmarotzerkrebses mit dem Flusskrebs 
oder einem Insekt zeigt, dass, wie die ältere Zoologie 
sich ausdrückte, die Grundpläne oder „idealen Typen‘ 
in sehr ungleicher Weise in den realen Formen zum 
Ausdruck kommen. 

Ein weiteres Ergebniss dieser beschreibenden For- 
schung ist die baumförmige Gruppirung der 
Stammesgenossen. Auch das Verhältniss der Stämme 
zueinander kann man nicht in einer einfachen Linie 
schematisiren, indessen kam es hier früher mehr auf 
allgemeine Andeutungen über den Werth des einen 
zu den andern Typen an. Dagegen war die beschrei- 
bende Zoologie schon lange genöthigt, Verwandtschafts- 
tabellen für die systematischen Unterabtheilungen bis 
auf die Arten hinab nach dem Kriterium der anatomi- 
schen Vollkommenheit zu entwerfen, und diese fanden 
nur in dem Bilde vielverzweigter Bäume ihren Aus- 
druck. Es traten Aeste hervor, welche nach kurzer 
Erstreckung endigen, andere sind langgezogen mit 
zahlreichen Nebenästen, in jedem Ast kommen gewisse 
eigenthümliche Erscheinungen und Reihen zur Geltung. 
Man versuche es beispielsweise mit den Wirbelthieren. 
Schon mit den Fischen kommen wir in grosse Ver- 
legenheit: welche von ihnen sollen wir als die höchsten 
ans Ende setzen? Wir mögen aber nehmen, welche 
wir wollen, die Haie oder unsere Knochenfische, die 
Amphibien schliessen sich nicht linear an, auch geht die 
verlängerte Astlinie der letztern nicht, wie man den- 
ken könnte, in die Reptilien über. Die Vögel ihrer- 
seits setzen scharf gegen die Säugethiere ab; und 
dieses Spalten und Auseinandergehen erstreckt sich 
auf alle Unterabtheilungen. Wir haben schematisch 
darzustellen Familienzweige, Gattungsbündel, Arten- 


ELENA EEE ET EEE RE 
32 Wandelbarkeit der Charaktere. 


büschel, und die letztern zerfasern sich in den Unter- 
arten und Varietäten. Mit diesem Bilde der baum- 
förmigen Gliederung des Systems wird man gern noch 
einmal zur Vergleichung von Gliedern verschiedener 
Typen hinsichtlich ihres Leistungswerthes zurückkehren. 


Die Biene an sich ist offenbar ein viel complicirterer 


Organismus als das niedrigste fischartige Thier, der 
Lanzettfisch, und wir vergleichen in diesen beiden 
eine niedere Form eines höhern Typus mit einer höhern 


Form eines niedern. Varırt und combinirt man diese 


Art von Vergleichungen und berücksichtigt man die 
Anknüpfungspunkte der verschiedenen Typen unter- 
einander, auf die wir sogleich hinzuweisen haben, so 
vervollständigt sich das Bild der systematischen Bäume 
zu einem grossen Baume, als dessen Hauptäste die 
Typen hervortreten. 

Wären die Systematiker der alten Schule mit der 
Erschaffung der Pflanzen und Thiere betraut gewesen, 
sie würden erst die Diagnosen und Kennzeichen fest- 
gestellt und dann die Typen und ihre Arten ins Leben 
gerufen haben; denn ihre grösste "Qual ist immer ge- 
wesen, dass die Diagnosen so viele Ausnahmen erlei- 
den und dass zunächst die Charaktere der Grund- 
formen ohne absolute Geltung sind. Im grossen 
und ganzen sind die Polypen strahlförmig; es gibt 
aber nicht wenige bilaterale oder nach zwei Seiten 
symmetrische. Die meisten Schnecken besitzen aus- 
gesprochene Mantelfalten, aber von einem Mantel 
mancher geradezu wurmförmigen Nacktschnecken zu 
reden, ist mislich. Kopf und Schädel scheint uns doch 
ein unveräusserliches Merkmal der Wirbelthiere zu 
sein, aber der Lanzettfisch hat keinen solchen Kopf, 
sondern nur ein Vorderende. Indessen, kann man 
einwerfen, er hat eine Wirbelsäule; aber diese, das 
eigentliche Adelszeichen der Wirbelthiere, ist nebst 
Gehör und Rückenmark ein, wenn auch nur vorüber- 
gehendes Eigenthum der Ascidien, einer Klasse von 
Thieren, die im ausgewachsenen Zustande auch nicht 


u 


. 
ee 


Zwischenformen. 33 


im entferntesten an die Wirbelthiere erinnern. Indem 
_ wir diese Abweichungen von scheinbar fest fundirten 
sogenannten Form- und Baugesetzen wahrnehmen, sind 


wir auf eine offenbare Durchlöcherung des Systems 
vorbereitet, auf die Verbindungsformen und 
die Formen von unsicherer systematischer 
Stellung. 

‘Wenn das Resultat der systematischen Sichtung und 
Ordnung innerhalb der einzelnen Typen in dem Bilde 
von Bäumen zusammengefasst werden kann, so ver- 
stehen sich die Zwischenformen für die in Baumgestalt 


_ angeordneten Glieder der Typen, Klassen, Ordnun- 
‚gen u. s. w. von selbst. Denn wenn das Bild richtig, 


so müssen in allen Astachseln Arten enthalten sein, 
von denen sich die in den sich abzweigenden Aesten 


zu unterst stehenden Arten nur sehr wenig entfernen. 


Und so kam denn in der That alles Systematisiren 
darauf hinaus, zwischen je zwei in höherm Grade von- 
einander abweichende Formen die richtigen Zwischen- 
formen einzuschieben, ja man wurde in manchen 
Fällen veranlasst, Zwischenformen zu suchen, wo keine 
sind. Die ältere Zoologie hat immer das Schnabel- 
thier als das den Vögeln am nächsten stehende Säuge- 
thier aufgefasst, während der Grund der Vogelähnlich- 
keit der niedrigsten bekannten Säuger durchaus nicht 
in der unmittelbaren Verwandtschaft zu suchen ist, 
sondern in einer entfernten Vetterschaft. Aber nicht 
auf jene von der Naturgeschichte als ganz selbstver- 
ständlich vorausgesetzten Verbindungsformen haben wir 
hinzuweisen, sondern auf dienigen, welche der syste- 
matischen Beschreibung, so zu sagen, unbequem sind 
und die mit Mühe gewonnenen Grundlagen illusorisch 
zu machen drohen. Es gibt einige fischartige Thiere, 
die Doppelathmer (Lepidosiren und Genossen), mit 
Charakteren der Amphibien. Die Infusorien haben 
manche Eigenthümlichkeiten der sogenannten Urthiere; 
andererseits entfernen sie sich von ihnen und weisen 
auf die niedrigsten Strudelwürmer hin. Ein in un- 
SCHMIDT, Descendenzlehre. 3 


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a f ee { >“ 


34 Die Fortpflanzung. 


zähliger Menge in unsern Meeren lebendes Thierchen, 


die Sagitta, ist weder ein rechter Wurm noch ein. 


gut legitimirtes Weichthier. Die Klasse der Räderthiere 
passt weder in das Schema der eigentlichen Würmer, 
noch in das der wahren Gliederthiere, wıll aber doch 
im System untergebracht werden, und wer die Typen 
als die idealen unveränderlichen Grundformen fest- 
hält, kommt in grosse Verlegenheit, wohin er mit sei- 
nen Räderthieren soll. 


So liessen sich Beispiele über Beispiele dafür an- 


häufen, dass die strengen Scheidewände des Systems, 
kaum aufgeführt, auch schon allerorten durchlöchert 
‘ werden, und zwar im geraden Verhältniss des Anwach- 
sens der Specialkenntnisse. Wie gesagt, musste die 


beschreibende Naturgeschichte diese Wahrnehmung 


machen. Sie sprach dann von Ausnahmen und Ab- 
weichungen, ohne einen Grund angeben zu können, 
wie denn die Klassen und Typen ihre Grenzen durch- 
brechen könnten, ja meist ohne das Bedürfniss, sich 


von der Hinfälligkeit des strengen Systems Rechenschaft 


zu legen. 


III. 
Die Erscheinungen der Fortpflanzung in der Thierwelt. 


Zur Signatur des Lebendigen gehört die Fähigkeit, 
neuem Leben Dasein zu verleihen. Ein Krystall pflanzt 
sich nicht fort; er kann nur in seine Elementarbestand- 
theile aufgelöst werden, und diese können im natür- 
lichen Verlaufe der Dinge oder auf künstlichem Wege 
einer andern krystallinischen Vereinigung zugeführt 
werden. Das ist aber nicht jene Continuität der Fort- 
pflanzung, welche Individuum an Individuum kettet, 
nicht die mit dem Nebel des Geheimnisses verdeckte 
Zeugung. So, scheint es, besteht ein starrer Gegen- 
satz. Allein wenn man den Unterschied zwischen der 


Einfachste Zeugung. 35 


belebten und unbelebten Natur als überhaupt nicht 


absolut erkannt hat, namentlich wenn man die Mög- 


_ lichkeit, ja Nothwendigkeit der Urzeugung oder ältern- 
losen Entstehung der niedrigsten organischen Wesen 
aus der unorganischen Materie eingesehen, wovon später, 
wenn man das Wesen der Ernährung und des Wachs- 
thums als lediglich bedingt durch die Quellbarkeit der 
Materie erfasst, so schwindet auch das Räthselhafte der 
Fortpflanzung. Die Zeugung ist dann nicht mehr ein 
mystisches Ereigniss, und die Entstehung eines Orga- 


_  nismus in einem oder von einem Organısmus, das Ab- 


lösen und die Entwickelung der zahllosen Keime. lässt: 
sich ebenso, als das Werden eines neuen Krystalls, zer- 
‚gliedern bis auf die nur noch dem geistigen Auge 
zugänglichen Bewegungen der Elemente. Wir wollen 
damit sagen, dass die Grenzen der Forschung im Ge- 
biete der Fortpflanzung keine engern und besondern 
sind. Wir gehen also an die Schilderung des That- 
sächlichen der Fortpflanzung und Entwickelung im 
Thierreich. 

Wenn, wie man allgemein zugeben muss, dem höch- 
sten wie dem niedrigsten Leben das wesentlich Cha- 
rakteristische gemeinsam ist, und nur die Complication 
der Lebensvorgänge nebst der Mannichfaltigkeit der die- 
selben bewerkstelligenden Theile die gradweise Ver- 
 schiedenheit bedingen, so erkennen wir natürlich das 
Wesen der Lebensprocesse am leichtesten an den ein- 
fachsten Organismen. Die einfachsten, von Haeckel 


_ entdeckten Wesen, wie Protamoeba, jene eiweissartigen 


 Schleimklümpchen, wachsen bis zu einem gewissen 
 Umfange. Warum derselbe sich in bestimmten engen 
Grenzen bewegt, und warum bei einem gewissen Um- 
fange des Körpers die Molekeln zu zwei Hälften gra- 
vitiren, wissen wir nicht; jedenfalls handelt es sich 
um Cohäsionsverhältnisse, welche der Berechnung prin- 
eipiell zugänglich sind. Genug, bei einer gewissen 
Grösse wird der Zusammenhang der Theile in einer 
"mittlern Zone Ben das bisherige Individuum wird 


5% 


a ae 


36 Theilung. Knospung. 


seinem Namen untreu und theilt sich ın zwei Hälften, 
deren jede vom Moment der Trennung an ein indivi- 
duelles Leben beginnt, während vom Anfang der 
Theilung an ihre Selbständigkeit sich mehr und mehr 
vorbereitete. Dies ist der einfachste Fall der Fort- 
pflanzung, eine Vermehrung durch Theilung. 
Dieselbe bleibt aber häufig nicht bei der Halbirung 
stehen; die die Theilung verursachende Bewegung der 
kleinsten Bestandtheile setzt sich in der Art fort, dass 
die Hälften wiederum und die Viertel abermals, und 
so das Ganze in eine grössere Anzahl von Portionen 
getheilt wird, und das Mutterwesen sich in einen 
Schwarm von Sprösslingen auflöst. 

Diese Vermehrung durch blosse Theilung der Masse 
setzt voraus, dass der sich so fortpflanzende Organis- 
mus keine hahe Complication an sich trage. Eine 
Halbirung eines Käfers oder Vogels ist als Mittel der 
Fortpflanzung nicht wohl denkbar. Jedoch haben uns 
Stein’s vorzügliche Beobachtungen über den Fort- 
pflanzungsprocess der Infusorien Organismen kennen 
gelehrt, welche weit über jenen einfachen sogenannten 
Moneren stehen, und deren Theilhälften eine Reihe 
tief eingreifender Neubildungen durchmachen, ehe sie 
sich als selbständige Individuen voneinander trennen. 
Diese mit der Theilung verbundene Umbildung führt 
zur Fortpflanzung durch Knospung. Wie die Thei- 
lung jener niedrigen Organismen von der Erreichung 
einer gewissen, durch hinlängliche Nahrung bedingte 
Wachsthumsgrenze abhängt, so tritt nun häufiger der 
Fall ein, dass das Individuum den Ueberschuss an ge- 
wonnenem Stoff an einer bestimmten Stelle des Körpers 
absetzt und einen Spross oder eine Knospe bildet. 
Wir kennen Fortpflanzung durch Knospung schon bei 
den einfachsten Organismen, den Zellen, wie denn 
überhaupt jede Heilung und Vernarbung höherer We- 
sen, bis auf die Ergänzung verstümmelter Glieder bei 
Amphibien, nur durch die auf Theilung und Knospung 
beruhende Fortpflanzung der elementaren Formbestand- 


ae ee an, 


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. . 


Generationswechsel. 37 


theile ermöglicht ist. Es liegt aber in der Natur des 


Knospungsvorganges, dass er in der Stufenleiter der 
Organismen weit höher als die Theilung hinaufragt; 
es ist eben die Entstehung eines neuen Wesens an 
einem schon vorhandenen, wobei das letztere seine 
Individualität ganz oder zum grössten Theile bewahrt 
und doch seine Eigenthümlichkeit in vollem Masse auf 
den Nachkommen übertragen kann. 

Der einfachste Fall der Knospung ist der, wenn ein 
Mutterthier eine oder mehrere Knospen treibt, die 
jenem gleich sind und auch ihrerseits gleichartige 
Knospen zeugen. Jede Korallensammlung gibt eine 


‘Menge von Beispielen hierfür, und wie das verschie- 


denartige Aussehen der einzelnen Korallengattungen 
auf blossen kleinern Modificationen dieser Fortpflan- 
zungsweise beruht. Es gibt aber schon einzelne Ko- 
rallen, bei welchen man bei aufmerksamer Vergleichung 
nicht blos zufällige Abweichungen, sondern regelmässig 


| wiederkehrende Verschiedenheiten zwischen Mutter und 


Spross entdeckt, wie das neulich Semper an Fächer- 
und Pilzkorallen gezeigt hat. Wir werden damit zu 
der höchst wichtigen Erscheinung des Generations- 
wechsels geführt, den wir an einigen Beispielen er- 
läutern müssen, noch ehe wir auf das Wesen der ge- 
schlechtlichen Fortpflanzung eingehen. 

Unser Bild Fig. 3 zeigt unter A ein polypenförmiges 
Wesen mit gekreuzten Fangarmen, das von seinem 
Entdecker Dujardin mit dem Gattungsnamen Kreuz- 


- polyp (Stauridium) belegt wurde. Dieses nach Art der 


Polypen auf einem Stiel festwachsende Thier bildet 
oberhalb seines untern Armkreuzes Knospen, welche 
als rundliche Ballen hervortreten, nach und nach 
Glockenform annehmen und sich ablösen, nachdem sie 
den Bau und die Form einer Qualle erhalten haben. 
Die Cladonema radiatum ‘genannte Qualle (Fig. 3 B) 
ist also die Tochter der ihr ganz unähnlichen Mutter 
Stauridium; sie pflanzt sich auf geschlechtlichem Wege 
fort und aus ihren Eiern gehen die Stauridien hervor. 


38 Generationswechsel. 


Es wechseln also die beiden Generationen miteinander 
ab; der Kreuzpolyp ist eine Zwischengeneration in der 
Entwickelung der Qualle, sodass also nie aus dem Ei 
derselben direct wieder die Geschlechtsgeneration selbst 
ihren Ursprung nimmt. Wir können denselben, nur 
etwas verwickelteren Vorgang am Bandwurm erläu- 
tern. Es ist bekannt, dass aus dem Darmkanal der 
mit dem Bandwurm behafteten Individuen einzelne 


Fig. 3. 


sogenannte Bandwurmglieder abgehen, und zwar sind 
diese Glieder gewöhnlich mit einer so ausserordent- 
lichen Menge von Eiern erfüllt, dass sie als blosse. 


Eierpackete erscheinen. Indessen geht aus der Ent- 


wickelungsgeschichte der Bandwürmer und ihren Be- 
ziehungen zu andern Würmern, nämlich den Saug- und 
Strudelwürmern hervor, dass diese Glieder trotz ihrer 
Unvollkommenheit und des Mangels an Organen 
den Werth geschlechtsreifer Individuen oder, nach 


un 


a Kua®- 
F 


. Geschlechtliche Fortpflanzung. 39 


 Haeckel’s Bezeichnung, Personen haben. Verhielte 
sich nun der Bandwurm wie die meisten Thiere, so 


würden aus seinen Eiern unmittelbar die Gliederindi- 
viduen sich entwickeln. Zu diesen aber ist ein weiter 
Umweg. Ist ein Bandwurmei durch Glück und Zufall 
in einen ihm zusagenden Magen, z. B. das Ei des 
Menschenbandwurms, Taenia solium, in das Schwein 
gerathen, so wandert der Embryo aus dem Magen, 


wo er das Ei verlassen hat, aus und in die Muskeln 


ein und schwilit hier zu einer Art von Blase an. 


Diese Blase ist die erste Zwischengeneration. Sie zeugt 


eine zapfenförmige Knospe, die jedoch ihren Zweck 
solange verfehlt, als der „Blasenwurm“ oder die „Finne‘ 
in dem Schweinefleische bleibt. Erst wenn dasselbe 
roh oder unvollständig zubereitet in den menschlichen 
Magen kommt, schlägt die Stunde der Erlösung für 
jenen Zapfen. Er tritt aus seiner Mutter, der Blase, 
hervor,-letztere geht zu Grunde und der Zapfen, in 
welchem wir nun den Kopf sammt Hals des Band- 
wurmgebildes erkennen, stellt eine zweite Zwischen- 
generation vor. Seine Productivität äussert sich auch 
alsbald; er verlängert sich und je weiter er band- 
förmig auswächst, desto deutlicher markiren sich in 
diesem aus dem Hintertheile des Halses hervorsprossen- 
den Theile Querstreifen und „Bandwurmglieder‘‘, also 
die Individuen der dritten oder Geschlechtsgeneration. 

In den besprochenen Entwickelungskreisen lösen sich 
also ungeschlechtliche und geschlechtliche Fortpflan- 
zung einander ab, und wir haben uns, ehe wir noch 
einige andere Fälle der ungeschlechtlichen Vermehrung 
besprechen, zuvor mit den Thatsachen der geschlecht- 
lichen Fortpflanzung bekannt zu machen. 

Sie ist dadurch charakteristisch, dass es zur Er- 
zeugung des neuen Individuums der Vereinigung zweier 
verschiedener Producte oder Formelemente, des Eies 
und des Samens bedarf. Das Ei ist ursprünglich im- 
mer eine einfache Zelle (Fig.4. 0), deren Kern Keim- 
bläschen, deren Kernkörperchen Keimfleck heisst, und 


40 Ei und Samen. 


welche bei vielen Thieren mit einer eigenen Hülle oder 
Membran versehen ist, bei andern nackt bleibt und 
dann häufig die wunderlichen Bewegungen des Proto- 
plasma zeigt. Die Eizellen der verschiedenen Thier- 
klassen weichen zwar in ihren mikroskopischen Dimen- 
sionen ziemlich voneinander ab, dennoch sind sie für 
das ganze Thierreich von den Schwämmen und Polypen 
bis zu den Säugern sammt dem Menschen wesentlich 
gleich. Erst wenn die primitive Eizelle reichlicher mit 
Dotter und Eiweis versehen, sich mit besonders dicker 
und durchlöcherter Schale, wie bei Insekten und Fi- 
schen, oder mit einer ganz eigenthümlich geformten 
Hülle, z. B. bei manchen Strudelwürmern von Gestalt 
einer doppelt concaven Linse, umgeben hat, treten 

unwesentliche Unterschiede auf. 

In der Regel bilden sich die 
/ Eizellen in besondern Organen, 

den Eierstöcken. .Der andere 
Geschlechtsstoff, der Same, ent- 
hält als die eigentlich wirksamen 
Bestandtheille die sogenann- 
ten Samenkörperchen (Fig.4s), 
welche aus einem punktförmigen 
oder elliptischen, auch wol hakenförmigen Köpfchen 
und einem fadenförmigen Körper bestehen. Der Faden- 
anhang vollführt, solange der Same befruchtungsfähig, 
schlängelnde Bewegungen, und die Entwickelung der 
Samenkörperchen aus Zellen, sowie die Vergleichung 
ihrer Bewegungen mit den schwingenden Bewegungen 
der Flimmer- und Geisselzellen lässt sie uns gleich- 
falls als modificirte Zellengebilde erkennen. 

Der im vorigen Jahrhundert äusserst erregte Streit 
zwischen den Evolationisten und den Epigenesisten hat 
nur noch ein historisches Interesse. Jene behaupteten, 
dass entweder ım Ei oder im Samenkörperchen schon 
der ganze künftige Organismus in allen seinen Theilen 
vorgebildet sei und es also nur einer Ausbildung der 
unendlich fein vorhandenen Organe bedürfe. Die andern, 


Fig. 4. 


& 


Befruchtung. Keimbildung. 41 


EB öiche den Sieg davon trugen, sahen im Ei das noch 


micht differenzirte Material, welches infolge der Be- 


fruchtung sich in die versehiedenen Formelemente und 
Organe umzuwandeln habe. Es sind aber kaum zwan- 
zig Jahre her, seit der Vorgang der Befruchtung ent- 
deckt und nachgewiesen wurde, dass mindestens ein 


Samenkörperchen, in der Regel mehrere oder viele in 


das Innere des Eies eindringen und sich materiell mit 
dem Eistoff vereinigen müssen, um eine wirksame 
Befruchtung herbeizuführen. 

Wir wurden durch den Gang unserer Darstellung 


_ veranlasst, der ungeschlechtlichen die geschlechtliche 


eu Dal wi AR 


EEE EEE 


ARE EITER 


Fortpflanzung scharf gegenüberzustellen. Allein auch 
hier hat die neuere Zeit eine Reihe ausgleichender und 
vermittelnder Beobachtungen gemacht, welche wir bei 
unserer Absicht, die Vorbereitungen zur Abstammungs- 
lehre zu treffen und den in der organischen Natur 
überall vorhandenen Uebergang nachzuweisen, nicht 
ausser Acht lassen dürfen. Es wurden oben solche 
Fälle des Generationswechsels gewählt, wo die nicht 
Eier und Samen bereitenden Generationen durch äussere 
Knospenbildung sich fortpflanzten. Nun ist offenbar 
psysiologisch kein grosser Unterschied hiervon, wenn 
die Ablagerung des Materials der Nachkommenschaft 
micht nach aussen, sondern in und an bestimmten in- 
nern Organen geschieht. Der häufigste Fall . dieser 
ungeschlechtlichen im Innern des Mutterthieres sich 
vollziehenden Vermehrung ist die Keimbildung. 
Eins der geläufigsten Beispiele findet im Entwicke- 
lungskreise oder dem Generationswechsel der Gattung 


 Doppelloch (Distomum) der Saugwürmer statt. In der 


Leibeshöhle der einen Larvengeneration entstehen Zel- 
lenballen, die Keime, die sich zur zweiten Generation, 
den Cercarien, entwickeln. Grosses Aufsehen erregte 
auch die Entdeckung der Keimbildung der Larven 
einiger zweiflügeligen Insekten (Ceeidomyia, Miastor). 


In der Leibeshöhle der Maden dieser Fliegen entsteht 
nämlich eine zweite Generation von Maden, deren 


42 Entwickelung unbefruchteter Mier‘ 


Ursprung man anfänglich auf eine reine Keimbil- 
dung zurückführte, bis sich ergab, dass diese Keime 
aus der, bei vıelen Insekten schon sehr früh vorhan- 
denen Anlage der Geschlechtsdrüse hervorgingen, also 
als unbefruchtete Eier betrachtet werden müssten. Die 


zweite Madengeneration lebt auf Kosten ihrer Mutter, 


zehrt von deren Fettkörper, vertilgt dann auch die 
andern Organe, und vom mütterlichen Pelikan bleibt 
en nur die Haut als schützende Hülle der 
dann bald durchbrechenden Töchter übrig. Ohne an- 
dere Fälle zu erwähnen, bei denen es zweifelhaft sein 
kann, ob Keime oder unbefruchtete Eier zur Ent- 
wickelung gelangen, wollen wir nur einige von denen 
hervorheben, wo die Entwickelung ohne Befruchtung 
völlig sicher gestellt ist. Die Bienenkönigin legt theils 
im natürlichen Verlauf ihres Lebens regelmässig eine 
Anzahl nicht befruchteter Eier, aus denen die Drohnen, 
die männlichen Individuen auskriechen, theils infolge 
verschiedener Zufälle, wo die Befruchtung nicht statt- 
finden konnte; und wenn ausnahmsweise Arbeitsbienen, 
unvollständig entwickelte weibliche Bienen, welche 


nicht befruchtet werden konnten, Eier legen, so geben 


diese ebenfalls nur Drohnen. Die höchst interessanten 
Versuche v. Sıebold’s über die Fortpflanzung einer 
Wespe, Polistes gallica, haben gezeigt, dass die über- 
winterten befruchteten Weibchen, welche im Frühjahr 
eine neue Colonie gründen, Eier absetzen, aus welchen 
weibliche Individuen auskriechen, ausnahmsweise Männ- 
chen. Diese jungfräuliche Generation erzeugt. dann 
die Eier, aus denen sich die Männchen entwickeln. 
Bei verschiedenen Schmetterlingen kommen umgekehrt 
aus den unbefruchteten Eiern nur Weibchen hervor, 
ebenso bei verschiedenen niedern Krustenthieren. 
Kehren wir nun zur Betrachtung der Entwickelungs- 
vorgänge zurück, welche bei der geschlechtlichen Fort- 
pflanzung nach stattgehabter Befruchtung sich zeigen. 
Allgemein beginnt die Entwickelung mit einem Zellen- 
bildungsprocess, der Furchung oder Keimhautbildung, 


Furchung. Entwickelung. 43 


mach dessen Beendigung statt der einen primitiven 
Eizelle eine meist grosse Menge von Zellen als das 
Material zu Anlage und Aufbau des Embryo vorhan- 


den sind. Auch die ohne Befruchtung parthenogene- 


tisch sich entwickelnden Eier beginnen die Entwickelung 


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mit jener Zellenvermehrung, und selbst die Eier der 


_ "Thiere, bei denen die Entwickelung nie anders als 


nach vorhergegangener Befruchtung stattfindet, zeigen, 
wenn sie in einem gewissen Stadium der Reife nicht 
zur Befruchtung gelangen, eine unvollkommene Fur- 
chung. Bisjetzt ist dieses Verhalten allerdings nur 
von den Eiern des Frosches und Huhnes nachgewiesen, 


allein diese Fälle sind hinreichend, um die Furchung 
- des Charakters einer ausschliesslich innerhalb der ge- 


- schlechtlichen Fortpflanzung auftretenden unvermittelten 


Erscheinung’ zu entkleiden. 
Schon ehe die wahrhaft elassische und grundlegende 


Arbeit C.E.v.Bär’s über die Entwickelungsgeschichte der 


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- Thiere erschien ®, hatte sich, auf unvollständige Beobach- 


tungen gestützt, die Ansicht festgesetzt, dass die höhern 
Thiere in ihren Entwickelungsstufen die Formen der nie- 
drigern durchliefen. Die Naturphilosophie beschränkte 
sich dabei nicht blos auf die Grenzen der Typen, blieb 
also nicht bei der Annahme stehen, dass der Säuge- 
thierembryo hintereinander Fisch, Amphibium und in 
gewissem Sinne und nach bestimmter stufenweiser Aus- 
bildung der Organe auch Vogel sei, sondern liess den 


Embryo auch die niedrigern Typen wiederholen und 


übersteigen. Dieser sich in vagen Analogien bewe- 
genden falschen Richtung gebot der oben genannte 
grosse Naturforscher ein Halt. Er zeigte, dass aller- 
dings eine Menge Uebereinstimmungen zwischen dem 
Embryo der höhern Thiere und der bleibenden Form 
niederer Thiere sich nachweisen liessen, dass aber diese 
Aehnlichkeit wesentlich darauf beruhe, dass die Son- 
derung der allgemeinen Grundmasse im Embryo der 


 höhern Thiere noch nicht eingetreten sei und sich im 


Fortgange der Entwickelung auf Stufen befinde, welche 


44 _ Entwickelungstypen. 


für die Reihe der niedern Thiere bleibende seien. Da- 
gegen wies er die Behauptung, dass die Embryone 
höherer Typen die bleibenden Formen niederer Typen 
wirklich durchmachten, entschieden zurück. Er sagte, 
der Typus jedes Thieres scheine sich gleich anfangs 
ım Embryo zu fixiren und die ganze Entwickelung zu 
beherrschen. Was im besondern dann die Wirbelthiere 
betreffe, so finde man, je weiter man in ihrer Ent- 
wickelungsgeschichte zurückgeht, die Embryonen desto 
ähnlicher im Ganzen und in den einzelnen Theilen. 
„erst allmählich treten die Charaktere hervor, welche 
die grössern, und dann die, welche die kleinern Ab- 
theilungen der Wirbelthiere bezeichnen. Aus einem 
allgemeinen Typus bildet sich also der specielle hervor.‘ 

Bär fand mithin das Gleichartige nur in den embryo- 
nalen Zuständen der verschiedenen Thierformen, musste 
aber über die Kreise der Typen hinausgehen, und es 
schien ihm wahrscheinlich, dass unter allen Embryonen, 
sowol der Wirbelthiere, als der wirbellosen Thiere, 
die sich aus einen wahren Eie entwickeln, im eigent- 
lichen Keimzustande Uebereinstimmung besteht, zu 
einer Zeit, wo der Typus noch nicht aufgetreten. Er 
wurde hierdurch zu der Frage geführt: „Ob nicht im 
Beginne der Entwickelung alle Thiere im wesentlichen 
sich gleich sind, und ob nicht für alle eine gemein- 
schaftliche Urform besteht.“° „Es liesse sich“, meint 
er schliesslich, „nicht ohne Grund behaupten, dass die 
einfache Blasenform die gemeinschaftliche Grundform 
sei, aus der sich alle Thiere nicht nur der Idee nach, 
sondern historisch entwickeln.“ 

Nachdem die Schranke, welche man früher zwischen 
der ungeschlechtlichen und der durch die Befruchtung 
eingeleiteten Vermehrung aufrichten zu müssen glaubte, 
als ganz unwesentlich erkannt worden, und alle Ent- 
wickelung auf Vermehrung und Umwandlung der pri- 
mitiven Keim- oder Eizelle hinausläuft, musste man 
im Sinne der ältern Forscher die Zelle als die gemein- 
schaftliche Grundform betrachten. Wenn aber die 


2 


Früheste gemeinsame Larvenzustände. 45 


beschreibende Entwickelungsgeschichte auch nicht auf 


diesen Elementarorganismus zurückgeht, und selbst die 
Furchung als eine noch zu indifferente Vorbereitung 
zur teen Entwickelung ansieht, so sind doch 
Edenfalis die frühesten wirklichen Forvernde aus 
verschiedenen Typen miteinander zu vergleichen. Die 


Entdeckungen der letzten Jahrzehnte, die hierauf Be- 


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zug haben, sind so zahlreich und es haben sich so 
auffallende Uebereinstimmungen ergeben, dass man wol 


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viel weiter zu gehen hat, als damals Bär gehen konnte. 
Es handelt sich nicht blos um jene allgemeinen Ueber- 
einstimmungen in der Sonderung der Gewebe aus einer 
indifferenten Grundmasse, sondern um solche Homolo- 
gien in der Anlage, Gestaltung und Zusammensetzung 
der Embryone und Larven, deren Nachwirkung auch 
für die spätere eigentliche typische Ausprägung von 
eingreifender Wichtigkeit ist. Betrachten wir zu die- 
sem Ende die Larve eines Kalkschwammes auf der 


# 
46 Die Gastrula-Larve. 


Stufe, welche Haeckel als Gastrulastadium bezeichnet E 


hat. Unsere Abbildung gibt den Durchschnitt einer 
solchen Larve, welche zur Zeit noch nichts anderes 
ist als ein mit einer Mundöffnung (Fig. 5. 0) versehener 
Magen, dessen Wandung aus zwei Schichten oder 
Lagen von Zellen besteht. Die äussere Schicht der 


Zellen ist von der innern durch die langgestreckte 


Form und durch den Besitz der als Bewegungsorgane 
dienenden Geisseln verschieden. Alle spätere, aller- 
dings hier bei den Schwämmen nicht sehr bedeutende 
Ausbildung und Differenzirung lässt sich auf Umände- 
rungen dieser beiden Blätter, des Aussenblattes (Ecto- 
derm oder Exoderm) und des Innenblattes (Entoderm) 
zurückführen. Und dieses Stadıum der bewimperten, 
zweischichtigen, mit der primitiven Magenhöhle und 
dem Munde versehenen Larve findet sich bei den 
Cölenteraten, mit geringer Abänderung bei den Stachel- 
häutern, bei verschiedenen Würmern, der Sagitta, den 
Ascidien und dem Lanzettfisch. Aus der Ueberein- 
stimmung aller dieser Thiere und besonders der letztern 
werden wir später wichtige Folgerungen machen können. 
Legt man aber auf das Vorhandensein der Geisseln 
der äussern Zellenlage kein Gewicht, wie dies auch 
nach dem Verhältniss der Geissel zur Zelle gestattet 
ist, und erkennt man als die wesentliche Bedeutung 
der Larvenanlage die an, dass aus ihren zwei Blättern 
die gesammten Organe ıhren Ursprung nehmen, so 
schliessen sich den oben genannten Thieren nicht nur 
fast die gesammten Gliederthiere, sondern auch die 
übrigen Wirbelthiere an, indem bei ihnen unmittelbar 
nach Anlage des Keimstreifens die Spaltung desselben 
in zwei Zellenlagen oder Blätter erfolgt. Ueber die 
Entstehung des dritten, mittlern Keimblattes und die 
Betheiligung der beiden primitiven Blätter an der 
Bildung desselben sind die Beobachter nicht einig. 
Erst von hier an nimmt die Entwickelung der grossen 
Thiergruppen eine verschiedene Richtung, und es ist 
das unsterbliche Verdienst v. Bär’s, diese Entwicke- 


Er ih 
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47 


3 lungstypen unabhängig von der Aufstellung der zoolo- 


gisch-anatomischen Grundformen Cuvier’s bestimmt und 


damit das Wesen der Typen viel tiefer begründet zu 
_ haben. Wir wollen das Gesagte nur an zweien der- 


selben klar machen. Nachdem das Ei der Glieder- 
thiere sich mit einer Keimhaut umgeben, verdickt sich 
ein Theil derselben zu einem länglichen, einer lang- 


gezogenen Ellipse gleichenden Keimstreifen. Derselbe 


 wiekelung geht von diesen Ursegmen- 


Mundwerkzeugen und Deinen ent- 


ua 


der sogenannten Ursegmente. Die 


die Zusammensetzung des Körpers aus 


des Kopfes und der mittiern und 
- hintern Körperabschnitte die so grosse 
_ Mannichfaltigkeit innerhalb des Typus verursachen. In 


ist die Anlage der Bauchseite des künftigen Thieres. 
Eine Furche theilt denselben darauf ın die beiden 
Keimwülste und dann kommen Quer- 
striche zum Vorschein, die Grenzen 


symmetrische Anlage der Organe und 


hintereinander liegenden Gliedern ist 
damit eingeleitet. Alle weitere Ent- 


ten aus, welche auch für die höhern 
Würmer, die Anneliden oder Glieder- 
würmer massgebend sind, während 
bei den Gliederthieren im engern 
Sinne Ausstülpungen und Anhänge | 
dieser Segmente sich zu den Fühlern, \ 


wickeln und durch ihre verschieden- 
artige Ausbildung in den Regionen 


jedem einzelnen Falle sehen wir aus dem mehr Gleich- 


_ artigen und Indifferenten das Specielle hervorgehen, 


was auch durch das, obschon weiter vorgeschrittene 
Stadium, was diese Abbildung Fig. 6 gibt, belegt wird. 
Sie stellt den Embryo des grossen schwarzen Käfers 
(Hydrophilus piceus) von der Bauchseite dar. Noch 


s _ unterscheiden sich die Fühlhörner (f), die drei Paar 


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- Mundwerkzeuge (m) und die drei Paar Beine (b) wenig. 


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a; 
48 Andere Entwickelungstypen. 


Im weitern Verlauf. der Entwickelung wachsen die 
Seitentheile nach dem Rücken zu, in dessen Mitte sie 
schliesslich zusammentreffen. Man kann daher mit 
Rücksicht auf die Wirbelthiere sagen, dass die Glie- 
derthiere den Nabel am Rücken haben. Umgekehrt 
also ist der Entwickelungstypus der Wirbelthiere da- 
durch charakterisirt, dass die Keimanlage der Rücken- 
seite des Thiers entspricht. Der Anlage der Rücken- 
furche, welche sich später zum Rückenmarkskanale 
schliesst, indem sie nach und nach von einer sie von 
unten her umwachsenden Scheide umgeben wird, folgt 
die Anlage querer Platten, der Urwirbelplatten. Die 
nach aussen von diesen gelegenen Seitenplatten wach- 
sen nach der Bauchseite zu und verwachsen endlich 
im Nabel. An der Stelle der aus gesonderten Wir- 
beln bestehenden eigentlichen Wirbelsäule befindet sich 
ursprünglich immer ein knorpelartiger Strang, die 
Rückensaite (chorda dorsalis), und da von dieser Axe 
aus die Keimanlage sowol nach oben als nach unten 
sıch zu Röhren, dem Rückenmark nebst Scheide und 
der Bauchhöle mit dem Darmkanale umgestaltet, 
so nannte v. Bär diese Entwickelung die doppelt 
symmetrische. Die Gliederentwickelung war ihm eine 
einfach symmetrische, und die Entwickelung der Weich- 
thiere bezeichnete er als eine massige. Die Berech- 
tigung liegt darin, dass den Weichthieren jene durch 
die Gliederung hervorgerufene Streckung und über- 
haupt die in der Gliederung enthaltene Wiederholung 
gleicher Theile und Leibesabschnitte, die Metameren- 
bildung nach Haeckel, ganz fremd ist. | 
Wir müssen nun nochmals darauf zurückkommen, 
dass schon die ersten etwas ausgedehnten Beobach- 
tungen der Entwickelungsformen verschiedener Thiere 
zu der Wahrnehmung führen, dass die Embryone und 
Entwickelungsstufen höherer Thiere vorübergehend in 
einer engern Beziehung zu den fertigen und definiti- 
ven Zuständen der niedern Thierformen wenigstens. 
desselben Stammes ständen, woraus sich die bestimmte 


Embryonale und systematische Entwickelung. 49 


Vorstellung entwickelte, dass der Embryo der höhern 


Bu 


 Thiere die bleibenden Formen der niedern Thiere 


durchlaufe. Nachdem besonders die deutsche Natur- 
philosophie diese Lehre ziemlich phantastisch aus- 
gebildet und den Menschen als die Summe aller Thiere 
sowol nach Bau als nach Entwickelung proclamirt 
hatte, „musste“, sagt Bär, „die Lehre von der Ueber- 


 einstimmung der individuellen Metamorphose mit der 
unklaren Metamorphose des ganzen Thierreichs ein be- 


 sonderes Gewicht erhalten, als durch Rathke’s glän- 


zende Entdeckung Kiemenspalten in den Embryonen 
der Säugethiere und Vögel nachgewiesen und bald 


_ darauf sogar die Gefässe dazu aufgefunden wurden.“ 


Die Uebertreibungen und falschen Schlussfolgen, die 
_ man aus den beobachteten allgemeinen Analogien zog, 


bei den unklaren Vorstellungen der über dem Ganzen 
 schwebenden und die individuelle Entwickelung beherr- 
'schenden Typen, hat Bär in geistreicher Weise ge- 


geisselt. „Um sich zu überzeugen, dass ein solcher 
Zweifel an dieser Lehre nicht ganz ohne Gewicht ist, 
denke man sich nur, die Vögel hätten ihre Entwicke- 
lungsgeschichte studirt, und sie wären es, welche nun 
den Bau des ausgewachsenen Säugethiers und des 
Menschen untersuchten. Würden nicht die physiologi- 


schen Lehrbücher Folgendes lehren können? ‘Jene 


vier- und zweibeinigen Thiere haben viele Embryonen- 


- ähnlichkeit, denn ihre Schädelknochen sind getrennt, 
sie haben keinen Schnabel, wie wir in den fünf oder 
_ sechs ersten Tagen der Bebrütung; ihre Extremitäten 
sind ziemlich gleich unter sich, wie die unserigen un- 


- gefähr ebenso lange; nicht eine einzige wahre Feder 


- sitzt auf ihrem Leibe, sondern nur dünne Federschafte, 
_ sodass wir schon im Neste weiter sind, als sie jemals 


kommen; ihre Knochen sind wenig spröde und ent- 
halten, wie die unserigen in der Jugend, gar keine 


Luft, überhaupt fehlen ihnen die Luftsäcke und die 
Lungen sind nicht angewachsen, wie die unserigen in 


_ frühester Zeit; ein Kropf fehlt ihnen ganz; Vormagen 


SCHMIDT, Descendenzlehre. 4 


s0 Embryonale und 


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und Muskelmagen sind mehr oder weniger in einen 
Sack verflossen; lauter Verhältnisse, die bei uns rasch 
vorübergehen, und die Nägel sind bei den meisten so 

ungeschickt breit, wie bei uns vor dem Auskriechen; 
an der Fähigkeit zu fliegen haben allein die Fleder- 
mäuse theil, die die vollkommensten scheinen, die 

übrigen nicht. Und diese Säugethiere, die so lange 
nach der Geburt ihr Futter nicht selbst suchen können, 
nie sich frei vom Erdboden erheben, wollen höher 

organisirt sein, als wir?“ | 


Indessen besteht die Thatsache des Parallelismus der 
individuellen Entwickelung mit der systematischen Reihe, 
der das Individuum angehört, wofür wir einige leicht 
zugängliche und überzeugende Beispiele aus den Tau- 
senden auswählen. Die Polypen sind im System immer 
unter die Quallen gestellt worden; in die Entwickelung 
vieler Quallen (vgl. Fig. 3. S. 38) schiebt sich ein 
„polypenförmiger‘“‘ Zustand ein. Der im Mittelmeere 
sehr gemeine Haarstern (Comatula) ist im ausgewach- 


nz 


systematische Entwickelung. 51 


senen Zustande frei beweglich. Dieser definitiven Aus- 
bildung geht eine Stufe der Sesshaftigkeit (Fig. 7) 
voraus, während welcher der Körper auf einem Stiele 
 festsitzt. Das Thier gleicht während der Larvenzeit 

den zeitlebens festsitzenden Gattungen, welche nach 

allen Regeln der Systematik und nach ihrem geologi- 
schen Auftreten einen niedern Rang in der Reihe der 
 Echinodermen einnehmen. Die Krabben oder kurz- 
 schwänzigen Krebse erheben sich durch mehrere Kenn- 
zeichen über die langschwänzigen, zu welchen der 
Flusskrebs gehört. In ihrer Entwickelung gehen sie 
_ durch das Stadium der Langschwänzigkeit, wie die 
Larve (Fig. 6) zeigt. Sie werden gerade durch die 
 Verkümmerung des bei den Langschwänzen als Schwimm- 

organ benutzten Schwanzes für das Laufen, und einige 
unter ihnen für das Leben auf dem Lande geschickter, 
indem sie sich gewissermassen einer Bürde entledigen. 
Eine der systematischen Reihen innerhalb der Wirbel- 
 thiere führt durch die Reptilien zu den Vögeln. Wenn 
nun auch die Vögel, wie sich später ergeben wird, in 

den ihnen von Bär in den Schnabel gelegten physio- 
logischen Betrachtungen mit Unrecht sich ihres Feder- 
 kleides dem Säugethier und Menschen gegenüber rüh- 
_ men, so haben sie es damit doch weiter gebracht als 
_ die Reptilien, denn die embryonale Anlage der Feder 
ist die der Schuppe. Auch das Fussgelenk des Vogel- 
 embryo, das wir schon oben (S. 9) kennen lernten, 
“und das sich darin vom Knöchelgelenk der Säuger 
_ und des Menschen unterscheidet, dass es nicht zwischen 
Unterschenkel und Fusswurzel, sondern in die Fuss- 
_ wurzel hinein gelegt ist, findet sich in dem embryo- 
nalen Zustande, den es beim Vogel schnell durchläuft, 
in einem definitiven Zustande beim Reptil. Ob- 
_ wol die Säugethiere nie wirkliche Fische sind, so ist 
“doch in den embryonalen Stufen ihrer Organe viel 
 Fischähnliches; die Embryonalspalten am Halse ent- 
sprechen den Kiemenspalten; die Anlage des Gehirns 
® 


ee) 


e ME 
52 Embryonale und systematische Entwickelung. 


ist auf das fertige Gehirn der Neunaugen und Haie 
zurückzuführen u. s. w. Bär begnügte sich seinerzeit, 
um die Lehre, dass der Embryo die ganzen Thierreiche 
durchlaufe, zu widerlegen, darauf hinzuweisen, dass er 
nie aus einem Typus in den andern übergehe. Den 
andern und wahrscheinlichern Theil der Ansicht, dass 
wenigstens innerhalb der Typen die höhern Gruppen 
in ihren embryonalen Stadien die bleibenden Formen 
der niedern wiederholten, wies er damit zurück, dass 
es sich um blosse Analogien handle. Es müsse der 
Embryo, da er allmählich durch fortgehende histo- 
logische und morphologische Sonderung sich ausbilde, 
ın dieser Hinsicht mit weniger entwickelten Thieren 
um so mehr übereinstimmen, je jünger er ist. „Sehr 
natürlich also, dass der Embryo der Säugethiere dem 
der Fische ähnlicher ist, als der Embryo des Fisches 
dem Säugethiere. Wenn man nun im Fische nichts 
erkennt, als das wenig ausgebildete Säugethier (und 
das ist eine unbegründete Annahme), so muss man das 
Säugethier für einen höher ausgebildeten Fisch halten, 
und dann ist es ganz consequent, zu sagen, der Em- 
bryo des Wirbelthieres sei anfangs ein Fisch.‘ 1° 

Wir sind unserm Vorsatz, in diesem Abschnitte nur 
Thatsachen beizubringen, etwas untreu geworden. Die 
Thatsachen sind zu sehr danach angethan, um Re-. 
flexionen zu veranlassen; auch haben wir ja die obigen 
Reflexionen nur als geschichtliche Thatsachen wieder- 
holt, und wir müssen nun fragen, ob sie uns wirklich 
befriedigen können. Ich glaube nicht. Es ist bei 
weitem nicht blos allgemeine histologische und mor- 
phologische Sonderung, welche die Aehnlichkeit der 
höhern unfertigen mit den niedrigern fertigen Formen 
hervorruft. Um nur bei dem einen Beispiel stehen 
zu bleiben: es ist ganz unbegreiflich, warum die Ge-. 
hörknochen der Säuger auf dem Umwege der Kiemen- 
spaltenbildung sich entwickeln, wenn es sich um blosse 
histologische und morphologische Sonderung handelte, 
Bei der ganzen Klasse der Erscheinungen der unzweck- 


\ 


Die Vorwelt. 53 


£ mässigen und verkümmerten (abortiven) Organe lässt 


uns die Erklärung im Stich, und endlich bleibt ja 
der „Entwickelungstypus“ selbst, wie er die Gruppen 
beherrscht, die individuelle Entwickelung leitet, sie 
dort mangelhafter, hier vollkommen ausbildet, etwas 
Unerklärtes. 


IV. 


Die Thierwelt in ihrer geschichtlichen, paläontolo- 


’ 


gischen Entwickelung. 


"Die Beobachtung, dass die Erdrinde von den tief- 


sten Thälern bis auf die höchsten Gipfel der Gebirge 


unzählige Thierreste birgt, ist so leicht zu machen, 


dass schon das Alterthum darauf kommen musste. 
Aber ein paar Jahrtausende vergingen, ehe man zur 
richtigen Erkenntniss des Verhältnisses dieser Ueber- 
bleibsel zur Jetztwelt kam. Dass es Naturspiele seien, 
Producte einer schöpferischen Kraft, die zu keinem 
eigentlichen Ziele geführt, sondern gewissermassen als 
Vorübungen für die wirkliche Lebensschöpfung anzu- 
sehen seien, meinten die einen; die andern hielten die 
Versteinerungen zwar für Ueberreste von lebenden 
Geschöpfen, aber von solchen, welche noch existiren, 
und welche bei Ueberflutungen und nachmaligem Zu- 


rückziehen der Meere ihren Untergang gefunden. 


Namentlich die Sage von der allgemeinen Sündflut 


_ fand in dieser zweiten Meinung eine mächtige Nahrunz. 
- Erst als zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Schich- 


tung der Erdrinde sich der wissenschaftlichen Erkennt- 
niss öffnete, nachdem durch Kant und Laplace die 


- Grundzüge einer Geschichte des Sonnensystems und 


einer speciellen Erdgeschichte oder Geologie vorge- 
zeichnet waren, erst damit trat die Möglichkeit und 
Nothwendigkeit einer wirklichen Paläontologie oder 
Kunde der vorweltlichen Lebewesen ein. Im Anfang 


€ 
54 Geologische Formationen. 


dieses Jahrhunderts wurde die Entdeckung gemacht, 
dass die Versteinerungen, entsprechend der Schichtung 
der Erdrinde, in regelmässiger Folge einander ab- 
lösen, und dass sie in dieser Folge sowol von der 
heutigen Schöpfung als unter einander specifisch ver- 
schieden seien. 

Wir müssen uns mit der Reihenfolge jener, die Erd- 
rinde zusammensetzenden Blätter bekannt machen. Sie 
sind die Fächer, in welchen die Pflanzen und Thier- 
reste aufbewahrt liegen. Sie zu ordnen war allerdings 
nur möglich, indem man sich durch die in ihnen ent- 
haltenen Organismen als Merkzeichen (oder Leitmuscheln) 
leiten liess. Wir aber nehmen diese Ordnung als etwas 
Gegebenes und berücksichtigen für unsere Zwecke 
natürlich nur die Schichten und Gesteine, in welchen 
Versteinerungen — dieses Wort im allgemeinsten Sinne 
gebraucht — enthalten sind oder sein könnten, die- 
jenigen nämlich, welche sich als sedimentär, d. h. als 
Absatz aus Gewässern erwiesen haben. Unsere Kennt- 
niss beschränkt sich auf einen grossen Theil von Eu- 
ropa, zahlreiche Districte von Amerika und vereinzelte 
Punkte der übrigen Erde. E 

Die folgende Tabelle gibt, von oben nach unten, 
die Gliederung der sedimentären Schichtenreihe: 


1) Alluvium. 
2) Diluvium. 


3) Tertiärformation: 
Pliocän, 
Mioecän, 
Eoeän. 


4) Kreideformation. 
Senon, 
Turon, 
Kenoman, 
Gault, 
Neocom (Wealden). 


- Alluvium. Diluvium. 55 


5) Juraformation: 
Oberer, weisser Jura (Malm), 
Mittlerer, brauner Jura (Dogger), 
Unterer, schwarzer Jura (Lias). 
6) Triasformation: 
Keuper, 
Muschelkalk, 
Buntsandstein. 


7) Permische Formation oder Dyas: 
Zechsteingruppe, 
Rothliegendes. 


8) Steinkohlenformation: 
Eigentliche Steinkohlen, 
Flötzleerer Sandstein, 
Kohlenkalk. 


9) Devonische Formation. 

10) Silurische Formation. 

11) Huronische Schieferformation., 
12) Laurentische Gneisformation. 


Obgleich wir keine Geologie schreiben, wird doch 
eine kurze Erläuterung dieser Schichten nothwendig 
sein, da die Art ihrer Entstehung und ihr gegen- 
seitiges Verhältniss auch die Beschaffenheit und Ver- 
theilung der gleichzeitigen Organismen ins Licht setzt. _ 
Alle Erdverschiebungen, welche wir jetzt durch Regen, 
Flüsse und Meer und durch andere Naturgewalten vor 
sich gehen sehen, und die seit geschichtlichen Zeiten, 
kurz, in der sogenannten Gegenwart stattgefunden 
haben, also z. B. die grossen Deltabildungen, die 
Moränenablagerungen unserer Gletscher, werden dem 
Alluvium zugerechnet. Man glaubte es früher durch 
das Auftreten des Menschen gegen das Diluvium 
abgrenzen zu können; allein da man weder einst noch 
jetzt über diesen Zeitpunkt etwas gewisses sagen konnte 
und kann, und da von den Organismen, deren Reste 
in den Diluvialschichten vorkommen, ein Theil zwar 


35 :2° Tertiärformation. Kreide. 


ausgestorben ist, ein grosser Theil aber noch lebt, so 


greifen diese beiden Formationen untrennbar inein- 
ander. Dem Diluvium gehören die mächtigen Schot- 
terablagerungen der grossen Ströme an, die mit Sand- 
bänken wechseln, die Lehm- und Lössbildungen als 
die Schlammabfuhr der einst periodisch kolossal anwach- 
senden fliessenden Gewässer und der Gletscherabflüsse. 
Es fällt nämlich in Europa und Amerika in die Dilu- 
vialperiode auch eine, wie es scheint, wiederholte 
Vergletscherung von Ländern und halben Welttheilen, 
wovon heutzutage Grönland eine Anschauung gibt. 
Die Zeit der als Tertiärformation zusammen- 
gefassten Schichtenreihe darf als die angesehen werden, 
während welcher wenigstens die Skelete der heutigen 
Continente ihren wesentlichen Bildungsabschluss er- 


reichten. In sie fällt nämlich die Aufrichtung und 


Erhebung der grossen Gebirge, der Cordilleren, Alpen, 
des Himalaya u. a.; dabei waren die Umrisse der 
Ländermassen in fortwährender Bewegung. Doch diese 
letztere Erscheinung geht ja doch durch alle Forma- 
mationen, und als geologisches Merkmal für die Ter- 
tiärformation verdient vielmehr der Beginn der 


Sonderung der Erdoberfläche in klimatische Zonen 


hervorgehoben zu werden, die sich den jetzigen Zonen 
nähern. Die Namen der Unterabtheilungen sollen das 
Verhältniss der ‘damals lebenden Thiere zur Jetztwelt 
andeuten, indem im Eocän die ersten mit den heutigen 
identischen Arten sich finden sollten, mehr ım Miocän 
und noch mehr im Pliocän. Zur Kreideformation 
gehören sehr verschiedenartige Gesteine, die nur nach 
ihren Einschlüssen in eine grosse geologische Periode 
zu bringen sind. Wenn der Quadersandstein der Säch- 
sischen Schweiz für das Centrum von Deutschland die 
Formation repräsentirt, so gab ihr die weisse Kreide 
von England und Nordfrankreich den Namen. In 
Amerika ist der Sandstein vielfach zu losem Sande 
zerrieben, und anderwärts sind die Schichten rein 


kalkig oder mergelig. Wie mislich aber die Abgren- 


U N ET ee re a TI TE BI a aa va Ä m 
„> Hi Le. a . Bu ’ ® 


Jura. Trias. 57 


a zung der Schichten nach Raum und besonders nach 


Zeit ist, mag man danach ermessen, dass wir mit allem 
Rechte von der noch immer vor sich gehenden Kreide- 
bildung sprechen können, wie die Untersuchungen von 
Carpenter und W. Thompson über die Beschaffenheit 
des. atlantischen Tiefseebodens gezeigt haben. Der 
frühen Kreidezeit gehört eine grössere Süsswasserab- 
 lagerung, auch durch Hebungen verursachte Brak- und 
Sumpfbildung an, die Wealdenformation, welche eine 
Menge Reste von Süsswasser- und Landthieren nebst 
eigenthümlicher Kohle enthält. 

In sich abgeschlossener erscheinen die Juraschich- 
ten, meist regelmässig in deutlichen Absätzen über- 
einander gelagert, seltener, wie an den Alpen, durch 
spätere Durchbrechungen aufgerichtet. Schon die Ge- 
steine an sich verrathen, dass der Absatz in weiten, 
meist ruhigen oder tiefen Meeren stattgefunden, und 
diese wird durch die wenigen Pflanzenreste und durch 
die Mehrzahl der in kolossalen Mengen sich findenden 
Thierreste zur Gewissheit. An der scheinbar sehr 
scharfen Abgrenzung der Juraformation nach oben und 
unten fand die ältere Geologie mit ihrer Behauptung, 
dass verhältnissmässig ruhige längere Perioden mit 
alles umstürzenden und neu schaffenden Katastrophen 
abgewechselt, eine Hauptstütze. Uebrigens müssen wir, 
um einem etwaigen Misverständniss des eben gesagten 
vorzubeugen, hinzufügen, dass auch die Juraperiode 
schon grössere, reichgegliederte Continente kannte, wie 
sich denn auch zeigen wird, dass mit ihr die höhern 
Landthiere in die Erscheinung traten. 

Einen sehr verschiedenen Charakter untereinander 
zeigen die drei grossen Glieder der Triasformation, 
wie sie namentlich in Deutschland zur Entwickelung 
gekommen sind. Der deutsche Theil des Keupers muss 
nach seinen Einschlüssen als eine Strand- und Buchten- 
bildung angesehen werden, sein mehrliederiges Aequi- 
valent in den Alpen aber als eine mächtige Ablagerung 
des hohen Meeres. Auch der in England fehlende 


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58 Dyas. Kohle. 


Muschelkalk mit seinen Steinsalzlagern und reichen 
Ueberresten meerbewohnender Organismen ist eine Meer- 
bildung. Von der Entstehung des von seiner wech- 
selnden Färbung benannten, geschichteten Buntsandsteins 
mit den zu ihm gehörigen Thonen, Mergeln und oft 
mächtigen Gipseinschlüssen gewinnt man eine Vor- 
stellung durch unsere gegenwärtigen sandigen Strand- 
und Dünenbildungen. Wie bei diesen hat sich auch 
bei der Ablagerung des Buntsandseins sehr spärlich 
die Gelegenheit gegeben zum Einschluss thierischer und 
pflanzlicher Reste, aber sehr merkwürdige Fussfährten 
haben sich erhalten, wie sie noch heute entstehen und 
bewahrt werden können, wenn die in den feuchten 
Sand eingedrückten Formen durch feine thonige Bestand- 
theile ausgefüllt werden, welche von einer benachbar- 
ten Uferstelle her von einem Sturme aufgewühlt sich 
im Wasser vertheilt haben. 

Da das verschiedene Aussehen der aufeinander fol- 
genden Horizonte der vorweltlichen Pflanzen und Thiere 
natürlich ganz wesentlich von der Beschaffenheit ihrer 
einstigen Wohnsitze abhängt, wie auch die Beschaffen- 
heit der einzelnen Regionen eines jeden Horizontes, 
sowie jetzt, bestimmend auf den Charakter der in ihnen 
lebenden Organismen wirken musste, so ist der ge- 
legentliche Hinweis auf solche das Leben in seiner 
Gestaltung und Mannifaltigkeit bedingende Ursachen 
hier am Orte. Wir lassen einen Vertreter der Geo- 
logie, Credner!!, uns die Verhältnisse der Dyas und 
der Kohlenformation schildern, um unsern Einblick 
in das Werden der Erdrinde und in die Abhängigkeit 
des Organischen von den Gestaltungen des Unorgani- 
schen zu vervollständigen: „In Gegenden, wo die 
carbonische (Kohlen-) Formation typisch entwickelt ist, 
besteht dieselbe aus einem untern kalkigen (Kohlen- 
kalk), einem mittlern, conglomeratartigen oder sandigen 
(flötzleerer Sandstein) und einem obern, kohlenführen- 
den Schichtencomplex, also aus einer marinen, einer 
Strand- und einer Sumpf- und Süsswasserbildung. Die 


a Ze 
N 


Dyas. Kohle. 59 


Ursache dieser Erscheinung kann man sich leicht ver- 


gegenwärtigen; sie beruht auf der säcularen Hebung des 
ursprünglichen Meeresgrundes, auf welchem sich anfäng- 
lich der marine Kohlenkalk, später, als dieser an den 
Meeresspiegel gehoben wurde, das Geröll und der grobe 
Sand des Strandes und bei fortgesetzter Hebung die 
Producte der Sümpfe, Lagunen und Aestuarien ab- 
lagerten. Ereignete es sich nun, dass einzelne von 


letztern, also von der productiven Kohlenschichtenreihe 


bedeckte Partien des jungen Festlandes von der ent- 
gegengesetzten Bewegung ergriffen wurden, also sich 
senkten, so mussten sich auf dem allmählich von neuem 
zum Meeresgrunde werdenden Boden ganz ähnliche 
Gebilde, nur gerade in umgekehrter Reihenfolge ab- 
lagern, wie bei dem Emportauchen derselben. Und 
in der That zeigen die Theile der Erdoberfläche, wel- 
che kurz nach Bildung der productiven Kohlenforma- 
tion wieder unter den Meeresspiegel sanken, diese 
Erscheinung. In Deutschland und England folgt auf 
die productive Kohlengruppe eine Sandstein- und 
Conglomerat-, also Strandformation, ganz ähnlich wie 
der flötzleere Sandstein und Millstone-grit, welcher 
sie unterlagert, und darauf eine Kalkstein-, Dolomit-, 
Gipsformation, entsprechend dem untersten Gliede des 
carbonischen Systems, dem Kohlenkalke. Dieser Zwei- 
theilung wegen, die sich in durchgreifenden paläonto- 
logischen und petrographischen Unterschieden äussert, 
bezeichnet man die derartig entwickelte und geglie- 
derte Formation als Dyas. Die einzelnen Stadien die- 
ses Cyclus von Vorgängen, aus denen die carbonische 
und dyassische Formation hervorging, sind demnach 
(von oben nach unten gelesen): 


y « > TE ırns 
f . "7 Ba ie 


6o Uebergangs- und Urgebirge. 


5) Tiefsee Marine Kalkstein Meeres- Zechstein 
Gebilde thiere 
4) Senkung| Strand- Conglo- Rothliegendes 
unter das gebilde |merate und D 
Meer Sandstein yas 
Kohlenführen- 
es 
3) Stillstand Süsswasser-| Kohlen- IRRE Rothliegendes 
und Sumpf-| führende A und 
gebilde | Schichten | Pfanzen Produetive 
Kohlen- 
formation 
2) Hebung Strand- Conglo- Flötzleerer Carben. 
über das gebilde |merate und Sandstein Formation. 
Meer Sandstein Kulm 
1) Tiefsee Marine | Kalkstein | Meeres- Kohlenkalk 
Gebilde thiere 


Es wird aus dieser Darstellung auch klar, dass bei 
unvollständiger Hebung, wie sie in Nordamerika statt- 
gefunden, die Bildung der Mittelperiode gestört wird 
oder ganz in Wegfall kommt, und dass es von localen 
Ursachen und der Dauer der Oscillationen abhängen 
kann, wenn, wie in der der deutschen Dyas entspre- 
chenden russischen Permformation die Grenzen der 
Unterabtheilungen mehr oder weniger verwischt sind. 

Die beiden, über 3000 und 6000 Meter Mächtigkeit 
erreichenden Schichtenreihen unter der Steinkohlen- 
formation, die devonische und die silurische 
Formation, sind die untersten, also die ersten, welche 
das Gepräge ihrer Entstehung als Absätze aus dem 
Meere deutlich an sich tragen. Man fasste früher beide 
Gruppen auch unter dem Namen Uebergangsgebirge 
oder Grauwackenformation zusammen. Auch in 
ihnen wechseln sandige, thonige und kalkige Gesteine 
miteinander ab unter Abänderungserscheinungen schon 
localer Natur, aus denen gegen die Periode der Kohlen- 
formation hin die ersten Anfänge continentaler He- 
bungen hervortraten. 

Auch die Granite, Gneise und Schiefer, welche als 
„Urgebirge“ und „primitive Formationen“ vor 
dem Silur entstanden, sind in ihrer Hauptmasse Sedi- 


in 


Aelteste Organismen. 61 


mente aus heissen oder sehr warmen Urmeeren, welche 
infolge von Druck und Hitze mannichfaltige innere 
Umgestaltungen erlitten haben. Man hat sie bis in 
die neuere Zeit auch die azoische, keine Lebensreli- 
quien enthaltende Gruppe genannt, bis die Entdeckung 
des Morgenröthenthieres (Eozoon) und sein massen- 
haftes Vorkommen in den laurentinischen Schichten 
von Canada den Forderungen einer nothwendigen 
Schlussreihe mit der Thatsache entgegenkam. 

Mit diesem Eozoon soll nun die Musterung der vor- 
weltlichen Thiere von unten nach oben 
begonnen werden. Die Reste dieses 
Wesens bestehen aus einem mehr oder 
minder unregelmässigen System von 
Kammern mit Kalkwänden, deren In- 
neres mit Serpentin oder auch Augit 
ausgefüllt wurde. Man hat den orga- 
nischen Ursprung dieser Kalkgehäuse, 
welche sich am nächsten mit den Scha- 
len der Foraminiferen vergleichen las- 
sen, leugnen wollen. Allein erneuerte 
Untersuchungen bestätigen, dass zwar 
bei der grössten Masse des Eozoon- 
gesteins, das in mächtigen Schichten 
vorkommt, die Umänderung das Er- 
kennen der wahren Natur des Körpers 
fast ganz oder ganz unmöglich gemacht 
hat, dass aber dazwischen Stücke mit 
ausgeprägter Kammerung und einer den Foraminiferen 
eisenthümlichen KRöhrenstructur vorkommen, welche 
eine andere Deutung als die auf ein niederes, den 
Foraminiferen ähnliches Lebewesen ausschliessen. Das 
ist von grösster Tragweite, weil die Fülle von Leben, 
welche in den silurisechen und devonischen Schichten 
angetroffen wird, eine vorausgegangene unmessbar lange 
Zeit voraussetzt, während welcher auch schon das Le- 
ben existirte und nach und nach zu jener Menge der 
Silurperiode anschwoll. Wir kennen aus derselben 


Fig. 9. 


2. Graptolithen. PTriloben 


' nur spärliche Reste von Seepflanzen und nnr Seethiere, 


diese aber in solcher Mannichfaltigkeit und 'Formen- 
menge, dass wir schon daraus auf das Vorhandensein 
von Küsten, seichten oder tiefen Meeresdistricten, eine 
Reihe geographischer Verhältnisse schliessen müssen, 
von denen wir die Mannichfaltiskeit und Tracht der 
Lebewesen abhängig 
sehen. Neben zahl- 
reichen Formen von 


enger an noch lebende 
Familien anschliessen, 
finden wir die ganz ei- 
senthümliche Gruppe 
der Graptolithen 
‘Fig. 9), welche zwar 
keine eigentlichen Po- 
lypen sind, sich aber 
den sogenannten Qual- 
lenpolypen am näch- 
sten anreihen dürften 
und damit den Schluss 
zulassen, dass damals 
auch schon die Er- 
scheinung der höhern 
Formen der Cölen- 
teraten, der Quallen, 
sich vorbereitete. Die 
Gliederthiere werden 
durch die Trilobi- 
ten (Fig.10. Trilo- 
bites remipes) reprä- 
sentirt, eine Krebs- 


Fig. 10, 


form, die an die heutige Gruppe der Blattkiemer. 


erinnert, sich deshalb aber noch nicht näher hat be- 
stimmen lassen, weil bei keinem der vielen Tausende 
von untersuchten Exemplaren der aus dem Silur und 
Devon bekannten Formen (etwa 2000) die Beine er- 


Korallen, welche sich 


N ter 


Weichthiere der Uebergangsformation. 63 


halten waren. An diesen Dreilappenkrebsen treten 
Kopf, Rumpf und Schwanz, sowie die Dreitheilung in 


der Quere deutlich hervor. Die beiden zusammen- 
gesetzten Augen weisen auf eine schon hohe Stufe der 
- Organisation. Die Fähigkeit, sich einzukugeln, welche 
sie mit mehreren heutigen im seichten Wasser und am 
Strande lebenden Krebsen gemein haben, und ihr gan- 
zer Habitus lässt schliessen, dass auch sie Küsten- 
bewohner waren. Die Weichthiere waren hauptsächlich 
durch Armfüsser und Kopffüsser vertreten. Da 
jedoch auch Zweischaler und Gasteropoden da sind, 
so ist das Aussehen jener ältesten bekannten Weich- 
thierfauna nur durch das Zahlenverhältniss von der 
heutigen verschieden, und durch den allerdings sehr 
wesentlichen Umstand, dass von Cephalopoden sich nur 
Nautileen fanden. Die Brachiopoden schwellen sehr 
bald zu ihrer höchsten Blüte an und haben sich dann 
in sehr vermindertem Umfange bis in die Gegenwart 
hineingezogen. Von den Muscheln nehmen im Verlaufe 
der spätern Periode die Dimyarier die Führung, und 
über die Bauchfüsser machen wir nur die Bemerkung, 
dass sie in innerer Gliederung und Mamnichfaltigkeit 
gegen die neuere Periode stetig zunehmen, wie denn 
auch die Land- und Süsswasserbewohner unter ihnen 
zwar schon vereinzelt aus der Steinkohle genannt wer- 
den, aber in Menge und Mamnichfaltigkeit erst den 
Tertiärzeiten angehören. Den Cephalopoden müssen 
wir uns noch wiederholt zuwenden. Von Wirbelthie- 
ren aus dem Silur sind nur Reste eigenthümlicher 
Fische bekannt, deren Verwandte in den Haien und 
Rochen zu suchen. 

Im Devon oder dem Zeitalter des obern Ueber- 
gangsgebirges hatte die Oberfläche der Erde ein freund- 
licheres Aussehen angenommen, wenigstens stellenweise. 
Denn von hier sind die ersten Landpflanzen zu ver- 
zeichnen. Für den Charakter der Fauna ist die 
schnelle Abnahme der Trilobiten bemerkenswerth, das 
Auftreten der wichtigen Cephalopodengattung Clymenia, 


64 Fische der Uebergangsformation. 


an deren Stelle später die Ammoniten rücken, vor 
allem aber der grössere Reichthum der Fische, die 
noch immer die alleinigen Repräsentanten der Wirbel- 
thiere sind und in den damaligen Meeren eine unbe- 
strittene Herrschaft führten. Neben den Haien sind 
die Panzerganoiden. Zwar gehört der Fisch, des- 
sen Hinterende hier abgebildet (Fig. 11. Palaeoniscus), 
erst der obern Kohle und Zechsteinformation an; allein 
es ist nothwendig, schon jetzt auf die Merkmale der 
eigentlichen Ganoiden hinzuweisen, die im Silurmeere 
sich in ziemlich abenteuerlichen Gestalten getummelt 
haben. Glanzschupper nennt sie Agassiz von den 
rhombischen, mit einer der Erhaltung sehr günstigen 


Fig. 11. 


Emailschicht versehenen Schuppen, die in schiefen 
Reihen mit der ganzen Fläche aufgewachsen sind. Die 
Wirbelsäule geht, wie bei den Haien, in das obere 
Ende der Schwanzflosse und macht diese auffallend 
unsymmetrisch. Die Ganoiden sind, wie die verglei- 
chende Anatomie mit Sicherheit nachweist, eine Fort- 
bildung haiartiger Fische, wenn auch nicht gerade 
zum entschieden Höhern. Aber die Ganoiden haben 
die Haie zur Voraussetzung. 

Die Steinkohlenperiode verdankt ihren Namen der 
in ihre Mitte fallenden massenhaften Anhäufung der 
Reste von Landpflanzen, der farnartigen Calamiten, 


a a Be a a a Sa u TE A a Zr 


"Thierwelt der Kohle nd Dan | 65 


besonders aber der zwischen den Gefässkryptogamen 
und Nadelhölzern stehenden Sigillarien und Lepido- 
A _ dendren. Sie bildeten tropische Sumpfwaldungen, wie 
_ sie Franz Unger schon vor einigen Jahrzehnten in 
_ einer genialen Composition zu restauriren versucht 
_ hat. In diesen durch Ausdehnung und Ueppigkeit vor 
den Anfängen der vorangegangenen Perioden ausge- 
zeichneten heissfeuchten Urwäldern treten auch neue 
- Erscheinungen der Thierwelt auf, Skorpione, Tau- 
sendfüsse und Insekten, also luftathmende 
Gliederthiere, auch die ersten luftathmenden 
Wirbelthiere. Die letztern, die Froschsaurier oder 
_ Labyrinthodonten, haben vornehmlich Amphibien- 
_  eharaktere, zeigen z. B. mehrere wichtige Eigenthüm- 
lichkeiten des Froschschädels, ihre Hautbedeckung aber 
erinnert an den Schuppenpanzer der Echsen: wir fin- 
den Charaktere combinirt, die später an verschiedene 
Gruppen vertheilt sind. Auch Spuren grosser See- 
eidechsen sind da. Diese amphibienartigen Thiere 
treten aber hier und auch in der Zechsteinformation 
noch sehr zurück gegen den Reichthum an Ganoiden, 
der ganz besonders einige Schichten der Zechstein- 
formation, z. B. den Kupferschiefer charakterisirt. 
Man lässt der Uebersicht halber nicht unpassend mit 
dem Zechstein eine grosse Periode der organischen 
Entwickelung abschliessen, nennt die Formationsreihe 
vom Silur bis einschliesslich Zechstein die paläozoi- 
sche und fasst die folgenden, Trias, Jura und Kreide, 
als mesozoische zusammen. 

Verschwunden sind nun die Trilobiten, die Panzer- 
ganoiden u. a., und die mächtige Entfaltung der Rep- 
tilienwelt gibt dieser mittlern Hauptperiode ihr 
Gepräge. Die Trias besitzt noch keine echten Kno- 
chenfische. Noch herrschen die Labyrinthodonten vor, 

 woneben die schon in der Dyas aufgetretenen Archäo- 
saurus und Proterosaurus durch zahlreichere, sich 
den echten Reptilien nähernde Formen ersetzt werden. 
Ein‘ einziger Fund aus dem Keuper hat uns die 
SCHMIDT, Descendenzlehre. 5 


N IR LTE 
x e} . N E” 


\ 


66 : » "Fauna de Jurazert. MR 2 meer 


ältesten Spuren eines Säugethieres, die Zähne 


eines raubthierartigen Beutlers geliefert. Schon aus 
dem petrographischen Charakter der Juraschichten liess 
sich abnehmen, dass im allgemeinen ihre Zeit der 
Entfaltung der Thierwelt bedeutend günstiger gewesen 
sein müsse, als die viel unruhigere Triasperiode, oder 


dass wenigstens auf eine reichlichere Erhaltung der 


organischen Reste gerechnet werden könne, denn die 
Juraschichten sind meist ungestört verlaufene Ablase- 


rungen. Und so ist es auch. Die bisher fast ohne 


Feinde die Meere beherrschenden Haie und Ganoiden 
fanden die ihnen überlegenen Gegner in den echten 
Meerechsen oder Enaliosauriern, namentlich den 
Ichthyosauren und Plesiosauren. Der Kopf ist 
eidechsen- und krokodilartig, die Wirbel fischähnlich, 
und ihre Extremitäten erinnern ebenfalls, wie Gegen- 
baur gezeigt, an die einfachere Flosse der Haie. Auch 
lassen ihre versteinerten Kothballen auf eine sehr eigen- 
thümliche Beschaffenheit des mittlern Theiles des Darmka- 
nals mit völliger Sicherheit schliessen. Sie besassen einen 
Spiraldarm, gleich den Haien und verwandten Fischen. 
Diese Thiere sind also nicht blos wegen ihrer auf- 
fallenden-äussern Erscheinung und der ihnen zufallen- 
den Rolle im Haushalte der Natur merkwürdig, son- 
dern, wie die Froschsaurier, als Mischformen und als 
Verbindungsformen der Reptilien und Fische. Ausser 
ihnen sind aus der Meeresfauna die massenhaft auf- 
tretenden Ammoniten hervorzuheben, neben den 
Nautiliten die zweite Hauptform der ehemaligen Ce- 
phalopoden, deren Studium in neuester Zeit zur Ent- 
scheidung der wichtigsten Punkte unserer Wissenschaft 
sehr wesentlich beitragen zu sollen scheint. Aber 
neben ihnen wuchert auch. schon die Artenmenge der 
aus der Trias stammenden Belemniten auf. Sie sind 
die erwiesenen Vorläufer der jetzt das Uebergewicht 
habenden zweikiemigen Cephalopoden. Auf den dem 
weissen Jura angehörigen Kalkplatten von Echstädt 
und Solnhofen sind auch die wie Zeichnungen aus- 


a 


a ei a Be N ri a a 


Fauna der Jurazeit und Krk 67 


sehenden Abdrücke von Medusen erhalten, welche 
zeigen, dass diese Klasse schon damals die noch be- 
stehende Ausbildung erreicht hatte. 
Auch die Landfauna der Jurazeit ist um neue Ge- 
stalten und Gruppen reicher geworden. Wir finden 
die ersten wahren Krokodile, Schildkröten und 
die auffallendste Variation des Eidechsentypus, die 
Flugechsen oder Pterodaktylen. Man kann aus ihren . 
wohlerhaltenen Skeleten entnehmen, dass ihre Flughaut 
zwischen der vordern und hintern Extremität ausge- 
spannt war, hinten ähnlich wie bei Fledermäusen sich 
bis zum Fuss erstreckte, vorn aber durch die Verlän- 
gerung des kleinen Fingers eine entsprechende Ansatz- 
linie erhielt. Auch ein erster und einziger Vogel ist 
in den berühmten Lagerstätten der Flugechsen, in den 
lithographischen 'Schiefern von Solnhofen in Baiern 
gefunden (Archaeopteryx lithographica). Die auf- 
'fallendste Eigenthümlichkeit dieses an den genauesten 
Federabdrücken erkennbaren Vogels ist der lange mit 
zwei Reihen steifer Federn besetzte Schwanz. Leider 
ist der Kopf zur Unkenntlichkeit zerquetscht. Auch 
die oben schon signalisirte niedere Ordnung der Säu- 
ser, die Beutelthiere, war da, wie die Funde aus dem 
mittlern Jura Englands und dem obern Jura der 
Purbekschichten zeigen. 
‚Merkwürdigere Zwischenformen als Archaeopteryx 
sind die vogelartigen Thiere der Kreide, welche 
durch sanduhrförmige Wirbelkörper sich direct an die 
 Seesaurier des Jura anschliessen, auch Zähne besitzen, 
welche übrigens vielleicht auch dem Archaeopteryx 
zukommen. Später mehr von diesen Wesen, welche 
eine bisjetzt sehr empfindliche Lücke ausfüllen. Es 
‚fällt in diese neue Periode die grösste Blüte und das 
Aussterben der Ammoniten mit vorausgehendem Sta- 
-dium von Krüppelformen, als welche man die Turri- 
lites, Scaphites, Baculites u. a. ansieht. Auch die 
Blüte der grossen Seeeidechsen ist vorüber, aber die 
Sümpfe der Wealdenzeit beherbergten neue Formen von 
5* 


68 Historische Entwickelung der Seeigel. 


von mächtigen Landeidechsen. Zu den langschwän- 
zigen Krebsen treten die Krabben, die am höchsten 
entwickelten Formen der Klasse. Auch fällt in Jura 
und Kreide die Hauptblüte der seeigelartigen 
Echinodermen. Wir haben die Klasse der Stachel- 
häuter bisher noch gar nicht erwähnt, um hier im 
Zusammenhange einige wichtigere Phasen ihres geolo- 
gischen Erscheinens hervorzuheben. Ein ausgezeich- 
neter Kenner dieser Klasse, Desor*), hat kürzlich 
untersucht, wie in jener grössern Gruppe der Seeigel 
sich allmählich der Fortschritt der Organisation geltend 
macht, bei welcher Gelegenheit er einige allgemeine 
Betrachtungen über das Princip der Vervollkommnung 
der in ihren Repräsentanten als Seesterne und Seeigel 
unsern Lesern wol allgemein bekannten Stachelhäuter 
anzustellen veranlasst war. Wenn sowol das Glieder- 
thier, als das Wirbelthier mit dem Ungleichwerden 
der ‚hintereinander liegenden Leibesabschnitte eine 
höhere Stufe erreichen, so tritt die grössere Einheit 
und damit Vervollkommnung des Echinodermenkörpers 
ein, indem die Strahlen oder die sogenannten Anti- 
meren zurücktreten unter die Einheit des Ganzen. 
Je deutlicher diese Elemente, d. h. je selbständiger 
sie bleiben, : desto niedriger ist, wie das Gliederthier, 
so auch das Echinoderm. Danach nehmen die See- 
sterne, theilweise auch die Haarsterne oder Crinoideen, 
den untersten Rang ein. Es verlässt uns jedoch auch 
leider hier die paläontologische Ueberlieferung. Nur steht - 
so viel im allgemeinen fest, dass in ‚den ältern ver- 
steinerungführenden Schichten beide Abtheilungen reich 
vertreten sind. Auch eine höchst merkwürdige und 
wichtige Zwischenform aus dem obern Silur von Dudley 
ist bekannt (Eucladia Johnsoni), um so wichtiger, als 
bisher nur wenige Uebergangsformen der Ordnungen 
ineinander aufgefunden sind. Das Verhältniss der 


“*) Bulletin de la societ& des sciences nz de Neuf- 
ns IX. 2, 5 


Be 
> 


Pestorinche Entwickelung der Seeigel. 69 


_ Seesterne zu den Seeigeln ist noch unklar. Dagegen 
_ liest die Brücke von den Haarsternen zu den Seeigeln 
_ ziemlich deutlich vor. Die eigentlichen Crinoideen sind 


festsitzend, und ihnen schliessen sich in der Steinkohlen- 
formation de nicht mehr festsitzenden Cystideen und 
Blastoideen an, wozu sich die mehr den Seeigeln glei- 
chenden Tesselleen gesellen. Nun sind Dyas und Trias 


noch arm an echten Seeigeln, sehr reich dagegen der 


_ Jura, und in dieser grossen Periode vollzieht sich 


langsam und Schritt für Schritt zu verfolgen vom älte- 
sten Juragebilde an, dem Lias, bis zum Korallenkalk 
die Umgestaltung der Seeigel zu einer ausserordent- 
lichen Mannichfaltigkeit. Anfänglich herrschen die 
Cidariden vor; zu ihnen treten im Oolith- die Echino- 


‚coniden und Cassiduliden. In den spätern Stufen des 


obern Jura ist die schärfere Trennung der Arten das 
Charakteristische. Desor weist nach, wie diese Ent- 
faltung mit zeitweilisem Stillstande mit der jeweiligen 
Beschaffenheit des Meeresbodens zusammenhängt. „Das 


Gesetz des Fortschrittes“, sagt er, „zeigt sich in dem 


Umstande, dass es die niedrigsten unter den Echini- 
den sind, die Regularien und Endocycliken, welche 
sich zuerst zeigen, anfangs unter der Gestalt der 
Tesselleen, dann unter derjenigen der Cidarideen, wäh- 
rend die vollkommensten der Spatangiden, mit am 
deutlichsten ausgeprägter zweiseitiger Form, zuletzt 


erscheinen. Zwischen diesen Extremen finden wir eine 
_ Menge von Gattungen und Gruppen, die sich vonein- 


ander nur durch Nuancen unterscheiden, sodass beı 


_ zwei zusammenhängenden Gattungen es oft schwer, ja 


_ unmöglich ist, anzugeben, welche die vollkommnere. 


Die Vervollkommnung zeigt sich erst in der Gesammt- 
heit, aber im concreten Falle ist sie meist nicht nach- 
zuweisen.“ Auch noch in der Kreide dominiren die 
Seeigel.e Einige neuere Entdeckungen seeigelartiger 
Thiere mit weich und biegsam bleibenden Hautbildun- 
gen bestätigen, was theoretisch höchst wahrscheinlich 
war, dass aus ihnen in den neuern Perioden die am 


70 Thierwelt der Torlärzen, 


höchsten stehende Ordnung der Holothurien oder See- 


gurken hervorgegangen, und somit fügt sich auch die 
Abtheilung der Stachelhäuter der allgemeinen Erfah- 
fahrung des Aufsteigens von den niedrigern und in- 
ren zu den höhern Formen. 

Mit der Tertiärzeit bricht die noch oe | 
Gestaltung der Dinge hervor. Palmen und Laubhölzer 
Bern chnch die Vegetation. Auch die Thierwelt ist 
von den ältern Abschnitten der Tertiärperiode an bis 
zur Gegenwart im wesentlichen dieselbe geblieben, wie 
im Kapitel über die geographische Verbreitung näher 
auseinander gesetzt werden soll. Waren es in der 
ältesten Formationsreihe die Fische, in der mittlern 
die Reptilien, welche aus der Lebewelt als Repräsen- 
tanten der höchsten Entwickelung hervortreten, so 
überwältigt nun, wo die Continente, freilich noch un- 
ter mannichfachen localen Schwankungen, sich der 
jetzigen Configuration nähern, der Eindruck der Säuge- 
thiere. Unter dem Einfluss von Hebungen und Sen- 
kungen, mehreren Eisperioden, dem immer schärfern 
Hervortreten der klimatischen Zonen fanden öftere 
Dislocirungen innerhalb der Pflanzen- und Thierwelt 
statt und Specialisirung und Weiterentwickelung. Wie 
erwähnt, wird der Verlauf der Untersuchungen hierauf 
zurückführen. Zu der Zeit der Geologie, wo man an 
die strenge Trennung der Entwickelungsperioden der 
Erde und die scharf geschiedene Aufeinanderfolge 
ihrer Zeugen, der Schichtensysteme glaubte, stellte man 
den Begriff des Fossilen dahin fest, dass, was vor dem 
Erscheinen des Menschen an der Schwelle der Alluvial- 
zeit gelebt habe, fossil sei. Es hat sich ergeben, dass 
das Dasein des Menschen ein weit älteres, dass Arten 
und Geschlechter, welche die Wiege der Menschheit 
umgaben, ausgestorben, dass sie also, wie z. B. der 
Mammuth, nur für uns, nicht für unsere diluvialen 
Vorfahren, fossıl sind, während andere zahlreiche _ 
Thierformen, die schon vor dem Menschen existirten, 
sich bis in die Gegenwart erhalten haben. Im ganzen 


7 en A BIN A a a ET a Zu le Ei ine 
€ Be 0 . EITGER EI > ö 
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Allgemeiner Charakter der Vorwelt. 1 

- gehen von der Tertiärperiode an die pflanzenfressenden 

- Säugethiere den Fleischfressern’ voran, Die Affen er- 
scheinen erst kurz vor dem Menschen. 

Trotz vieler Lücken des paläontologischen Befundes 
ist der Fortschritt in der Entwickelung des Organi- 
schen, die Pflanzenwelt eingerechnet, offenbar. Kein 
fossiles Thier steht im Widerspruch mit dem System. 
Im Gegentheil finden durch die vorweltlichen Thiere 
die mannichfachsten Ausgleiche und Vermittelungen statt. 
Wenn z. B. die heutigen Dickhäuter sich von den 
Wiederkäuern scharf abheben, so wird zwischen ihnen 
durch die ausgestorbenen Formen eine ununterbrochene 
‚Brücke hergestellt. Wenn uns die Gegenwart nur ein- 

 zelne zerstreute Gattungen der Zahnlosen zeigt, weist 
die Diluvialzeit deren eine ziemliche Fülle in weit 
srösserer Formenmannichfaltigkeit auf. Sowol in den 
Typen, wie in den Klassenabtheilungen schreitet also 
das System von den ältern zu den neuern Perioden 
fort, wobei die ältern Gruppen allmählich anschwellen 
und dann abnehmen, indem neuere vollkommnere oder 
specifischer ausgebildete Formen sich einschieben. Jene 
verschwinden entweder ganz oder überdauern die 
neuern Perioden bis in die Gegenwart hinein in spär- 
lichen Resten. Die Formationen haben zwar meist 
ihre charakteristischen Organismen, aber fast überall 
sind schon die verbindenden Glieder nachgewiesen. 
Alles zeigt darauf hin, dass es sich um Evolution, 
nicht um Revolution handelt. Wo scheinbar ein plötz- 
licher Abschnitt, verhält es sich doch, wie bei den Re- 

‘ volutionen der Menschengeschichte, in welchen auch 
nur längst vorbereitete, pragmatisch nothwendige Re- 
formen zum beschleunigten Durchbruch kommen. 

Fasst man das Ergebniss der Vergleichung der fos- 
silen Thierwelt mit der lebenden zusammen, so stellt 
sich erstens eine Uebereinstimmung zwischen den zeit- 
lich aufeinander folgenden Stufen und den jetzt neben- 
einander befindlichen Gliedern des Systems heraus. 
Zweitens aber, wenn jenes constatirt ist, folgt von 


e Es 26 

72 Die sogenannten embryonischen 

selbst der Parallelismus zwischen der geologischen Auf- 
einanderfolge der Thiere und den Stufen der indivi- 
duellen Entwickelung der heutigen Thiere.. Schon 
Agassiz hat in seinem grossen Werke über die fossilen 
Fische diese Thatsache schlagend hervorgehoben und 
sie in seinen spätern Schriften bis zu den Untersuchun- 
gen über Entwickelung und Wachsthum der Korallen 
durch neuere werthvolle und überzeugende Beobach- 
tungen bestätigt. Dieselben Beispiele, welche im vorher- 
gehenden Abschnitt zur Erläuterung des Parallelismus 


der individuellen Entwickelung mit der systematischen 


Stufe dienten, können hier wiederholt werden, viele 
neuere höchst frappirende haben die speciellen Unter- 
suchungen des letzten Jahrzehnts zu Tage gefördert. 
Agassiz hat für dieses Verhältniss den Ausdruck 


„embryonische Typen‘ oder „embryonische Repräsen- 


tanten“ eingeführt. So sind also die gestielten Haar- 
sterne embryonische Typen der heutigen Gattung 
Comatula, die ältesten Seeigel die embryonischen Re- 
präsentanten der höhern Familien der Clypeastriden 
und Spatangoiden, das Mastodon seiner bleibenden 
Backzähne halber der embryonische Typus des vor- 


übergehend solche Zähne besitzenden Elefanten. 


Verbindet man mit dem Worte weiter nichts, als die 
unklare Vorstellung ‚der Thätigkeit eines und dessel- 
ben schöpferischen Geistes durch alle Zeiten und über 
die ganze Erdoberfläche‘!?, so ist damit kaum etwas 
für das Verständniss gewonnen. Lassen wir uns lie- 
ber mit Rütimeyer in seinen schönen Untersuchungen 


über die fossilen Pferde!® durch solche und ähnliche 


Thatsachen ‚auf einen engen Zusammenhang der Ent- 
wickelungsstadien des Individuums mit denjenigen der 
Species aufmerksam machen“, d. h. auf einen natür- 
lichen Zusammenhang. Alle, welche durchaus des per- 
sönlichen Gottes in der fortlaufenden Schöpfungs- 
geschichte bedürfen, ziehen aus jenen Thatsachen 
keinen andern Schluss, als dass ihr Gott die Laune 
gehabt, anfänglich unvollkommene, später immer voll- 


und die prophetischen Typen. | 13 


_  kommnere Organismen hervorzubringen und in der 


 Entwickelung der letztern Erinnerungen an die vor- 
 hergehenden anzubringen. 

So werthlos wie die Formel. der embryonischen 
Typen ist eine andere, welche Agassız für solche Bil- 
dungen erfunden, wo bei einzelnen fossilen Gruppen 


- mechanische und physiologische Effecte in unvollkomm- 


 nerer Weise erreicht werden, wofür bei später 
- auftretenden Organismen durch andere ausreichendere 


und vollkommene Einrichtungen gesorgt ist. Es sind 
seine „prophetischen Typen“. In diesem Verhältniss 
soll z. B. die Flugeidechse (Pterodactylus) zum Vogel 
stehen. Dient dieses Wortspiel aber etwa zum Ver- 
ständniss des einen oder des andern? Gibt es über- 
haupt irgendeine Aufklärung? Kann man sich irgend 
etwas Vernünftiges dabei denken, wenn man im An- 
schluss an die Prophetie der Flugeidechse, das ihr 
geologisch vorangehende Insekt zu ihrem Propheten, 
oder den Vogel zum Johannes der Fledermaus macht? 
Sınn kommt nur hinein, wo der Prophet zum Stamm- 
vater wird, woran in diesen Fällen nicht zu denken. 


V. 


Nochmals der Wunderstandpunkt und die Natur- 
forschung. Schöpfung oder natürliche Entwickelung. 
Linne. Cuvier. Agassiz. Untersuchung des 
Artbegriffes 


Die Botschaft hör’ ich wol, allein mir fehlt der Glaube. 
Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind. 


Mit diesen Worten Faust’s wollen wir uns nochmals 
ohne Umschweif den Standpunkt des Naturforschers 
zu einem Gebiet klar machen, in welchem nicht der 
helle Verstand, sondern die durch farbige Gläser 
blickende Phantasie, nicht die Logik, sondern die 


74 Nochmals das Wunder. 


Gedankenwillkür das Scepter führt, worin die Gesetze 
der Causalität auf den Kopf gestellt werden, ein Ge- 
biet, auf welchem sich zwar noch recht viele unzwei- 


felhaft ehrenwerthe Menschen heimisch fühlen, das aber 


im besten Falle zur frommen Selbsttäuschung führt 
und sehr häufig der Denkträgheit ein Ruhekissen be- 
reitet. Wir müssen mit aller Schneidigkeit und Rück- 
sichtslosigkeit Stellung nehmen, da nach Erörterung 
des thatsächlichen Befundes der Thierwelt in den drei 
Beziehungen, des jetzigen Bestandes an fertigen For- 
men, der Entwickelung der Individuen und der histo- 
rischen Aufeinanderfolge während der jüngern Perioden 
der Erdbildung, nunmehr nach jener an der Oberfläche 
bleibenden Arbeit des Registrirens und Referirens die 
eigentliche Durchdringung unseres Stoffes beginnen 
soll. Dieser Fall tritt aber nur für diejenigen ein, 
für welche das Wunder der Schöpfung schlechthin 
nicht existirt, wogegen ein Beobachter, welcher auch 
nur den Schatten eines Wunders, irgendwelche Ver- 
rückung des natürlichen Verlaufes der Dinge für mög- 
lich hält, seine Wissenschaft der Biologie mit dem 
früher dargelegten und durch unzählige Specialkennt- 
nisse erweiterten Wissenswerk als abgethan betrachten 
muss. Wir können also nicht anders, als den Spruch 
Goethe’s: „Der Glaube ist nicht der Anfang, sondern 
das Ende alles Wissens“ so auslegen, dass der Glaube 
sich mit dem Wissen nicht verträgt, und dass mithin 
auch der Glaube an eine a des Lebendigen 
mit der Forschung unverträglich ist. 

Wenn aber das ‚Leben nach auf unbegreifliche Weise 
entstanden sein soll, so muss es sich entwickelt haben. 
Es hat lange Jahrzehnte gedauert, ehe dieser Gedanke 
mit seinen Folgen durchbrechen konnte, und um die 
Hartnäckigkeit zu begreifen, mit der man am Gegen- 
theil festhielt und einen Kreis von Anschauungen ein- 
wurzeln liess, deren Bekämpfung erst die moderne 
Biologie mit Erfolg unternommen, ist es nöthig, an 
einige Hauptmomente der Geschichte der Zoologie und 


Linne. 75 


ihrer Träger zu erinnern. Wir werden damit ganz 
“von selbst an den Punkt geleitet, von wo aus der 
Schacht der Erkenntniss geschlagen worden ist. 

Die vergleichende Anatomie hat nach der Mitte des 
vorigen Jahrhunderts fast unabhängig vom Ausbaue 
der systematischen Zoologie einen sehr glücklichen An- 
lauf genommen und war weit ideenreicher, als jene 
beschreibende Naturgeschichte.e. Nur einen Satz der 
letztern nahm sie unbesehen hin, den von der Festig- 
_ keit und Unveränderlichkeit der Art, und dieser Satz 
bildet den Mittelpunkt der Anschauungen Linne’s. Die 
Autorität und lange dauernde Herrschaft dieses grossen 
 Naturbeschreibers wird uns nur verständlich durch die 
Zuversicht und den Lapidarstil, sowie die Handlichkeit 
seiner Diagnosen, wodurch er der völligen Zerfahren- 
heit der Naturgeschichte mit einem Schlage ein Ende 
machte und der Mit- und Nachwelt als ein Gesetzgeber 
erschien. Das Hervorheben der Art als der Grund- 
lage alles systematischen Verständnisses war noch nie 
so nachdrücklich geschehen. Seine Ansicht gipfelt in 
dem Satze!!: „Die Vernunft lehrt, dass bei Beginn 
der Dinge von jeder besondern Art ein Paar geschaffen 
sei.“ Mit dieser Vernunft sieht es jedoch bei Linne 
sehr eigenthümlich aus, indem sie dem strengsten 
Bibelglauben unterworfen ist, und mit diesem Stand- 
punkt sucht er seine geologischen Vorstellungen in 
Uebereinstimmung zu bringen. Ihm war besonders ein 
wirkungsvolles geologisches Phänomen auffallend, die 
Hebung eines grossen Theils der skandinavischen Kü- 
sten. Sie geht schneller vor sich, als die Senkung 
eines andern Theiles, ihre Erscheinungen sind viel 
mächtiger, und so konnte sich die Vorstellung bilden, 
als ob das Festland in regelmässiger Zunahme nach 
und nach aus dem Meere gestiegen sei. „Ich glaube 
' nicht sehr von der Wahrheit abzuirren“, sagt er, „wenn 
ich behaupte, dass alles Festland während der Kind- 
_ heit der Erde unter Wasser getaucht und von einem 
ungeheuren Ocean bedeckt war, ausser einer einzigen 


nd a BF U NEE ner [a3 
a “ FR VER a 4 
hi FE 


76 Linn‘. Cuvier. 


Insel in diesem unermesslichen Meere, worauf alle 
Thiere wohnten und die Pflanzen freudig sprossten.‘!? 
Dass auch alle Pflanzenarten in diesem lieblichen Gar- 
ten sich befunden haben müssen, gehe daraus hervor, 
dass ausdrücklich gesagt sei, Adam habe alle Thiere 
benannt; folglich müssten auch alle Insekten im Para- 
diese versammelt gewesen sein, die Insekten aber ohne 
die Pflanzen seien gar nicht zu denken. Linne macht 
dann den ersten thier-geographischen Versuch, indem 
er von diesem Mittelpunkt aus die Thiere sich ver- 
breiten lässt. Die Summe seiner Ansicht über den 
Artbegriff ist aber immer: „Wir zählen so viele Arten, 
als das unendliche Wesen im Anfang der Dinge er- 
schuf‘ 1%; und seine Autorität war so gewaltig, dass 
das Zeitalter Voltaire’s und Diderot’s dieses offenbare 
Dogma gläubig hinnahm und als einen Satz, der über- 
haupt gar nicht bezweifelt werden könnte, den Nach- 
kommen überlieferte. 

Indessen war Linne so wenig Anatom, dass es nach 
dieser Seite einer völligen Neubegründung der Zoolo- 
gie bedurfte, und als ein solcher zweiter Linne trat 
Cuvier auf.1” Seine Schule nennt sich die Schule der 
Thatsachen, doch war er keineswegs ohne philosophi- 
schen Anstrich. Im Gegentheil musste die bestimmte 
und einfache Art seiner Prineipien und Abstractionen 
imponiren. Die Summe seiner Beobachtungen fasste 
er als „Gesetze der Organisation‘ zusammen, und er 
wendete die teleologische Betrachtungsweise, das prin- 
cipe des causes finales, höchst fruchtbar auf die Er- 
kenntniss und Wiederherstellung vorweltlicher Thiere 
an. Die Frage nach der Beständigkeit oder Verän- 
derlichkeit der Arten klopfte sehr vernehmlich an 
seine Thüre. Eine äussere Veranlassung dazu gab die 
ägyptische Expedition und die Untersuchung der mu- 
mificirten Thiere. Etienne Geoffroy Saint Hilaire und 
Lamark griffen die Artbeständigkeit an. und meinten, 
dass die ägyptische Periode viel zu kurz sei, um aus 
der Gleichheit der Mumien mit den jetzt lebenden 


2 nA > 5 ee, ad a Eee a: 
VW u Ber a 6 wi Por AL. - 
r & z \ en 1 


 Cuvier. | OA 


Arten, zumal bei der Stabilität der äussern Verhält- 
nisse, auf die Gültigkeit des Satzes von der Unverän- 
_ derlichkeit der Art schliessen zu können, allein die 
Frage ward von der Cuvier’schen herrschenden Schule 
barsch abgethan und todtgeschwiegen. Indessen ver- 
mehrte Cuvier nicht blos den Haufen der Thatsachen, 
sondern, wie wir oben angedeutet, gruppirte sie mit 
philosophischem Geschick so glücklich, dass er aller- 
dings seinem bewussten Ziele, dem natürlichen Systeme, 
sich näherte. Er lieferte den ersten sichern Nachweis 
untergegangener Thierarten. Hinsichtlich der Ent- 
stehung der in den nachfolgenden Perioden an ihre 
Stelle getretenen war er nicht unbedingt, wie man 
gewöhnlich annimmt, für Neuschöpfung, sondern er 
_ enthielt sich einer bestimmten Ansicht. „Ich will 

nicht gerade behaupten“, sagt er!®, „dass es zur Her- 

vorbringung der heutigen Thiere einer Neuschöpfung 
bedurft habe, ich sage nur, sie lebten nicht an der- 
selben Stelle und mussten anderswoher kommen.“ 

Geoffroy dagegen zweifelt nicht, dass die jetzt leben- 

den Thiere in einer ununterbrochenen Reihenfolge von 

Generationen von den untergegangenen Geschlechtern 

der Vorwelt herstammen. 

In der Art Cuvier’s lag die Gefahr eines natur- 
wissenschaftlichen Dogmatismus, und darum wird es 
gerechtfertigt sein, hier auf einen erst im J. 1873 

- gestorbenen Schüler Cuvier’s hinzuweisen, auf Louis 

Agassiz, der in der starrsten lehrhaften Weise an den 
systematischen Kategorien festhält und sie als „ver- 

körperte Schöpfungsgedanken“ in schön klingende De- 

 finitionen kleidet.!? Nach ihm gehören die Arten 
einer gegebenen Periode der Erdgeschichte an und 
haben bestimmte Beziehungen zu den während dieser 

Zeit vorherrschenden physikalischen Verhältnissen, sowie 

zu den gleichzeitigen Pflanzen und Thieren.. Die Spe- 

cies sind begründet auf wohl bestimmte Beziehungen 
- von Individuen zur umgebenden Natur und zu ihrer 
Verwandtschaft, auf die Proportionen und Beziehungen 


. 


Ze op ERBEN Zah BEE ala RE N ae ae 


or \ A * . iX 


78 Agassiz’ systematische Formeln. 


ihrer Theile zueinander und auf ihre Ornamentation. 
Die Individuen, als die Repräsentanten der Arten, 
stehen in den engsten Verhältnissen zueinander. Sie 
zeigen bestimmte Verhältnisse zu den umgebenden 
Elementen und ihr Sein ist innerhalb einer gewissen 
Periode begrenzt. Von der Gattung heisst es: „Gat- 
tungen sind aufs engste miteinander verbundene Grup- 
pen von Thieren, welche weder in der Form noch in 
der Zusammensetzung ihres Baues voneinander ab- 
weichen, sondern einfach in den letzten Structureigen- 


thümlichkeiten einzelner ihrer Theile.“ ‚Die Individuen 


als Repräsentanten von Gattungen haben einen be- 
stimmten und specifischen feinsten Bau, identisch mit 
dem der Repräsentanten anderer Arten.“ Wir können 
diese Definitionen nur für Phrasen erklären und fragen 
mit Haeckel: ‚Welcher Art sind denn diese «letzten 
Structureigenthümlichkeiten einiger ihrer Theile», wel- 
che allein das Genus als solches bestimmen sollen, 
und welche jedem Genus ausschliesslich eigenthümlich 
sein sollen? Wir fragen jeden Systematiker, ob er 
nicht ganz ebenso gut diese Bestimmung auf Species, 
Varietäten u. s. w. wird anwenden wollen, ob es 
schliesslich nicht auch «letzte Structureigenthümlich- 
keiten einzelner Theile» sind, welche die für die Spe- 
cies, für die Varietät u. s. w. charakteristische Form 
hervorbringen.“ Vergeblich suchen wir in dem Essay 
on classification nach einem einzigen Beispiele, wie 
etwa die Ochsen- und die Antilopengattung, das Hunde- 
und das Hyänengeschlecht, die beiden grossen Gattun- 
gen unserer Süsswassermuscheln, Unio und Anodontr, 
sich in the ultimate structural pecularitiess of some 
of their parts denn eigentlich unterscheiden. Mehrere 
dieser von Agassiz gegebenen Definitionen kann man 
geradezu miteinander vertauschen, so allgemein ge- 
halten und nichtssagend sind sie. Die Klassen charak- 
terisirtt er „durch die Art, wie der Plan des Typus 
ausgeführt ist, so weit man dabei Wege und Mittel 
berücksichtigt", die Ordnungen „durch den Grad der 


BRRET 


G m 


Be Agassiz’ systematische Formen. 1% 


" Zusammengesetztheit der Structur der Typen.“ Diese 

Phrasen lassen sich ohne weiteres eine durch die an- 
dere ersetzen, sie machen aber, wie die ganze Dog- 
matik, grossen Eindruck bei denen, welche wegen 
Unkenntniss der Thatsachen nicht selbst Kritik üben 
können, und werden daher mit Vorliebe eitirt, um 
die ungläubige Naturforschung mit der gläubigen zu 
widerlegen. 

Man sollte meinen, wenn die Sache so einfach läge, 
und die systematischen Begriffe so fest ständen, dass 
nichts leichter wäre, als das System aufzustellen. Und 
das behauptet auch Agassız. Er sagt, wenn von einer 
grossen Thiergruppe auch nur eine einzige Art vor- 
handen und der Untersuchung zugänglich sei, so könnte 
man danach die Typus-, Klassen-, Familien-, Gattungs- 

“und Speciescharaktere bestimmen, nur die Ordnung 
liesse sich nicht ableiten. Die Hinfälligskeit dieser und 
ähnlicher Behauptungen lässt sich am besten nach- 
weisen durch Untersuchung des Fundaments aller dog- 
matischen Systematik, der „Art“. Ist dieser Begriff 
ein wandelbarer, ıst dıe Art nicht etwas ein für alle- 
mal Gegebenes, sondern nach Zeit und Umständen 
Wechselndes, so richtet sich auch der Inhalt der höhern, 
allgemeinern Begriffe von Gattung, Familien u. s. w. 
hiernach. Die schärfste und consequenteste Kritik über 
den eingewurzelten Schulbegsriff der „Art“ ist von 
 Haeckel geübt worden?’, nachdem schon Darwin in 

seinem classischen ‚Werke über die Entstehung der 

Arten die ‚alte Lehre und Praxis der Zoologie und 

Botanik in ihrer ganzen Blösse gezeigt. Im Folgenden 

halten wir uns an Haeckel. 

Wir haben oben gesehen, dass Linne die Schöpfung 
als biblische unumstössliche Lehre hinnahm, und es ist 
geradezu komisch, wenn heute noch eine Menge Natur- 
forscher auf dieses Dogma schwören, welche über alle 
andern Dogmen längst hinaus sind. Da also in der 
Bibel von der Schöpfung der Arten die Rede, ‚so 
wurde diese Sage zum Fundament der Wissenschaft 


Y 


Pe 


80 


gemacht. Heute ist die Zahl derer allerdings klein, 
welche sich auf die biblische Aussage berufen. Viel- 
mehr meinen diejenigen, welche die Stabilität der Art 
verfechten, mit Cuvier die Thatsachen zu ihren Gun- 
sten deuten zu dürfen, wobei sie theils unbewusst in 
dem ererbten Vorurtheil befangen bleiben, theils mit 
allerlei Kniffen das klare Gegentheil der Unveränder- 
lichkeit nicht sehen wollen. Indem Linne auf die 
Schöpfung zurückwies, rechnete er die Individuen zu 
einer Art, deren Stammbaum in directer Linie auf 
das aus der Hand des Schöpfers hervorgegangene Paar 
zurückführe. Eine Untersuchung dieses Stammbaums 
war seinerzeit einmal nach dem ganzen Stande der 
wissenschaftlichen Mittel nicht möglich, aber bei dem 
strengen Anlehnen an die heilige Ueberlieferung auch 
kaum nothwendig. Cuvier, obgleich ein sehr unbe- 
fangener und kühler Beobachter, nahm doch im Grunde 
die Linne’sche Definition der Art an. Nach ihm ist 
die Art „die Vereinigung der voneinander und von 
gemeinschäftlichen Aeltern abstammenden Individuen, 
und derjenigen, die ihnen ebenso ähnlich sind, als sie 


sich untereinander gleichen.“?! „In dieser Bestim» 


mung“, sagt Haeckel, an welche sich die meisten spä- 
tern mehr oder minder eng anschliessen, wird offenbar 
zweierlei für die zu einer Species gehörigen Individuen 
verlangt: erstens nämlich ein gewisser Grad von Aehn- 
lichkeit oder annähernde Gleichheit der Charaktere, 
und zweitens ein verwandtschaftlicher Zusammenhang 
durch das Band gemeinsamer Abstammung. Von den 
spätern Autoren ist bei den zahlreichen Versuchen, 
die Definition zu vervollkommnen, bald mehr auf die 
genealogische Blutsverwandtschaft aller Individuen einer 
Art, bald mehr auf ihre morphologische Uebereinstim- 
mung in allen wesentlichen Charakteren Rücksicht ge- 
nommen werden. Im allgemeinen kann man aber 
behaupten, dass bei der praktischen Anwendung des 
Artbegriffes, bei der Unterscheidung und Benennung 
der einzelnen Species, fast immer nur das letztere 


S 


ee: BF Der Artbegriff. 81 


"Moment zur Geltung gelangte, das erstere dagegen 
"ganz vernachlässigt wurde. Späterhin wurde zwar die 
 genealogische Vorstellung von der gemeinsamen Ab- 
'stammung aller Individuen einer Art noch durch 
die physiologische Bestimmung ergänzt, dass alle In- 
dividuen einer Art miteinander fruchtbare Nachkom- 
menschaft erzeugen könnten, während die sexuelle 
"Vermischung von Individuen verschiedener Arten gar 
keine oder nur eine unfruchtbare Nachkommenschaft 
lieferte. Indessen war man in der systematischen Praxis 
allgemein vollkommen zufrieden, wenn man bei einer 
untersuchten Anzahl höchst ähnlicher Individuen die 
 Uebereinstimmung in allen wesentlichen Charakteren 
festgestellt hatte, und frug nicht weiter danach, ob 
diese zu einer Art gerechneten Individuen in der That 
gemeinsamen Ursprungs und fähig seien, bei der Be- 
gattung miteinander eine fruchtbare Nachkommenschaft 
zu erzeugen. Vielmehr kam die physiologische Be- 
stimmung natürlicherweise bei der praktischen Unter- 
scheidung der Thier- und Pflanzenarten ebenso wenig 
in Anwendung, als die vorausgesetzte gemeinsame Ab- 
stammung von einem und demselben Aelternpaare. 
Andererseits unterschied man ohne Bedenken zwei 
nächstverwandte Formen als zwei verschiedene ‘gute 
Arten’, sobald man bei einer untersuchten Anzahl von 
ähnlichen Individuen eine‘ constante Differenz, wenn 
auch nur in einem verhältnissmässig untergeordneten 
Charakter nachgewiesen hatte. Auch hier kümmerte 
man sich nicht darum, ob die beiden verschiedenen 
Reihen wirklich nicht von gemeinsamen Vorältern ab- 
"stammten und wirklich miteinander keine oder doch 
nur unfruchtbare Bastarde zeugen könnten.“ 
Dass diese gründliche Verurtheilung der nachlinn&i- 
schen Speciesmacherei nicht zu hart, geht daraus un- 
ter anderm hervor, dass innerhalb der Zunft die 
allergrösste Uneinigkeit über die Begrenzung der Spe- 
 cies herrschte und bis heute herrscht, dass man sich 


über das Fundament der Speciesbeschreibung, die 
_ — ScHNIDT, Descendenzlehre. 6 


rn 


N 


ae er ae Ne a De en a a FE 


Pa a en 


4 Er a 1 DE a Fa ad 5 Fe = 
82 | Der Artbegriff. 


„wesentlichen Merkmale“ durchaus nicht verständigen 4 


kann. Wenn auch Agassiz das Recept für die Species 
aufstellt, so ist abc in jedem einzelnen Falle über 
die Verhälfnisse der Theile, die Ornamentation u. a. 
zu entscheiden. Da man, ohne Vogelbälge, Schnecken- 


häuser, Schmetterlinge u. s. w. vor sich zu haben, 


nicht von vornherein angeben kann, was die „wesent- 


lichen Merkmale“ der daraus zu machenden Arten seien, 


so ist, wenn es an die Aufstellung der Arten gehen 


soll, der subjectiven Ansicht und der reinen Willkür 


der grösste Spielraum gelassen, und es gibt nicht 


zwei Autoritäten unter den Systematikern innerhalb 


eines gewissen, nach seinen Formen wohlbekannten 
Gebietes, die über die Zahl der Arten, in welche sie 


das vorliegende Material eintheilen sollen, einig wären. 
Die völligste Zügellosigkeit in der Artmacherei hat 
aber einige Jahrzehnte hindurch bei den Paläontologen 
geherrscht, wo aus dem Bestreben, die Unterabthei- 
lungen der geologischen Schichten durch ihre organi- 
schen Einschlüsse möglichst sicher zu stellen, die Art- 


spaltung nach den kleinlichsten, oft nur individuellen 


Abweichungen bis in das Unglaubliche gegangen. Eine 


gewisse Veränderlichkeit der Arten musste sich zwar 


auch dem blödesten Auge aufdringen; man zweiste 


Unterarten und Spielarten, Varietäten ab, welche man 


nach „minder wesentlichen“, durch Klima und Züch- 


tung erworbenen Merkmalen charakterisirte, mit dem 


Vorbehalt, dass ihre Kreuzungen untereinander und 
mit der Hauptart fruchtbare Nachkommenschaft her- 
vorbrächten, während sie gegen andere Arten sich wie 
die Hauptart verhielten. Natürlich war das subjective 
Urtheil bei dieser Trennung der Art in die Unterarten 
noch weniger als bei der Artbeschreibung an Tradi- 
tion und Gesetz gebunden. Die ornithologische Lite- 
ratur der lezten vierzig Jahre dürfte von der hiermit 


eingerissenen babylonischen Verwirrung die geeignetsten 


Tausende von Beispielen geben. 
Es soll nun durchaus nicht in Abrede gestellt werden, 


Da Artbegrit 85 


Mass ein grosser, vielleicht der grösste Theil der jetzt 
 existirenden Organismen für die Naturbeschreibung 
sich in einem Zustande befindet, wonach sie als so- 
genannte Arten in ihren äussern und innern Verhält- 
nissen charakterisirt werden können und behufs der 
_ Wiedererkennung und überhaupt der wissenschaftlichen 
Behandlung gekennzeichnet werden müssen. Diese 
"Stabilität ist aber, wie sich theils direct, theils nach 
 Analogien zeigen lässt, unter allen Umständen nur 
eine zeitliche, und wir haben ganze Klassen von Or- 
ganismen, auf welche der alte Artbegriff mit seiner 
Constanz der wesentlichen Merkmale sich auch mit 
dem weitesten Vorbehalte nicht anwenden lässt. Kön- 
nen wir den Beweis unwiderleglich führen, dass solche 
‚artlose Gruppen existiren, so ist mit der es Syste- 
matik und dem Speciesdogma ein für allemal auf- 
‚geräumt und das positive Fundament einer neuen Lehre 
gewonnen. Dieser Beweis ist geführt in zwei 
Richtungen. Einige Klassen von Organismen befinden 
"sich in ihrem gegenwärtigen Zustande in einem solchen 
Schwanken und Fliessen der Formen, dass „Artkenn- 
zeichen“ und „Gattungskennzeichen“ überhaupt nicht 
festzuhalten sind. Sie befinden sich in einem extre- 
men Grade der Veränderlichkeit, welche bei andern 
einer scheinbaren Ruhe gewichen ist. Andere Reihen 
von Thatsachen der offenbarsten Artveränderlichkeit 
zeigen gewisse vorweltliche Gruppen in der Aufein- 
 anderfolge der „Arten“ genannten Formen. 

Schon vor dem Erscheinen von Darwin’s Werk über 

die Entstehung der Arten war der Physiolog und Zoo- 
"log Carpenter in London durch seine Untersuchungen 
der Foraminiferen zu dem im Einzelnen nachge- 
wiesenen Resultate gekommen, dass in dieser Gruppe 
niedriger Organismen, welche äusserst zierliche Kalk- 
gehäuse absondern, nicht von „Arten“, sondern nur 
von „Formenreihen“ die Rede sein könne. Formen, 
‚welche die Systematiker in verschiedene Gattungen 
"und Familien gebracht, sah er sich auseinander ent- 
6* 


a De A Dr a) 
j Fu re ENT) RE C r 
- \ - 


84 


wickeln. Indessen sind diese Foraminiferen von so 


einfachem Bau, man kennt ihre individuelle Entwicke- 
lungsgeschichte oder Ontogenie noch so wenig, sie bieten 
so wenig mikroskopisches Detail zur Controle der Art- 


umwandlung, dass den Vertheidigern der Artconstanz 
allenfalls die Ausflucht geblieben wäre, die Formen- 
reihen von Carpenter seien Varietäten und bewiesen 


nur, dass man die wahren „Arten“ noch nicht gefun- 
den. Da ist denn nun die Klasse der Schwämme oder 
Spongien hülfreich eingetreten, auf deren Wichtig- 
keit in der Artfrage zuerst ich hingewiesen habe. 2 


Es handelt sich bei ihnen, so fasste ich meine Unter- 


suchungen zusammen, nicht blos, wie bei den Fora- 
miniferen, um den allgemeinen Habitus der Form, um 
die variable Gruppirung der Kammersysteme, sondern 
die Variabilität ist an dem mikroskopischen Detail 
ebenso und noch specieller vorhanden, als an den 
gröbern Bestandtheilen. Bei den Foraminiferen kann 
man wol von mikroskopischen Formen, aber nicht 
eigentlich von mikroskopischen Bestandtheilen sprechen. 
In den Spongien aber belauschen wir die Umbildung 
der feinern Formbestandtheile, der Elementarorgane, 


und dadurch wird die Wandelbarkeit des Ganzen so 


durchsichtig. Es verhalten sich in dieser Beziehung 
die Kalkschwämme etwas anders, als die übrigen, und 


besonders die Kieselschwämme. Bei jenen ist die Va- 


riabılität der mikroskopischen Theile auf einen klei- 
nern Formenkreis beschränkt, dafür aber der Habitus 
der Individuenreihen von einer ganz unglaublichen 


Biegsamkeit. Wir vermissen nun zwar diese Biegsam- 


keit des Gesammtkörpers auch nicht bei den Kiesel- 
spongien, wir sehen z. B. bei der Gattung Tedania, 
von Gray zusammengestellt aus einigen meiner frühern 
Renieren, wie deren eigensinnig zusammenhaltende 
Nadelformen von Triest bis Florida und Island unter 
den verschiedenartigsten Verkleidungen auftreten. Die 


eine dieser Nadeln neigt aber in einigen Varietäten 


schon zu Abschweifungen. Und gerade dieser Punkt, 


Formenreihen der Sp ongien. 85 


” dis bis ins Einzelne zu verfolgenden Umwandlungen 
derjenigen Organe, welche als vermeintlich stabil der 
£ Systematik die wesentlichste Grundlage zur Aufstellung 
der Gattungen und Arten zu bieten schienen, macht 
_ die Untersuchung besonders anziehend. Schon in den 
 algierischen Spongien habe ich frappante Beispiele 
en Diese häufen sich in dem Masse, als der 
 Gesichtskreis sich erweitert. Schritt für Schritt machen 
_ wir die Wahrnehmung, dass auf kein „Merkmal“ ein 
leidlicher Verlass TE dass bei einiger Constanz der 
mikroskopischen Bestandtheile die äussere Körperform 
_ mit ihren groben Kennzeichen weit über die Grenzen 
E der sogenannten Arten und Gattungen hinaus abändert, 
bei gleichem äussern Habitus aber die, wie wir er 
F ten, specifischen innern Theilchen uns en unter 
- der Hand zu andern werden. „Wer bei den Spongien“, 
- so schliesst jener Abschnitt aus meinem Werk über 
die atlantische Spongienfauna, „sein Hauptgeschäftt 
auf die Species- und Gattungsmacherei verlegt, wird 
ad absurdum geführt, wie Haeckel in seinem Prodro- 
mus zur Monographie der Kalkschwämme mit köstlicher 
Ironie gezeigt. 
Während ich mich in meinen speciellen Untersuchun- 
gen im wesentlichen auf die Kieselschwämme beschränkte 
_ und den, bisher von den sonst so lauten Gegnern der 
 Artconstanz unanget&steten Beweis durch Tausende von 
mikroskopischen Beobachtungen, durch Messungen, 
_ Zeichnungen, durch Thatsachen und Schlüsse geführt, 
dass bei ihnen Arten und Gattungen, mithin feste 
systematische Einheiten überhaupt nicht existiren, hat 
_ Haeckel mit unerreichter Meisterschaft die andere Ab- 
theilung der Klasse, die Kalkschwämme, monogra- 
phisch bearbeitet.” Er konnte nicht nur meine Aus- 
- führungen bestätigen, sondern beidem geringern Umfange 
_ und der grössern Uebersichtlichkeit der zum Studium 
gewählten Gruppe mit’ grösserer Consequenz und Lücken- 
 losigkeit von der Detailbeobachtung zum Ganzen 
 fortschreiten, Morphologie, Physiologie und Entwicke- 


a ui ef‘ 


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M. 


Can 4 a a rn a u 7% bi a 2 ad 


86 Artveränderung in der Zeit. 


lungsgeschichte in möglichster Vollendung darstellen 


ind den: Männern des Stillstandes den es 


werfen, dass man je nach subjectiver Ansicht eine oder 
591 Species der Kalkschwämme annehmen könne, „dass 
eine absolute Species überhaupt nicht existirt, und 
dass Species und Varietät nicht scharf zu trennen sind.“ 
Wer nach diesen Darlegungen auf dem Hirngespinst 
der Species beharrt, ohne entweder zu beweisen, dass 
die Thatsachen falsch beobachtet sind, oder dass sie 
anders und zu Gunsten der Stabilität der Art aus- 
gelegt werden müssen, wer, wie Agassiz vor einigen 
Jahren, ohne von solchen Untersuchungen Notiz zu neh- 
men, öffentlich versichert, man habe noch in keinem 
einzigen Falle die Veränderlichkeit einer Art gezeigt, 


hat kaum noch das Recht, an dem grossen, die Natur- 


wissenschaft bewegenden Streite sich zu betheiligen. 
Nun gibt es aber, wie oben erwähnt, noch eine 
zweite Richtung, in welcher die Beweglichkeit der 


„Art“ nachgewiesen werden muss, nicht die Richtung 


1 Keen 


due) 


in die Breite, sondern in die Höhe und Tiefe. Jene 


Veränderlichkeit der Schwämme liefert den höchst 
wichtigen Nachweiss, dass, um mich so auszudrücken, 
eine ganze Klasse gegenwärtig eine verhältnissmässige 
Ruhe noch nicht gefunden hat. Man verlangt aber 
mit Recht zur Constatirung der Artveränderlichkeit 
r . T .. 4 = e 7 ke 
den Nachweis der Veränderlichkeit ım Laufe der Zeit, 


des Ueberganges der sich in den Erdschichten_histo- 
risch folgenden Formen. Wir glaubten bis vor Kurzem 


als ein sehr lehrreiches Beispiel der im Verlaufe der 
Zeit eintretenden Artveränderung die von Hilgendorf *°) 


untersuchte Tellerschnecke aus dem Süsswasserkalk von 


Steinheim anführen zu dürfen. Allein dieser Fall hat 
gezeigt, wie vorsichtig wir mit den Beweisen sein müssen, 
indem spätere Untersucher vergebens sich nach der 
von jenem behaupteten regelmässigen Schichtenfolge 
und der darin enthaltenen Gestaltveränderung des Pla- 
norbis multiformis umsahen, sich vielmehr überzeugten, 
dass die ganz ungewöhnlich auseinander gehenden For- 


N 


Artverändernng in der Zeit. 87 
men dieser Schnecke bunt durch einander vorkommen. 
“ Indessen ist an andern grossartigern Belegen kein 
Mangel, und der Eifer einiger neuerer Paläontologen, 
wie Waagen, Zittel, Kayser, Neumayr, Würtenberger””, 

in der Verfolgung der sogenannten Arten der Arm- 
füsser und Ammoniten durch ganze geologische Zeit- 
räume hat gezeigt, dass für diese wichtigen Abthei- 
lungen die Unmöglichkeit vorliegt, sie in „Arten“ zu 

_ trennen. Wir lassen diese Forscher für uns sprechen. 
Kayser zieht aus der Untersuchung der Armfüsser 
(vgl. S. 63) der devonischen Schichten der Eifel fol- 
gendes Resultat: „Vielleicht spricht keine Thierordnung 

so sehr zu Gunsten der darwinschen Theorie, als ge- 
 rade die Brachiopoden. Wer gleich mir Gelegenheit 
‘gehabt, eine Menge von Brachiopodenarten Schicht 
- für Schicht durch einen ansehnlichen Stratencomplex 
zu verfolgen, wem die gewöhnlichern Arten zu Hun- 
- derten durch die Hände gegangen, der wird bei der 
Wahrnehmung, wie weit die Veränderlichkeit vieler 
Arten geht, oft haben staunen müssen, und nicht selten 
wird ihm der Muth entsunken sein, bei manchen For- 
men jemals zu einer scharfen Speciesbegränzung ge- 
langen zu können, immer weniger wird er den 
Gedanken, dass unsere Arten in der That, wie 
Darwin behauptet, nur künstliche Begriffe 
oder Rubriken sind, gänzlich von der Hand 
weisen können“. Kayser sieht sich daher genöthigt, 
die Gränzen seiner Arbeit künstlich zu ziehen und 
Formenreihen zu bilden, ähnlich wie die andern 
Erforscher der Ammoniten. Waagen erinnert daran, 
dass Quenstedt schon längst vor Darwin an den ge- 
netischen Zusammenhang der verschiedenen Formen aus 
den auf einander folgenden Schichten gedacht und fährt 
dann fort: „Unter den Paläontologen, welche in neuerer 
Zeit unter dem Einflusse der Ideen der Descendenz- 
theorie sich eingehend mit Ammoneen beschäftigt haben, 
sind wol wenige zu finden, welche nicht von den That- 
sachen eben dahin geführt worden wären. Die Existenz 


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88 Veränderlichkeit der Ammoniten. 


von Formenreihen, wie sie in letzter Zeit mehrfach 


nachgewiesen worden sind, innerhalb deren jede jüngere 


Form von der nächst älteren um ein geringes abweicht, 
bis durch die Summirung dieser kleinen Abweichungen 


eine grosse Differenz von der ursprünglichen Art her- 


vorgebracht ist, die Existenz solcher Formenreihen 
führt mit zwingender Nothwendigkeit zur Annahme 
eines genetischen Zusammenhanges“. Eben so Zittel; 
eben so Neumayr. Letzterer sagt: „Kaum eine That- 


sache spricht so entschieden für die Richtigkeit der 


Descendenztheorie, als die Existenz von Formenreihen, 
wie sie schon jetzt in vielen Fällen nachgewiesen wer- 
den konnten und noch viel öfter werden gefunden 
werden, da jetzt die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt 
gelenkt ist. In ganz besonders schöner Weise stellt die 
hier beschriebene Form der Oppelia darwinii den Ueber- 
gang von den normal gebildeten Pennilobaten zu den 
abnorm gestalteten Semiformen her“. Mehrere Haupt- 
resultete Würtenbergers, die wir zuletzt anführen, werden 
von Neumayr bestätigt. L. Würtenberger stellte seine 
Untersuchungen an Tausenden von Exemplaren an aus 
den Gruppen der Planulaten-Ammoniten mit berippten 
Schalen und der Armaten-Ammoniten mit bestachelten 
Schalen. Indem er seine Ergebnisse zusammenfasst, 
sagt er unter anderm: „Wie man bei den Ammoniten 
der Planulaten- und Armatengruppe die Species gegen- 
einander abzuzweigen habe, darüber möchte und könnte 
ich keinerlei Anweisung geben, indem mir diese Frage 
als eine ganz verfehlte erscheint. Denn bei Gruppen 
fossiler Organismen, wo man, wie in diesem Falle, 
zwischen den extremsten Formen so zahlreiche Ver- 
bindungsglieder wirklich vor sich liegen sieht, dass 
der Uebergang ganz stetig vermittelt wird, lässt sich 
der Species noch viel weniger ein Begriff unterschie- 
ben, als bei den organischen Formen aus der Jetzt- 
welt, welche letztere doch wenigstens die heutigen 
Grenzen der Zweige des grossen Stammbaumes der 


organischen Welt bezeichnen. Bei jenen fossilen 


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Arten und Bastarde. 89 


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Formen jedoch ist es im Grunde vollständig 
_ einerlei, ob man ein ganz kurzes oderein län- 
 geres Stück irgendeines Zweiges mit einem 


besondern Namen beehrt und als Species be- 
trachtet. — Die stacheltragenden Ammoniten, wel- 
che man unter den Armaten zusammenfasst, reihen sich 
so innig aneinander, dass es zur Unmöglichkeit wird, 


_ die hier angenommenen Arten scharf voneinander zu 


trennen. Ganz dasselbe gilt auch von jener Gruppe, 
deren vielerlei Formen sich durch ihre berippten Scha- 
len auszeichnen und die man als Planulaten aufführt.“ 
— Es hat sich ferner ergeben, dass die Armaten aus den 
Planulaten entstehen. 

Wir kommen später wieder auf Würtenberger’s vor- 
läufige Mittheilungen zurück. Hier war es uns darum 
zu thun, unsern Lesern an die Hand zu geben, wie 
und wo die neuere Naturforschung mit dem Artgespenst 
aufräumt, und sie in Stand zu setzen, selbst zu be- 


 urtheilen, welche Beobachtungsreihen den Versiche- 


rungen, dass noch in keinem einzigen Falle der Ueber- 
gang einer Art in eine andere Art nachgewiesen sel, 
entgegenstehen. Die alte Schule kommt nämlich nach 
und nach in die Verlegenheit, ganze Ordnungen und 
Klassen als ‚Arten‘ zu proclamiren und die früher so 
schön gekennzeichneten Arten als Varietäten. 

Die Unhaltbarkeit des physiologischen Theiles der 
Artdefinition ist von Darwin und dann von Haeckel 
überzeugend dargethan. Dass gute „Arten“ auch im 
freien Zustande sich nicht selten vermischen, und dass 
gezähmte Arten, wie Pferd und Esel seit Jahrtausenden 
gekreuzt worden, ist bekannt. Aber die Producte 


dieser Mischungen, die Bastarde, sollten nur aus- 


nahmsweise selbst fruchtbar sein und jedenfalls nur 
auf wenige Generationen eine fruchtbare Nachkommen- 
schaft haben. Dagegen sollte es fest stehen, dass die 
Producte der Kreuzungen von Varietäten in ununter- 


 brochener Folge fruchtbar seien. Der Lehrsatz von 


der Unfruchtbarkeit der Bastarde hatte sich zuerst 


90 Bastarde. 


ohne alle experimentelle und allgemeinere Beobachtung 
ausgebildet, und wurde unglücklicherweise durch eine 


der ältesten und bekanntesten DBastardirungen das 
Maulthier und den Maulesel, scheinbar bestätigt. Diesem 


landläufigen Beispiele,wo die Fruchtbarkeit der Bastarde 
fehlschlägt, setzen wir nur eins der neuern Zeit gegen- 
über, die durch viele Generationen geglückte Fort- 
pflanzung von Hasen und Kaninchen, zweier noch nie 
für blosse Varietäten erklärten au Arten“. Die 
so zahlreichen und voneinander abweichenden Formen 
des Haushundes hat die Schule für Varietäten einer 
Art erklärt, weıl sie sich fruchtbar miteinander ver- 
mischen. Liest man aber die sorgfältige Zusammen- 
stellung der Nachrichten über das Verhältniss von 
gewissen Wolfsarten zu den Hunden wilder Völker- 
schaften und des europäischen Wolfes zum ungarischen 
Hunde bei Darwin®®, so wird man mit Darwin es als 
höchst wahrscheinlich annehmen müssen, dass an ver- 
schiedenen Punkten der Erde zu verschiedenen Zeiten 
wilde Arten der Gattung Canis gezähmt wurden, die 
in fast unbeschränkter Weise miteinander fruchtbare 


Nachkommenschaft erzeugen. Aehnliches gilt von der 


Hauskatze. Für die Formen der europäischen Haus- 
katze steht die Sache so, dass ihre Herkunft theils 
von einer nubischen Art, theils von der europäischen 
Wildkatze kaum bezweifelt werden kann. Man drehte 
sich also mit den Schlüssen im Kreise: die Formen 
gehören zu einer Art, weil sie sich fruchtbar kreuzen, 
und weil sie zu einer Art gehören, kreuzen sie sich 
fruchtbar; und auf der andern Seite: weil die und die 
Formen bei Kreuzungen keine fruchtbare Nachkom- 
menschaft hervorbringen, bilden sie verschiedene Ar- 
ten, und weil sie verschiedene Arten sind, zeugen sie 
keine fruchtbare Nachkommenschaft. Die Fälle der 
nachhaltigen Fruchtbarkeit der Bastarde sind zwar 
eben nicht häufig, aber doch so weit constatirt, dass 
die Behauptung des Gegentheils den Thatsachen offen 
widerspricht. Aber auch umgekehrt hat der Satz, dass 


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Blendlinge. Forster gegen den Artbegriff. 9 


‚die Blendlinge, die Kreuzungsproducte der Varietäten, 


fruchtbar seien, so allgemein hingestellt keine Gültig- 
keit. Die Varietät, welche sich in Paraguay aus un- 
serer Hauskatze‘ abgesondert, paart sich „mit ihrer 
Stammart nicht mehr; ebenso wenig das zahme euro- 
päische Meerschweinchen mit der brasilianischen wil- 
den Stammart. Wenn aber auch im allgemeinen 


Kreuzungen von Varietäten sich leichter vollziehen 


und häufiger fruchtbare Producte geben als die immer- 
hin seltenern Kreuzungen von Arten, so ist überhaupt 
das öftere Fehlschlagen der Artkreuzungen in völligem 
Einklang mit der oben dargelegten Artveränderung im 
Laufe der Zeit. Für uns soll vorläufig nur feststehen, 
dass Blendlinge und Bastarde hinsichtlich ihrer Frucht- 
barkeit und der Fähigkeit zu constanter Fortpflanzung 
im wesentlichen sich gleich und nur gradweise ver- 
schieden verhalten, und dass auf diese Eigenschaften 
eine nähere Bestimmung und Eingrenzung des Species- 
begriffes nicht begründet werden kann. 

Wenn die ältern Definitionen des Artbegriffes auf 
das Paradies zurückgehen und die heute lebenden Or- 
ganismen in directer Linie von den anfänglich auf 
wunderbare Weise geschaffenen und nie abgeänderten 


 Stammältern herleiten, so wurde das, wie aus den naiven 


Aeusserungen Linne’s hervorgeht, als etwas Selbstver- 
ständliches angenommen und an den, überhaupt un- 
möglichen, Beweis nie gedacht. Dass übrigens schon 
im vorigen Jahrhundert gegen diese oberflächliche Be- 
handlung des Speciesbegriffes sich die Stimmen tiefer 
bliekender Naturforscher erhoben, geht unter anderm 
aus einem Briefe Georg Forsters an Peter Camper 
hervor, vom 7. Mai 1787. Man gründe Systeme auı 
diesen Begriff, und doch sei alles schwankend, solange 
dieser Ausdruck nicht unverrückbar festgestellt sei. 
Aber alle bisherigen Definitionen dieses Wortes seien 
hypothetisch und nichts weniger als an sich selbst 
klar. Wolle man nun so viele Species annehmen, als 
geschaffen worden, wie solle man dann eine erschaffene 


92 „Gute“ und „schlechte“ Arten. 


Art von einer, aus der Vermischung einiger anderer 
hervorgegangenen unterscheiden? Auf die Schöpfung 
zurückgreifen, heisse sich ın das Unendliche und Un- 
fassbare verlieren. „Wir werden damit nie etwas be- 


greifen, und die Definitionen, welche sich auf eme 


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unerklärbare Grundlage stützen, auf ein Mysterium, 


sollten auf immer aus der Wissenschaft verbannt sein.“ 


Ohne dass man irgendeiner Theorie zu huldigen 
braucht, wird man zur Anerkennung der Thatsache 


genöthigt, dass noch gegenwärtig in verschiedenen 


Gruppen der Organismen eine solche Unstetigkeit der 
Formen, ein solcher Grad von Variabilität obwaltet, 
dass die Gezwungenheit und Künstlichkeit des syste- 
matischen Scheidens auf der Hand liegt. In vielen 


andern Gruppen, z. B. den meisten Ordnungen der 


Säugethiere, ist an die Stelle dieses Stadiums der Be- 
weglichkeit eine gewisse Ruhe getreten und erscheinen 
die zur Beobachtung und Vergleichung vorhandenen 
Formen so gegeneinander abgegrenzt, dass sie ohne 


Schwierigkeit sich dem System als „gute Arten“ ein- 


fügen. Beurtheilt man aber die guten Arten mit den 
bei den „schlechten“ gemachten Erfahrungen, und will 
man nicht zu der widersinnigen und den gesunden 
Menschenverstand verleugnenden Annahme greifen, 
dass die „guten Arten‘‘ auf eine wunderbare, unserer 
Erkenntnis unzugängliche Weise entstanden seien, die 
Entstehung der „schlechten Arten‘ sich aber analysiren 
lasse, so ist nur der andere Fall möglich und denk- 
bar, dass, wie Haeckel sagt: „alle Species ohne Aus- 
nahme ‘schlechte Arten’ im Sinne der Speciesfabrikan- 
ten sein würden, wenn wir sie vollständig kennen 
würden.“ Wir kennen also schon genug schlechte Ar- 
ten, um mit Gewissheit auf das allgemeine Gesetz 
schliessen zu können. Allein dennoch ist jede weitere 
Bestätigung und Auffindung „schlechter Arten“ will- 
kommen. Früher von den Systematikern nur als Un- 
bequemlichkeiten betrachtet und als unbrauchbare 


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Berechtigung. ‚der Arten. 93 


| Steine von den Bauleuten verworfen, sind sie jetzt die 
’ Ecksteine der Wissenschaft geworden. 
Soll man nun vielleicht, fragen wir nochmals, die 
Species ganz aufgeben? Aus mehrern Gründen nicht. 
' Selbst vorausgesetzt, dass sogenannte „gute Species“ 
im Sinne der Systematiker gar nicht existirten, würde 
der menschliche Verstand in dem Bemühen nach Ueber- 
sicht genöthigt sein, die Formen zu benennen, wenn 
nicht alle wissenschaftliche Behandlung unmöglich ge- 
macht werden sollte. Ausserdem aber ist die Bei- 
behaltung der Species wissenschaftlich berechtigt und 
nothwendig, sobald man nur die bestimmenden Mo- 
mente berücksichtigt und die Definition mit der Wirk- 
lichkeit in Einklang bringt. Die Species wird nicht 
blos gebildet von ähnlichen Individuen, da ja schon 
- die Geschlechter selbst im Falle der Entwickelung ohne 
Verwandlung erheblich voneinander abweichen. Er- 
innern wir uns aber an die stufenweise eintretenden 
 Gestaltveränderungen der einer Metamorphose unter- 
_  worfenen Organismen und an die in regelmässiger 
Folge im Generationswechsel einander ablösenden For- 
men, so werden wir, statt von Individuen, von den 
die verschiedenen Phasen und Reihen der Individuen 
umfassenden Zeugungskreisen reden müssen. Diese 
bleiben sich gleich, solange sie unter gleichen äussern 
Verhältnissen existiren. Inwieweit die Zeit an sich 
auf das Bestehen und Vergehen Einfluss übt, ist dun- 
kel. Jedenfalls ist die Zeit ebenso wol wie die äussern 
Verhältnisse in der Zeit ein Factor der Artverände- 
rung. Indem wir die Art als absolut veränderlich 
und nur relativ ständig betrachten, nennen wir sie 
‚mit Haeckel „die Gesammtheit aller Zeugungskreise, 
welche unter gleichen Existenzbedingungen gleiche 
Formen zeigen“, 


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‚94 Die Natitphilosepiile 
8 


Die Naturphilosophie. Goethe. Prädestinirte Um- 
bildung nach Richard Owen. Lamark. 


Wir haben uns bisher wesentlich mit der Betrach- 


tung der Erscheinungsweisen der Thierwelt als gege- 
bener Thatsachen beschäftigt, ein Eingehen auf den 
Zusammenhang der Thatsachen und eine Kritik der 
Erklärungsversuche möglichst vermeidend. Dennoch 
war es nothwendig, einzelne Momente aus der Ge- 
schichte unserer Wissenschaft hervorzuheben, deren 
Nachwirkungen bis in die Gegenwart reichen und deren 
Kenntniss zum Verständniss herrschender Anschauungen, 
Richtungen und Vorurtheile verhilft. Aus diesem 
Grunde greifen wir nochmals in die Entwickelungs- 
geschichte der Biologie und vergleichenden Anatomie 
zurück, um die Strömungen der Gegenwart an ihren 
Quellen aufzusuchen. Es hat seit der Mitte des vori- 
gen Jahrhunderts durchaus nicht an leitenden Ideen 
in den organischen Naturwissenschaften gefehlt, wie 
solche z. B. in Buffon’s grossartigem Entwurf eines 
Weltgemäldes enthalten sind. Wenn aber von einer 
einheitlichen, umfassenden Durchdringung der organi- 
schen Welt die Rede ist, so wird man zunächst immer 
an die Naturphilosophie denken, wie sie in den ersten 
zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts das Verdienst 
für sich in Anspruch nahm, das Weltganze aus einem 
Prineip zu verstehen, nicht nur die Materie an sich, 
sondern auch Sein und Werden der organischen Kör- 
per aus dem Ganzen abzuleiten. Nachdem die Identitäts- 


philosophie die Gesetze des Geistes ohne das Studium - 


der Leiblichkeit zu begründen begann, und die Iden- 
tität der Körperwelt mit der Geisteswelt an den Im- 
ponderabilien und den anorganischen Körpern nach 
ihrer Weise geprüft hatte, musste sie ihre Constructio- 
nen auf den Organismus ausdehnen. Dieser Versuch 
der Verallgemeinerung der Schelling’schen Principien 


Dr = von Oken gemacht worden?’, indem er in seinem 
System die gesammte Natur als einen Process der 
 Entwiekelung auffasst. Die Naturwissenschaft ist ihm 
die Wissenschaft von der ewigen Verwandlung Gottes, 
- das heisst des Geistes, in die Welt, ist also im um- 
fassendsten Sinne Kosmogenie. Jedes Ding im gene- 
_ tischen Process des Ganzen gedacht, enthält neben 
dem Begriff des Seins auch den des Nichtseins, oder 
Position und Negation, indem es in einem höhern 
aufgeht. In diesen Gegensätzen ist die Kategorie der 
_ Polarität enthalten, die sich in der Bewegung, dem 
Leben der Dinge offenbart. Die einfachern elemen- 
tarıschen Körper treten zu höhern Gestalten zusammen, 
‚welche nur potenzirte Wiederholungen jener, als ihrer 
Ursachen sind. Daher stellen die verschiedenen Gat- 
tungen von Körpern parallele, sich entsprechende und 
in»ihrer Gliederung sich bedingende Reihen vor, deren 
_ vernünftige Anordnung sich mit innerer Nothwendig- 
- keit aus ihrem genetischen Zusammenhange ergibt. In 
den Individuen aber kommen jene niedrigern Reihen 
abermals während ihrer Entwickelung zur Erscheinung. 
- Die Gegensätze im Sonnensystem, des Planetaren und 
-  Solaren, wiederholen sich in Pflanze und Thier, und 
da das Licht das Prinzip der Bewegung, so hat das 
Thier die selbständige Bewegung vor dem vorzugsweise 
der Erde angehörigen Pflanzenorganismus voraus. Der 
Embryologie wird in einem allgemeinen Satze ihr Recht 
gegeben: „Die Thiere vervollkommnen sich nach und 
nach, indem sie Organ an Organ setzen, ganz so, wie 
sich der einzelne Thierleib vervollkommnet.“ Im Men- 
schen aber, als dem höchsten Thiere, ist die ganze 
Thierwelt enthalten, er ist der eigentliche Mikro-. 
-  kosmus. Ä 
| Wir können heute das abgerundete, in 3562 Sätzen 
-  niedergelegte System Oken’s "mit den consequenten 
Phantastereien vom Position, Negation und Polari- 
- tät, den absolut inhaltsiosen Formeln des + 0 —, ohne 
- irgendeine wirkliche Durchdringung des Thatsächlichen 


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gewiss keine Naturphilosophie mehr nennen, sofern 


diese der Ausdruck und die logische Verknüpfung aller 
gut beobachteten Thatsachen sein soll. Es sind da- 


durch aber mannichfache und wichtige Anregungen E 


zur Forschung gegeben, und wir haben hier um so 


mehr auf dieses System aufmerksam machen wollen, 


als es mindestens ebenso viel besagt, wie die vagen 


Formeln und Begriffe von „innerer Entwickelung‘“, 
„Vervollkommnungsprineip“, „Umprägung des Niedern 
zum Höhern“, und. die ganze Litanei der Halbheit 


und Unklarheit, die sich in unsern Tagen breit macht. 


Wir halten in diesem Abschnitt nicht die chrono- 
logische Reihenfolge ein, sondern charakterisiren ver- 
schiedene Auffassungen der organischen Natur, und 
dürfen deshalb nunmehr zurückgreifen zu Goethe, 
welcher nach Haeckel’s Auffassung in der grossen, uns 
in dieser Schrift beschäftigenden Frage seiner Zeit vör- 
auseilte und als der selbständige Begründer der De- 
scendenztheorie in Deutschland zu feiern sei.°® Wir 
vermögen nicht, Goethe diese Bedeutung beizulegen, 


denn eben der Hauptpunkt, worauf Haeckel das grösste 


Gewicht legt, dass Goethe die Arten nicht blos als 
die veränderten Erscheinungen des beweglichen Gat- 


tungsbegriffes, sondern als die in ihrer Realität ver- 


änderlichen Summen von Körpern ansieht, müssen wir 


verneinen. Was uns vornehmlich bewegt, Goethe’s 


hier ausführlich zu gedenken, ist seine Durchdringung 
der Typusidee, welche von Buffon an ein paar Men- 
schenalter hindurch der Leitstern einer höhern, den 
reinen Systematikern fremden Forschung war. Goethe 
verarbeitete dieselbe in sich auf Grund einer aller- 
dings etwas vornehmen Specialkenntniss des organi- 
schen Materials und stand jedenfalls an der Schwelle 
der Lösung. Wie seine naturwissenschaftliche Thätig- 
keit ein nothwendiger Ausfluss seines Wesens war, 
habe ich in den citirten Abhandlungen auseinderge- 
setzt. Andere Nachweise haben Helmholtz und Virchow 
gegeben. 


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Goethe. STIER 


Be, Goethe’ N Aufzeichnungen über seine ‚Stellung zur 
"Natur und seine Forschungen umfassen einen Zeitraum 
or von mehr als funfzig Jahren. Um das Jahr 1780 fällt 
2 unter der Aufschrift: „Die Natur“ eine Art Hymnus 
E: an dieselbe, der mit den schönen Worten endigt, die 
g ihn als reinen Pantheisten erscheinen lassen: „Sie hat 
_ mich hereingestellt, sie wird mich auch hinausführen. 
E Ich vertraue mich ihr. Sie mag mit mir schalten. 
- Sie wird ihr Werk nicht hassen. Ich sprach nicht 
_ von ihr. Nein, was wahr ist und was falsch ist, alles 
hat sie gesprochen. Alles ist ihre Schuld, alles ist 
' ihr Verdienst.“ Und kurze Zeit vor seinem Tode, 
im März 1832, ist er mit ganzer Seele dem wissen- 
schaftlichen Streit über die verschiedenen Methoden 
der Naturforschung und die Grundprincipien der An- 
' schauung beschäftigt, welcher im Schose der franzö- 
 sischen Akademie zwischen den beiden berühmten 
Vertretern der in das Einzelne gehenden und der aus 
dem Ganzen urtheilenden Richtung: Cuvier und Geoffroy 
St. Hilaire, hell emporschlugs. Was Goethe hier am 
Spätabend seines Lebens niedergelegt, ist eine Art 
von wissenschaftlichem Glaubensbekenntniss, und es 
erfüllt mit der grössten Bewunderung, wie der drei- 
undachtzigjährige Greis mit denjenigen Grundsätzen 
auf der Höhe der Zeit und über den Parteien steht, 
die er in der Blüte des Mannesalters funfzig und vier- 
zig Jahre früher aus eigenen Kräften sich bildete. 
In den genialen siebziger und achtziger Jahren, wo 
Goethe, im Mittelpunkte des weimarischen Lebens 
- stehend, sich oft aus dem Geräusch der Stadt und des 
‚Hofes in die einsame Natur zurückzog, empfing er die- 
Anregungen zur „Metamorphose der Pflanzen“. Es 
fesselte ihn die wechselvolle Erscheinung des Pflanzen- 
_ lebens, und er musste über die vorausgesetzte, diesem 
Wechsel zu Grunde liegende Einheit und Regel nach- 
- sinnen. Das war ihm eine neue Quelle Be Unruhe, 
- die ihn verfolgte, als er 1787 sich gewaltsam den 
_ weimarischen Einflüssen entriss und nach Italien floh. 
k Scuuıpr, Descendenzlehre. 2 


98 | Goethe. 


Dort, in Sicilien, fand er die Lösung des Räthsels: 


das Blatt schien ihm das Grundorgan der pflanzlichen 


Bildung zu sein. Und als ihm nach der Rückkehr in 


Christiane Vulpius ein neuer Stern aufgegangen, legte 
er die Quintessenz seiner Ideen über die Metamorphose 


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der Pflanzen in jenem vorzüglichen Gedichte nieder, w 


dessen Zeilen 


Alle Gestalten sind ähnfieh, und keine gleichet der andern, 


Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz, 
Auf ein heiliges Räthsel — 


allen gegenwärtig sind, welche sich je mit Goethe’scher 
Muse bekannt gemacht haben. Er sah nun, als er 
mit geistigem Auge, wie er vom Naturforscher ver- 


langt, sehen gelernt hatte, in den verschiedenen Thei- 
len der Pflanze das einigende Princip. „Einerlei 


Organ kann als zusammengesetztes Blatt ausgebildet 
und als Stipula (Nebenblatt) in die grösste Einfalt 


zurückgezogen werden. Ebendasselbe Organ kann sich 
nach verschiedenen Umständen zu einer Tragknospe 
oder zu einem unfruchtbaren Zweige entwickeln. Der 
Kelch, indem er sich übereilt, kann zur Krone werden, 


und die Krone kann sich rückwärts dem Kelche nähern. 
Dadurch werden die mannichfaltigsten Bil- 
dungen der Pflanzen möglich, und derjenige, 
der bei seinen Beobachtungen diese Gesetze immer 
vor Augen hat, wird davon grosse Erleichterung und 
Vortheil ziehen.“ In diesen wenigen Zeilen ist der 
Kern der bis in die Zwanzigerjahre unseres Jahrhun- 
derts hinein die Zeitgenossen höchst anregenden Lehre 


von der Metamorphose der Pflanzen. Bei der Viel- 


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seitigkeit seiner Beobachtung musste aber der einmal 


gefasste Gedanke sich auch auf die übrige organische 


Welt ausdehnen. Vor Goethe hatte kein Naturforscher . 


die Insekten anders betrachtet, als wie eine gegebene 
Summe durch bestimmte Merkmale zu unterscheidender 
Einzelbildungen. Ihr Inneres war allerdings von ein- 
zelnen grossen Männern, wie Malpighi, Swammerdam 


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Goethe. 


“ Lyonet aufgeschlossen worden, aber weder an eine 
wahrhaftige Vergleichung der ve und Gattungen 
' hatte man gedacht und noch weniger an eine Erklä- 
_ rung des Insektenkörpers aus seinen Theilen. Das 
that Goethe und zwar in der geistreichsten Weise, 
_ indem, wie es vollkommen richtig, in seiner Anschauung 
E ‚die Aniro, die im Insekt vom Kopf bis zur Leibes- 
A spitze sich aneinander reihen, sich ebenfalls wie die 
; Pflanzenorgane als blosse Men eines und des- 

selben dorgans darstellten. Dort das abstracte 

Blatt, das Urblatt oder die Urpflanze, hier der Ring. 

Be sprach er — es war 1796 in den Vorträgen 
über den Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die 

_ vergleichende Anatomie — eine Wahrheit aus, welche 

_ erst mehr als vierzig Jahre später von einem der aus- 
£ gezeichnetsten Zoologen, Milne Edwards, wieder er- 

kannt und für die Erkenntniss der Thierwelt verwerthet 
- worden ist. Es ist die Idee von der Vervoll- 
IR _ kommnung der organischen Wesen durch die 
2 eenartig nett der Ausbildung ihrer im 
- Grunde gleichen Theile. Raupe und Schmetterling 
dienen hierfür als Beispiel. ‚So ein unvollkommenes und 
 vergängliches Geschöpf ein Schmetterling in seiner Art, 
verglichen mit den Säugethieren, auch sein mag, so 
zeigt er uns doch durch seine Verwandlung, die er 
- vor unsern Augen vornimmt, den Vorzug eines voll- 
_ kommenern Thieres vor einem unvollkommenern. Die 
E Entschiedenheit ist es seiner Theile, die Sicherheit, 
dass keiner für den andern gesetzt noch genommen 
_ werden kann, jeder vielmehr zu seiner Function be- 
_ stimmt und bei derselben auf immer festgehalten bleibt.‘ 
Nun trat aber auch bei den vollkommensten Geschöpfen, 
den Wirbelthieren, ein solches innerhalb des Indivi- 

duums sich metamorphorisirendes Grundorgan ihm vor 
> Augen: der Wirbel. Er verfolgte ihn in seinen Um- 
“ wandlungen im Verlauf der Wirbelsäule. So unmög- 
lich es sei, aus der Nebeneinanderstellung des ersten 
- Halsknochens mit dem letzten Schwanzknochen auf die 


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selbe in dem allmählichen re hervor. Was 


liegt aber vor dem ersten Halswirbel? Ist der Schä- : 
del etwas absolut anderes, ein Neues, mit der Wirbel- 
säule nicht -Tdentisches?. Das war wieder Or 


unruhigender Gedanke, der Goethe auf Schritt und 
Tritt verfolgte. Er sann und verglich, es konnte nicht 
anders sein, der Schädel musste zur Wirbelsäule ge- 
hören, nichts als ein Theil der Wirbelsäule sein. Er 
war durch das Schwanken ım Wahren, wie er sich 


später einmal bei einer andern Gelegenheit ausdrückt, 


als „redlicher Beschauer in eine Art von Wahnsinn 


versetzt“. Da, als er 1790 auf dem Judenkirchhof in 


Venedig einen gebleichten Schafschädel aufhob, „offen- 


barte sich ihm der Ursprung des Schädels aus Wirbel- 


knochen“. Die speciellere Geschichte der vergleichen- 


ET 


den Anatomie hat nachgewiesen, wie ungemein fruchtbar 


diese vermeintliche Entdeckung gewesen, obschon die 


Sache viel complicirter ist, als Goethe und seine Nach- 


folger sie sich dachten. 


Noch einer wahrhaftigen Entdeckung Goethe’s müs- 
sen wir gedenken, welche seine eigenste Weise offen- 


bart. Es gilt den Zwischenkiefer des Menschen. Goethe 
arbeitete im Anfang der Achtzigerjahre in Jena unter 
Loder’s, eines namhaften Anatomen, Anleitung über 
Knochenlehre. Dass alle höhern Thiere einen die obern 
Schneidezähne haltenden Knochen als den sogenannten 
Zwischenkiefer besitzen, ist überaus deutlich. „Hier 


trat nun der seltsame Fall ein“, erzählt Goethe, „dass 


man den Unterschied zwischen Affen und Menschen 
darin finden wollte, dass man jenem ein os inter- 
maxillare (Zwischenkiefer), diesem aber keins zuschrieb; 
da nun aber genannter Theil darum hauptsächlich 
merkwürdig ist, weil die obern Schneidezähne darin 
gefasst sind, so war nicht begreiflich, wie der Mensch 
Schneidezähne haben und doch des Knochens ermangeln 
sollte, worin sie eingefügt stehen.“ Es war ıhm darum 


nicht begreiflich, weil sich ihm aus der Vergleichung 


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Goethe. 101 


in der Natur die Idee gebildet hatte, „dass alle Ab- 


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 theilungen des Geschöpfes, im einzelnen wie im ganzen, 


bei allen Thieren aufzufinden sein möchten“. Den 


Menschen als eine Ausnahme nicht nach diesem Schema 


zu bemessen, wollte ihm nicht in den Sinn, der Mensch 


2 


musste einen Zwischenkiefer haben, und entgegen den 
Ansichten der grössten Anatomen der damaligen Zeit, 


_ wie Peter Camper, wies Goethe nach, wie dieser Zwi- 
 schenkiefer beim Menschen zwar später fast spurlos 


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mit dem eigentlichen Öberkiefer verwächst, während 
der Entwickelung und in den ersten Lebensjahren 
aber vollkommen deutlich als eigener Theil vorhan- 


- den ıst. 


Wir haben aus der bisherigen Darstellung schon 


_ mancherlei gewonnen. Goethe fand an der Betrach- 


AA 
et 


tung des Einzelnen und den Einzelnheiten gar kein 


Gefallen. Die Natur und die Naturobjecte als Gewor- 


'denes, Fertiges machten auf ihn nur den Eindruck, 


alsogleich das Werden und damit den Grund zu un- 


tersuchen. Die Dinge nach den Endursachen, nach 


einem vorausgesetzten, von der Vorsehung voraus- 


bestimmten Zwecke zu beurtheilen, erschien ihm als 
„ein trauriger Behelf“, der völlig beseitigt werden 


müsse. So gibt er der „genetischen Denkweise“ die 


volle Ehre, deren sich der Deutsche nun einmal nicht 
_ entschlagen könne. Er schuf für diese von ihm be- 
folgte Naturbetrachtung, wonach alles Lebendige im 


ii 22 


wube 


innern Zusammenhange, die äussere Gestalt als Andeu- 


- tung des Innern aufzufassen sei, den Namen der Mor- 


phologie, der Gestaltungslehre. Er erforschte, ‚wie 
die Natur im Schaffen lebt“, und aus dem Erstaunen über 


das ewige Gestalten und Umgestalten, aus der Ver- 


ran: 


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wirrung, in welche ihn die Mannichfaltigkeit der Ge- 
staltungen versetzte, haben wir ihn herauskommen 


_ sehen durch das Suchen und Finden von Urgestalten. 
3 Schon vor der Verwirklichung der Metamorphose der 


Pflanzen, als er von Knochen und ganzen Skeleten in 
_ seinem wissenschaftlichen Beinhause in Jena umgeben 


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4 


102 s Goethe. h > 


war, erschiem ihm als ein Leitstern die Aufstellung 
eines anatomischen Typus, eines allgemeinen Bildes, 
„worin die Gestalten sämmtlicher (Wirbel-) Thiere, der 
Möglichkeit nach, enthalten wären, und wonach man 
jedes Thier nach einer gewissen Ordnung beschreibe“. 
„Die Erfahrung muss uns vorerst die Theile lehren, 
die allen Thieren gemein sind und worin diese Theile 
verschieden sind. Die Idee muss über dem Ganzen 
walten und auf eine genetische Weise das allgemeine 
Bild abziehen.“ Man soll also, von dem Einzelnen 
abstrahirend, sich in Besitz eines gewissen Urbildes 
setzen. Da weder der Mensch zum Masstab für die 
Thiere genommen werden könne, noch umgekehrt die 
unendliche Complication des Menschen völlig durch 
die thierische Organisation erklärt würde, so müsse ' 
ein über beiden Schwebendes zu Hülfe kommen. An 
dieses an sich undarstellbare Urbild, dieses Abstractum, 
und nur an dieses hat sich nach Goethe die Natur 
in ihrem Schaffen zu halten, „ohne dass sie im min- 
desten fähig wäre, den Kreis zu durchbrechen oder 
ihn zu überspringen“. 

Wenn man Goethe zu einem offenen Verkündiger 
oder auch nur zu einem gewissermassen poetisch in- 
spiririrten Propheten der Descendenzlehre machen will, 
so legt man auf seine Aeusserungen über „unaufhalt- 
sam fortschreitende Umbildung“ und ähnliche zu viel 
Werth, oder geht nicht in den Sinn ein, den er damit 
verbindet. Nehmen wir einmal die folgende Stelle, 
die unserm Freunde Haeckel als eine entscheidende 
gilt: „Dies also hätten wir gewonnen, ungescheut be- 
haupten zu dürfen, dass alle vollkommneren organi- 
schen Naturen, worunter wir Fische, Amphibien, Vögel, 
Säugethiere und an der Spitze der letztern den Men- 
schen sehen, alle nach einem Urbilde geformt seien, 
das nur in seinen sehr beständigen Theilen mehr oder 
weniger hin und her weicht und sich noch täglich 
durch Fortpflanzung aus- und umbildet.“ Ist hier 


" 


Pr ee a A A FF u ee re Pe A 0 u En 
a ae N Ba Ge a a ee N a Te N 1 rar Kur 


» : Goethe. | 103 
Asa 
etwa gemeint, dass die beständigen den unbeständigen 
 Theilen gegenüberzustellen seien? Durchaus nicht. 
Goethe hat schon vor Geoffroy St. Hilaire von einem 
Gesetz gesprochen, was aber kein Gesetz ist und auch 
nicht ein Ausdruck von Thatsachen, dass die Natur 
in ihren Bildungen mit einem gewissen Budget schalte, 
mit dessen Posten sie ausgleichend verfahre. Er scheint 
nicht gewusst zu haben, dass Aristoteles genau dasselbe 
behauptet hat, dass die Natur nämlich, wenn sie ein 

Organ vergrössere, es nur auf Kosten eines andern 

thäte. Auch ein zweites der vermeintlichen, von dem 

Franzosen entdeckten Grundgesetze, dass ein Organ 
- eher zu Grunde ginge, als es seinen Platz aufgebe, 
hat Goethe damals aufgestellt. Die Natur wirthschaf- 
_ tet also nach Goethe immer mit denselben Theilen. 
Die Natur ist ihm unerschöpflich in der Modificirung 
und Realisirung des Urbildes, dem aber, ‚was ein- 
mal zur Wirklichkeit gekommen“, klebt das zähe Be- 
harrlichkeitsvermögen an, eine vis centripeta, welcher 
in ihrem tiefsten Grunde keine Aeusserlichkeit etwas 
anhaben kann. Wenn er also von der täglichen Aus- 
und Umbildung durch die Fortpflanzung redet, so 
versteht er in Betreff der schon zur Wirklichkeit ge- 
kommenen Geschöpfe nur jenen Verlauf der Entwicke- 
lung und Metamorphose, welche ein Bild der uner- 
schöpflich erscheinenden Natur ist. Die Einflüsse, 
welche die Natur auf die Theile ausgeübt hat, stellt 
er sich noch gegenwärtig vor, aber von einem eigent- 
lichen Umwandeln bestehender Arten in neue, wie es 
die heutige darwinistische Descendenzlehre verlangt, 
ist bei Goethe ganz und gar keine Rede. 

Was sollte denn auch nach Goethe’s Anschauung 
umgewandelt werden? Das Urbild doch wol nicht. 
Er sagt freilich: „So bildete sich der Adler durch die 
Luft zur Luft, durch die Berghöhe zur Berghöhe. Der 


> 


Maulwurf bildet sich zum lockern Erdboden, die Phoke 


zum Wasser, die Fledermaus zur Luft“, und im allge- 
meinen: „Das Thier wird durch Umstände zu Umständen 


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104 


gebildet.“ Aber die Erläuterungen, welche er in dem 
Entwurfe vom Jahre 1796 hierzu gibt, zeigen ganz 
evident, dass an ein Umbilden vorhandener Arten nicht 
gedacht wird, sondern an blosse Erscheinungs- 
weisen des Typus und Urbildes, wie sie in 
den gegebenen Arten vorliegen. Da heisst es: 
„Die Schlange steht in der Organisation weit oben. 
Sie hat ein entschiedenes Haupt mit einem vollkomme- 
nen Hülfsorgane, einer vorn verbundenen untern Kinn- 
lade. Allein ihr Körper ist gleichsam unendlich, und 
er kann es deswegen sein, weil er weder Materie noch 
Kraft auf Hülfsorgane zu verwenden hat. Sobald nun 
diese in einer andern Bildung hervortreten, wie z. B. 
bei der Eidechse nur kurze Arme und Füsse hervor- 
gebracht werden, so muss die unbedingte Länge so- 
gleich sich zusammenziehen und ein kürzerer Körper 
stattfinden. Die langen Beine des Frosches nöthigen 
den Körper dieser Creatur in eine sehr kurze Form, 
und die ungestaltete Kröte ist nach diesem Gesetze 
in die Breite gezogen.“ Es ist gut, sich diese etwas 
triviale Stelle gegenwärtig zu halten, um in die poe- 
tische Verherrlichung der Metamorphose der Thiere 
nicht mehr zu legen, als wirklich darin enthalten ist. 
Wenn Goethe in diesem prächtigen Gedicht sagt: 


Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Thieres, 
Und die Weise des Lebens, sie wirkt auf alle Gestalten 
Mächtig zurück — 


so klingt das allerdings, wir geben es zu, höchst ver- _ 
führerisch. Man wird aber ernüchtert oder vielmehr 
auf den richtigen Standpunkt geleitet, wenn man die 
höchst anziehenden Bemerkungen Goethe’s über d’Alton’s 
Skelete der Nagethiere (1824) liest. Da zeigt es sich, 
dass Goethe auch nicht im entferntesten an eine that- 
sächliche Umwandlung eines Nagethieres in ein anderes 
durch die Nöthigung der äussern Einflüsse denkt. Der 
Leser mag selbst urtheilen. „Suchen wir das Geschöpf 
in der Region des Wassers, so zeigt es sich schwein- 


” | Goethe. 


er als’ Biber sich an frischen Gewässern anbauend; als- 
dann immer noch einiger Feuchtigkeit bedür fend, Hräbt 
2 sichs in die Erde und liebt wenigstens das Verne, 
_ furchtsam-neckisch vor der Gegenwart des Menschen 
und anderer Geschöpfe sich versteckend. Gelangt end- 
_ lich das Geschöpf auf die Oberfläche, so ist es hüpf- 
- und springlustig, sodass es aufgerichtet sein Wesen 
treibt und sogar zweifüssig mit wunderbarer Schnelle 
sich hin- und herbewegt. Ins völlig Trockene gebracht, 
_ finden wir zuletzt den Einfluss ‚der. Lufthöhe und des 
alles belebenden Lichtes ganz entscheidend. Die leich- 
teste Beweglichkeit wird ihnen zutheil, sie handeln 
a wirken auf das behendeste, bis sogar ein vogel- 
" artiger Schwung in einen SShamnliren Flug übergeht.“ 
So belegt Goethe den Einfluss der Umgebungen und 
äussern Verhältnisse auf die Gestaltveränderungen; 
man sucht ganz vergeblich nach den realen Gestalten, 
eiche verändert werden. Nicht der Biber wird zum 
 mauseartigen Erdgräber; nicht die Maus zur Spring- 
_ maus; nicht die Springmaus zum Eichhörnchen, dieses 
nicht zum Flughörnchen, sondern „die unaufhaltsam 
fortschreitende Umbildung“ stellt sich nur dem gei- 
stigen Auge dar. In der Wirklichkeit findet auch 
- Goethe nur Angepasstes. So sehr er geneigt ist, Mo- 
 difieationen auf Rechnung. der äussern Verhältnisse zu 
E stellen, ebenso entschieden spricht er auf der andern 
Seite: Die- Theile des Thieres, ihre Gestalt unterein- 
' ander, ihre Verhältnisse, ihre Bed Eigenschaften, 
bestimmen die Lebensbedürktisse des Geschöpfes“, und 
wenn wir innerhalb des eingeschränkten Bildungskrei- 
_ ses dennoch die Veränderungen der Gestalt ins Un- 
 endliche möglich werden sehen (Entwurf 1796), so 
 abstrahiren wir dies mit den einzelnen durch die ewig 
_ eine und schöpferische Natur zur Erscheinung gebrach- 
ten Arten als den Variationen des Urbildes. 
Mit dem Worte Art sind wir bei dem wichtigsten 
- Punkt unserer Darstellung der Goethe’schen Natur- 


ee: 


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SUN AP a ek 


 artig im E srmpfe (das sogenannte Wasserschwein), 


106 Goethe. | ET 
anschauung angelangt, wenn nicht etwa schon aus dem 
Bisherigen sich zweifellos ergeben haben sollte, dass 
Goethe durchaus nicht als ein wahrer Vorgänger Dar- 
win’s angesehen werden könne. Darwin und seine 
Anhänger behaupten die Veränderlichkeit der sogenann- 
ten Pflanzen- und Thierarten. Die Frage ist einfach, 

ob Goethe auch schon, gleich seinem Zeitgenossen La- 

mark, von dieser Veränderlichkeit überzeugt war. 

Wenn er einmal sagt, dass „aus dem Samen immer 

abweichende, die Verhältnisse ihrer Theile zueinander 

verändert bestimmende Pflanzen sich entwickeln“, so 
ist das an und für sich zweideutig; es kann auf die 
Entstehung neuer Arten nnd auch auf die Variabilität 
der ihrem Wesen nach unveränderlichen Art bezogen 
werden. Ein andermal spricht er von der „Natur- 
bestimmung‘“ des Pferdes. Ich kann nur eine einzige 
Stelle in Goethe’s Schriften finden, wo von einer wirk- 
lichen Umwandlung eines Geschöpfes, wenn nicht zu 
einer neuen Art, so doch zu einer sehr ausgeprägten 
constanten Varietät die Rede ist. Ein Dr. Körte lie- 
ferte 1820 die Beschreibung eines im Halberstädtischen 
gefundenen Urstieres und stellte Vergleichungen und 

Betrachtungen an, wie nach und nach unter dem Ein- 
fluss der Zähmung unser vielfach abweichendes Haus- 

rind aus jenem hervorgegangen sei. Dieser Fund und 

ein anderer in Thüringen .(1821), welches letztere 

Exemplar von Goethe für das Jenaische Museum ge- 

wonnen worden, gaben ihm Veranlassung, Körte bei- 
zustimmen und die Möglichkeit dieser immerhin leich- 
ten Umwandlung mit einem wirklichen Vorkommniss 

zu illustriren. 

Von hier bis zur Anerkennung der Umbildung der 
Art ist aber immer noch ein weiter Weg, und Goethe 
hat ihn nicht zurückgelegt. Wir haben eben gesehen, 
dass der Gedanke, einzelne gegenwärtig lebende Thiere 
von untergegangenen „Stammrassen‘“ abzuleiten, ihm 
nicht fremd war. Auch würde die Bemerkung, welche 
er macht — „haben wir doch von organischen Ge- 


ea Kb 


“schöpfen, die sich in lebendiger Fortpflanzung nicht 


verewigen konnten, die entschiedensten Reste‘‘ — diese 
Bemerkung würde nicht ausschliessen, dass er im all- 


. gemeinen den unmittelbaren, auf directer Fortpflanzung 


beruhenden Zusammenhang der heutigen Thierwelt mit 


ganz anders gestalteten fossilen Geschlechtern ange- 


TEEN AFTE TE 
Lie 


nommen hätte. Denn es ist ja ganz richtig, dass viele 
Arten, Gattungen und Gruppen nicht nur die Blüte- 
zeit, sondern auch ihren Verfall und gänzlichen Un- 
tergang vor der gegenwärtigen Periode bestanden. 
Noch mehr. In aphoristischen Aufzeichnungen, die er 
Probleme nennt, geschrieben vor dem Jahre 1823, 
spricht er von „charakterlosen Geschlechtern, denen 
man vielleicht kaum Species zuschreiben darf, da sie 
sich in grenzenlose Varietäten verlieren“, und stellt 
sie den Geschlechtern gegenüber, ‚welche einen Cha- 
rakter haben, den sie in allen ihren Species wieder 
darstellen, sodass man ıhnen auf einem rationellen 
Wege beikommen kann“. Goethe hält sich an dieses 
Factum, um seine von uns schon oben gewürdigte Idee 


der Metamorphose zu erläutern, und wir haben nicht 


das Recht, die charakterlosen oder „liederlichen‘ Ge- 
schlechter im Sinne unseres Darwinismus zu erklären, 
dass sie solche seien, deren Formen sich nicht be- 
festigt hätten, während die charaktervollen deshalb in 
wohl unterscheidbare Arten zerfallen, weil eine Menge 
von Zwischenformen im Verlaufe der Zeit im Kampfe 
um das Dasein unterlegen sind. Goethe gab diese 
Probleme seinem kunstsinnigen jungen Freunde Ernst 
Meyer, um sie zu verarbeiten und seine Betrachtungen 
dem Altmeister mitzutheilen. Meyer sagt nun: „Je 
leichter jene (die charaktervollen Gattungen) sich fügen, 
desto schwerer ist mit diesen (den charakterlosen) fer- 
tig zu werden. Wer sie aber mit Ernst nnd mit an- 
haltendem Eifer beobachtet und des angeborenen, durch 
Uebung ausgebildeten Taktes nicht ganz ermangelt, 
der wird sicherlich, weit entfernt an ihnen sich zu 
verwirren, die wahrhaften Arten und deren 


108 | Goethe. 


Charakter aus aller Mannichfaltigkeit der 


Formen gar bald herausfinden. Sollte wirklich 
in irgendeiner formenreichen Gattung durchaus keine 
Grenze, welche die Natur selbst achtet, zu finden sein, 


was hindert uns dann, sie als eine einzige Art, alle 


ihre Formen als ebenso viele Abarten zu behandeln? 
So lange der Beweis fehlt, der schwerlich je zu füh- 


ren, dass überhaupt in der Natur keine Art bestehe, 


sondern dass jede, auch die entfernteste Form durch 
Mittelglieder aus der andern hervorgehen könne: so 
lange muss man uns jenes Verfahren schon 


gelten lassen. — Mag nun der Meister den Schüler 
belehren oder nach alter Sıtte ihn vertreten.“ Und 
er vertritt ihn, da er das, was der Schüler über die 
Probleme vermeldet, „als ein Zeugniss reiner Sinn- 
und Geistesgemeinschaft“ in seine morphologischen 
Schriften aufnimmt. 

Es kann keine Frage sein, dass Goethe tiefere Ge- 
danken über die organische Natur hegte, als seine 
Zeitgenossen. Vergessen wir aber doch auch nicht, dass 
die Hauptidee von dem sich umwandelnden Urbilde 


schon vor Goethe und mit Goethe die hervorragenden 
Geister beherrschte, wie das in meiner kleinen, den 


Fachgenossen bekannten Schrift: „Die Entwickelung 
der vergleichenden Anatomie“ (1855) zu finden ist. 
Wenn Peter Camper in seinen ‘populären Vorträgen 
seine Zuhörer damit amüsirte, dass er auf der Tafel 
aus einem Pferde eine schöne Frauengestalt hervorgehen 
liess, wenn er sagt, dass er so in die Studien über 
Wale vertieft sei und in die Vergleichung derselben 
mit der menschlichen Bildung, dass ihm alle Mädchen, 
hübsche wie hässliche, nur als Delphine und Cachelots 


erschienen, so geschah dies, weil er von einem Ur- 


bilde, einer Grundgestalt ausging. Goethe war nur 
consequenter und verlangte trotz der „peinlichen Ueber- 
legungen“, wie am Affen so auch am Menschen den 
Zwischenkiefer. Goethe sagt 1807: „Wenn man Pflan- 
zen und Thiere in ihrem unvollkommensten Zustande 


BIN AN) un 2 


pr so sind sie kaum zu unterscheiden. So viel 


aber können wir sagen, dass die aus einer kaum zu 


- sondernden Verwandtschaft als Pflanzen und Thiere 


nach und nach hervortretenden Geschöpfe nach zwei 
entgegengesetzten Seiten sich vervollkommnen, sodass 
die Pflanze sich zuletzt im Baume dauernd und starr, 


' das Thier im Menschen zur höchsten Beweglichkeit 
und Freiheit sich verherrlicht. Aber das ist ja nichts 


anderes, als eine nach Goethe’s „Art zu forschen, zu 
wissen und zu geniessen‘ symbolisch verbrämte Wie- 
derholung eines schon fast funfzig Jahre früher von 
Buffon aufgestellten und vielfach varlirten Satzes. 
Nicht erst Goethe in seinem Entwurf von 1796 dringt 


auf die höchst fruchtbare Vergleichung identischer 


_ Organe eines und desselben Körpers, das thut schon 


der geistreiche Vicq-d’Azyr 1786. Mit einem Worte, 
die Idee des Typus, Urbildes, Grundplanes (dessein 


= primitif) war eine Errungenschaft des Goethe’schen 


Zeitalters, die nur in Goethe einen prägnantern und 
vielseitisern Ausdruck fand und uns deshalb bestechen- 
der erscheint, weil er damit den Begriff der Bewe- 
gung und Beweglichkeit verband, dies aber, in seinem 
ausgesprochenen Bedürfniss nach Symbolen, im figür- 
lichen Sinne. 

Wenn Goethe „Gesetze“ gefunden zu haben meint, 
so ist er in derselben Täuschung befangen, in welcher 
sich die Naturforscher vom vorigen Jahrhundert an 
bis in die neuesten Zeiten gewiegt haben, indem sie 
eine blosse Constatirung von Thatsachen für die Er- 
klärung der Thatsachen, die Zurückführung derselben 
auf ihren Grund hinnehmen.. Goethe weiss von einer 


_  „Spiraltendenz‘ und einer „Verticaltendenz‘ der Pflanze, 


und gleich werden sie ihm zu „Grundgesetzen des 


Lebens“. Nun sehen wir allerdings das verticale Stre- 


ben ab- und aufwärts in Wurzel und Stamm, — wir 


_ sehen Windungen und Blattspiralen, wir haben diese 


E 
2 
2 


Thatsachen auch schon in einfachere physikalische und 
physiologische Phänomene zerlegen können, ohne dass 


ET a N ae N ee 
Er - e “\ 


110 Richard On 


wir auf den innersten Grund, das wahre Gesetz ge- 


kommen wären. j 

Goethe’s Ansicht über die Stellung des Menschen 
in der Natur ist im Obigen schon mit enthalten, Dass 
er, ein Geschöpf und Product der Natur, eine Aus- 
nahme von dem ihm offenbar so ähnlichen Thiere 


machen solle, konnte Goethe nicht zugeben. Er bleibt 
ihm also unbedingt innerhalb des Typus, „dessen Theile 
durch alle Thiergeschlechter und Arten immerfort ver- 


ändert werden“. Nun haben wir aber, glaube ich, 
genügend bewiesen, dass der eben angeführte und 


ähnliche Aussprüche nur von der in den Geschlechtern 


und Arten zum Ausdruck gekommenen potenziellen 
Veränderlicheit des Urbildes zu gelten haben. Also 


ist ihm auch der Mensch ein in der Idee des Typus 


und nicht durch die factische Fortpflanzung und Ab- 
stammung mit dem Thier verwandtes Product. Dies 
ist der von ihm gesuchte Aufschluss über die „schönste 
Organisation‘. Goethe war hiermit beruhigt. °® 

Von Goethe zu unserm Zeitgenossen Richard Owen 
ist scheinbar ein weiter Sprung. Allein wenn es uns 


daran lag, in Goethe eine Stufe der Naturanschauung 


vorzuführen, welche mit einer zwar blendenden, schliess- 
lich aber doch nur unklaren Formel sich über den 
Zusammenhang des Lebendigen beruhigt, so wird uns 
‘der berühmte englische vergleichende Anatom zeigen, 
wie man zwar den letzten Schritt thun und sich über- 
zeugen kann, dass die Aehnlichkeit der Arten einzig 
und allein durch die Blutsverwandtschaft ihre Lösung 
findet, und wie man dennoch durch Festhalten am 
Wunder und Dualismus die Frucht der eben erkann- 
ten Wahrheit sich aus den Händen gleiten lässt.°® 
Unter der persönlichen Anregung Cuvier’s, dessen Schü- 
ler R. Owen im Jahre 1830 war, suchte er sich Klar- 
heit zu verschaffen über den Grund der Homologien. 
Hatte Cuvier die Uebereinstimmung der Organe aus 
dem Zweckbegriff abgeleitet, indem er sagte, Organe 
seien gleich, weil und wenn sie gleiche Functionen zu 


ee in Arm 


Be erföllen hätteu, so zeit Owen in Goethe’s Weise nach 
einem Urtypus (archetype), um die Einheit in der 
E _ Mannichfaltigkeit und Verschiedenheit der Ausbildung 
zu erklären. Die sich im Organismus wiederholenden 
; _ Reihen, wie die Wirbel, die Aufeinanderfolge der Or- 
‚ganismen schienen ihm nicht verständlich durch wun- 
derbare Schöpfungen, sondern durch natürliche Gesetze 
und wirkende Ursachen, welche die Species in ordent- 
licher Reihenfolge und allmählicher Vervollkommnung 
hervorbringen; diese Gesetze und Ursachen sind aber 
nur Ausführungen eines vorausbestimmenden vernünf- 
tigen höchsten Willens.°! Als einem ausgezeichneten 
Kenner der fossilen Thierwelt konnte dem englischen 
Forscher nicht verborgen bleiben, dass, je weiter die 
= Beegechen Perioden entlegen, um so allgemeiner und 
weniger specialisirt die Organisation der Arten sei, 
4 Er konnte dies besonders an der Bezahnung der 
 Säugethiere, auch speciell an dem Verhältniss derjenie 
gen Hufthiere durchführen, welche mit den ältern 
Tertiärzeiten beginnen und nach und nach den Cha- 
rakter des Einhufers annehmen. Er beantwortet also 
die Frage, ob die Species durch Wunder oder Gesetz 
entstehen, damit, dass er das letztere in ununterbro- 
_ chener Wirkung annehme. Dieses „Gesetz“ ist aber 
etwas ganz anderes, als was die Wissenschaft mit 
diesem Namen zu bezeichnen pflegt. Warum ist das 
‚Pferd geworden? Weil es für den Menschen durch 
_ die Gottheit vorausbestimmt und vorbereitet war.°? 
- Dies soll durch das Ableitungsgesetz (derivative law) 
geschehen. Das ist aber wieder einmal ein inhalts- 
loses Wort, eine Phrase, welche besagt, das Pferd 
ist nach nach zum Pferde geworden, weil es nicht 
anders hat sein sollen. Die Vorgänger des Pferdes 
ändern sich für Zwecke des noch nicht existirenden, 
aber von dem intelligenten Willen schon in Aussicht 
genommenen Menschen. Jene Vorfahren des Pferdes 
könnten wir also mit den Naturspielen vergleichen; 
die Umwandlung geschieht nicht, weil sie aus innern 


r 


112 | Lamark. 


Gründen geschehen muss, sondern weil es dem intelli- 


senten Willen beliebt. Derartige „Naturgesetze‘“ müs- 
sen wir uns verbitten. Owen sagt: „Ich nehme an, 
dass eine angeborene, angemessene Zeitperioden hin- 


durch wirkende Neigung zur Abweichung vomälterlichen 
Typus die wahrscheinlichste Art und Weise der Arbeit 


des natürlichen Gesetzes gewesen, wodurch die Arten 
sich auseinander entwickelt haben.“°®® Er sieht vom 
Ichthyosaurus bis zum Menschen den Zusammenhang 


der Abstammung, er verwirft den Einfluss der Um- 


gebung als entscheidend, er verwirft zehnmal alles 
Wunder, klammert sich aber im nächsten Augenblick 
an das Wunder, nämlich das der angeborenen Neigung 
zu einer nicht durch die Umstände gebotenen und von 
ihnen abhängigen, sondern einem gewissen Künftigen, 
einem Zwecke dienenden Entwickelung. 

So handeln die Halben, welche, die Consequenzen 


nal) 


scheuend, durch ein Wort sich mit dem wissenschaft- 


lichen Gewissen abfinden. 
Wir sind aber nun zu einem ganzen Manne ge- 
kommen, dessen Hauptwerk, Philosophie zoologique?*, 


ein halbes Jahrhundert übersehen und fast vergessen | 


war, bis es durch Darwin, vorzüglich aber durch 
Haeckel, und in Frankreich in neuester Zeit durch 


Ch. Martins wieder zu verdienten Ehren gebracht. 


wurde. Das ist J. B. Lamark, der die Abstammungs- 
lehre zuerst formulirte und 1804 eigentlich schon alle 
jene Sätze aufwarf, welche Darwin neu und besser 
begründete. Lamark sprach es aus, dass nur die un- 
serm Fassungsvermögen gezogenen Grenzen die Auf- 
stellung von Systemen verlangen, während alle syste- 
matischen Definitionen und Abstufungen ‚künstlicher 
Natur seien. Man könne überzeugt sein, dass die 
Natur weder Klassen noch Ordnungen, Familien, Gat- 
tungen oder unveränderliche Arten hervorgebracht 
habe, sondern nur Individuen, welche aufeinander 
folgen und denjenigen gleichen, von welchen sie ab- 
stammen. Diese Individuen gehören ‘aber unendlich 


u 
>4 
i 

u Aa 


= er einwirkt. ee von den Gabi constatirt 
_ er, was wir gethan, ihre Unbeständigkeit. Aus der 
 Vergleichung der Thatsachen der Bastardirung und 
 Varietätenbildung ergab sich ihm, ‚„dass alle organi- 
sirten Körper wahre Hervorbringungen der Natur sind, 
nach und nach in einer langen Zeitfolge zu Stande 
gekommen; dass die Natur in ihrem Fortgange an- 
gefangen hat und noch immer wieder anfängt mit der 
Bildung der einfachsten organischen Körper, und dass 
sie direct eben nur diese bildet, nämlich jene nie- 
drigsten Lebewesen, welche man mit dem Namen der 
freiwilligen Zenzüngen bezeichnet hat‘. 

Ab- und Umänderungen treten nach Lamark ein 
durch äussere Einflüsse; sie werden im Verlaufe der 
Zeiten zu wesentlichen Verschiedenheiten, sodass nach 


vielen aufeinander folgenden Generationen die Indivi- 


duen, welche ursprünglich einer andern, Species an- 
gehörten, sich schliesslich in eine neue umgewandelt 
_ finden. Unsere eigene beschränkte Lebenszeit habe 
uns an ein so kurzes Zeitmass gewöhnt, dass daraus 
die vulgäre falsche Annahme der Stetigkeit und Un- 
veränderlichkeit hervorgegangen sei. Die Umwandlung 


- vollzieht sich in der Nöthigung der Individuen, den 


veränderten Lebensverhältnissen sich zu accommodiren. 
Neue Umstände rufen neue Bedürfnisse wach und neue 
Thätigkeiten, diese aber neue Gewohnheiten und Nei- 
_ gungen. Ein grosses Gewicht ist auf den Gebrauch 
oder Nichtgebrauch der Organe zu legen. ‚In jedem 
Thiere, welches noch in der Entwickelung begriffen 
ist, kräftigt der häufigere und nachhaltigere Gebrauch 
eines Organs nach und nach dasselbe, entwickelt, ver- 
grössert es und gibt ihm eine im Verhältniss zur Dauer 
dieses Gebrauches stehende Kraft; während der nach- 
haltige Nichtgebrauch eines Organs dasselbe unmerklich 
schwächt, verschlechtert, in zunehmendem Masse seine 
ı Leistungfähigkeit vermindert und es schliesslich ver- 
SCHNIDT, Descendenzlehre, 8 


un Dee ne wen Ih, em ann u 25 FERN EEE REN, ee "7 
fi . ” nah cr 4 


PR z i ee 
114 Lamark. 


° E 
£ 9,7 
kommen lässt.“ „Und so zeigt uns“, ae; er, „die = 


- 


Natur die lebenden Wesen nur als Ind welche 
sich in Generationen aufeinander folgen; aber die Ar- 
ten haben nur eine relative Beständigkeit und sind 
nur zeitlich unveränderlich.“ > 

Lamark berührt den Kampf aller gegen alle (I, 99 u.a.), 
findet aber nicht das Wort der natürlichen Züchtung. 
Er ist sich der beiden Factoren der Vererbung und 
Anpassung vollkommen bewusst, es fehlt aber seinen 
Anschauungen und Ueberzeugungen der Nachdruck der 
detaillirten Beweise. Wie fein er aber das Leben auf- 
gefasst, möge aus seiner Erklärung der Instincte her- 
vorgehen. Alle Acte des Instinctes werden nach ihm 
vollzogen unter Anregung, welche erworbene Neigun- 
gen (penchans acquis) auf das Nervensystem ausüben; 
_ und indem diese Acte kein Product einer Ueberlegung, 
Wahl oder eines Urtheiles sind, befriedigen sie immer 
sicher und fehlerlos die gefühlten Bedürfnisse und die 
aus der Angewöhnung hervorgegangenen Neigungen. 
Wenn aber diese Neigungen zur Erhaltung der Ge- 
wohnheiten und zur Erneuerung der darauf bezüg-. 
lichen Handlungen einmal erworben sind, so vererben 
sie sich alsdann in den Individuen mittels der Fort- 
pflanzung, welche den Bau und die Disposition der 
Theile in dem erlangten Zustande erhält, sodass die- 
selbe Neigung schon in den jungen Individuen sich 
vorfindet, ehe sie dieselbe ausüben. Allerdings reicht, 
wie Darwin gezeigt, diese Erklärung nicht für alle 
Thatsachen des Instincts aus, steht aber doch hoch 
über der heutigen „Philosophie des Unbewussten“, 
welche den die Instincete ausführenden Organismus durch 
ein ausserhalb desselben befindliches metaphysisches 
Wesen zweckmässig regiert werden lässt. ®? 


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RR En 15 ira re REN ai ER £ j ge: ER 
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VER. 


Ipeil und die neuere Geologie. Darwin’s Selections- 
theorie. Anfang des Lebens. 


Solange die Menschheit auf dem geistigen Gebiete 


_ mit Bewusstsein arbeitet, hat es hervorragende Männer 


gegeben, welche, schneller combinirend als ihre Zeit- 
genossen, diesen im Begreifen grosser Wahrheiten, im 
Erkennen wichtiger Gesetze vorauseilten. Man ist 
aber leicht versucht, ein solches Vorgreifen einzelner 


zu hoch anzuschlagen, und wird in allen Fällen, wo 


es sich um dergleichen geistige Grossthaten handelt, her- 


_ ausfinden, dass sie, sozusagen, in der Luft schwebten 
und dass nur die grössere Spürkraft und eine soge- 


nannte, auf unbewussten Schlüssen beruhende Intuition 


den Bevorzugten über die minder scharfsichtige Um- 


gebung erhebt. 

Grosse wissenschaftliche Wendepunkte, Revolutionen 
auf geistigem Gebiete bereiten sich langsam vor; selten 
wird das Losungswort frühreif und den Zeitgenossen 
unverständlich ausgesprochen; in der Regel, wenn der 
Umschwung überhaupt nicht ein allmählicher, fast un- 
vermerkter gewesen, sondern wenn durch einen jener 


- erlesenen Geister der Vorhang plötzlich weggezogen 


E-. 
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wird, fällt es Mitarbeitern und Zuschauern wie Schup- 
pen von den Augen, und es liegt in der Schnelligkeit, 


- mit welcher die neue Anschauung sich Bahn bricht, 
der beste Beweis, dass sie zur rechten Zeit Gestalt ° 
_ annahm und verkündet ward. 


Dass auch die Descendenzlehre nicht als eine ganz 
überraschende Erscheinung, wenn auch als eine ge- 
wappnete Minerva, aus dem Haupte ihres grössten 


‚ Vertreters, Darwin, hervorsprang, dafür haben wir 
wenigstens einige der zahlreichen Belege angeführt. 


Dass ihre Zeit wirklich gekommen war, ja dass es die 
höchste Zeit war, sollte die Lehre von den Lebewesen, 
8*F 


- = ° 2 > ; & ni "ai $ 
116 Lyell und die 


die allgemeine Biologie, nicht in ganz unwürdiger 
Weise-zurückbleiben, erhellt aus der Entwickelung der 
Geologie, welche dreissig Jahre vor Darwin nach 
mancherlei guten Anzeichen den richtigen Weg der 
Erkenntniss der Ursachen einschlug. Die Lehre von 
der Bildung und Entwickelung der Erde, namentlich 
in ihren jüngern Phasen, während welcher es auf un- 
serm Planeten in dem Sinne lebendig wurde und blieb, 
den wir gewöhnlich mit dem Worte verbinden, diese 
Wissenschaft der Geologie hängt innig mit unserm 
grossen Thema zusammen. Die neuere Geologie, wie 
sie sich besonders an den Namen von Charles Lyell 

knüpft, musste über kurz oder lang auch zu ähnlicher 
Behandlung der Pflanzen- und Thierkunde zwingen, 
und man kann sich nur darüber wundern, dass der 
Durchbruch so lange auf sich warten lies. Das Ver- 
ständniss der Descendenzlehre wird daher nothwendiger- - 
weise eingeleitet und eröffnet durch einen, wenn auch 
nur kurzen Hinweis auf die neuere Geologie. 

Die erste Auflage von Lyell’s Principles of Geology 
erschien 1830. In der zehnten von 1866 war ıhm Ge- 
legenheit gegeben, sich den Darwin’schen Lehren, zu 
deren Entfaltung er so grossen Anstoss gegeben, voll- 
inhaltlich anzuschliessen. Vom Jahre 1872 liegt die 
elfte Auflage des Meisterwerkes vor. Es handelt sich 
um die Untersuchung fortdauernder Effecte jetzt wir- 
kender Ursachen, um daraus auf die Vorzeit zu schliessen. 
Lyell nannte diese Effecte eine Autobiographie der 
Erde. „Die jetzt auf und in der Erde wirkenden 
Kräfte“, heisst es, „sind nach Art und Mass dieselben, 
wie die, welche in den entlegensten Zeiten geologische 
Veränderungen herbeigeführt haben.“ 

Schon sehr früh hat sich, wol infolge verheerender 
partieller Fluten und Erdbeben, der Glaube an grosse 
allgemeine Katastrophen gebildet, und Lyell knüpft 
an die indischen und ägyptischen hierauf bezüglichen 
Sagen die Bemerkung, dass der Zusammenhang der 
Ueberlieferung von solchen Katastrophen mit dem 


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Glauben an wiederholte allgemeine Sittenverderbniss 
‚sich leicht erklären lasse. 

“ Am Ende des vorigen Jahrhunderts wurde vereinzelt 
die Ansicht ausgesprochen, dass das Untertauchen 


‚ grosser Landstrecken, wie das Auftauchen anderer, 


langsam geschehen sei, und es bereitete sich die Lehre 


vor, dass die Mineralmassen in verschiedene Gruppen 


zerfielen, welche in bestimmter Ordnung aufeinander- 
folgten. Da trat Werner auf und gründete eire be- 
sondere Wissenschaft: „Geognosie.“ Er war nicht der 
erste, der die gesetzmässige Aufeinanderfolge der Ge- 
steine sah und lehrte, aber seine Anregung war eine 
allgemeine. Von da an datirt der heftige Streit der 
Vulcanisten und Neptunisten, und in diesen Streit 
hinein fielen die grossen Entdeckungen Cuvier’s über 
die Thiere der Tertiärformation der Umgebung von 
Paris. Durch Cuvier’s und Lamark’s Arbeiten über 
fossile Thiere stellten sich die Unterschiede der ehemaligen 


von den heutigen Organismen heraus, und Cuvier’s An- 


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sichten, sowol die zoologischen wie die geologischen, 
errangen den Sieg: es befestigte sich allmählich die 
Ueberzeugung, dass auf der Erde lange Perioden der 
Ruhe und des Stillstandes mit kürzern allgemeinen 
Katastrophen und Revolutionen abgewechselt hätten. °® 

Die Katastrophenhypothese erhielt noch nach dem 
Erscheinen der Lyell’schen Grundzüge der Geologie 
ihre specielle Ausbildung durch Elie de Beaumont’s 
Theorie. über den Bau und die Entstehung der Ge- 
‚birgsketten. Doch gleich anfangs trat Lyell dazwi- 
schen und zog folgendes Resultat aus einer Vergleichung 
der zwar langsamen, aber stetigen und bemerkbaren 
Hebungen und Senkungen, die in der geschichtlichen 
Zeit vor sich gehen, mit den allfälligen Veränderun- 


2 gen, welche die Organismen unterdessen erlitten: 
“ „Mit einem Worte, die Bewegung der unorganischen 


. 


Welt liest vor uni ist greifbar, und kann dem Minu- 
 tenzeiger einer Uhr verglichen werden, dessen Vor- 


. rücken man sieht und hört, während die Fluctuationen 


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neuere Geologie. 117- 


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RE a a RE a En a A Tr 2 
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118 Die Ko Geologie. 


der lebenden Schöpfung kaum sichtbar sind und der 
Bewegung des Stundenzeigers gleichen. Nur wenn 
man ihn aufmerksam einige Zeit beobachtet und das 
Verhältniss seiner Stellung nach Verlauf einiger Zeit 
vergleicht, vermögen wir uns von der Wirklichkeit 
seiner Bewegung zu überzeugen.“ 37 - 

Es hatte sich also der sorgfältigen Beobachtung und 
logischen Deduction gerade das Gegentheil ergeben von 
dem, wasCuvier behauptete, welcher grossentheils aus der 
ihm auffallenden Verschiedenheit der aufeinander fol- 
genden Organismen die geologischen Katastrophen ab- 
leitete. Während die Botaniker und Zoologen in 
Cuvier’s Sinne fortarbeiteten, gestaltete sich unter 
Lyell’s und seiner Anhänger Händen die Geologie um. 
Er ging aus von dem zunächst Greifbaren. Dass es 
zur Zeit der Kohlenformation geregnet, wie heute, 
sah man aus den Eindrücken von Regentropfen auf 
Platten jener Formation. Es wurde die bisher ver- 
nachlässigte Wirkung der Flüsse, die Absätze der Del- 
tas studirt, die kolossalen Schlammablagerungen, wie 
sie Nil und Amazonas zeigen, ferner die zerstörende 
Arbeit der unregelmässigen Bewegungen des Meeres 
und die theils zerstörende, theils aufbauende Arbeit 
seiner regelmässigen Strömungen. Es ward gemessen, 
wie die Gletscher pflügen, reiben und zermalmen, was 
die Mineralquellen auflösen und absetzen, welche Ma- 
terialverschiebungen durch die gegenwärtige Thätigkeit 
ausgeführt wird, wie die Umrisse von Land und Meer 
durch Hebung und Senkung umgeändert werden. Auch 
ergab die Vergleichung ehemaliger und heutiger Ko- 
rallenriffe und Austernbänke, dass diese stillen Bau- 
leute ihre Manieren nicht geändert hatten. Kurz, es 
erschien die Annahme ausserordentlicher, in der Gegen- 
wart unerhörter Ereignisse und Kräfte durchaus nicht 
nöthig, nur Zeit, und die stetige Entwickelung der 
Erdrinde war erwiesen. 

So war die Bühne für die sich wiederholen- 
den Acte der Neuschöpfungen der Organismen 


119 
Pr sch und nach zusammengefallen, und die 
_ Annahme solcher wunderbarer Neuschöpfun- 
gen wurde ein Anachronismus, dem durch Dar- 
win’s Auftreten ein wohlverdientes Ende bereitet 
werden musste. Die Descendenzlehre mit dem Dar- 
_ winismus ist eine geschichtliche Nothwendigkeit. 
= Charles Darwin ist 1809 geboren und hatte als 
Naturforscher der Weltumseglung des „Beagle“ unter 
Kapitän Fitzroy von 1831—37 Gelegenheit, reiche 
Erfahrungen zu sammeln. Seine wichtige Arbeit über 
die Bildung der Korallenriffe gab die erste genügende 
_ Erklärung dieser aus dem Zusammenwirken geologi- 
scher Bewegungen und der organischen Thätigkeit der 
2  Korallenthiere resultirenden Erscheinung; seine Mono- 


Darwin. 


graphie der Cirripedien zeigt, mit welcher muster- 
haften Sorgfalt er die minutiösesten Detailverhältnisse 

zu beobachten und systematisch zu bearbeiten versteht, 
welche Bemerkung wir uns deshalb zu machen erlau- 
ben, weil noch immer die Gegner des grossen Natur- 
forschers sein Verdienst und seine Autorität damit 
herabzudrücken suchen, dass sie angeben, er sei eigent- 
lich ein mehr in allgemeinen Abstractionen sich be- 
wegender Dilettant®®, der scharfen, den Thatsachen 
vollständig Rechnung tragenden Beobachtung fremd. 
Wie Darwin zu seinem epochemachenden Gedanken 
gekommen, hat er in der Einleitung zu dem ersten 
sich mit der Descendenzlehre beschäftigenden Werke 
„Ueber die Entstehung der Arten‘ ?® mitgetheilt, etwas 
- ausführlicher auch in einem Briefe an Haeckel, welchen 
_ letzterer in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte‘ 
veröffentlicht hat. Er lautet: „In Südamerika traten 
mir besonders drei Klassen von Erscheinungen 
sehr lebhaft vor die Seele; erstens die Art und Weise, 

in welcher nahe verwandte Species einander vertreten 
und ersetzen, wenn man von Norden nach Süden geht; 

 — zweitens die nahe Verwandtschaft derjenigen Spe- 
 eies, welche die Südamerika nahe gelegenen Inseln 
_ bewohnen, und derjenigen Species, welche diesem Fest- 


BER) 


120 Darwin: 


lande eigenthümlich sind; dies setzte mich in tiefes 
Erstaunen, besonders die Verschiedenheit derjenigen 
Species, welche die nahe gelegenen Inseln des Gala- 
pagos-Archipels bewohnen; — drittens die nahe Be- 
ziehung der zahnlosen Säuge- und Nagethiere zu den 
ausgestorbenen Arten. Ich werde niemals mein Er- 
staunen vergessen, als ich ein riesengrosses Panzer- 
stück ausgrub, ähnlich demjenigen eines lebenden 
Gürtelthieres. 

„Als ich über diese Thatsachen nachdachte und 


einige ähnliche Erscheinungen damit verglich, schien 


es mir wahrscheinlich, dass nahe verwandte Species 
von einer gemeinsamen Stammform abstammen könnten. 
Aber einige Jahre lang konnte ich nicht begreifen, 
wie eine jede Form so ausgezeichnet ihren besondern 
Lebensverhältnissen angepasst werden konnte. Ich 
begann darauf systematisch die Hausthiere und die 
Gartenpflanzen zu studiren, und sah nach einiger Zeit 
deutlich ein, dass die wichtigste umbildende Kraft in 
des Menschen Zuchtwahlvermögen liege, in seiner Be- 
nutzung auserlesener Individuen zur Nachzucht. Da- 
durch, dass ich vielfach die Lebensweise und Sitten 
der Thiere studirt hatte, war ich darauf vorbereitet, 
den Kampf ums Dasein richtig zu würdigen; und meine 
geologischen Arbeiten gaben mir Vorstellung von der 
ungeheuern Länge der verflossenen Zeiträume. Als 
ich dann durch einen glücklichen Zufall das Buch von 
Malthus: ‘Ueber die Bevölkerung’ las, tauchte der 
Gedanke der natürlichen Züchtung in mir auf. Unter 
allen den untergeordneten Punkten war der letzte, den 
ich schätzen lernte, die Bedeutung und Ursache des 
Divergenzprincips.“ : 
Dass die Organismen nicht in starre Formen ge- 
bannt, sondern variabel sind, ist eine so allgemeine 
Erscheinung, dass die Variabilität als eine selbstver- 
ständliche Eigenschaft des Organischen gilt. Wir wer- 
den im nächsten Abschnitt untersuchen, inwiefern wirk- 
lich alles Organische der Veränderlichkeit unterworfen 


ET a Be ee EEE LI ee Be a ET an BE RE 
nr AT na 2 ne. 7: d u Er 


“Künstliche Züchtung. 121 


_ sein muss. Auf der Thatsache dieser Eigenschaft be- 
ruht die seit den ersten Anfängen der Jagd und des 
u rbauce unbewusst und bewusst geübte künst- 
liche Züchtung oder Zuchtwahl des Menschen, 
deren Bedeutung, wie Darwin sagt,: „hauptsächlich in 
dem Vermögen liest, kaum merkbare Verschiedenheiten 
1 auszuwählen, welche nichtsdestoweniger sich als der 
fe er oruns fähig herausstellen, und welche sich häu- 
fen lassen, bis das Resultat für das Auge eines jeden 
eaners offenbar wird“. Darwin Br in der „Ent- 
stehung der Arten‘ als Beispiel für die methodische 
 Zuchtwahl bei der Rassenerzeugung die Taube gewählt, 
mit deren Zucht er sich jahrelang auf das eifrigste 
beschäftigte. Die Taube eignet sich zum Zweck der 
 wissenschaftlichen Beobachtung der Zuchterscheinungen 
ganz besonders, weil sie wegen ihrer monogamischen 
Lebensweise sich leicht controliren lässt , we sie in 
kurzer Zeit zu auffallenden Abänderungen gebracht 
werden kann, die Nachrichten über ihre Zucht ziem- 
lich vollständig sind, und weil sie endlich eins der 
wenigen Hausthiere ist, über deren Stammart kaum 
ein Zweifel obwaltet. Die Hauptformen der von den 
Liebhabern hervorgebrachten Rassen lassen sich in 
folgender Weise gruppiren. Die Kropftauben haben 
einen mässigen Schnabel, verlängerte Beine und Kör- 
per, ihre Speiseröhre ist vom Kropf kaum getrennt 
und kann aufgeblasen werden. Eine zweite Gruppe 
umfasst die Boten-, Runt- und Barbtauben, welche im 
_ allgemeinen einen langen Schnabel, mit Hautanschwel- 
lungen über den Nasenlöchern und nackter oder auch 
mit Carunkeln versehener Haut um die Augen haben. 
In eine andere Gruppe mit verkürztem Schnabel und 
nur gering entwickeltem nackten Augenumkreis gehört 
die Pfauentaube, bei welcher die normale Zahl von 
12 Schwanzfedern bis auf 42 steigen kann, bei ver- 
_ kümmerter Oeldrüse; ferner die Burzeltaube, in wel- 
cher der Schnabel eine extreme Kürze erreicht und 
bei der eine krankhafte, durch Zuchtwahl hervorgerufene 


ET 
ee 


122  — Künstliche Züchtung. 


und gesteigerte Disposition des Gehirnes, die sich im 
Ueberschlagen äussert, seit mehr als zwei und ein halb 
Jahrhunderten sich vererbt und zur Rasseneigenthümlich- 
keit befestigt hat. In der vierten Gruppe nimmt die 
Trommeltaube wegen ihrer eigenthümlichen Stimme eine 
bevorzugte Stelle ein, auch die Lachtaube, an welche 
sich noch mehrere Unterklassen anschliessen, die sich 
nur sehr wenig von der wilden Felstaube (der Columba 


« 


livia) unterscheiden. Die letztere findet sich, in einige 


geographische Rassen zerspalten, von den faröerschen und 
schottischen Küsten bis zu den Mittelmeergestaden 
und bis nach Indien, und die subtilste Untersuchung, 
ob jene so fabelhaft voneinander abweichenden Rassen 
der zahmen Tauben etwa auf acht bis neun wilde Arten 
oder einzig auf die weitverbreitete Felstaube zurückzu- 


führen seien, schlägt entschieden zu Gunsten des letz- 


tern Falles aus. Grössenverhältniss, Färbung und 
andere Skelettheile, welche in den verschiedenen Ras- 
sen viel weiter voneinander differiren, als dieselben 


Charaktere und Eigenschaften bei wohlgeschiedenen 


wilden Arten derselben Gattung oder auch Familie, 
sie verändern sich unter der Hand und nach dem 


Willen des Menschen, und ganz ausgezeichnet lässt 


sich gerade auch bei der Taube die Erscheinung ver- 
folgen, welche Correlation des Wachsthums ge- 
nannt worden ist und darın besteht, dass bei der 
durch Zuchtwahl beabsichtigten Veränderung eines 


ÖOrganes ein anderes oder mehrere andere in Mitleiden- 


schaft gezogen werden und sich zu unbeabsichtigten 


Rasseneigenthümlichkeiten umformen. 
Davuts minutiöse Forschungen über die Bas 


bildung der Tauben ist in seinem zweiten, die Descen- 
denzlehre behandelnden Werke über das Variiren der. 


Pflanzen und der Thiere im Zustande der Zähmung ent- 


halten, wo sich auch die eingehendsten Untersuchungen 
über die übrigen Hausthiere finden. Wer Gelegenheit 


gehabt hat, eine der neuern Hühnerausstellungen zu 
besichtigen, wird über die Verschiedenheit der Rassen- 


Künstliche Züchtung. 123 


formen und über die Reinheit und Gleichförmigkeit 


innerhalb derselben erstaunt gewesen sein. Nicht mit 
derselben fast absoluten Sicherheit, wie bei den Tau- 


ben, aber doch annähernd gewiss ergibt sich auch für 


die Hühner eine einzige Stammart, der indische Gallus 


bankiva. Die von den englischen Landwirthen seit 


‚dem vorigen Jahrhundert aus der Mischung des hei- 


mischen Schweines mit dem indischen gezogenen 
Schweinerassen, ausgezeichnet verschieden in ihrer 
ganzen Erscheinung, Färbung, Grösse der Ohren, Länge 
der Beine, zum Theil auch Fruchtbarkeit, bewähren 
ebenfalls das cumulative Zuchtvermögen des Menschen, 


noch anziehender dürften aber die beiden Rassen des 


_  Schafes und des Rindes sein, welche mit den hervor- 


nr 


ragendsten jener Schweinerassen seit mehr als einem 
Jahrzehnt auf dem Continent besonders beliebt ge- 
worden sind, das Southdown-Schaf und das Shorthorn- 
Rind. Sie und so viele andere Hausthierrassen sind 
zu bestimmten Zwecken und für gewisse Vortheile der 
Wirthschaft und des Verkehrs erzogen und bewähren 
insgesammt die Plastieität der Art. Die Zuchtwahl 
arbeitet durch Befestigung anfänglich veränderlicher 
Merkmale, die in der Regel bei ihrem ersten zufälligen 
Auftreten nur von dem sorgsamen Kennerauge bemerkt 
werden. Aber auch nicht wenige Fälle sind consta- 
tirt, wo eine zufällige Diformität und eine nur bei 


einem Individuum plötzlich hervortretende neue Eigen- 


schaft zur schnellen Gründung neuer Rassen sich be- 
nutzen liessen. ,So wurde“, theilt Darwin mit“!, 
„1791 in Massachusetts ein Widderlamm mit krummen 
Beinen und einem langen Rücken, wie ein Dachshund, 
geboren. Von diesem einen Lamme wurde die halb- 
monströse Otter- oder Anconrasse gezüchtet. Da diese 
Schafe nicht über die Hürden springen konnten, so 
glaubte man, sie würden werthvoll sein, sie sind aber 
von Merinos ersetzt worden und auf diese Weise aus- 
gestorben. Diese Schafe sind merkwürdig, weil sie 
ihren. Charakter so rein fortpflanzten, dass Oberst 


124 | Künstliche Züchtung. i 


Humphreys nur von einem einzigen zweifelhaften Fall 
hörte, wo ein Anconwidder und ein Mutterschaf nicht 
einen Anconwurf erzeugt hätten.‘ — „Einen noch in- 
teressantern Fall findet man in den Reports der Jury 
des grossen Ausstellung von 1851, nämlich die Geburt 
eines Merinowidderlammes auf der Mauchamp-Farm im 
Jahre 1828, welches durch seine lange, glatte, schlichte 
und seidenartige Wolle merkwürdig war. Bis zum 
Jahre 1833 hatte Mr. Graux Widder genug erzogen, 
um seiner ganzen Heerde dienen zu können, und wenige 
Jahre später war er im Stande, von seiner neuen 
Zuchtrasse zu verkaufen. Die Wolle ist so eigenthüm- 
lich und werthvoll, dass sie 25 Proc. höhere Preise: 
erhielt, als die beste Merinowolle. Selbst die Vliese 
von Halbzuchtthieren sind werthvoll und in Frankreich 
unter dem Namen Mauchamp-Merino bekannt. Als 
einen Beweis dafür, wie allgemein jede scharf gezeich- 
nete Abweichung in der Structur von andern Abwei- 
chungen begleitet wird, ist dieser Fall dadurch in- 


teressant, ask der erste Widder und seine unmittelbaren 


Nachkommen von geringer Grösse. waren, mit grossen 
Köpfen, langen Hälsen, schmaler Brust und langen 
Seiten. Dieser Fehler wurde aber durch sorgfältige 
Kreuzungen und Zuchtwahl beseitigt. Die lange, glatte 
Wolle tritt in Verbindung mit glatten Hörnern auf, 
und da Hörner und Haare homologe Bildungen sind, 
so lässt sich die Bedeutung der Correlation wohl ver- 
stehen. Läge der Ursprung der Mauchamp- und An- 
conrassen ein oder zweı Jahrhunderte zurück, so 
würden wir keinen Nachweis über deren Geburt haben, 
und viele Naturforscher würden ohne Zweifel, beson- 
ders bei der Mauchamprasse, behaupten, dass jede von 
einer unbekannten Stammform abstammte oder mit ihr 
gekreuzt worden sei.“ 

Vergleicht man die Obsorge für die Hausthiere in 
kleinen, vom aufmunternden Weltverkehr abgelegenen 
Bauernwirthschaften mit der raffınırten Rassenzucht 
auf den grossen Gütern, und steigt man von jenen 


= DENE z ”n.,% ye% 
- 


_ abwärts zur Behandlung 3 wenigen Hausthiere oder 
des einen zahmen Thieres, des Hundes, bei wilden 
Völkern, so verschwindet die bewusste künstliche Zucht- 
wahl mehr und mehr, wird aber überall, wo der Mensch 
- Pflanze und Thier an seinen Wohnsitz fesselt, wenig- 
 stens unbewusst ausgeübt. Das starke Thier, die reich- 
_ lieher Nahrung gebenden Pflanzenindividuen werden 
- ohne besondere Ueberlegung zur Fortpflanzung ver- 
wendet, und so ist die unbewusste Zuchtwahl von der 
methodisch geübten nicht zu trennen. Die Einleitung 
und Fortführung der Rassenbildung wird natürlich er- 
 leiehtert durch die Möglichkeit, die zur Zucht aus- 
_ erlesenen Thiere in neue Umgebungen und Lebens- 
x bedingungen zu bringen, und es wird die Bildung 
neuer Rassen begünstigt durch die Leichtigkeit, mit 
_ welcher die Züchtung die Kreuzung der in der Bil- 
hang begriffenen Formen mit schon vorhandenen Ras- 
sen verhindern kann. & 
Ohne Zweifel sind eine Menge von Hausthierrassen 
nicht in dem Zustande, dass man sie als neue Arten 
bezeichnen kann, das will sagen, sie befinden sich mit 
ihren angezüchteten neuen Eigenschaften nur in einem 
Zustande künstlicher Stetigkeit und fallen, der zu- 
fälligen und regellosen Vermischung mit andern Rassen 
und der Stammrasse preisgegeben, nach und nach in 
dieselbe zurück. Dass aber überhaupt alle unbewusst 
_ oder bewusst gezüchteten Rassen keine neue Arten 
_ seien und, dem Naturzustande wieder überlassen, rück- 
 schlägig a ist eine willkürliche und unrichtige 
Behauptung. Gesetzt, man überliesse sämmtliche Hühner- 
 rassen sich selbst, so muss zwar die Möglichkeit zu- 
. gegeben werden, dass in Indien einzelne Formen sich 
rückwärts in Äas Bankivahuhn verwandelten, dass aber 
'in Europa und Amerika nimmer aus unsern verwilder- 
ten Hühnerrassen die indische Stammrasse zum Vor- 
- schein kommen, sondern sich höchstens einzelne neue 
_ allgemeiner verbreitete und nach geographischen Be- 
 zirken constant bleibende Mischformen bilden würden, 


EEE NATT N. = Dr a N ET Em) Panne a 


ad Zune u pe; 


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Arten. 


liegt auf der Hand. Noch niemand hat behaupten 
können, dass die verwilderten und von der Obsorge 
des Menschen gänzlich verlassenen Hunde des Orientes 
zu Wölfen oder Schakalen, ihren muthmasslichen Vor- 
fahren, geworden seien. Sie werden „schakalähnlich“, 
womit jedermann ausdrückt, dass der vor Jahrtausen- 
den zum Hausthier gewordene und gezüchtete Hund 
seine erworbenen Arteigenthümlichkeiten auch 
unter den zu der Entäusserung günstigsten Umständen 
bewahrt. Jene Versicherung, die Hausthiere seien’ 
keine neuen Arten, ist um so hinfälliger, als von man- 
chen Hausthieren die Stammarten gänzlich unbekannt 
sind, so wie Schaf und Ziege, über deren Vorfahren 
man nur vage Vermuthungen aufstellen kann. Auch 
die älteste uns bekannte Schafrasse, das ziegenhörnige 
Schaf aus den schweizerischen Pfahlbauten, gibt keine 
Auskunft, und auf dem Wege des Experimentes den 
Rückfall der heutigen Schafe zur Stammform zu beob- 
achten, ist völlig unmöglich. Dass das Pferd von 
einer gestreiften Stammart abzuleiten sei, ist wahr- 
scheinlich, eine solche ist aber trotz der vielen Genera- 
tionen, in welchen sich die grossen Heerden verwilder- 
ter Pferde in Südamerika ungestört fortpflanzten, nicht 
zum Vorschein gekommen. Die feinen Untersuchungen 
Rütimeyer’s über das Hausrind haben gezeigt, dass 
zu seiner Bildung in Europa mindestens drei, als Ar- 
ten wohl unterschiedene Formen der Diluvialzeit, Bos 
primigenius, longifrons und frontosus beitrugen. Diese 
Arten lebten einst geographisch getrennt, aber eleich- 
zeitig, und sie sind mit ihren specifischen Eigenthüm- 
lichkeiten untergegangen und aufgegangen in unsern 
zahmen Rassen. Diese Rassen vermischen sich un- 
bedingt fruchtbar miteinander, erinnern in Schädel- 
und Hornbildung an die eine oder andere der aus- 
gestorbenen Arten, bilden aber in ihrer Gesammtheit 
eine neue Hauptart. Dass aus ihren Rassen einmal 
wieder die drei oder eine der Stammarten im reinen 


| eine ganz lächerliche Behauptung. 

- Bei allen diesen zuletzt genannten Hausthieren, 
“ Hund, Schaf, Ziege, Pferd, Rind, ist nun die Um- 
_ änderung zu einer Periode der menschlichen Cultur 

_ eingetreten, wo man an eine künstliche Züchtung im 

heutigen Sinne nicht entfernt dachte, und wo der 

' Hauptfaetor der Umbildung, abgesehen von der un- 
_ willkürlichen und en Zuchtwahl, einfach in 

' der veränderten Lebensweise lag. Hiermit werden wir 
zu den Abänderungen im Naturzustande und zur 
natürlichen Zuchtwahl geführt. Beide, die natür- 

- liche wie die künstliche Zuchtwahl, Babe auf der 


_ unbestrittenen Thatsache der et Verschieden- 


_ heiten der nächst verwandten Pflanzen- und Thier- 
_ individuen; auch das hat sich uns schon oben heraus- 
x gestellt, dass zweifelhafte Arten nicht, wie die alte 
Schule wollte, Ausnahmen sind, de de nn die 
- mangelhafte Kenntnis des Artenmateriäls daran schuld 
ist, dass nicht alle Arten als zweifelhaft und künst- 
lieh betrachtet werden. Erinnern wir uns hier noch- 
mals daran, dass auch die strengsten Speciessystema- 
_ tiker in vielen Tausenden von Fällen nicht anzugeben 
_ wissen, wo ihre Arten anfangen und aufhören, wie 
da beispielsweise Darwin eine Mittheilung von H. C. Wat- 


son anführt, dass 182 britische Pflanzen, welche. 


gewöhnlich als Varietäten betrachtet werden, alle auch 
schon von einzelnen Botanikern als selbständige Arten 
in Anspruch genommen wurden.** Darwin’s unsterb- 
liches Verdienst besteht nun darin, gezeigt zu haben, 
welche Macht auf die als Ale vorliegenden 
"Individuen und Arten einwirkt, und welche Resultate 
_ aus dieser Einwirkung hervorgehen müssen. Er hat 
. die Schlüssel in dem zu einem Wahrzeichen und Ge- 
 meingut unserer Zeit gewordenen Worte „Kampf 
"ums Dasein“ (struggle for life”) gefunden und damit 


% * Wallace’s Antheil an diesem Ruhm am Schlusse dieses 
_ Kapitels. 


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128 Der Kanpf ums Das 


die Begründung und Theorie einer Lehre gegeben, 
deren Wahrheit schon lange vor ihm einem Geiste wie 
Lamark klar geworden war. Er hat die Abstammungs- 
lehre durch die Selectionstheorie begründet, indem er 
nachwies, dass in der Natur durch den Kampf um das 
Dasein eine der künstlichen Zuchtwahl vergleichbare 
Auslese des Bessern nnd Passendern vor sich gehe, 
welche neue Rassen und neue Arten erzeugt. 

Auch der Kampf um das Dasein, dieses bellum 
omnium contra omnes, ist eine unbestrittene und un-' 
abweisliche Thatsache, welche wir hier in ihren wei- 
testen Beziehungen nehmen. Nicht blos das Raubthier 
kämpft gegen die Pflanzenfresser, welche wiederum 
durch stärkere Vermehrung, Schnelligkeit und List 
sich im Gleichgewicht zu halten suchen; auch das 
allmähliche Vordrängen einer Pflanze ist ein Ringen 
mit natürlichen Hindernissen, bei dessen Siege in der 
Regel andere Pflanzen in ihren Lebensbedingungen 
geschädigt werden. Könnte die Vermehrungsfähigkeit 
eines beliebigen Organismus schlechthin und unein- 
geschränkt wirken, so würde jedes Wesen für sich in 
einer kurzen Reihe von Jahren die Erdoberfläche oder 
die Gewässer in Anspruch nehmen. Aber eines hält 
das andere im Zaum, und zu den lebendigen Feinden 
eines jeden Geschöpfes gesellen sich Klima und alle 
Einwirkungen der Umgebung, der Wechsel der Jahres- 
zeiten, mit denen der Körper sich abfinden muss. Die 
Organismen leben nur auf Kosten anderer und für 
andere, und der Friede und die Stille der Natur, die 
von dem Dichter besungen werden, lösen sich vor dem 
prüfenden Auge in eine unendliche Unruhe und Hast 
auf, das Dasein zu behaupten und zu befestigen, ın 
welchen nur der Gedanke der sichtbaren und noth- 
wendigen Vervollkommnung den Beobachter vor einer 
pessimistischen Weltanschauung retten kann. Die ein- 
fachsten Beispiele für das Abhängigkeitsverhältniss der 
Lebewesen untereinander sind zwar die besten und am 
meisten überzeugenden, welche grosse Folgen aber von 


‚ scheinbar geringfügigen Umständen und Verknüpfungen 
abhängen, und wie höchst zusammengesetzt das Ge- 
 triebe zur Erhaltung des Gleichgewichts, hat Darwin 
_ mit einigen Beispielen belegt, welche wir, obschon sie 
seitdem tausendmal wiederholt sind, uns auch vor- 
 zubringen erlauben. Während im Süden und Norden 
_ von Paraguay verwilderte Rinder, Pferde und Hunde 
- in Menge vorkommen, fehlen sie in Uruguay. „Azara 
und Rengger haben gezeigt, dass die Ursache dieser 
Erscheinung in Paraguay in dem häufigern Vorkommen 
einer gewissen Fliege zu finden ist, welche ihre Eier 


 ın den Nabel der neugeborenen Jungen dieser Thier- 
_ arten lest. Die Vermehrung dieser so zahlreich auf- 


 tretenden Fliegen muss regelmässig durch irgendein 
Gegengewicht und vermuthlich durch andere parasi- 
‚tische Insekten gehindert werden. Wenn daher ge- 
wisse insektenfressende Vögel in Paraguay abnähmen, 
so würden die parasitischen Insekten wahrscheinlich 
zunehmen, und dies würde die Zahl der den Nabel 
aufsuchenden Fliegen vermindern; dann würden Rind 
und Pferd verwildern, was dann wieder (wie ich in 
einigen Theilen Südamerikas wirklich beobachtet habe) 
eine bedeutende Veränderung in der Pflanzenwelt ver- 
anlassen würde. Dies müsste nun ferner in hohem 
Grade auf die Insekten und hierdurch auf die insekten- 
- fressenden Vögel wirken, und so fort in immer ver- 
 wickeltern Kreisen.“ Ein anderes Beispiel aus Darwin’s 
 Schatze ist vielleicht noch anregender. „Ich habe“, 
sagt er“, „durch Versuche ermittelt, dass Hummeln 
- zur Befruchtung des Stiefmütterchens oder Pensees 
(Viola tricolor) fast unentbehrlich sind, indem andere 
Bienen sich nie auf dieser Blume einfinden. Ebenso 
habe ich gefunden, dass der Besuch der Bienen zur 
Befruchtung von mehrern unserer Kleearten nothwen- 
dig ist. So lieferten z. B. mir 20 Köpfe weissen Klees 
 (Trifolium repens) 2290 Samen, während 20 andere 
Köpfe dieser Art, welche den Bienen unzugänglich 
gemacht waren, nicht einen Samen zur Entwickelung 
SCHMIDT, Descendenzlehre, 9 


A» 


130 Der Kampf ums Dasein. 


brachten. Ebenso ergaben 100 Köpfe rothen Klees 


(Trifolium pratense) 2700 Samen, und die gleiche An- 
zahl gegen Hummeln geschützter Stücke nicht einen! 


.Hummeln allein besuchen diesen rothen Klee, indem 
andere Bienen den Nektar dieser Blume nicht errei- 


chen können. Auch von Motten hat man vermuthet, 


dass sie zur Befruchtung des Kless beitragen; ich 


zweifle aber wenigstens daran, dass dies mit dem 
rothen Klee der Fall ist, indem sie nicht schwer genug 
sind, die Seitenblätter der Blumenkrone niederzu- 


drücken. Man darf daher wol als sehr wahrscheinlich 


annehmen, dass, wenn die ganze Gattung der Hummeln 


in England sehr selten oder ganz vertilgt würde, auch 
Stiefmütterchen und rother Klee sehr selten werden 


oder ganz verschwinden würden. Die Zahl der Hum- 


meln hängt in einem beträchtlichen Masse von der 
Zahl der Feldmäuse ab, welche deren Waben und 
Nester zerstören. Oberst Newman, welcher die Lebens- 
weise der Hummeln lange beobachtet hat, glaubt, dass 
durch ganz England über zwei Drittel derselben auf 


diese Weise zerstört werden. Nun hängt aber, wie 


jedermann weiss, die Zahl der Mäuse in grossem Masse 
von der Zahl der Katzen ab, sodass Newman sagt, in 


der Nähe von Dörfern und Flecken habe er die Zahl - 


der Hummelnester grösser als irgendwo anders gefun- 
den, was er der reichlichern Zerstörung der Mäuse 
durch die Katzen zuschreibe. Daher ist es denn völlig 
glaublich, dass die Anwesenheit eines katzenartigen 
Thieres in grösserer Anzahl in irgendeinem Bezirk 
durch Vermittelung zunächst von Mäusen und dann von 
Bienen auf die Menge gewisser Pflanzen daselbst von 
Einfluss sein kann.“ 


Der Kampf ums Dasein entbrennt um so : 


je verwandtschaftlich näher einander die Mitbewerber 
stehen; denn je verschiedenartiger die Bedürfnisse nahe 
beieinander wohnender Organismen sind, um so weniger 
sind diese einander im Wege, um so mehr kann jeder 
für sich seine Umgebung ausnutzen. Hiergegen scheinen 


Der Kampf ums Dasein. I 131 


$ ‘zwar gleich die grossen Behr der geselligen Pflanzen 
und Thiere zu sprechen, allein auch sie machen bei 
näherer Betrachtung keine Ausnahme, indem sie oft 
gerade durch ihre Menge einander gegenseitig die Exi- 
stenz ermöglichen und erleichtern und gerade auch 
nur in dem Grade sich vermehren, als die Nahrungs- 
masse es zulässt. Tritt bei den geselligen Pflanzen 
und den Heerdenthieren eine Ueberproduction ein, so 
beginnt augenblicklich die Concurrenz und der Kampf, 
und überhaupt wird ganz unbedingt das Leben ebenso 
geregelt, wie bei den an Individuenzahl minder auf- 
fallenden Arten. Unser Satz, dass die Heftigkeit des 
Kampfes mit der Nähe der Verwandtschaft steigt, gilt 
also allgemein. Selten wird ein so rasch verlaufender 
Vernichtungskrieg geführt, wie zwischen der Hausratte 
(Mus rattus) und der Wanderratte (Mus decumanus), 
und viel häufiger haben wir den Eindruck, dass die 
einen Wohnbezirk theilenden Glieder einer Art, z. B. 
Hasen und Hirsche, einträchtig miteinander verkehren, 
als dass sie sich das Dasein verkümmern sollten. Und 
doch ist dem so. Die beiden mächtigen Triebfedern 
der Erhaltung des Individuums und der Erhaltung der 
Art spornen unausgesetzt zum Kampfe an, und unter 
ihrem Einfluss tritt jedes Lebewesen, die Pflanzen ein- 
geschlossen, in den Kampf mit den Artgenossen der 
_ nächsten Umgebung ein. In dieser Concurrenz um die 
Nahrung, verbunden mit der Abwehr gegen alle mög- 
lichen Feinde und andere Mitbewerber um die übrigen 
Vortheile der Existenz, behält der Stärkere Recht, der 
‚Listigere, der Geschicktere, kurz der mit irgendeinem 
Vortheil ausgerüstet mit seinen Nebenbuhlern sich 
messen kann. Nicht nur beim Kampf um die Weib- 
chen, bei jeder Gelegenheit der Concurrenz werden 
die schwächern Individuen abgeschlagen und findet 
eine Auslese der stärkern und bessern statt. Aber die 
anfänglich geringen, oft kaum bemerkbaren Vortheile, 
geistige wie körperliche, welche jenen Individuen zum 
Siege und zum Ueberleben der die zufälligen Vortheile 
9* 


En: 


132 Geschlechtliche Zuchtwahl. 


entbehrenden oder schwächern Artmitgliedern verhal-' 
fen, haben Aussicht, fortgepflanzt zu werden, in den 
nächsten Generationen sich zu befestigen und zu stei- 
gern in wiederholter Auslese. Diese Auslese ist also 
ein natürlicher und nothwendiger Verlauf der Dinge, _ 
und es ist klar, dass sie nicht nur in ganz allgemei- 
ner und vager Bedeutung Anwendung findet etwa auf 
den äussern Habıtus, Grösse und Stärke der Indivi- 
duen, sondern dass bei der thatsächlichen Variabilität 
und Plastieität der organischen Formelemente, auch 
einzelne Theile und Organe in bestimmter vortheil- 
hafter Richtung abgeändert und vervollkommnet wer-. 
den können, um der Rasse und Art eine höhere Stel- 
lung ın der umgebenden Welt zu verschaffen. 

Ausser dem allgemeinen Resultate des Rechtes des 
Stärkern, wo es sich um den Fortpflanzungstrieb han- 
delt, kommt in diesem Gebiete noch eine andere sehr 
einflussreiche Erscheinung zur Geltung, welche von 
Darwin als geschlechtliche Zuchtwahl bezeichnet 
und sehr ausführlich in dem Werke über die Abstam- 
mung des Menschen bearbeitet worden ist. Hier gilt 
es in erster Linie um die Bildung von Geschlechts- 
eigenthümlichkeiten der Männchen, um secundäre 
Eigenschaften, durch welche sie in den Bewerbungen 
um die Weibchen unterstützt werden, in zweiter erst 
um die Rückwirkungen dieser Eigenthümlichkeiten auf 
die Umänderung nnd Vervollkommnung der Art über- 
haupt. 

Der Grundgedanke der Selectionstheorie Darwin’s 
ist also, dass in der Natur die Rolle des eumulativen 
Wahlvermögens des Rassen züchtenden Menschen durch 
den Kampf ums Dasein ersetzt wird, und dass durch 
die mit der Zeit eintretende Cumulirung anfänglich 
geringer, dann immer mehr hervortretender Vortheile 
die niedrigern Organismen in höhere verwandelt wer- 
den. Die Wirkung ist eine unausgesetzte. „Man kann 
figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich 
und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine 


Schwierigkeiten der Theorie. 133 


Me Ei; auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie 
= 'zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten 
_ und zu she wenn sie ge ıst. Still und un- 
merkbar ist sie überall und allezeit, wo sich die Ge- 
legenheit darbietet, mit der Vervollkommnung eines 
jeden Wesens in Beziehung auf dessen organische und 
anorganische Lebensbedingungen beschäftigt.“ *: 
Die folgenden Abschnitte werden uns näher in die 
"Theorie, ihre Wahrheit, Möglichkeit, Anwendung und 
Bestätigung einführen, während wir schon jetzt uns 
mit einigen Einwendungen gegen dieselbe, und zwar 
entweder speciell gegen die Selectionstheorie, oder gegen 
sie sammt der Umwandlungslehre als Ganzes, bekannt 
- machen wollen, deren wichtigste schon Darwin selbst 
sich vorgelegt und beantwortet hat. 
Wenn, so sagt man, alle Lebewesen in einem di- 
_ receten, ununterbrochenen Zusammenhange miteinander 
stehen sollen, wo sind die unendlich vielen Zwischen- 
formen geblieben, welche nothwendig existirt haben 
müssen? Unser Blick richtet sich zuerst auf die jetzt 
lebenden Organismen, und da. sie nach der Theorie 
die Endspitzen eines unendlich verzweigten Baumes 
sein sollen, welche offenbar sich dicht drängen und 
jede für sich nach allen Seiten in Varietäten ausein- 
ander gehen müssen, so verlangen wir die Zwischen- 
formen zu den jetzt nebeneinander bestehenden Arten. 
Wir können uns nun auf die früher (Seite 83 fg.) 
gegebenen Nachweise berufen, dass wirklich in ganzen 
_ grossen Gruppen von Organismen die neuere wissen- 
sehaftliche Forschung nichts anderes als Zwischenfor- 
men hat entdecken können. Auch wird die Reise, 
welche Kerner in seinem Büchelchen über „Gute und 
schlechte Arten“ mit dem Botaniker Simplieius aus 
dem europäischen Westen nach dem Osten unternimmt, 
dem nach weitern Material begierigen Leser eine er- 
götzliche Menge liefern. Die Verbreitung der Cytisus- 
arten, welche derselbe Naturforscher eingehend unter- 
sucht hat, zeigt gleichfalls das lückenloseVorhandensein 


dich 2 


134 Mangel an Zwischenformen. ER 


von Verbindungsformen auf den Grenzgebieten von 
Arten, deren Verbreitungsmittelpunkte mehr oder 
weniger weit auseinander liegen. Es geht aus allen 
diesen Beispielen, welche nach Tausenden zählen, 
hervor, dass ein grosser Theil sich im Stadium der 
relativen Stetigkeit befindet. Dass aus diesem Grunde 
ihre Zwischenformen nur in der Vergangenheit ge- 
sucht werden können, ist ebenso wenig wunderbar, 
spricht nicht im geringsten gegen die Richtigkeit der 
Descendenzlehre, und die Forderung nach Zwischen- 
formen zu diesen local und zeitweilig formbeständigen 
Arten zeigt nur, wie wenig diesenigen, welche sie 
stellen, das Wesen der Descendenz begriffen haben. 
Es handelt sich aber bei dem Einwurf hauptsächlich 
um. solche Zwischenformen, welche die Arten mit den 
zeitlich vor ihnen liegenden Stammarten verbinden. 
Nach der Theorie waren die jetzt lebenden Arten 
durch Formen von der Qualität der Varietäten, der 
„werdenden Arten“, mit ihrer Stammart verbunden, 
die Stammarten wieder mit ältern u. s. w., sodass 
eine unendliche Anzahl von Formenvarietäten existirt 
haben muss. Wir haben zwar früher (S. 88) ebenfalls 
den Beweis geliefert, dass der Uebereifer der Paläon- 
tologen Arten, auch nach Tausenden zählend, aufge- 
stellt, wo blosse Umwandlungsformen und Varietäten 
vorhanden; wir haben erwähnt, dass eine Reihe aus- 
gezeichneter Paläontologen der Gegenwart die Fehler 
ihrer Vorgänger gut zu machen bemüht sind und die 
ununterbrochenen Uebergangsreihen aus den tiefern in 
die neuern Schichten klar legen, wo jene mit grossem 
Aufwande von Scharfsinn Artcharaktere ausgespürt zu 
haben meinten. Dennoch muss man zugeben, dass die 
Anzahl von Uebergangsformen, welche bisher wirklich 
gefunden sind, verschwindend klein ist gegen die un- 
zählbare Menge, welehe existirt haben müssen. Die- 
ser Mangel lässt sich aber vollkommen befriedigend 
erklären. Wir kennen von den versteinerungführenden 
Schichten einen sehr geringen Theil, und mit demselben 


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x Mangel an Zwischenformen “ 135 


Rechte, wie Lamark am Anfang dieses Jahrhunderts, 


können wir noch heute auf die Armuth der Samm- 
lungen hinweisen. Wo immer der Paläontolog heute 
zugreift, findet er Zwischenformen, und das Material 
häuft sich von Tag zu Tag in dem Masse, als man 
es braucht. Man verlangt jedoch zu viel und verkennt 
die Bedingungen der Erhaltung, wenn man meint, alle 
Zwischenformen, welche je existirt haben und nach 


- ihrer Leibesbeschaffenheit sich ganz oder theilweise 


zur Erhaltung eigneten, müssten auch wirklich er- 
halten worden sein. Im Gegentheil, die grösste An- 
zahl derselben ist sicher spurlos verschwunden. Min- 
destens die Hälfte aller geologischen Ablagerungen 


' wurde während langsamer Hebungen wieder zerstört. 


Denn von dem Zeitpunkt an, wo ein früher in grösserer 
Tiefe liegender Meeresboden mit seinen wohlconser- 
virten Einschlüssen wieder bis ın das Bereich der 
Oberflächenbewegung emporgehoben ist, kann er zer- 
bröckelt und zernagt werden, und die in ihm ent- 
haltenen Versteinerungen haben nun dasselbe Schicksal, 
wie gewöhnlich die Reste der Bewohner seichter Ufer: 
sie werden vom Geröll zerrieben. Dazu kommt noch 
die sehr wichtige Erwägung, dass die die Uebergänge 
vermittelnden Formen meist eine kürzere Lebensdauer, 
nicht als Individuum, sondern als Form, gehabt haben 
werden, als die uns als Arten erscheinenden ständigen 


Varietäten, wie unter anderm auch der so lehrreiche 


Steinheimer Fund zeigt. Die Uebergangszeiten von 
einem geologischen Horizont zum nächstfolgenden glei- 
chen hierin den Grenzgebieten zweier geographischen 
Bezirke. Die Strecke des Uebergangs vom einen zum 
andern ist besonders geeignet, die Veranlassung zur 
Umformung der sie passirenden Organismen zu geben. 
Diese Umformung vollzieht und befestigt sich aber. erst 
auf dem neuen Bezirk. So sind die Uebergangszeiten 
in der geologischen Reihe die Perioden der verhält- 
nissmässigen Unruhe. Während derselben war die 
Nöthigung zur Anpassung und Umformung für die 


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136 Plötzliches Erschäinen neuer ae 


Pfanzen- und Thierwelt am grössten, die Existenz 
bedingungen aber zugleich am ungünstigsten; die In- 
dividuenzahl der zur Umbildung gelangenden Arten 
musste sich nothwendig verringern und konnte erst 
wieder in den darauf folgenden Ruheperioden steigen. 
Es ist daher nicht zu verwundern, dass der Katalog 
der Zwischenformen so sehr lückenhaft ist; ihr Mangel 
wird aber auch nur von denjenigen bemerkt, welche 
sie durchaus vermissen wollen. Zur Herstellung des 
wissenschaftlichen Beweises der Descendenzlehre haben 
wir eine Ueberfülle von ihnen. 

Mit dem vermeintlichen Mangel an Uebergängen 
hängt ein anderer oft gehörter Einwurf zusammen: 
dass nämlich zu wiederholten malen ganze Gruppen 
verwandter Arten plötzlich aufgetreten seien. Wenn 
man auch sonst die morphologischen und anatomischen 
Zwischenstufen sähe, so fehle bei diesen Gruppen, den 
Flugeidechsen, Vögeln u. a. aller Zusammenhang und 
jede Verknüpfung mit etwaigen vor oder mit ihnen 
lebenden Stammarten. Diese Ausstellung ist eine der 
schwächsten und gedankenlosesten, wenn sie erhoben 
wird, nachdem man sich überhaupt einmal über die 
Ursache des Fehlens von Zwischenformen Rechenschaft 
zu geben versucht hat. Sie ist nur ein specieller Fall 
in der Alternative, dass entweder alle Arten auf dem 
natürlichen Wege entstanden sind, den die in so aus- 
reichendem Masse vorhandenen Uebergangsformen be- 
zeichnen, oder alle durch Wunder. In den Fällen, 
welche man hier als grobes Geschütz spielen lässt, ist 
die Lücke bis zu den Stammarten allerdings grösser 
als da, wo es sich blos um den Sprung von Art zu 
Art oder Gattung handelt. Die für die minder auf- 
fallenden leeren Stellen gegebenen Erklärungen bedür- 
fen aber kaum einer Erweiterung, um auch hier zu 
genügen. Das Dunkel über die Herkunft der Vögel 
beginnt sich eben jetzt zu erhellen; warum soll nicht 
im nächsten Jahre der Ursprung der Flugeidechsen 
klarer werden? 


Vollkommene Organe. 137 


Eine besondere Schwierigkeit scheinen der Theorie 
; ‚die sehr vollkommenen ÖOrgane- zu bereiten, nament- 
Br ‚lich die Sinneswerkzeuge mit ihren so reich 
Apparaten. In der That, nımmt man z. B. das Auge 
der Wirbelthiere, wir dürfen nicht einmal sagen, nur 
der höhern BE pelihiere: so ist der wunderbare Bau 
desselben wohl geeignet, die lebhaftesten Zweifel an 
der Descendenz und Selection zu erregen. Factisch 
liegt uns in den Reihen der Wirbelthiere auch nicht 
die Reihe von niedrigsten Anfängen vor, welche wir 
nothwendig als einst vorhanden voraussetzen müssen. 
Denn das Fischauge steht an Complicirtheit nur wenig 
gegen das Sehorgan der Säugethiere zurück, und der 
"Lanzettfisch ist völlig augenlos, gibt also auch keinen 
 Fingerzeig. In andern Thierstämmen aber sehen wir 
in der systematischen Reihe der Jetztwelt noch alle 
_ möglichen Abstufungen, welche uns ein Bild davon 
geben, wie in der paläontologischen Reihe allmählich 
das vollkommene Organ aus den einfachsten Anfängen 
_ hervorgegangen. Die niedern Krebse bieten die denk- 
bar einfachsten lichtempfindenden Werkzeuge dar, an- 
dere zu höherer Ausbildung gelangte Krebse besitzen 
etwas vollkommenere, nicht blos lichtempfindende, son- 
dern auch bilderzeugende Augen, zwischen welchen 
_ und den in ihrer Art höchst vollendeten Augen der 
zehnfüssigen Krebse noch eine ganze Anzahl von Augen- 
bildungen vertreten sind, welche es deutlich machen, 
wie auch diese Organe unter das Gesetz der langsamen 
Anhäufung und Befestigung kleiner Vortheile fallen. 
In Betreff der Gehör- und Geruchswerkzeuge kann 
man sich in jedem Lehrbuch der vergleichenden Ana- 
tomie überzeugen, dass schon die jetzt noch lebenden 
Wirbelthiere Entwickelungsreihen darbieten, welche 
- die plötzliche und unbegreifliche Entstehung dieser 
Organe gleich im vollendeten Zustande abweisen. Wie 
- dieselben in noch niedrigern Stufen, als sie jetzt die 
‚eigentlichen Fische zeigen, ausgesehen haben, darüber 
belehrt uns theils der Lanzettfisch, theils können wir 


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138 Convergenz. 


es uns nach den betreffenden Sinneswerkaeugen der 
niedrigen Weichthiere, Gliederthiere und Würmer 
vorstellen. Darwin hat das aus den Einrichtungen der 
vollkommensten Organe sich etwa ergebende Bedenken 
gegen seine Lehre so formulirt, dass er sagt, er würde 
seine ganze Theorie preisgeben, wenn man ihm nach- 
weisen könne, dass irgendeins dieser Organe sich un- 
möglich aus niedern Stufen durch allmähliche errun- 
gene Verbesserung habe bilden können. Diesen Nach- 
weis hat noch niemand unternommen, er wird auch 
nie mit Erfolg unternommen werden, da jedes tiefere 
Eindringen in die vergleichende Anatomie der Sinnes- 
werkzeuge das Gegentheil zeigt. Von höchster Be- 
deutung für das Verständniss der vermeintlich untadel- 
haft vollkommenen Sinnesorgane und ihrer Ableitung 
aus niederer Stufe, ist der gewöhnlich ganz übersehene 
Umstand, dass sie neben einer Menge von Vollkommen- 
heiten auch eine Reihe von Unvollkommenheiten und 
unzweckmässigen oder hinderlichen Einrichtungen be- 
sitzen, wie vor allen Helmholtz am Auge gezeigt hat. 

Wir haben aber noch einen Punkt zu prüfen, 
welcher Bedenken gegen die Zulässigkeit der Descen- 
denzlehre erwecken kann, merkwürdigerweise noch 
sehr wenig von ihren Gegnern ausgebeutet und von 
Darwin auch nur im Vorübergehen berührt worden 
ist. Darwin theilt in der „Entstehung der Arten“ 
mit, dass H. C. Watton, wir wissen nicht wo, der 
Divergenz des Charakters, also der Neigung der Va- 
rietäten und Arten, sich voneinander zu entfernen, 
eine „Convergenz des Charakters“ entgegengestellt 
habe. Es seı denkbar, dass von verschiedenen Gat- 
tungen abstammende Arten sich unter Umständen so 
einander näherten, dass sie schliesslich unter eine 
Gattung zusammenfielen. Der Begründer der Selections- 
theorie hat sich begnügt, auf die grosse Unwahrschein- 
lichkeit eines solchen Vorganges hinzuweisen, der in 
dieser Einfachheit übrigens kaum das Wesen und 
die Wahrheit der Theorie beeinträchtigen wird. Er 


„Convergenz. '139 
sagt: „Es ist unglaublich, dass die Nachkommen 
zweier Organismen, welche ursprünglich in einer auf- 
fallenden Art und Weise voneinander abwichen, später 
je so nahe convergiren sollten, dass sie sich einer 
_ Identität durch ihre gesammte Organisation näherten. 
- Wäre dies eingetreten, so würden wir, unabhängig von 
einem genetischen Zusammenhang, derselben Form 
wiederholt in weit voneinander entfernt liegenden geo- 
logischen Formationen begegnen; und hier widerspricht 
der Ausschlag des thatsächlichen Beweismaterials jeder 
derartigen Annahme.“ ° Wir sehen, ein theoretischer 
Einwurf wird theoretisch widerlegt. Aber obgleich 
die Wahrscheinlichkeit einer bis zum Gleichwerden 
_ ausgedehnten Convergenz eine äusserst geringe ist, und 
sie durch den paläontologischen Befund nicht unter- 
stützt wird, so lässt sich doch ihre absolute Unmög- 
lichkeit von vorn herein nicht behaupten, und ich 
selbst habe in meinen Untersuchungen über die atlan- 
tischen Spongien auf solche sich bis zum Verwechseln 
nähernde Artengruppen hingewiesen. Chalina und 
Reniera sind zwei wohl unterschiedene, sogar verschie- 
denen Familien angehörige Gattungen. Höchst wahr- 
scheinlich hat sich von Chalina die Gattung Chalinula 
mit ihren höchst unbeständigen Arten abgezweigt, 
nicht umgekehrt, und die Formen von Reniera gehen 
ebenfalls in solche in keinem Charakter fest zu halten- 
den Arten über, die von den Chalinula-Arten auch 
von dem scrupulösesten Beschreiber nicht zu trennen 
sind. Wenn also die Convergenz oder die Annäherung 
von Zweigen verschiedenen Ursprungs nicht principiell 
ausgeschlossen werden kann, so bleibt der günstigste 
Fall der Uebereinstimmung aber doch noch im Bereiche 
der Analogienbildung, wo unter gleichen Anpassungs- 
verhältnissen verschiedene Stämme zu denselben, die 
vollkommene Aehnlichkeit herbeiführenden Auskunfts- 
mitteln und Differenzirungen gedrängt worden sind. 
Auch lehrt uns ein Ueberblick über die Welt der Or- 
ganismen, dass in den höhern Regionen eine solche 


ri Pa 


Dat aa al ca Ind ul 2 ur at Ta Nah Se an En 


Convergenz.. 


Deckung Bar Enden ungleicher Ursprünge immer un- 
denkbarer wird, und dass sie, wie meine Spongien- 
"studien lehren, nur da allenfalls eintreten können, wo 
die Organismen aus sehr einfachen, nach wenigen Rich- 
tungen hin sehr veränderlichen und von den äussern 


Er 


ri 
= 


, 


Verhältnissen sehr leicht beeinflussten Factoren be- 


stehen. Von einer ernstlichen Gefährdung der prin- 
cipiell allgemein gültigen Divergenz durch den Aus- 


nahmsfall der Convergenz kann keine Rede sein. 
Wenn wir oben von der Möglichkeit eines nicht. 


leichten Bedenkens gegen die Descendenzlehre sprachen, 


so haben wir damit auch einen andern Fall von Con- 


vergenz im Sinne gehabt. Wir meinen nämlich solche 


ähnliche Endresultate bei divergenten Reihen, welche 
darin bestehen, dass in hoch organisirten Thiergruppen, 


welche nur = einem Zusammenhang durch niedrige 


Stammformen gebracht werden können, gewisse wich- 
tige Organe in ihren Einrichtungen und Vollkommen- 
heiten die grösste Uebereinstimmung zeigen. Es ist 


zur Zeit völlig unentschieden, wo und wann die wahren 


Insekten von den wasserathmenden Krebsthieren sich 
abgetrennt haben; ja einige Naturforscher neigen sich 


der Ansicht zu, dass diese beiden Klassen von einem 


tiefer we gemeinsamen Stamme entsprungen 


seien. So viel ist ım höchsten Grade wahrscheinlich, 
dass die Trennung in Krebse und Insekten stattfand, 
als die Ausbildung ihrer Sehwerkzeuge noch nicht 
jenen Grad der Vollkommenheit erreicht hatte, den 
wir heute bei den stieläugigen Krebsen und den In- 


# 


sekten antreffen. Gleichwol stimmen sie nicht blos in 


den gröbern Verhältnissen überein, sondern, wie Max 


Schultze nachgewiesen, bis in das feinste mikroskopi- 


sche Detail. Wenn auch hier, wie unten näher er- 


örtert wird und sich für unsern Standpunkt von selbst 
versteht, der Zweckbegriff als Erklärungsprineip aus- 
geschlossen ist, auch die einfache Vererbung in beiden 
Reihen, so haben wir einen andern befriedigenden 
Ausgang zu suchen. Der oben mitgetheilte Fall der 


ug Convergenz. 141 
 convergirenden Spongienarten mag ein, wenn auch 
‚nur spärliches Licht werfen auf die dunkeln Pfade der 
"organischen Werkstatt. Erinnern wir uns hier einmal 
an Goethe’s von uns schon eitirtes Wort: ‚Das Thier 
wird durch Umstände zu Umständen gebildet.“ Viel- 
leicht lässt sich- in der Zukunft etwas damit anfangen, 
“denn es handelt sich wirklich darum, zu erforschen, 
_ wie die Umstände, nämlich gerade die im Bereich der 
_ Sinneswerkzeuge wirkenden und bestimmenden Agentien 
auf einfaches Material einen solchen Einfluss ausüben, 
dass die sonst weit auseinander gehenden Nachkommen 
der verschiedenen Besitzer jenes einfachen Materials 
‘oder unvollkommener Organe nicht nur Gleiches lei- 
stende, sondern nahezu gleichgebaute vollkommneere 
Organe erlangt haben. Noch nie hat der Darwinismus 
behauptet, schon alles erklärt zu haben; aber auch 
an diesem Punkte wird er nicht scheitern, im Gegen- 
'theil, die Anregung zu tiefern Untersuchungen mit 
Bsnen Erfolgen gegeben haben. Ein anderes Bei- 
spiel von Annäherung in divergenten Reihen geben die 
Augen der höchsten Weichthiere, der Cephalopoden, 
verglichen mit denen der Wirbelthiere; allein hier 
bleibt es doch bei einer, wenn auch auffallenden Ana- 
logie. Nur der mikroskopische Bau der Nervenhaut 
ist in beiden Abtheilungen, mit Ausnahme der umge- 
kehrten Reihenfolge ihrer Schichten von innen nach 
aussen, höchst übereinstimmend. Der Fall. erscheint, 
an sich betrachtet, sehr verwickelt und ohne Aussicht 
auf Lösung; er vereinfacht sich aber ausserordentlich, 
wie oben angedeutet, wenn man die Frage verallge- 
meinert, etwa so: In welcher Weise werden die noch 
indifferenten Nervenendigungen von der specifischen 
Einwirkung der Licht- und Schallwellen u. s. w. affı- 
eirt, um die Form und Beschaffenheit specifischer End- 
‚organe anzunehmen? Die Ergründung dieser Verhält- 
nisse mag noch fern liegen; uns musste nur darauf 
ankommen, den Vorwurf der Unzulänglichkeit der 


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- 


142 Typus gleich Stamm. 


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Theorie zu beseitigen, indem wir die Möglichkeit der 


Untersuchung nach unsern Gesichtspunkten zeigten. 
Indem von Darwin die Wirkungen der Naturzucht- 
wahl bei der Fortpflanzung und Abstammung ins Licht 
gesetzt und dieses Princip auf alle Erscheinungen der 
organischen Welt angewendet wurde, ist durch die 
so befestigte und begründete Descendenzlehre die 


Bi BEFORE gu 


Systematik der Umwandlung thatsächlich unterworfen 


worden, welche Lamark vergeblich anstrebte. Die 
Systematik stellte die Organismen nach äussern und 
innern Aehnlichkeiten zusammen. Woher diese grössere 
oder geringere Uebereinstimmung, die Abstufung, die 
Mannichfaltiskeit, wusste sie nicht zu beantworten. 
Man meinte Grosses erreicht zu haben, indem man 
von Grundformen der Typen sprach, ohne dass man 
sich über das innerste Wesen dieser gleich den Ideen 
über den Erscheinungen schwebenden Typen Rechnung 


ablegen konnte. Nun ist der Typus zum Stamm ge- 


worden, und die Systematik hat die durchaus klare 
Aufgabe, die Stammbäume der verschiedenen Gruppen 


der Lebewesen wiederzugeben und untereinander zu 
verbinden. Die Kenntniss der Stammbäume hat nun- 


mehr erst einen wahrhaft wissenschaftlichen Inhalt ım 


Vergleich zur alten Typensystematik; denn die Stamm- 


bäume lassen sich nicht construiren ohne die Erkennt- 
niss ihres Wachsthums und der Ursachen, aus welchen 
die Aeste, Zweige und Sprossen getrieben sind. Jeder 
Stamm begreift also alle Formen, welche von einer 
einfachen Stammform abstammen. Die alte Systema- 
tik musste zufrieden sein, die Gliederung der einzel- 
nen Typen auszuarbeiten und ihre Grenzen abzustecken, 


dann die Typen nach allgemeinen morphologischen und 


physiologischen Principien gegeneinander abzuschätzen, 
um ihren relativen Werth festzustellen, alles ohne Be- 
wusstsein der natürlichen Ursachen dieser thatsäch- 
lichen Verhältnisse. Die Descendenzlehre verknüpft 
die Stammformen der Typen abermals unter dem Ge- 
sichtspunkt der Blutsverwandtschaft und schreitet tiefer 


#7 "Unmlänsliehkeit der Selectionstheorie. 143 


und tiefer bis zu den einfachsten Organismen und dem 
Anfang des Lebens. 

Ehe wir uns jedoch über den Ursprung des Lebens, 
eine der Säulen der Descendenzlehre, zu verständigen 


_ suchen, erscheint es zweckmässig, die Frage zu be- 


rühren, ob die in ihren Mitteln und Wirkungen in 


den folgenden Kapiteln noch näher zu erläuternde 
natürliche Zuchtwahl alle Abänderungen der organıi- 


schen Wesen erklärt, ob zur Erklärung dieser Um- 
wandlungen immer die Zuchtwahl zu Hülfe gerufen 
werden muss? Mit andern Worten, ob die Selections- 


theorie allen Anforderungen zur Begründung der De- 
 scendenzlehre entspricht oder der Verbesserung fähig 
und bedürftig ist? Wir können dies um so unbefan- 
_ gener thun, als, wie neuerdings wieder der scharf- 
_ sinnige Verfasser des Buches „Das Unbewusste vom 
- Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie“ 
bemerkt hat“, die Wahrheit der Descendenzlehre un- 


abhängig ist von der Tragweite und Zulänglichkeit der 


Darwin’schen Theorie. ,‚‚Dieses Verhältniss“, heisst es, 


„wird von den meisten Gegnern Darwin’s verkannt; in- 
dem dieselben Gründe für die Unzulänglichkeit der 
natürlichen Auslese im Kampf ums Dasein vorbringen, 
glauben sie in der Regel ebenso viele Gründe gegen 
die Stichhaltigkeit der Descendenztheorie vorgebracht 
zu haben. Beides hat aber direct gar nichts mitein- 
ander zu thun; es wäre ja möglich, dass Darwin’s 
Theorie der en Zuchtwahl absolut falsch und 


unbrauchbar und dennoch die Abstammungslehre rich- 
tig wäre, dass nur die causale Vermittelung der Ab- 


stammung einer Art von der andern eine andere als 
die von Darwin behauptete wäre. Ebenso wäre es 
möglich, dass zwar theilweise die von Darwin entdeck- 
ten Vermittelungsursachen des Uebergangs statthätten, 
zum andern Theil aber Uebergangserscheinungen vor- 
lägen, welche bisjetzt nicht durch diese Annahme er- 
klärt werden konnten, und daher entweder eine ergän- 


zende Hülfshypothese zu der Darwin’schen verlangten, 


747 Sise lb 2 Zefa he N El Fa Ba 1a as DEN Ede DE 
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144 Wagner’s Migrationsgesetz. 


oder gar ein coordinirtes Erklärungsprineip erforder- = 
ten, das bis heute ebenso wenig entdeckt wäre, wie E 
das Darwin’sche es vor 20 Jahren war. Eine solche 
theilweise Unkenntniss in den wirkenden Ursachen des 
Ueberganges aus einer Form in die andere kann die 
allgemeine Wahrheit der Descendenztheorie ebenso | 
wenig beeinträchtigen, wie das Fehlen gewisser Zwi- 
schenformen, oder die in manchen Fällen noch be- 
stehende Unsicherheit, von welcher gegebenen Form 
eine gegebene andere abstamme. Wenn selbst früher, 
wo noch jede Kenntniss über die den Uebergang ver- 
mittelnden Ursachen fehlte, die Abstammungslehre 
den bedeutendsten Köpfen aus allgemeinen naturphilo- 
sophischen und apriorischen Gründen gesichert erschien, 

so kann jetzt, wo durch Darwin und Wallace die un- 
zweifelhaft wichtigste, wenn nicht allein hinreichende 
Ursache des Uebergangs als überall wirksam und als 
für zahlreiche Fälle ausreichend klar und schlagend 
nachgewiesen ist, um so weniger mehr ein Zweifel an 
der Descendenztheorie bestehen.“ 

Wir haben diese Worte eines geistreichen Philoso- 
phen allen denjenigen vorhalten wollen, welche so 
barock sind, das Kind mit dem Bade auszuschütten, 
und die Descendenzlehre ins Herz getroffen zu. haben 
meinen, wenn sie so glücklich gewesen sind, an Dar- 
win’s Selectionstheorie einige Austellungen machen zu 
können. Leistet also die Selectionstheorie alles? Sie 
leistet Vieles und Grosses, reicht aber in manchen 
Fällen, wie es scheint, nicht aus, und in andern Fäl- 
len bedarf man ihrer nicht, sondern findet die Lösung 
der -Artbildung in anderweitigen natürlichen Bedin- 
gungen. 

Ein entschiedener Anhänger der Umwandlung und 
begeisterter Verehrer Darwin’s, Moritz Wagner, glaubte 
ein sogenanntes „Migrationsgesetz‘“ aufstellen zu kön- 
nen, nämlich das Gesetz, dass „die Migration der Or- 
ganismen und deren Coloniebildung die nothwendige 
Bedingung der natürlichen Zuchtwahl“ sei.” Nach 


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Bier? 


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Wirkung der Isolirung. FIAE 


seiner Meinung entständen nur dann neue Arten, wenn 
in der Varietätenbildung begriffene kleinere Mengen 
von Individuen geographisch isolirt würden, da nur 
auf diese Weise die Kreuzung mit den zurückbleiben- 
den und von der Umwandlung nicht ergriffenen Art- 
genossen unmöglich gemacht, also der Rückschlag und 
das Verschwinden der noch nicht befestigten Charaktere 
verhindert würde. Dass Isolirung oft sehr vortheilhaft 
auf die Artbildung einwirkt, ist eine ganz allgemein 
anerkannte, namentlich an den Inselfaunen leicht zu 
constatirende Thatsache, dass aber die Artenbildung 
nur unter Mitwirkung der Isolirung vor sich gehen 
könne, ist von Weismann gründlich widerlegt worden. *® 
Er hat gezeigt, dass „eine Kreuzung der beginnenden 
Narietät mit der Stammform durch Isolirung nicht 
vermieden wird“, wenn auch das Beispiel des Stein- 
 heimer Sees die Bildung neuer Arten inmitten der alten 
betreffend, sich als ungeeignet herausgestellt hat. Schon 
früher hatte Wagner: auf den Einwand Haeckel’s, dass 
"bei ungeschlechtlicher Fortpflanzung der niedrigen We- 
sen der Einfluss der Kreuzung gar nicht zu befürchten 
sei, die Nothwendigkeit der Isolirung auf die höhern 
Organismen mit getrennten Geschlechtern beschränkt. 
Allein Weismann macht mit vollem Rechte geltend, 
dass die Thatsache der Trennung der Geschlechter, 
über deren Hervorgehen aus einstigen hermaphrodi- 
tischen Arten man wol einig ist (die Schöpfungs- 
Gläubigen natürlich ausgenommen), als eines der aus- 
gezeichnetsten Beispiele der Varietätenbildung auf 
demselben Terrain dem Wagner’schen „Migrationsgesetz“ 
den Boden entzieht. 
Wie wir schon oben erwähnt, scheint es, dass wenn 
einmal der Anstoss zur Varietätenbildung da ist, diese 
Tendenz sich schnell ausbreitet. Der Nachweiss solcher 
Variationsperioden tritt aus den früher (8. 86 ff.) ange- 
führten paläontologischen Arbeiten hervor, Fällt in eine 
solche Periode Isolirung, so bewirkt sie die Befesti- 
-gung neuer Varietäten zu Arten ohne natür- 
SCHMIDT, Descenmdenzlehre. 10 


og we EB > BRENZ. x r 


146 Morphologische AaHte EN 
liche Züchtung. Wie Darwin in seiner Schrift über 
die Entstehung des Menschen anerkennt, hat er dieser 
Bildung sogenannter morphologischer Arten früher 
zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Wir verstehen 
darunter Arten, welche von ihren Stammarten sich 
nicht durch irgendwelche physiologische Vortheile un- 
terscheiden, sich also nicht über sie erheben, auf 
welche also das Princip der Zuchtwahl im strengen 
Darwin’schen Sinne keine Anwendung findet. Zwei 
Schmetterlingsarten, welche nur in einigen Tupfen und 
Zeichnungen, in einigen Zacken der Flügel vonein- 
ander abweichen, sind nach unserm Ermessen von voll- 
kommen gleichem physiologischen Werthe; es sind 
morphologische Arten. Weismann begründet den Satz, 
„dass die Färbung und Zeichnung der obern Flügel- 
fläche bei Tagschmetterlingen, mit Ausnahme der Fälle 
von Mimiery und von schützender Totalfärbung als 
rein morphologische Charaktere der Art aufzufassen 
sind“, und führt an andern Beispielen aus, „dass neue, 
wie morphologische Charaktere unter gewissen Um- 
ständen und innerhalb eines ziemlich kleinen Spiel- 
raums blos durch die Wirkung der Isolirung fixirt 
werden können“. Auf die Nichtanwendbarkeit der 
natürlichen Züchtung auf die Hervorbringung der rein 
morphologischen Abänderungen hatte zuerst Nägeli 
hingewiesen. * Mit Bezug hierauf sagt der in seiner 
Bescheidenheit so grosse Darwin: „Ich gebe jetzt, 
nachdem ich die Abhandlung von Nägeli über die 
Pflanzen und die Bemerkungen verschiedener Schrift- 
steller, besonders die neuerdings vom Professor Broca ° 
in Bezug auf die Thiere geäusserten gelesen habe, zu, 
dass ich in den frühern Ausgaben meiner Entstehung 
der Arten wahrscheinlich der Wirkung der natürlichen 
Zuchtwahl oder des Ueberlebens des Passendsten zu 
viel zugeschrieben habe. Ich habe die fünfte Ausgabe 
der «Entstehung» dahin abgeändert, dass ich meine 
Bemerkungen nur auf die adaptiven (d. h. die für die 
nöthigen Anpassungen sich vortheilhaft erweisenden) 


Veränderungen des Körperbaues beschränkte. Ich 
- hatte früher die Existenz vieler Structurverhältnisse 
nicht hinreichend betrachtet, welche, soweit wir 
- es beurtheilen können, weder wohlthätie noch schäd- 
lich zu sein Ban, und ich glaube, dies ist eins 
der grössten Versehen, welche ich bisjetzt in meinem 
Werke entdeckt habe.“ 51 
Er Wir möchten meinen, dass das Versehen, dessen 
- sich Darwin anklagt, so gross nicht ist, indem es sich 
hier um die mehr en für die grosse Er- 
; scheinung der fortschreitenden Entwickelung indifferen- 
ten Arten handelt, deren Entstehung aus der blossen 
2 'Veränderlichkeit nnd allenfalls, wie wir oben gesehen, 
der Mitwirkung der Isolirung ee verständlich 
ist. Dem Werthe der natürlichen Züchtung geschieht 
2 durch die Entbehrlichkeit der Theorie für die Erklä- 
_ zung der rein morphologischen Arten nicht der ge- 
_ ringste Abbruch. Für gewisse Fälle der Mimicry oder 
der Bildung der natürlichen schützenden Masken und 
 Nachahmungen, für das Verständniss der organischen 
Schönheit scheint die natürliche Züchtung nicht aus- 
> zureichen. Was beweist es weiter, als dass, wie wir 
_ alle wissen, die künftigen Geschlechter den Eau wei- 
ter zu führen haben? Die Zuthaten, welche die Gegen- 
_ wart der Selectionstheorie hat bringen können, sind 
- kaum nennenswerth. 
- Indem der Typus zum Stamm geworden, und das 
System als der kürzeste Ausdruck oder die Zusammen- 
 fassung der verwandtschaftlichen Beziehungen der Or- 
' ganismen an der Wurzel des Stammbaums eine Anzahl 
niedrigster und einfachster Organismen, vielleicht nur 
eine einzige Urform unserer Vorstellung aufnöthigt, 
müssen wir uns mit dem Problem des Anfangs des 
- Lebens auseinandersetzen. Noch in neuester Zeit, im 
_ März 1873, hat Max Müller in Uebereinstimmung mit 
_ vielen Meinungsgenossen wieder proclamirt, dass die 
_ Darwin’ sche Theorie in Anfang und Ende verwundbar 
seid? — „the Darwinian theory vulnerable at the beginning 
Fer 10* 


5 
R 


gi 
2] 


| Anfang des Lebens. 147 


148 Anfang des Lebens. 


and at the end“. Ob das Ende des Darwinismus, näm- 
lich die Anwendung der natürlichen Zuchtwahl auf ie 
die Entstehung des Menschen und seiner einzigen 
charakteristischen Eigenthümlichkeit, der Sprache, er- 
hebliche Angriffspunkte biete, haben wir noch Ge- 
legenheit zu untersuchen. Was aber der berühmte 
Sprachforscher den verwundbaren Anfang des Darwı- : 
nismus, die Entstehung des Lebens, nennt, hat mit 
dem eigentlichen Darwinismus, der natürlichen Züch- 
tung, eigentlich gar nichts zu thun, es sei denn, dass 
man das Princip der Zuchtwahl auch auf die unorga- 
nische Körperwelt ausdehnt. Wir verstehen aber natür- 
lich den Einwurf, welcher der Descendenzlehre, nicht 
der Selectionstheorie die Basis entziehen will und den 
Anfang des Lebens als unbegreiflich und übernatürlich 
darstellt, um für die Uebernatürlichkeit der Sprach- 
schöpfung einen Präcedenzfall zu haben. Zwischen 
Anfang und Ende dürfen wir Naturforscher walten nach 
Belieben. Es ist aber merkwürdig, dass man gerade 
von der Seite, welche uns gern Mangel an philoso- 
phischer Methode und Schlussfolgerung vorwirft, hier, 
wo das materielle Substrat nicht vorhanden, der Natur- 
forschung die Berechtigung der Consequenz des Ge- 
dankens streitig macht. Auf der letzten Seite der 
„Entstehung der Arten“ sagt Darwin: „Es ist wahr- 
lich eine grossartige Ansicht, dass der Schöpfer den 
Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder 
nur einer einzigen Lebensform eingehaucht hat, und 
dass, während unser Planet den strengen Gesetzen 
der Schwerkraft folgend, sich im Kreise schwingt, aus 
so. einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der 
schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat. 
und noch immer entwickelt.“ Mit diesem Zugeständ- 
niss ist sich Darwin allerdings untreu geworden, und 
es befriedigt weder diejenigen, welche an das fort- 
dauernde Schöpfungswerk eines persönlichen Gottes 
glauben, noch die Anhänger der natürlichen Entwicke- 
lung. Es ist geradezu unverträglich mit der Descen- 


Anfang des Lebens. 
lenzlehre, oder, wie Zöllner ®® sagt: „Die Annahme 
eines Schöpfungsactes (für den Beginn des Lebens) 
_ wäre keine logische, sondern nur eine willkürliche 
_ Begrenzung der Causalreihe, gegen welchen sich unser 
- Verstand auf Grund des Se innewohnenden Causa- 
- litätsbedürfnisses sträubt.“ Wer dieses Bedürfniss nicht 
hat, dem ist nicht zu helfen, und er ist nicht zu über- 
zeugen. Man bricht eben mit der gesammten Erkennt- 
 nisstheorie, wenn man den Anfang des Lebens inmitten 
einer sonst ununterbrochenen Entwickelung als einen 
willkürlichen Schöpfungsact setzen will. 

- Man pflegt die Entscheidung über den Beginn des 
Lebens von dem Standpunkt abhängig zu machen, den 
man zur Frage über die Möglichkeit der Urzeugung 
‘oder freiwilligen Zeugung (Generatio aequivoca), in der 
_ gegenwärtigen Zeit einnimmt. Ein solches Verfahren 
ist nach unserer Meinung nur halb richtig. Die sub- 
tilsten Versuche über die freiwillige Entstehung, sei es 
aus organischem Stoffe, sei es aus Elementen, welche 
noch nicht zu Moleculen organischer Stoffe zusammen- 
getreten waren, sind nach keiner Seite hin entschei- 
dend gewesen. Weder die Unmöglichkeit noch die 
Möglichkeit ist experimental zu beweisen; immer bleibt 
für den Zweifler die Ausflucht, zu sagen, wenn nichts 
wird, dass eben die Umstände des Experimentes an 
dem Mislingen der Urzeugung schuld sind, und, wenn 
etwas zum Vorschein kommt, dass trotz aller Vor- 
sichtsmassregeln doch die Keime ihren Weg in die 
Infusion gefunden hätten. Die Ansicht über noch jetzt 
 fortdauernde Urzeugung ist also schliesslich nur ein 
Ausfluss der gesammten Naturanschauung des Einzelnen. 
Wer die Möglichkeit offen hält, dass noch heute Le- 
bendiges sich aus dem Unlebendigen ohne Vermittelung 
von Vorfahren erzeugt, für den ist die Ueberzeugung 
der ersten Entstehung des Lebens auf diesem natür- 
lichen Wege ohne weiteres selbstverständlich. Aber 
‚selbst wenn der Beweis geführt würde, der nie geführt 


3 


EERRENN 


TE RT © = 


: 
7 


150 Wallace. 


werden kann, dass in der Jetztwelt Urzeugung nicht 
stattfindet, so würde der Schluss falsch sein, dass sie 

nie stattgehaht habe. Als unser Planet bei jener Stufe 
der Entwickelung angelangt war, wo der Wärmegrad 
der Oberfläche die Bildung von Wasser und das Be- 

stehen eiweissartiger Substanzen zuliess, waren die 

Mengen und Mischungsverhältnisse der Bestandtheile 

der Atmosphäre andere als jetzt. Tausend Umstände, 
die wir heute nicht in unserer Gewalt haben, und über 

deren mögliche Beschaffenheit nachzugrübeln überflüssig 

ist, konnten die Bildung des Protoplasma, dieses Ur- 
organısmus, aus den Atomen seiner Bestandtheile her- 

beiführen. 

Der einstige Anfang des Lebens ist also ebenfalls 
factisch nicht zu demonstriren; die Annahme des Ein- 
trittes des Lebendigen zu einer bestimmten Zeit der 
Entwickelung auf natürlichem Wege ist aber eine logi- 
sche Nothwendigkeit, und nicht im entferntesten ein 
verwundbarer Punkt der Descendenzlehre. °? | 

Wir haben oben nur im Vorübergehen einen Mann 
erwähnt, der zwar nicht auf der Höhe Darwin’s steht, 
aber den Ruhm hat, unabhängig von jenem ebenfalls 
das Gesetz der natürlichen Zuchtwahl entdeckt und, 
nachdem Darwin mit seiner grundlegenden Arbeit her- 
vorgetreten war, die Selectionstheorie durch eine Fülle 
selbständiger Beobachtungen gestützt zu haben. Das 
ist Alfeed Russel Wallace.°’” Er wies in einem 1855 
veröffentlichten Aufsatz die Abhängigkeit der Flora 
‚ und Fauna von der geographischen Lage und geolo- 
gischen Beschaffenheit des Verbreitungsbezirkes nach, 
und den engsten Zusammenhang der Arten nach Zeit 
und Raum mit früher vorhandenen verwandten Arten; 
und in einer zweiten Arbeit über die Neigung der 
Varietäten, vom Urtypus unbegrenzt abzuweichen, aus 
dem Jahre 1858, finden wir die Bedeutung des Kam- 
pfes ums Dasein (the struggle for ezxistence) erörtert, 
die Folgen der Anpassung, die Auslese des Nützlichen 


Vererbung. 151 


nd den Ersatz der frühern Arten durch die befestig- 
‘ ten werthvollern Varietäten. Wir werden wiederholt 
Gelegenheit haben, aus dem reichen Brunnen seiner 
Untersuchungen zu schöpfen. 


_ YO. 


Vererbung. Rückschlag. Veränderlichkeit. Anpassung. 
Folgen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Or- 
gane. Differenzirung führt zur Vervollkommnung. 


Die beiden Eigenschaften der organischen Wesen, 
welche das Verhältniss der Nachkommen zu den Er- 
- zeugern bestimmen und regeln und den Individuen 
ihre Stellung in der umgebenden Welt anweisen und 
erringen helfen, sind die Fähigkeiten der Vererbung 
und Anpassung. 

Die Vererbung ist das conservative Princip, die An- 
passung das fortschrittliche. Doch ist nicht alle Ver- 
erbung auf die Unveränderlichkeit gerichtet, und zahl- 
reiche Fälle) der Anpassung ziehen morphologischen 
und physiologischen Rückschritt nach sich. In der 
Klarlesung der vererbten Eigenthümlichkeiten der Or- 
ganismen reconstruiren’ wir ihren Stammbaum; an den 

- durch die Anpassung erworbenen Eigenschaften er- 
proben wir die Biegsamkeit des Organismus im Laufe 
der Zeit und verfolgen die Verzweigungen des Stamm- 
baums. Organismengruppen mit vorherrschend conser- 
vativem Princip legen damit allerdings für ihre Wider- 

. standskraft im Kampfe ums Dasein Zeugniss ab, kommen 
aber in ihrem physiologischen Werthe nicht weiter 
und werden von den progressivern, sich in die Hin- 
dernisse der Welt einlassenden und aus ihnen Vortheil 
ziehenden Gruppen überflügelt, wofür ja auch das 
menschliche Leben so viele Belege liefert. 


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7 RE REEL TR Sc Ba 
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152 | Vererbung. 


Da die Erscheinungen der Vererbung greller her- 
vorzutreten pflegen, als die Folgen der Anpassung, so ° 


hat die frühere Naturforschung die letztere fast gänz- 


lich vernachlässigt. In der That, welche Vergleichung 
in der organischen Natur kann man wol häufiger und 
allgemeiner anstellen, als dass die Nachkommen den 
Aeltern ähnlich sind? Zwar hat ein Anatom in einem 
eigenen Buche den Satz durchführen wollen, dass die 
Aehnlichkeit der Kinder nicht auf der Vererbung be- 
ruhe, sondern ein Resultat der gleichen und ähnlichen, 
in den Familien vorherrschenden Einflüsse, Sitten und 
Gewohnheiten sei. Allein diese paradoxe Lehre bedarf 
keiner besondern Widerlegung. Es ist ganz richtig, 
dass gleiche Gewohnheiten und gleiche äussere Ver- 
anlassungen eine gewisse Gleichförmigkeit in Haltung 
und Miene hervorrufen; wenn aber der kleine Sohn 
des gravitätisch einherschreitenden Geldmannes seinen 
Vater copirt, so kann es uns doch nicht einfallen zu 
behaupten, er habe ihm auch die grosse oder kleine 
Nase u. s. w. abgeguckt oder aus dem gleichen An- 
passungsbedürfniss erhalten. Wir haben jene, dem 
allgemeinen Bewusstsein zuwiderlaufende Spitzfindigkeit. 
nur erwähnen wollen, und constatiren in Uebereinstim- 
mung mit demselben die Uebertragung der. älterlichen 
Eigenthümlichkeiten auf die Nachkommen. Die Thier- 
zucht insbesondere hat Gelegenheit gehabt, diese Ueber- 
tragungen speciell zu beobachten und aus der Com- 
bination und Beeinflussung der verschiedenen Formen 
und Grade der Vererbung ihre so staunenswerthen 
Fortschritte herzuleiten. 

Bekanntlich werden nicht blos die normalen Zu- 
stände vererbt; auch Monstrositäten pflanzen sich durch 
mehrere Generationen fort oder können sich sogar, 
wie uns oben das Beispiel der krummbeinigen Schafe 
in Massachusetts zeigte, zu Rassencharakteren be- 
festigen, Es bedarf auch nur des Hinweises auf die 
Erblichkeit von Krankheitsanlagen, körperlichen wie 
geistigen, um uns diese innigste Verknüpfung der 


Sie a er ee Eee T sp EEE a SE ae BA er 


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4 « 


Vererbung. | 153 


e.. 


$ kommen mit den Vorfahren zu vergegenwärtigen. 
Erst seitdem die Selectionstheorie die Modalitäten der 
# bung körperlicher Eigenschaften zum Gegenstande 
tiefern Studiums gemacht hat, konnte die allgemeine 
und die Völkerpsychologie die Anregung empfangen, 
auch auf dem geistigen Gebiete den Einfluss der Ver- 
_ erbung zu würdigen und nachzuweisen, wie mit den- 
 molecularen Besonderheiten des Gehirns auch die An- 
lage des Charakters und der Intelligenz der Indivi- 
duen und ganze Vorstellungsreihen nach Stärke und 
Inhalt bei den verschiedenen Volksstämmen und Völker- 
familien sich nach den Gesetzen der Vererbung 
richten. 

Es liegt auf der Hand, dass der Schlüssel für die 
Erscheinungen der Vererbung im Vorgang der Fort- 
pflanzung zu suchen ist. Die molecularen Bewegungen 
und Anregungen, welche dabei stattfinden, die über 
alle Vorstellung minimalen mechanischen Uebertra- 
gungen lassen sich freilich nicht beobachten, sie sind 
jedoch nicht „dunkler‘‘ oder „räthselhafter“, wie man 
sie gern nennt, als die unsichtbaren und doch nicht 
übernatürlichen Bewegungen, auf deren Controle und 
Berechnung das stolze Gebäude der theoretischen Che- 
mie und Physik sicher ruht. Mit dem Fortschritt von 
der ungeschlechtlichen zur geschlechtlichen Fortpflan- 
zung und von den einfachen zu den vollkommnern 
Organismen wächst die Schwierigkeit des Vorstellens, 
aber nicht des abstracten Begreifens. Wenn ein nie- 
driges Wesen, eine Monade, sich theilt, so weichen 
die Theilindividuen nur durch die geringere Körper- 
masse von dem Mutterindividuum ab, und der Unter- 
schied, wie sie jetzt functioniren, von dem, was sie 
als Theile des Ganzen leisteten, ist der Qualität nach 
Null. Auch wo sich Knospen und Keime von einem 
mütterlichen Organismus loslösen, ist die materielle 
Mitgift der Sprösslinge so gross, dass die Gleichheit 
der Form und Function von Erzeuger und Erzeugteın 
als selbstverständlich und natürlich erscheint. Aber 


= u Bl ui era > 
a ra © 6 > 
= Dur Ss ei 


154 Hypothese der Pangenesis. } 


auch bei der geschlechtlichen Fortpflanzung der zu- 


sammengesetztesten Organismen handelt es sich unter 


allen Umständen, wie wir seit Widerlegung der alten 


Lehre von der aura seminalis wissen, um die Ablösung 


materieller Theile der älterlichen Organismen. Es 


bleibt ein mechanischer Vorgang, der nicht unbegreif- 
lich und nur dann unerklärlich erscheint, wenn wir 


den natürlich vergeblichen Versuch machen, das 
Unendlichkleine, welches dabei mechanisch und che- 
misch thätig ist, uns sinnlich vorstellen zu wollen. 
Darwin hat im „Variiren der Pflanzen und Thiere“ 
eine provisorische Hypothese der Pangenesis auf- 
gestellt. Er sagt, dass alle Erscheinungen der Ver- 


erbung und des Rückschlags dadurch möglich würden, 


dass in jedem Elementartheile des Organismus fast 
unendlich viele Keime producirt würden, welche sich 
in den Fortpflanzungsstoffen, also in jedem Ei, jedem 
Samenkörperchen aufspeicherten, durch Hunderte von 
Generationen latent bleiben und dann erst im Rück- 
schlag sich geltend machen könnten.°® Diese Hypo- 
these hat, wie uns scheint, keinen lebhaften Beifall 
gefunden, wir meinen deshalb, weil beim Versuch, 
über dieselbe. nachzudenken, alsbald die sinnliche Vor- 
stellung sich hervordrängt, um sich als unzulänglich 
zu erweisen. Hält man aber den Gedanken fest, dass 
auch die complicirtesten Erscheinungsformen des Lebens 
im Protoplasma, wie Rollet es treffend nennt?”, einen 
beharrlichen Zeugen ihres Zusammenhanges mit den 
einfachsten besitzen, so folgt die Gültigkeit der für 
die einfachsten Organismen als wahr bewiesenen oder 
wahrscheinlich gemachten allgemeinen Gesetze auch 


für die vollkommensten von selbst. Das gilt auch für 


die Fortpflanzung, die in ihren untersten Erscheinun- 
gen nichts bietet, was nicht durch die auf die imbi- 
bitionsfähige, zähflüssige lebende Substanz angewendete 
Molecular-Physik begründet und des vitalistischen 
Dualismus entkleidet werden könnte. 

Je zusammengesetzter ein Organismus, d. h. je grösser 


hs ‚A 


Rückschlag. 99 


_ die Differenzirung in der Entwickelung vom Proto 
plasma der Eizelle bis zur Körperreife, um so ver- 
schiedenartiger äussert sich die Vererbung. Diese 
 Vererbungsarten sind von Darwin, und noch systema- 
tischer von Haeckel als ‚„Vererbungsgesetze‘“ formulirt 
und in den betreffenden Werken mit einer Fülle von 
Beispielen belegt werden. Wenn man die Vererbung 
überhaupt das Conservative im Leben der Arten nen- 
nen kann, so darf man doch noch im besondern von 
einer conservativen Vererbung sprechen, durch 
welche die alten, längst befestigten Merkmale und 
Eigenthümlichkeiten übertragen werden. Je hartnäcki- 
ger ein Charakter überliefert wird, oder, was auf 
dasselbe hinauskommt, über eine je grössere Anzahl 
‚von Familien, Gattungen, Arten ein Charakter sich 
verbreitet, als desto älter muss er angesehen werden, 
desto früher ist er im Stamm aufgetreten. In den 
allermeisten Fällen findet diese conservative Vererbung 
in ununterbrochener Reihenfolge der Generationen statt, 
über welche von jedermann täglich zu machende Beob- 
achtung keine Worte zu verlieren sind. Die conser- 
vative Vererbung kann aber auch sprungweise zur 
Erscheinung kommen, indem entweder blos einzelne 
Eigenschaften der Vorfahren, nachdem sie eine, meh- 
rere oder viele Generationen hindurch latent geblieben 
sind, wieder zum Vorschein kommen — was wir Ata- 
vismus oder Rückschlag nennen; oder indem die 
Art sich aus verschieden gebildeten und regelmässig 
sich einander ablösenden Zeugungsformen und Indivi- 
duen zusammensetzt. Diese besondere Art des Rück- 
schlags heisst Generationswechsel. 

Niemand wundert sich darüber, wenn Kinder kör- 
perliche oder geistige Züge der Grossältern an sich 
tragen, die in den ÄAeltern pausirt haben. Am häu- 
figsten und auffallendsten ist aber der Atavismus der 
Hausthiere und Nutzpflanzen, ein zäher Gegner der 
Züchter. Ueber kein Hausthier hat man hinsichtlich 
ihrer Stammart eine ähnliche Gewissheit, als über die 


156 | Rückschlag. 


Taube. Nun gibt es Taubenrassen, welche seit meh- 
rern Jahrhunderten rein gezüchtet und in Färbung 
und Form zu neuen Wesen umgewandelt worden sind, 
gleichwol aber von Zeit zu Zeit entweder aus sich 
heraus oder in Kreuzung mit andern auffallenden 
Rassen Thiere hervorbringen, welche in Färbung und 
charakteristischer Zeichnung von schwarzen Binden 
auf Flügeln und Schwanz der wilden Felstaube glei- 
chen. „Ich paarte‘‘, erzählt Darwin°®, „einen weiblichen 
Barb-Pfauentauben-Bastard mit einem männlichen Bar- 
ben-Blässtauben-Bastard. Keiner von beiden hatte auch 
nur das geringste Blau an sich. Man muss sich erinnern, 
dass blaue Tauben äusserst selten sınd, dass Bläss- 
tauben schon im Jahre 1676 vollständig als solche 
charakterisirt waren und völlig rein züchten; und dies 
ist ın gleicher Weise bei weissen Pfauentauben der 
Fall, und zwar so sehr, dass ich nie von weissen 
Pfauentauben gehört habe, die irgendeine andere 
Farbe hervorgebracht hätten; — nichtsdestoweniger 
waren die Nachkommen der beiden obigen Bastarde 
von genau derselben ‚blauen Färbung über den ganzen 
Rücken und die Flügel, als die wilden Felstauben von 
den Shetland-Inseln. Die doppelten schwarzen Flü- 
gelbinden waren in gleicher Weise deutlich; der Schwanz 
war in allen seinen Merkmalen genau jenen gleich, 
und das Hintertheil war rein weiss.“ Ein anderer oft 
zu beobachtender Rückschlag ist die Streifung der 
verwilderten europäischen Hauskatze, womit sie sich 
bis zum Verwechseln der Wildkatze nähert. Darwin 
hat die Gründe zusammengestellt, aus denen man auf 
eine gestreifte wilde Stammart des Pferdes schliessen 
darf; dahin gehört das Auftreten von gestreiften In- 
dividuen. Aber noch ein anderes seltsames Vorkommen 
bei Pferden findet seine Deutung im Atavismus. Es 
werden mitunter Fohlen mit überzähligen Zehen ge- 
boren. Diese ‚„Monstrosität‘ kann nur erklärt werden 
durch Rückschlag auf die dreizehigen historischen Vor- 
fahren der jetzigen Gattung. Diese Belege mögen genügen. 


FR NE N LE N 


"Progressive Vererbung. 157 
Die gesammten Erscheinungen der künstlichen Züch- 
tungen, sowie die natürliche Zuchtwahl zeigen, dass 
nicht blos die von alters her überkommenen, sondern 
auch die neuerlich und jüngst erworbenen Eigenschaf- 
ten auf die Nachkommen übertragen werden können. 
Das ist die progressive Vererbung. Ohne sie 
wäre die Veredlung und der Fortschritt unmöglich, 
_ und ihre eigene Möglichkeit ergibt sich unmittelbar 
aus dem Wesen der Fortpflanzung. Je neuer eine 
nützliche Abänderung, desto weniger hat sie sich noch 
in Correlation mit dem gesammten Organismus setzen 
können, desto weniger ist noch das Fortpflanzungs- 
system von ihr berührt, desto ungewisser und schwan- 
kender ist also auch die Uebertragung durch die Fort- 
 pflanzung, und es bedarf der Züchtung oder der Auslese 
durch die Natur, um die Möglichkeit des Fortschrittes 
durch wiederholte Vererbung zur Thatsache zu machen 
“und diese Thatsache nach und nach in die conserva- 
‚tiven Vererbungen einzureihen. Die progressive Ver- 
erbung complicirt sich natürlich bei Trennung der 
Geschlechter, wo die sexuelle Zuchtwall in ihre Rechte 
tritt und die Vorzüge des einen Geschlechts durch 
den Geschmack des andern gezüchtet werden, dann 
aber entweder nur auf das durch die secundären Cha- 
‚raktere bevorzugte Geschlecht übertragen werden oder 
der Art als Ganzes zugute kommen. In der Regel 
‚sind die Männchen mit diesen Vorzügen begabt und 
haben dieselben in einem unvollkommenen Zustande 
‚auf die Weibchen vererbt. Wir wollen uns nur durch 
ein einziges Beispiel orientiren. In der Insektenord- 
nung der Geradflügler (Orthoptera) sind die Männchen 
im Stande, durch Reiben der Flügeldecken aneinander, 
oder indem sie mit den Schenkeln der Hinterbeine an 
dieFlügeldecken streichen, eine die Weibchen anlockende 
Musik zu machen. V.Graber, ein ausgezeichneter jün- 

.  gerer Entomolog, hat nachgewiesen°®, dass die Zahn- 
leisten an den Streichinstrumenten dieser Thiere nur 
modificirte Haare sind, dass sich ihre Beschaffenheit 


es 


158 Vererbung in entsprechenden Lebensperioden. 


aus dem Gebrauche erklärt, und dass sie höchst wahr- 


scheinlich durch die sexuelle Zuchtwahl sich vervoll- 
kommneten, indem die besten und lautesten Musikanten 
die begünstigtsten Liebhaber waren. Die Weibchen 
der Geradflügler sind, mit einer einzigen Ausnahme, 
stumm; viele besitzen aber Spuren solcher den Männ- 
chen eigenthümlichen Zirpwerkzeuge. Entgegen der 
frühern Meinung, dass nur eine von den Männchen 
ausgehende Vererbung vorläge, hat Graber es „mehr 
als wahrscheinlich gemacht, dass sich die Tonadern 


der Weibchen — der musicirenden Ephippigera vi- 
tium — ganz unabhängig von denen der Männchen, 


doch auf die gleiche Weise, wie bei diesen, schritt- 
weise entwickelt haben“. In andern Fällen dagegen 
scheinen die schwaeh entwickelten und zum vernehm- 
baren Musiciren nicht geeigneten Tonadern der Weib- 
chen ein Erbstück von den Männchen her zu sein. 
Eine allgemein bekannte Erscheinung ist die Ver- 
erbung zu entsprechenden Lebensperioden. 
Die Anlage zu Krankheiten geht von Vater oder 
Mutter auf das Kind über, um in den Jahren, wo jene 
litten, durchzubrechen. Das Milchgebiss macht ven 


Generation zu Generation zur selben Zeit der defini- 


tiven Bezahnung Platz. Alle speciellen Fälle sind 
aber nur Ausflüsse des allgemeinen Gesetzes der Ent- 
wickelung, wo im Individuum .die Charaktere in der 
Reihenfolge auftreten, wie sie historisch erworben wur- 
den und vererbt werden konnten. Die. Vererbung im 
bestimmten Lebensalter, nach der Zeit, wo wir die eigent- 
liche Entwickelung für abgeschlossen ansehen, ist doch 
nur eine Fortsetzung der mit Theilung, Keim und Ei 
beginnenden: embryonalen Entwickelung, deren Bedeu- 
tung uns das neunte Kapitel kennen lehrt. Bei die- 
ser Entwickelung des Individuums, der Ontogenie, 
werden, wie unten ebenfalls näher zu beleuchten, oft 
Vorgänge zusammengedrängt, oder fallen ganz aus, 
welche einst, als sie erworben wurden und nachdem 


sie sich befestigt hatten, grössere Zeit in Anspruch 


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' nahmen, im Verlaufe der Zuchtwahl aber von gerin- 
 gerer Bedeutung für das Individuum wurden oder 

einen physiologischen Werth nur als Durchgangspunkte 
behielten. 

Die zweite grosse Klasse von Charakteren, nämlich 
derjenigen, welche neu erworben wurden und auf der 
Anpassung beruhen, setzt die Veränderlichkeit 
des Organismus voraus. Dieselbe ist eine Grunderschei- 
_ nung der organischen Körper. Sie inhärirt den klein- 
sten Formbestandtheilen, dem Protoplasma und den 
Zellen und den aus ihnen hervorgehenden Formelemen- 
ten, aus deren sich durchdringenden und bedingenden 
Einzelleben das Gesammtleben des Individuums resul- 
tirt. Das organische Formelement befindet sich im 
Zustande der Quellung, es imbibirt fortwährend und 
scheidet ab, ist also in seinem Bestande unausgesetzt 
von der Zufuhr des Materials für seine Thätigkeiten 
abhängis. Was im grossen und ganzen das Aussehen 
und die Beschaffenheit der Individuen bedingt, die 
Ernährung, vollzieht sich ja nur an den unzähligen 
. Zellen und ihren Derivaten. Jede Schwankung der 
‘ Zufuhr in jedem Theile des Organismus, ja an jeder 
Stelle der Oberfläche eines mikroskopischen Bausteines, 
muss mit Nothwendigkeit eine Veränderung von Ge- 
webstheilen oder zu Organen vereinigten Gewebs- 
gruppen nach sich ziehen. So ist die Veränderlichkeit 
eine aus der eigensten Natur des Organischen sich 
von selbst ergebende Eigenschaft, abhängig von den 
äussern Verhältnissen, von welchen Fülle und Form, 
Ausbildung und Umbildung der Elementartheile, oder 
Verkümmerung und Rückbildung derselben bedingt 
wird. Man kann sich von diesen Wirkungen durch 
die Betrachtung eines Polypenstockes ein Bild machen, 
der als Ganzes dem Individuum, in seinen einzelnen 
Polypen den Zellen und Formelementen gleicht. Die 
Einzelindividuen sind der Anlage nach gleichwerthig, 
aber gewöhnlich sehr verschieden stark und entwickelt, 
selbst bei den Arten, wo die unstreitig durch Selection 


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160 Veränderlichkeit. 


hervorgerufene Differenzirung nicht zur Trennung in 
verschieden functionirende Personengruppen, zum 
'Polymorphismus geführt hat. Das Wohl und Wehe 
der Polypen unsers Stockes ist gar sehr von der 
Stellung abhängig, welche sie auf demselben einnehmen; 
der Zufluss von Nahrung, auf welche in erster Linie 
die Einzelindividuen angewiesen sind, vertheilt sich 
ungleich und wechselnd, je nach Strömung und Bran- 
dung. Es gibt daher an jedem Polypenstock Regionen, 
wo die Personen besonders gut gedeihen, andere, wo 
sie sich eben noch erhalten, andere, wo sie ihre Rech- 
nung nicht mehr finden. Da aber der Polypenstock 
von einem die einzelnen Zellen verbindenden Kanal- 
system für die Ernährungsflüssigkeit durchzogen ist, 
so kommt der Ueberschuss der gut situirten Zellen 
denen zugute, welchen durch ihre zufällige Stellung 
ein schlechteres Los bereitet ist, und umgekehrt. Aus 
diesen sehr complicirten, aber für unsern Vergleich 
noch sehr einfachen Verhältnissen summirt sich Gestalt 
und Aussehen des Polypenstockes. Unter Hunderttau- 
senden von Stöcken wird man nicht zwei einander ab- 
solut gleiche finden. Selbst wenn zwei Individuen 
derselben Art, um auf die Veränderlichkeit der Orga- 
nismen zurückzukehren, unter den denkbar gleich- 
förmigsten Verhältnissen erzogen werden, hat noch 
nie die absolute Gleichheit derselben behauptet wer- 
den können. Dass die Veränderlichkeit bei den nie- 
dern Organismen geringer sei als bei den höhern, ist 
ein oft wiederholtes, durch das alte Artdogma be- 
festigtes Vorurtheil. Es stände schlimm um die Ab- 
stammungslehre und Auslese, wenn es so wäre, Wie 
aber der Hirt die Physiognomien seiner Schafe sicher 
unterscheidet, wo ein städtischer Spaziergänger nur 
ein allgemeines Hammelgesicht sieht, so löst sich auch 
dem aufmerksamen Naturforscher der Arttypus bei den 
meisten niedern Organismen in ebenso viele Variationen 
als Individuen auf, ganz abgesehen von allen den 


Anpassung. 161 


Fällen, wo die Feststellung des Arttypus i in gar keiner 
Weise Beine. 

Die Anpassung als Veränderung unter gegebenen 
Verhältnissen ist also sowenig wie die Vererbung 
eine unbekannte Grösse, sondern eine Function der 
mechanischen Eigenschaft der Veränderlichkeit, oder, 
im weitesten Sinne des Wortes, der Ernährung. Die 
Anpassung geht vor sich, indem der Organismus oder 
Theile desselben sich unter den verschiedenen äussern 
Einflüssen biegsam und bildsam zeigt, sie überwindet, 
sich zu Nutze macht. Klima, Licht, Feuchtigkeit, 
Nahrung, alle Hindernisse und Fördernisse, welche 
direct oder indirect auf den Organismus einwirken, 
‘sind dabei thätig. Von Organismen umgeben, sehen 
wir ihn ohne Ausnahme sich den Umständen anpassen, 
und wenn es uns um nichts anderes zu thun ist, als 
uns überhaupt von dem gestaltenden Einfluss der Le- 
 bensweise zu überzeugen, so geschieht dies am leich- 
testen bei den Hausthieren. In seinen Studien über 
das Schwein hat der vielleicht wissenschaftlichste unter 
den berühmten Thierzüchtern, H. v. Nathusius‘’, ge- 
zeist, wie der Schädel des Hausschweines selbst in 
dem einfachsten Falle, wo ıhm nur der durch die 
Cultur mehr gelockerte Boden die Arbeit des Wühlens 
erleichtert, durch die weichern Formen des Schädels 
auf der Jugendform des Wildschweines stehen bleibt, 
"und wie jene extremen Kopfbildungen der Culturras- 
sen, welche durch Knickung und Verkürzung des Ge- 
sichts, sowie die Unmöglichkeit, das Gebiss vorn zu 
schliessen, charakterisirt sind, lediglich eine Folge der 
veränderten Lebensweise sind. Es ist bekannt, dass 
‚Menschen, Thiere und Pflanzen, in eine weit von 
ihrem bisherigen Wohnort entfernte neue, fremdartige 
Umgebung versetzt, entweder nach längerm oder kür- 
 zerm Bestreben des Organismus, sich heimisch zu 
machen, absterben, oder in die neuen Verhältnisse 
sich finden und sich acclimatisiren. Jede Acclimati- 
‚sation ist also Anpassung, begleitet von sichtbaren 

SCHMIDT, Descendenzlehre, an. 


162 % Anpassung. 


oder auch weniger bemerkbaren Aenderungen. So 
gehen infolge der verschiedenen Lebensbedingungen 
Volksstämme weit auseinander, die nach der Verwandt- 
schaft ihrer Sprachen eines Ursprunges sind, um von 
denen hier nicht zu reden, über deren Beziehungen 
die Sprachforschung noch nicht entschieden hat. Wie 
abweichend ist das Gepräge der Engländer von dem 
der Hindus; sie stellen somatisch und psychisch zwei 
Bigereichnete Unterrassen dar, deren Eigenthümlich- 
keiten der Anpassung zuzuschreiben sind, hier an ein 
Klima, welches Pflanzennahrung verlange die körper- 
liche und geistige Energie nicht herausfordert, eine 
träumerische Sinnlichkeit begünstigt, dort an ein Land, 
welches in allen Richtungen das Gegentheil der indi- 
schen Urheimat ist. Auch der jährliche Wechsel in 
den Lebenserscheinungen so vieler Organismen, wel- 
chen wir als Mauser bezeichnen, ist Anpassung. Sie 
wird sogleich modificirt, wenn der Organismus einem 
veränderten Klima ausgesetzt wird, oder vielmehr ist 
die Acclimatisation im wesentlichen die Accomodirung - 
der Mauser an das neue Klima. 

In allen diesen Beispielen haben wir die Resultate 
directer Anpassung, wobei die Widerstandsfähig- 
keit der Individuen in Rechnung kommt, sowie die 
cumulative Anpassung bei der künstlichen Zuchtwahl 
und die Auslese des Bessern durch die Naturzüchtung. 
Ueberall, wo es sich um Anpassung handelt, werden 
ein oder einige Organe in erster Linie activ oder’ 
passiv betheiligt sein, und erst infolge der hieraus 
ableitbaren Umänderungen werden andere Organe in 
Mitleidenschaft gezogen. Dies ist correlative An- 
passung zu nennen. Man könnte vielleicht meinen, 
die parasitischen Thiere gäben hierfür die anschaulich- 
sten Beispiele, wo mit der Veränderung der Nahrung 
und der Nahrungswerkzeuge, namentlich der Mund- 
theile, eine oft bis zum gänzlichen Schwund gehende 
Um- und Rückbildung der Bewegungsorgane und der 
ganzen Körpergliederung verbunden zu sein pflegt. 


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Anpassung. 5 a 163 | 


K ‚Mein obschon hier die Grenze schwer zu ziehen, liegt 
E: die Ursache dieser Hand in Hand gehenden Khan 
_ rungen der Ernährungs- und Bewegungswerkzeuge 
weniger in der sympathischen Beeinflussung der einen 
_ durch die andern, als im gleichzeitigen Nichtgebrauch. 
 Correlativ ist aber z. B. die Anpassung, dass bei den 
 kurzschnäbeligen Taubenrassen auch Mittelzehe und 
_ Lauf verkürzt ist, und bei den langschnäbeligen Ras- 
sen jene Organe an der Verlängerung theilgenommen 
haben. In dem Falle jedoch, wo kurze Schnäbel mit 

_ kurzen Füssen verbunden sind, hat an der Verkürzung 
der Füsse auch der Nichtgebrauch gewiss einen An- 
_ theil, während da, wo der Taubenliebhaber seine 
- Freude an der Verlängerung des Schnabels durch ge- 
häufte Zuchtwahl fand, die correlative Verlängerung 
des Fusses trotz des Nichtgebrauches eintrat. Die wich- 
- tigste Gruppe von correlativen Veränderungen oder 
"Anpassungen, dies Wort immer in allgemeinster Be- 
deutung gebraucht, betrifft die Geschlechtssphäre. 
Directe Eingriffe auf die Generationsorgane äussern 
ihre Wirkung auf den gesammten übrigen Organismus, 
wie die zum Zweck der Mastung und der Arbeit 
castrirten Thiere beiderlei Geschlechts am besten zeigen. 
Wir haben früher gesehen, dass der Grad der Voll- 
kommenheit, welche in den Stämmen der Gliederthiere, 
Würmer und Wirbelthiere, zum Theil auch der strah- 
lig gebauten Klassen erreicht wird, von der verschie- 
‚denen Ausbildung der ursprünglich gleichartigen, hinter- 
oder nebeneinander liegenden Theile abhängt, also 
von der Theilung der Arbeit. Dies hat Haeckel die 
divergente Anpassung genannt. Auf ihr beruht 
der merkwürdige Polymorphismus, wie er. besonders 
in den wunderbaren Gestalten der Röhrenquallen her- 
- vortritt, und weiterhin die Gliederung der Thierstaaten 
_ der Termiten, Bienen u. a. 
Insofern Abänderung mit Anpassung übereinstimmt, 

_ lassen sich den bisher besprochenen direeten Anpas- 
sungen eine Reihe sogenannter indirecter Anpas- 


11* 


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164 | Anpassung. ae a 


sungen gegenüberstellen. Man kann darunter eine 
Reihe von Erscheinungen zusammenfassen, deren Ur- 
. sachen nicht in das Leben dieser Individuen fallen, 
sondern in Einwirkungen zu suchen sind, von welchen 
die Aeltern betroffen wurden. Wie man sieht, han- 
delt es sich um eine Berührung mit dem Gebiete der 
Vererbung, welche dem Thierzüchter sehr bekannt ist. 
So sagt H. v. Nathusius in seinen Studien über die 
Schädelbildung des Schweines®!: „Es ist aus den hier 
zusammengestellten Thatsachen klar, dass eine Ver- 
erbung, eine Uebertragung der Kopfform der Aeltern 
auf die Kinder nicht unbedingt erfolgt. Wenn die 
Form des Schädels, welche wir kurz die Culturform 
nennen wollen, ein Product der Ernährung und der 
Lebensart, also äusserer Einflüsse ist, wenn sich die- 
selbe an demselben Individuum verschieden gestalten 
kann, also nicht constant ist, dann kann von einer 
Vererbung dieser Form nur in beschränktem Mass die 
Rede sein. Die Form selbst wird nicht auf die Kin- 
der übertragen, wohl aber die Anlage zu dieser 
Form. Wir dürfen dies schliessen aus dem Umstande, 
dass sich die Form von Generation zu Generation, bis 
auf einen bestimmten Grad, in ihrer Eigenthümlichkeit 
steigert. Wenn wir ein gemeines Schwein neben einem 
veredelten erziehen, und wenn wir auf beide ganz die- 
selben Einflüsse der Ernährung und Haltung und in 
gleichem Masse einwirken lassen, dann erhalten wir 
nicht dieselbe Kopfform an beiden Thieren. Die Aus- 
bildung der Kopfform muss also unterstützt werden 
durch dazu vorhandene Anlage, diese müssen wir des- 
halb für erblich halten.“ Haeckel formulirt auch ein 
Gesetz der individuellen Anpassung, womit die 
Thatsache ausgedrückt wird, dass trotz nächster Ver- 
wandtschaft die Individuen in allerlei Abweichungen - 
auseinandergehen. Die Ursache dieser Verschiedenheit, 
die am augenfälligsten bei den Individuen eines und 
desselben Wurfes oder Satzes, ist, soweit sie nicht 
auf directe Anpassung zurückzuführen, in den Keimen 


165 


Ber 


 gängliche Schwankungen und Differenzen der Ernäh- 
_ rungsverhältnisse der Aeltern übertragen. Andere 
- Erscheinungen der indirecten Abänderung sind das 
Auftreten von Misbildungen, deren Ursachen nur in 
g Ernährungsstörungen der älterlichen Organismen ge- 
“ sucht werden können, ohne dass die Erzeuger selbst 
_ merklich afficirt worden sind. Auch der Fall gehört 
- hierher, dass Einwirkungen, welche das eine Geschlecht 
betroffen haben, sich nur in den Nachkommen des- 
selben Geschlechts äussern. Wie man sieht, sind diese 
_ in ihren Anfängen der Beobachtung gänzlich entzoge- 
nen Vorgänge eng mit dem dunkelsten Gebiete der Ver- 
_ erbung verknüpft. 
Eine höchst interessante und wichtige Form der 
- Anpassung ist die sogenannte Mimicry (Nachäffung, 
- Nachahmung, Maskirung) oder der Schutz durch An- 
'passung der Färbung und Form. Die ersten Ent- 
deckungen darüber wurden von dem bekannten „Natur- 
- forscher am Amazonenstrom“, Bates, gemacht; das 
_ meiste hat dann Wallace hinzugefügt. In Südamerika 
ist die Schmetterlingsfamilie der Helikoniden ausser- 
ordentlich verbreitet, ausgezeichnet durch verlängerte 
Flügel, Leib und Fühlhörner und durch schöne Far- 
ben. Man sollte meinen, sie wären den Verfolgungen 
_ insektenfressender Vögel und anderer Thiere ausgesetzt. 
_ Aber dies ist nicht der Fall, denn sie haben einen 
_ unangenehmen Geruch, der sie höchst wahrscheinlich 
jenen verleidet. Ihr Geruch und Geschmack ist also 
für sie ein Schutz, indem die Vögel und Eidechsen, 
welche einigemal sich an ihnen vergriffen haben, 
sicher sie später unangefochten lassen. Würden nun 
andere Schmetterlinge den Helikoniden ähnlich sein, 
“aber ohne den übeln Geruch zu besitzen, so würden 
_ diese, da die Insektenfresser nicht den einzelnen Fall 
prüfen, sondern sich einen Widerwillen gegen den 
 Habitus der Helikoniden überhaupt angeeignet haben, 
an der Lebensversicherung der Helikoniden um so mehr 


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166 _Mimicry. 


theilhaben, als sie sich ihnen in der äussern Erschei- 
nung nähern. Dieser Fall ist nun wirklich eingetreten, 
indem Bates eine Reihe von Arten der von den Heli- 
koniden sonst sehr abweichenden Gattung Leptalis 
entdeckte, von denen jede einer Helikonide bis zum 
Verwechseln an Form und Farbe ähnelt. Die Lepta- 
liden haben auch die Flugweise der Helikoniden an- 
genommen, theilen mit ihnen die„Standorte und flie- 
gen, obschon sie den abstossenden Geruch nicht haben, 
ungestraft umher. Das Verhältniss würde nicht mög- 
lich sein, wenn die Leptaliden nicht bedeutend in der 
Minderzahl wären, sodass sie gewissermassen sich un- 
ter den Helikoniden versteckten. Wallace hat gezeigt, 
dass die durch Mimicry anderer Thiere geschützten 
Arten immer in der Minderzahl und oft sehr selten 
sind im Vergleich zu den nachgeahmten Arten. Weder 
die Erklärung, dass gleiche Lebensbedingungen die- 
selben Resultate hervorgerufen, noch die Annahme, 
dass wenigstens in einigen Fällen in der Mimicery 
Rückschlag zur gemeinschaftlichen Stammart vorliege, 
sind irgendwie befriedigend, und nur die natürliche 
Auslese lässt sich zum Verständniss vieler‘ Fälle an- 
wenden, derjenigen nämlich, wo schon vor dem Be- 
ginn der Nachahmung von vornherein eine solche 
Aehnlichkeit zwischen nachahmender und nachgeahmter 
Form stattfand, dass eine Verwechselung möglich war, 
wo also die Aehnlichkeit durch die Zuchtwahl, die 
sich hier so ausserordentlich nützlich für die Erhal- 
tung der Aehnlichern erwies, nur gesteigert zu werden 
brauchte. Auch Darwin ° meint, „dass der Process 
wahrscheinlich niemals bei Formen seinen Anfang 
nahm, welche in der Färbung einander sehr unähnlich 
waren“. 
Eine besondere, einfachere und längst bekannte Mi- 
miery ist diejenige, wenn Thiere in ihren Färbungen 
sich so dem Aufenthaltsorte accommodirt haben, dass 
sie die Aufmerksamkeit ihrer Feinde schwerer auf sich 
ziehen, oder auch ihre Beute täuschen. Wer hat nicht 


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in der Zeit, wo man den Schmetterlingen nachjagte, 
erfahren, wie schwierig es ist, gewisse Abend- und 
Nachtschwärmer auf der Rinde der Bäume zu erkennen, 
wenn sie mit dachförmig niedergelegten bräunlichen 
‘oder schwärzlich und grau gebänderten oder gespren- 
 kelten Flügeln ruhig sitzen? Die Laub- und Gespenst- 
‚heuschrecken können so täuschend Blättern oder Zwei- 
gen ähnlich sehen, dass man sich erst durch Berührung 
von ihrer Wesenheit überzeugt. Wallace erzählt, dass 
eine der Phasmiden (Ceroxylus laceratus), die er in 
Borneo erhielt, so mit blattförmigen hell olivengrünen 
Auswüchsen bedeckt war, dass sie einem mit Moos 
bedeckten Stabe glich. Der Dayak, der ihm das Thier 
brachte, versicherte, es sei, obschon lebend, doch mit 
Moos bewachsen, und der Naturforscher selbst konnte 
_ sich nur durch die genaueste Untersuchung vom Gegen- 
'theil überzeugen. Ein vielen unserer Leser zugäng- 
liches ausgezeichnetes Beispiel von vortheilhafter Fär- 
bung geben die meisten Arten der jetzt so oft in 
den Aquarien gehaltenen Seitenschwimmer oder Schollen 
(Pleuronectides). Man beobachte die grauen oder bräun- 
lich gesprenkelten Thiere, wie sie durch einige Be- 
wegungen der Flossen ihre Oberseite zum Theil mit 
Sand bedecken. Ganz brauchen sie sich nicht einzu- 
wühlen, denn die nackte Haut ist nur bei schärferer 
Betrachtung vom Sandboden zu unterscheiden; und 
unter dieser theils künstlichen, theils natürlichen 
Hülle und Maske wartet das Thier auf seine Beute. 
Bei vielen mit Farbenschutz versehenen Thieren ist 
die Erscheinung complicirter und die Erklärung durch 
die natürliche Auslese weit schwieriger, indem sie 
willkürlich ihre Färbung den Umständen anpassen 
können, oder auch die Färbung durch unwillkürliche 
Reflexesichändert. Verany’sunübertreffliche Beobachtun- 
gen über die Cephalopoden haben uns mit der Farben- 
scala bekannt gemacht, über welche diese Weichthiere 
verfügen; Brehm’s Beschreibung des Farbenspieles des 
Chamäleons reiht sich an. Auf diese äusserst ver- 


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168 Veränderungen durch ce Sr 


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wickelten Fälle wird vorderhand durch die Es . 
fachern einiges Licht geworfen, wo der ganz offenbare 
Farbenschutz sich ın Haut und Gefieder fixirt hat und 


das Zusammentreffen mit andern Umständen kaum eine 


andere Erklärung als durch Zuchtwahl zulässt. Hier- 


für ist die anziehende Untersuchung von Wallace über 
die Vogelnester besonders lehrreich. Die grosse Mehr- 
zahl der weiblichen Vögel, welche in offenen Nestern 
brüten, haben ein bräunliches, grauliches, kurz nicht 
auffallendes Gefieder. Die Erklärung wird keinen 
Widerspruch finden, dass vorkommende Abänderungen 
des Gefieders, welche den auf dem Neste sitzenden 
Vogel seinen Feinden leichter verrathen, keine Aus- 
sicht haben, constant zu werden. Das Umgekehrte bei 
der den Vogel mit der Umgebung in Uebereinstimmung 
bringenden Färbung folgt von selbst, und eine wich- 
tige Stütze für die Richtigkeit der Auslegung der 
Thatsachen ist die andere Beobachtung, dass die mei- 
sten Vogelweibchen mit lebhaft gefärbtem und gefleck- 
tem Gefieder in bedeckten und verborgenen Nestern 
brüten. Es kommt dazu, dass der Nestbau nicht nach 
absoluten Regeln eines blinden Instinctes sich richtet, 
sondern von der Erfahrung der Thiere modificirt wird, 
einer Erfahrung, welche wir zwar fast nur mit dem 
Alter des Individuums sich entwickeln sehen, die aber 
wenigstens in mehrern Fällen auch als Fortschritt 
der Art nachgewiesen ist. 

Eine grosse Beihülfe findet die natürliche Zucht- 
wahl in den Veränderungen, welche durch den Ge- 
brauch oder Nichtgebrauch der Organe her- 
vorgebracht werden. Die Nöthigung zum fleissigern 
Gebrauch, die Veranlassungen zum Nichtgebrauch lie- 
sen in den sich umgestaltenden Lebensbedingungen. 
Es handelt sich also in beiden Fällen um Anpassung. 
Durchgreifende Veränderungen sind am leichtesten als 
Folge vom Nichtgebrauch nachzuweisen, wenn wir 
uns in der Natur umschauen, von beiden Arten aber 
gibt die künstliche Zuchtwahl zahlreiche Beispiele, 


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namentlich wo sie sich mit einseitiger Uebung ge- 
_ wisser Organe bei gleichzeitiger Vernachlässigung anderer 
verbindet. Solche Producte der Auslese mit einseitiger 
Uebung sind Rennpferd und das schwere Zugpferd. 

‘Die Blindheit der Höhlenthiere erklärt sich nur da- 
durch, dass mit der allmählichen Entbehrlichkeit der 
Augen während der Accommodirung an das Höhlen- 
leben nach und nach der Stoffwechsel in den weniger 
fungirenden Organen sank und die Verkümmerung 
eintrat. Bestärkt wird die Richtigkeit dieser theore- 
tischen Betrachtungen durch die Wahrnehmung, dass 
viele blinde Höhlenthiere, namentlich Insekten und 
Spinnen, ihre nächsten Verwandten in der Nach- 
- barschaft der Höhlen haben, und dass die in 
“den noch nicht ganz dunkeln Strecken wohnenden 
- Höhlenthiere minder verkümmerte Gesichtswerkzeuge 
besitzen. Auch unter den wühlenden Säugethieren 
‚findet eine ähnliche Abstufung statt, und Darwin theilt 
‚ein Beispiel mit‘®, welches das Erblinden infolge der 
Lebensweise sehr schön verdeutlicht: ‚Ein südameri- 
kanischer Nager, der Tuco-Tuco oder Ctenomys, hat 
eine noch mehr unterirdische Lebensweise als der Maul- 
wurf, und ein Spanier, welcher oft dergleichen ge- 
fangen hat, versicherte mir, dass derselbe oft ganz 
blind sei; einer, den ich lebend bekommen, war es 
gewiss, und zwar, wie die Section ergab, infolge einer 
Entzündung der Nickhaut. Da häufige Augenentzün- 
dungen einem jeden Thiere nachtheilig werden müssen, 
und da für Thiere mit unterirdischer Lebensweise die 
Augen gewiss nicht nothwendig sind, so wird eine 
Verminderung ihrer Grösse, die Adhäsion der Augen- 
lıder und das Wachsthum des Felles über dieselben 
in solchem Falle für sie von Nutzen sein; und wenn 
dies der Fall, so wird natürliche Zuchtwahl die Wir- 
kung des Nichtgebrauches beständig unterstützen.“ 

Aus den Klassen der fliegenden Thiere hat eine 
grosse Anzahl das Fliegen aufgegeben, und wir finden 
nun ihre Flugwerkzeuge in einem Zustande der Ver- 


TE I 
170 Veränderungen durch Gebrauch 
kümmerung und Unvollkommenheit, der nur bei einer 
ganz schiefen Beurtheilung und Combination als ein 
Zustand der Fortentwickelung aus noch einfachern An- 
fängen aufgefasst werden kann. Wenn überall aus der 
grossen Familie der Laufkäfer einzelne Gattungen und 
Arten mit unvollkommenen Flugwerkzeugen, verwach- 
senen Flügeldecken u. s. w. angetroffen werden, wenn 
die ganze Familie der Staphylinen die Flugfähigkeit . 
nicht besitzt, so denkt niemand daran, diese Käfer 
als stehen gebliebene Formen aufzufassen, sondern es 
wird begreiflich, dass die Lebensweise, in der sie von 
ihren Ordnungs- und Klassengenossen abweichen, allmäh- 
lich bei ihren fliegenden Vorfahren die Angewöhnung 
des Nichtfliegens und damit die Reducirung der Flug- 
organe nach sich zog, womit, wie gerade die ange- 
führten Käfer beweisen, keineswegs überhaupt eine 
Erniedrigung der Organisation, sondern im Gegentheil 
äusserst nützliche Vervollkommnungen anderer Organe, 
der Fress- und Gehwerkzeuge, verbunden waren. Eine 
sozusagen summarische Reducirung des Flugvermögens 
ist in der Käferfauna mancher Inseln nachgewiesen. 
So können von 550 Arten Madeiras über 200 nicht 
oder nur unvollkommen fliegen, und es gibt keine an- 
dere Erklärung dafür, als die natürliche Zuchtwahl. 
Hier waren die minder guten und kühnen Flieger die 
Bevorzugten, während die andern durch die Winde 
ins Meer getrieben und eliminirt wurden. Die Nicht- 
anwendung einer früher erlangten speciellen Vollkom- 
menheit ist im „struggle for existence‘“ von Nutzen. In 
mehrern Familien der Eidechsen finden sich Gattun- 
gen, schlangenartig, wie man sie nennt, die bei ver- 
längertem Körper entweder blos Vorderbeine (Chirotes) 
oder blosse Stummel der Hinterbeine (Pseudopus) oder 
gar keine Spur der Beine (Anguis) besitzen. Sie stehen 
in demselben Verhältniss zu der grossen Klasse der 
regelmässig vierbeinigen Eidechsen, wie die nicht flie- 
genden Insekten zu ihrer Klasse: sie sind nicht in der 
Entwickelung stehen geblieben oder in der Entwickelung 


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oder Nichtgebrauch der Organe. 171: 
zur Vierbeinigkeit begriffene Thiere, sondern, wie 
 Fürbringer aus der Entwickelungsgeschichte und ver- 
gleichenden Anatomie nachgewiesen, ihre Gliedmassen 
und, wenn diese ganz fehlen, die Reste des Schulter- 
und Beckengürtels und des Brustbeines, tragen die 
unzweifelhaften Zeichen der Verkümmerung eines einst 
- vollkommenen Apparates an sich. Die weitere Ver- 
gleichung lehrt, dass diese Verkümmerung bei den 
Schlangen den höchsten Grad erreicht, dass sie aber 
dadurch ausgeglichen ist, dass Rippen und Rippen- 
muskulatur die Rolle der Gliedmassen übernommen. 
Auch hier fallen Nichtgebrauch und Anpassung sowie 
Differenzirung zusammen. 

In der Klasse der Vögel wiederholt sich dasselbe 
Schauspiel, was uns eben die Käfer und Reptilien ge- 
währten: aus einzelnen Familien und kleinern Grup- 
pen sind ’einzelne Arten des Flugvermögens beraubt, 
und eine ganze grössere systematische Gruppe ist 
ebenfalls durch die Unfähigkeit zum Fliegen charak- 
terisirt. Bei der Dronte und den wenigen Anver- 
wandten, welche nach der Entdeckung ihrer einsamen, 
von ihnen wahrscheinlich viele Jahrtausende ungestört 
bewohnten Inseln ihrer Hülflosigkeit so schnell zum 
Opfer fielen, verknüpfen sich Veranlassung zum Nicht- 
gebrauch und Folgen in unserm Urtheil unmittelbar. 
Auf keinem andern Wege wird der nordische Pinguin 
(Alca impennis) einst zur Verkürzung seiner Flügel ge- 
kommen sein, und die sparsamen, aber weit zerstreu- 
ten Reste der Ordnung der Laufvögel deuten auf eine 
Zeit, wo ihre weit zahlreichern flügellosen Vorfahren 
in friedlicherer Umgebung von ihren Schwingen weni- 
ger Gebrauch machten und die natürliche Auslese ihren 
Beinen zu grösserer Stärke und Behendigkeit verhalf. 
Auch für die Wirkungen des Nichtgebrauches der Be- 
wegungsorgane liefert wiederum die künstliche Züch- 
tung den directen Nachweis. 

Gebrauch und Nichtgebrauch in Verbindung mit 
Auslese erläutern die Trennung der Geschlechter und 


172 Trennung der Geschlechter. 


das auf anderm Wege völlig unbegreifliche Vorhan- 
densein der rudimentären Geschlechtsorgane. Beson- 
ders bei den Wirbelthieren hat jedes Geschlecht so 
auffallende Spuren von den das andere charakterisi- 
renden Fortpflanzungswerkzeugen, dass schon das 
Alterthum den Hermaphrodismus als einen natürlichen 
Urzustand des Menschen annahm. Die Lehrbücher der 
vergleichenden Anatomie geben den speciellen Nach- 
weis über diese theils so offenbaren, theils innere, 
versteckte Verhältnisse betreffenden Homologien. Wir 
können uns auf die Andeutung beschränken, ‚wie die 
Selectionstheorie sich auch hier bewährt. Dass in 
hermaphroditischen Thieren Schwankungen in der Ge- 
schlechtssphäre vorkommen müssen, wobei die eine 
oder andere Hälfte prävalırt, versteht sich von selbst. 


-Sınd dieselben so stark, dass sich die natürliche Zucht- 


wahl ihrer bemächtigt, so wird die Productionskraft 
des zurückl-leibenden Theiles mehr und mehr sinken, 
und es werden sich schliesslich, mit dem Erlöschen 
der physiologischen Eigenschaften, der Function, nur 
die morphologischen Reste als ein die Zweckmässig- 


keitslehre oder Teleologie verhöhnender Ballast ver- 


erben. Nur dann und wann kommt ein mehr oder 
minder auffallender Rückschlag, der sich aber fast 
nur auf die Nebenorgane und die secundären (wir 
meinen nicht die von dem einen Geschlechte erwor- 
benen, sondern ursprünglich gemeinschaftlichen) Ge- 
schlechtscharaktere bezieht. Die Zähigkeit, mit 
welcher diese Rudimente der Geschlechtsorgane ver- 
erbt worden, ist eine ganz enorme. In der Klasse der 
Säugethiere ist wirklicher Hermophrodismüs unerhört; 
durch ihre ganze Entwickelungsperiode hindurch schlep- 
pen sich die schon von ihren unbekannten Stammfor- 
men, wer weiss wie lange, getragenen Ueberbleibsel. 

Wenn man nicht die Schmarotzerthiere zugleich mit 
ihren Wirthen, den Menschen mit seinen Bandwür- 
mern und andern unangenehmen Gästen aus dem Er- 
denkkbss erschaffen sein lässt und damit die Discussion 


e. 


‚abschneidet, so ist auch dieses gesammte Gebiet aus 


-. 


Schnsruiser, "3313 


_ der Descendenz unter vorzüglicher Mitwirkung des 


Nichtgebrauches zu erklären. Der im_nächsten Kapi- 


tel auszuführende Satz, dass die Entwickelungsgeschichte 
des Individuums die Geschichte der Art vergegenwär- 


tige, wird den Einfluss des Nichtgebrauches gewisser 


Organe auf die Gestaltung der verschiedenen Parasiten 
zeigen. Am lehrreichsten sind wol die parasitischen 
Krebse, weil bei ihnen die vollständigste systematische 
Reihe vorliegt, die uns den allmählichen Schwund der 


Organe bei immer engerer Verbindung des Parasiten 


mit dem Wirthe vergegenwärtigt. Auch für mehrere 
Ordnungen der Eingeweidewürmer ist der Darmkanal 


völlig entbehrlich geworden, aber weder Zwischenfor- 
_ men noch Entwickelungsstufen lassen sehen, wie. An- 


ders bei den Schmarotzerkrebsen, wo das junge be- 
wegliche und wohlgegliederte Wesen in beweglich 
bleibenden definitiven Gattungsformen sein Abbild hat, 
von wo es nach der Anheftung zu einem unbeweg- 
lichen Sack herabsinkt. Alle diese Thiere mit Ein- 
schluss der Eingeweidewürmer haben, und das ist die 
wahre Bedeutung des Schmarotzerlebens, gerade durch 
die scheinbare Erniedrigung ihrer Organisation sich 
ihren Platz und ihren Bestand errungen. Sie zeichnen 
sich fast ausnahmslos durch ihre grosse Reproductions- 
kraft aus, und auf diese konnte, bei der Leichtigkeit 


der Nahrungszufuhr, ohne Anstrengung der übrigen 


Organsysteme, die Leibesthätigkeit sich concentriren. 
Wir haben bisher dargelegt, dass die Organismen 


im unausgesetzten Kampfe um das Dasein zu fort- 


währender Differenzirung gedrängt werden. Daneben 
bemächtigt sich die natürliche Züchtung auch solcher 
aus der blossen Variabilität des Organismus entsprin- 
genden Veränderungen, welche keinen physiologischen 
Fortschritt in sich schliessen, zur Erziehung rein mor- 


- phologischer Arten. Aber auch diese werden unfehl- 


bar früher oder später in den Strudel der Concurrenz 
hineingerissen. Das ist nach dem Bisherigen so selbst- 


Se 0 a Fr Po Dad en =" Ge nn DEE A , FR Ar 
N ir EUER. DFInTE u a en 


u ET ud, 
er 


174 Vervollkommnune. _ 


verständlich, dass es keines weitern’ Beweises bedarf. 
Auch wenn wir die Mannichfaltigkeit der Organismen 


nicht vor Augen hätten, so würde a prior? aus dem 
Vorhandensein des einfachen Einförmigen und der 


Nöthigung, den veränderten äussern Verhältnissen sich E 


anzupassen, ein Auseinandergehen in Neues geschlossen 


werden müssen. Mit der Ausbildung in verschiedener 
Richtung unter der Führung der natürlichen Zucht- 
wahl ist aber nothwendig die Vervollkommnung 
verbunden. Es ist eins der grössten Verdienste der 
Selectionstheorie, mit dem Zweckmässigkeitsbegrift, 
welcher. bisher dem Organischen die Vollkommenheit 
von aussen aufnöthigte, ein für allemal gebrochen und 
selbst auf dem Gebiete der Intelligenz und Moral, wo 
man mit Schiller sagt: 


Es wächst der Mensch mit seinen grössern Zwecken — 


der einheitlichen naturwissenschaftlichen Methode Ein- 


gang verschafft zu haben. Es ist überhaupt höchst 


merkwürdig, wie die teleologische Naturbetrachtung 
so lange hat festgehalten werden können und zum Theil 
unter theologischem Einfluss noch festgehalten wird, 


obgleich wir in der gesammten organischen Welt nur 


eine relative Vollkommenheit wahrnehmen und die so 


offenbaren tausendfältigen zweckwidrigen Einrichtungen 


in den Organismen aller Grade der ausserhalb stehen- 
den dirigirenden Macht ein sehr schlechtes Zeugniss 
ausstellen. Die aus der anatomischen Vergleichung 
und der Abwägung der physiologischen Leistungen 
sich ergebende Vollkommenheit ist unter allen Um- 
ständen das Resultat der Anpassung und Zuchtwahl. 
Im Kampfe Aller gegen Alle gewinnen die Individuen, 


welche in der Arbeitstheilung ihre Genossen um etwas 


überflügeln, wobei sie -oft genöthigt sind, wenn die 


Richtung der Thätigkeit sich ändert, Organe ausser 
Thätigkeit zu setzen, welche einst von Nutzen waren, 
in den neuen Verhältnissen aber unnütz und, man 


darf dies allgemein behaupten, schädlich geworden 


| Vervollkommnung und Zweckbegriff. 175° 


sind. Die künstliche Züchtung erzeugt — und hier 
können wir vom Zweck reden — Vollkommenes, in- 


dem sie bestimmte Theile, welche vervollkommnet wer- 


a Pa 


den sollen, durch mechanische und physiologische 


Arbeit, das letztere vornehmlich in zweckmässiger 


Ernährung, übt und die erzielten Vortheile der Fort- 
pflanzung übergibt. Was wir natürliche Züchtung 
nennen, ist Zusammenfassung der Vervollkommnungen, 
die auf dem Wege der Specification in der Anpassung 
gewonnen werden. Das getreueste Abbild der allmäh- 
lich errungenen Specification haben wir in der Ent- 
wickelung des Individuums, wo aus dem Indifferenten 
dureh immer weiter greifende Differenzirung das reife, 
auf der Höhe seiner physiologischen Leistung stehende 
Thier hervorgeht. Dass in den verschiedenen Thier- 
gruppen gewisse Grade der Vollkommenheit erreicht 
sind, ist eine unbestrittene Thatsache, bei jeder nähern 
Untersuchung aber zerbricht der Götze des Zweck- 
begriffes.. Der Organismus des Vogels erscheint höchst 
geeignet, um ihn abstract nach dem Zweck _des Flie- 
gens modificirt zu denken. Wer jedoch den Zweck 
über den guten Fliegern walten lässt, muss den Zweck- 
begriff bei den nicht fliegenden Vögeln aufgeben und, 
wenn er überhaupt sich etwas denken will, der An- 
passung ıhr Recht geben. Damit ist die ganze An- 
schauungsweise durchlöchert, und ähnlich in allen 


übrigen Fällen. Wie die organische Vollkommenheit 


sich zum Zweckbegriff stellt, hat der Verfasser des 
„Unbewussten‘ (S. 28) sehr scharf und klar aus- 
gedrückt: „Die Descendenztheorie lehrt, dass eine 
Unabhängigkeit der bei einer organischen Erscheinung 
cooperirenden Bedingungen nicht existirt, dass viel- 


mehr ihr mehr und mehr Auseinandertreten aus ge- 


gemeinsamem Indifferenzpunkt heraus Wirkung derselben 
Ursachen war, und die Theorie der natürlichen Zucht- 
wahl lehrt uns eine von diesen Ursachen, und wol 
unzweifelhaft die wiehtigste, als eine, solche kennen, 


welche durch rein mechanische Compensationsphänomene 


176 Vervollkommnung und Entwickelung. 


zweckmässige Resultate hervorbringt. Die Descendenz- 


theorie stellt das teleologische Prinecip nur in Frage, 


ndem es ihm den Boden für einen positiven Beweis 
entzieht, die Lehre von der natürlichen Zuchtwahl 


aber beseitigt dasselbe ganz direct, soweit als sie 


selbst mit ihrer Erklärung reicht. Denn die natür- 
liche Auslese im Kampf ums Dasein, das Zugrunde- 
gehen des minder Zweckmässigen und das Ueberleben 
und Sichweitervererben des Passendsten und Zweck- 
mässigsten ist ein Vorgang von mechanischer Causa- 
lität, in dessen gleichmässige Gesetzlichkeit nirgends 
ein teleologisch bestimmendes metaphysisches Prineip 
eingreift, und doch geht aus ihm ein Resultat hervor, 
das wesentlich der Zweckmässigkeit entspricht, d. h. 
diejenige Beschaffenheit besitzt, welche den Organismen 
unter den gegebenen Umständen die höchste Lebens- 
fähigkeit verleiht. Die natürliche Zuchtwahl löst 


das scheinbar unlösliche Problem, die Zweck-_ 


mässıgkeit als Resultat zu erklären, ohne sie 
dabeı als Princip zu Hülfe zu nehmen.“ 


In jedem Stamm — was die Zoologie einst Typus 


nannte, ist, wie wir gesehen, in der Descendenzlehre 


zum Stamm geworden — in jedem steckt die Möglich- 


keit zu einer gewissen Höhe der Vervollkommnung, 


und wir sehen in ihm, nachdem der Stammescharakter 


in seinen Grundzügen sich festgestellt hat, eine Ent- 
wickelung vor sich gehen, deren Möglichkeit in der 
Anlage des Charakters, deren Verwirklichung und 
Nothwendigkeit in den äussern Verhältnissen liest. 
Auch uns ist daher die Vervollkommnung eine Ent- 
wickelung, aber nicht zu einer prädestinirten und 
prästabilirten Harmonie. Karl Ernst v. Bär °, wel- 
cher den Zweck, oder wenigstens das „Ziel“, kurz das 


Vorherbestimmte in den Entwickelungsreihen der Natur 
retten will, sagt: „Jeder Grund erzeugt einen Vor- 


gang, der wiederum weiter auf ein anderes Ziel hin- 
wirkt.“ Warum denn Ziel? Muss es nicht vielmehr 


heissen: Jeder Grund erzeugt einen Vorgang, der 


e | | Fortbestehen der niedrigen Organismen. 177 


wiederum weiter als Grund auf einen andern Vorgang 
hinwirkt? Je weiter wir zurückgehen, um so tiefer 
und allgemeiner ist die Stufe, und die verschiedenen 
Abzweigungen sind in ihren Endgliedern auf sehr ver- 
schiedenen Stufen stehen geblieben oder angelangt. 
Ein oft gehörter Einwurf gegen diese Folge der De- 
scendenzlehre ist, wenn alles zur Vervollkommnung 
‚dränge, wie es denn geschehe, dass neben den höhern 
Gliedern der Stämme so viele niedrige, und überhaupt 
neben den höhern Stämmen die niedrigen sich im 
Kampfe um das Dasein hätten erhalten können. Gegen- 
über den unabweisbaren Thatsachen der Vervollkomm- 
nung kann man sich begnügen, darauf hinzuweisen, 
dass die niedrigen Formen überall fortbestehen konnten 
und können, wo mit den übrigen Existenzbedingungen 
Raum für sie war. Während sie hier nur geringere 
Modificationen erlitten, führte dort nothwendige Zucht- 
wahl zu tieferer Umgestaltung, und die neugezogenen 
Wesen, an andere Existenzbedingungen gewöhnt, konn- 
ten bei späterer geographischer Verschiebung mit den 
zurückgebliebenen Arten wieder Meer und Land thei- 
len. Denn sowie die Verschiedenartigkeit durch die 
Zuchtwahl hergestellt ist und auch die Ansprüche an 
die Nahrung und die andern Bedürfnisse sich getheilt 
haben, muss nothwendig ein partieller Nachlass im 
Kampf eintreten. 

Sehr vielen niedern Organısmen kommt für ihre Er- 
haltung augenscheinlich der Umstand zugute, dass, 
eben weil sie einfacher sind, ihre Fortpflanzung sich 
um so leichter bewerkstellist. Wenn also auch un- 
zählbare Arten namentlich in beschränktern Verbrei- 
tungsbezirken bei starker Concurrenz bevorzugter Va- 
rietäten der Ausrottung verfallen mussten, so schliesst 
der Kampf ums Dasein und die Vervollkommnung das 
Bestehen niederer Formen nicht aus. Was aber die 
Selectionstheorie erklärt, davon bleibt, wie uns scheint, 
die Teleologie die Erklärung schuldig. Das Zurück- 
bleiben der niedern Organismen trotz des innern 
- SCHMIDT, Descendenzlehre, 12 


178 Zufall. 3 “ 


Dranges und des vorgesteckten Zieles ist unbe- 


greiflich. 
Soll aber, so hört man oft fragen, wenn ihr von 
einem den Organismen innewohnenden „Principe der 


Vervollkommnung“ (Nägeli), von dem „göttlichen Odem 
als innere Triebkraft in der Entwickelungsgeschichte 


des Naturlebens“ (Braun), von der vom Schöpfer ein- 
gepflanzten „Tendenz zum Fortschritt“ (R. Owen), 
sogar von der „Zielstrebigkeit‘“ (v. Bär) nichts wissen 
wollt, soll der Zufall jene wunderbaren höhern Or- 
ganisationen zu Stande gebracht haben? Darauf lässt 
sich mit völliger Klarheit antworten, dass derjenige 
Zufall, dem die menschliche Beschränktheit eine so 
grosse Rolle anweist, wo sie nicht das persönliche 
Eingreifen eines höhern Wesens oder das allgemeine 
„schaffende und treibende Princip‘“ zur Hand hat, in 
der Natur gar nicht existirt, und dass uns die Ueber- 
zeugung von der Wahrheit der Abstammungslehre da- 
durch wurde, dass die Erscheinungsreihen vermittelt 


sind als Ursachen und Wirkungen. Erinnern wir uns 
an die Weltformel von Laplace, in deren Besitz wir 
uns denken können, und mit welcher auch die künf- 


tigen Entwickelungen sich würden vorausberechnen 


lassen. In unserer Beschränkung freilich können wir 


uns nur einiger Sicherheit in der Berechnung und 


Kiarlegung der Reihen nach rückwärts nähern. Dabei 


müssen wir das Wort Zufall streichen, da die Causa-- 


lität, die wir begreifen, dasselbe vollkommen entbehr- 
lich macht. Wer sich an den Anfang einer Entwicke- 
lung versetzt, sich z. B. gegenwärtig denkt bei der 
Entstehung der Reptilien, dem mag von dieser vor- 
weltlichen Umschau aus die Ausbildung des Reptils 


#4 


zum Vogel ein „Zufall“ sein, wenn er sie nicht etwa 
prädestinirt denkt. Uns, die wir den Vogel rückwärts 


zu seinem Ursprung verfolgen, erscheint er als eine 
Folge von mechanischen Ursachen. 


Fassen wir noch einmal zusammen, was wir mit der. 


durch die Selectionstheorie begründeten Descendenz- 


>-Un togenie und Phylogenie. 179 


lehre gewinnen, so ist es die Erkenntniss des Zu- 
'sammenhangs der Organismen als blutsverwandter We- 


sen. Je grösser die Uebereinstimmung der innern und 


äussern Kennzeichen, um so näher ıst diese Verwandt- 


schaft. Je weiter wir den Stammbaum nach seinem 
Ursprung hin verfolgen, um so sparsamer werden die 


_ bis zu diesen Wurzeln stichhaltigen Charaktere, um 


\ 


so mehr dieser Charaktere stellen sich heraus als Er- 
werbe im Laufe der Zeit. Indem wir diesen Erwerb 
eliminiren und die vererbten Eigenschaften, je weiter 
wir rückwärts tasten, immer mehr beschränken, re- 
construiren wir die Stammbäume der verschiedenen 


- Gruppen. °°. 
— Wir thun genau dasselbe, was man bei der Sprach- 


forschung höchst natürlich und wissenschaftlich findet. 


Die Begriffe und Worte, welche den Individuen einer 
 Sprachfamilie gemeinsam, sind die Mitgift aus dem 
geistigen und sprachlichen Besitzthum des Urvolkes, 


von welchem aus sich der Stammbaum der Familie 
verzweigt hat. Nicht mehr und nicht weniger hat der 
sogenannte „Zufall“ in der Gestaltung der abgeleiteten 
Sprachen geherrscht, als in der Entwickelung der Or- 
ganısmen aus den Stammformen, 


IX. 


Die Entwickelung des Individuums (Ontogenie) ist 


eine Wiederholung der historischen Entwickelung 


des Stammes (Phylogenie). 


Obschon die paläontologische Ueberlieferung voller 
Lücken, ist es doch, was selbst die meisten Gegner 
der Descendenzlehre zugestehen, ganz unverkennbar, 
dass von den ältern zu den neuern Perioden hin ein 


Fortschritt von niedrigern zu höhern Organisationsstufen 


stattfindet, wie er sich auch im System der heutigen 
1233 


180 Gleiche typische Entwickelung ö 


Pflanzen- und Thierwelt ausspricht; und dass vielseitig 
die embryonale Entwickelung, sowie Metamorphose und 
Generationswechsel, kurz die individuelle Entwickelung 
(„Ontogenie“, Haeckel) zur Vergleichung mit jenen 
paläontologischen Reihen, sowie mit der systematischen 
Aufeinanderfolge einladet. Der Parallelismus der pa- 
läontologischen mit der systematischen Reihe ist ent- 
weder ein Wunder, oder wird vermittels der Descen- 
denzlehre verstanden. Ein Drittes gibt es nicht. Und 
die Descendenzlehre hält die Probe vollständig aus; 
sie zeigt uns, wie die Abstammung der heutigen Or- 
ganismen von den ehemals existirenden auf der Ver- 
erbung der Eigenschaften der Vorfahren auf die Nach- 
kommen.und dem Erwerb der Individuen beruht. Die 
Erscheinungen der individuellen Entwickelung oder 
Ontogenie lassen keine andere Wahl: entweder sie 
bleiben unbegriffen, oder sie halten den Prüfstein der 
Descendenzlehre aus und ordnen sich dem grossen all- 
gemeinen Prineip unter. 

Wenn:man die unzähligen Thatsachen ‘der Fort- 
pflanzung und Entwickelung mustert, so theilen sie 
sich .allerdings ein, sie ordnen sich zu analogen und 
homologen Gruppen, es ergeben sich Entwickelungs- 
typen, man spricht von Entwickelung ohne Metamor- 
phose, von Verwandlung und Generationswechsel. Welche 
nothwendige Beziehung aber die in der Verwandlung 
sich ablösenden Formen, die Gestalten des Generations- 
wechsels zum fertigen Thiere oder dem geschlechtlich 
entwickelten Hauptrepräsentanten der Art haben, 
warum so viele Thiere keine Verwandlungen bestehen, 
sondern „fertig“ aus dem Ei kriechen, warum die zu 
einer Klasse oder einem „Typus“ gehörigen Arten einen 
und. denselben Entwickelungstypus und Gang der Bil- 
dung besitzen, diese und ähnliche Fragen nach dem 
Verständniss dieser krausen Menge von Thatsachen 
drängen sich auf. Und: auch sie sind Prüfsteine für 
unsere Theorie der Abstammung. Die Lehre leistet 
hierin soviel, wie je von einer grossen Hypothese in 


bedingt durch gleiche Abstammung. 181 


eher speciellen Anwendung geleistet worden ist; und 
_ wenn sie auf alle oder wenigstens nahezu alle hier 
_ einschlägigen Fragen eine befriedigende Antwort gibt, 


so sind das ebenso viele Zeugnisse und Beweise für 


ihre Wahrheit, welche nach allem wissenschaftlichen 
Brauch und Recht und philosophischer Methode solange 


; Geltung haben, bis nicht die Unwahrheit der Herlei- 


tungen und Schlüsse nachgewiesen und eine bessere 


Hypothese an Stelle der beseitigten gesetzt worden ist. 

Der erste Satz, welcher aus der Descendenzlehre 
für die Erklärung der Thatsachen der Entwickelung 
der Individuen hergeleitet wird, kann lauten: die 


$ Uebereinstimmung in den Grundzügen der Entwickelung 
beruht auf gleicher Abstammung, oder, etwas anders 


gefasst, die Uebereinstimmung in den Grund- 
zügen der individuellen Entwickelung findet 


ihre Erklärung in der gleichen Abstammung. 


Wie uns schon bekannt, wies zuerst C. E. v. Bär nach, 
dass die in den Grundzügen ihrer Organisation über- 
einstimmenden Mitglieder der grossen Abtheilungen des 
Thierreiches auch durch je einen besondern ‚Typus 
der Entwickelung‘“ ihre Zusammengehörigkeit bekun- 
den. Man hat diese Thatsache immer als selbstver- 


 ständlich betrachtet, obgleich sie das grösste Wunder 


wäre, wenn man sie nicht aus der Descendenz ablei- 
ten könnte. Es ist daher hier der Ort, uns einige 


- der zum Theil schon im dritten Abschnitt betrachteten 


 Entwickelungsgrundformen vorzuführen, zugleich aber 


auch die Bedeutung dieser Typen mit Hülfe der Ab- 
stammungslehre zu erläutern. Wir nehmen als erstes 
Beispiel die Stachelhäuter. Obgleich aus der ana- 
tomischen Vergleichung eines Haarsternes, eines See- 
sternes, Seeigels und einer Seegurke oder Holothurie 
sich die innige Verwandtschaft dieser Repräsentanten 


_ der verschiedenen Abtheilungen der Stachelhäuter leicht 


ergibt, weichen dieselben doch in ihrer Körperform 
und der Gestaltung des Skelets ausserordentlich von- 


einander ab. Der relative Werth der Verschiedenheit 


Er BER u ö 
182 Entwickelung der Stachelhäuterr 


einer Holothurie von einem Seestern, des Seeigels von 
der Comatel lässt sich etwa mit der Verschiedenheit 
des Säugethieres vom Vogel, des Amphibiums vom 
Fisch vergleichen. Dennoch verlassen, einige Aus- 
nahmen abgerechnet, welche eine specielle Bedeutung 
haben, diese verschiedenen Stachelhäuter das Ei in 
fast vollkommen gleicher Larvenform. Die Larve (Fig.12) 
gleicht einem Boote mit ausgeschweiften und an bei- 
den Enden verdeckartig übergeklappten Rändern. Die- 
ser Bord ist mit einem ununterbrochenen Saume von 
schwingenden Härchen besetzt, durch deren Thätigkeit 
das kleine Boot sich bewegt. Ein kurzer, mit einer 
Magenerweiterung versehener Verdauungskanal ist das 
erste wesentliche Organ dieses Körpers. Wir beschrei- 
ben nicht die höchst complicirten Verwandlungen der 
Larve hier in einen Schlangenstern, dort in einen 
Schildigel, dort wieder in eine See- 
gurke, sondern fragen nur, welches 
wol die Ursache dieser Ueberein- 
stimmung in den frühesten Stadien 
der individuellen Entwickelung sein | 
könne. Es gibt hierauf keine an- 
dere vernünftige Antwort als: die 
De eh este Form Abstammung aller uns bekannten 
Echinodermen von einer ältern 
Form, in deren Entwickelung unsere Larve ebenfalls 
auftrat und von wo aus diese gemeinsame Stufe der 
Entwickelung auf den ganzen Stamm vererbt wurde. 
Es muss aber gestattet sein, noch weiter zu fragen, 
wie man sich erklären könne, dass aus einer bilate- 
ralen, d. h. nach rechts und links symmetrischen Larve 
ein strahlig gebautes Thier, wie die ausgewachsenen 
Echinodermen meist sind, hervorgeht. Hierauf hat 
Haeckel eine Vermuthung aufgestellt, über welche an- 
fangs die Systematiker der alten Schule ausser sich 
geriethen, welche aber. mehr und mehr Boden und 
durch die neuesten vergleichenden Untersuchungen, 
z. B. Hoffmann’s: „Ueber die feinere Anatomie der See- 


= 


De Me 
Er 4 er, 


Entwickelung der Weichthiere. 183 


- sterne“, an Halt gewinnt. Die bootförmige Larve der 
 Echinodermen, namentlich in einer bei den Seesternen 


vorkommenden Modification, gleicht ganz auffallend 
einem gewissen Larventypus der Borstenwürmer des 
Meeres. Und da im Bau und in der Lagerung der 
Theile der Strahlen der Echinodermen, namentlich der 
Seesterne eine unverkennbare Aehnlichkeit mit den 
Lagerungsverhältnissen und der Folge der Theile der 
Gliederwürmer bemerkbar ist, so betrachtet Haeckel 
unsere Thierklasse als einen Seitenstamm der Glieder- 
würmer. Er meint, dass die ältesten, uns nicht be- 
kannten Echinodermen als Gliederwurmstöcke entstan- 


den seien, in der Weise, dass am Kopfende des 


- bilateralen, wurmartigen Mutterthieres Knospen in 


strahliger Anordnung gesprosst seien. Noch jetzt 
kommt diese Knospen- und, wenn man will, Stock- 
bildung bei den Echinodermen vor, indem einige See- 
sternarten eine solche Reproductionskraft besitzen, dass 
ein einzelner abgerissener Arm oder Strahl sich zu 
einem vollständigen Thiere ergänzt. Ja, die Beobach- 
tungen von Kowalewsky machen es höchst wahrschein- 
lich, dass die Ablösung der Strahlen und die Wieder- 
ergänzung durch Knospung bei einzelnen Species ein 
regelmässiger Vorgang ist. Ueber Haeckel’s Hypothese 
lachen daher nur die, welche das Denken und Com- 
biniren scheuen. 

Im Stamme der Weichthiere ist die sogenannte 
Segellarve ein Zeuge vom verwandtschaftlichen Zu- 
sammenhange wenigstens zweier der grossen Klassen. 
Die dritte, am weitesten vorgeschrittene Klasse, die 
der Tintenschnecken, hatte ihr Wahrzeichen vielleicht 
schon zu jenen Urzeiten verloren, wo sie uns zum er- 
sten male, wenn auch unter den etwas niedrigern For- 
men der Vierkiemer ihre Schalen in den silurischen 


Schichten zurücklies. Aber die Muscheln oder Blatt- 


kiemer und die Schnecken, welche in der anato- 
mischen Entwickelung weit auseinander treten und 
zwei natürliche Klassen ausmachen, haben eine gemein- 


184 


same Larvenform oder, wenn die Larven verschiedene 
Gestalten zeigen, ein sehr bezeichnendes gemeinsames 
Larvenorgan, das Segel. Die beistehende Abbildung 
gibt rechts die Segellarve einer Herzmuschel vom 
Rücken aus gesehen. Am Vorderende haben sich zwei 
fleischige Lappen ausgebildet, welche mit Wimpern 
besetzt sind, durch deren Schwingungen das junge 
Thierchen schon im Ei seine spiraligen, drehenden 
Bewegungen ausführt, und zwischen welchen sich ein 
kleiner mit einer längern Wimper versehener Hügel 
erhebt. Dieselben ineinander übergehenden Wimper- 
lappen oder Wimpersegel trägt links die Larve einer 


Fig. 13, 


Seeschnecke (Pterotrachea), die wir halb im Profil 
sehen, und zwar schon in dem Stadium, wo ihre 
Augen und die Gehörwerkzeuge, der Fuss mit Deckel 
und ein zartes Gehäuse zum Vorschein gekommen sind. 
Auch bei ihr tritt aus der Ebene des Segels ein klei- 
ner Fleischkegel hervor, der übrigens keine besondere 
Bedeutung hat. Die Anlage des Segels, der Zeitpunkt 
des Erscheinens dieses Larvenorgans, seine Lage zum 
Mantel, Kopf, Mund und Fuss, die spätere Rück- 
bildung, alles stimmt in beiden Klassen genau über- 
ein. Wir kennen zwar bisher nur von einer verhält- 
nissmässig geringen Anzahl der im Meere lebenden 


Muscheln und Schnecken die Entwickelungsgeschichte; 


TE En A rt eb 
BEER. cart 7 Er H nat u “ 


BT. Die übrigen Entwickelungstypen. 185 


EN aber dürfen wir schliessen, dass bei diesen, 
E in ihrer ursprünglichen Heimat gebliebenen Thieren 
dieses Erbstück allgemein sich erhalten hat. Selbst 
Gattungen, die in ihrem ausgewachsenen Zustande 
kaum noch an den Weichthiertypus erinnern, der Ele- 
‘ fantenzahn und der Bohrwurm (Dentalium, Teredo) 
- haben das Stadium der Segellarve conservirt. Dagegen 
finden wir bei den kiemenathmenden Süsswasser- 
'schnecken (Paludina) das Segel wenig entfaltet, und 
bei den von ihren seebewohnenden Verwandten am 
weitesten abweichenden Landschnecken ist die Segel- 
bildung gänzlich verwischt, desgleichen auch bei den 
 Büsswassermuscheln. Hat bei diesen Thieren die An- 
_ passung und Wanderung nach dem Lande jene Folge 
für die embryonale und nachembryonale Entwickelung 
gehabt, so haben wir uns vorzustellen, dass für die 
Cephalopoden trotz ihres Verbleibens im salzigen Was- 
. ser andere Ursachen den Verlust der Segelstufe und 
den ihnen eigenthümlichen Verlauf der Entwickelung 
nach sich zogen. 

Hinsichtlich der übrigen Entwickelungsgrundformen 
können wir auf den dritten Abschnitt verweisen. Die 
Anlage der höhern Gliederthiere deutet auf wurm- 
artige, etwa den heutigen Gliederwürmern entsprechende 
Vorfahren, und wiederum die allmählige Vermehrung 
der Leibessegmente der Gliederwurmlarven, welche 
sich einer Knospenbildung vergleichen lässt, führt von 
diesen höhern Würmern auf die ee mit un- 
_ gegliedertem Leibe. Alle Wirbelthiere, den Menschen 
eingeschlossen, wenn sie nicht auf einem Zustande mit 
ungegliederter, noch nicht in einzelne Wirbelringe 
zerfallender Wirbelsäule verharren, erheben sich als 
Embryone aus diesem Stadium in das höhere defini- 
tive; und dass sie diesen gemeinsamen embryonären 
Zustand durchmachen, dies schliesst alle andern mecha- 
nischen Ursachen aus, ausser derjenigen der gemein- 
samen Abstammung von Urformen, welche eine 
ungegliederte Wirbelsäule, keinen oder einen unvoll- 


er -. TE RT DE MEN  VÜRREN ER ung 
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. a . “ . Ph, 2 Y er: 
E 


186 Generationswechsel und Metamorphose 


kommenen Schädel und kein oder ein vom Rücken- 
mark nur wenig unterschiedenes Gehirn besassen. 
Karl Ernst v. Bär, welcher, während wir diese Blätter 
schrieben, seine Stimme gegen die Descendenzlehre er- 
hoben, hat die Thatsache der Entwickelungstypen und 
den Gang innerhalb der Typen ‚von dem Indifferenten 
zum Speciellen festgestellt; die Thatsache wird aber 
durch das Wort „Entwickelungstypus“ nur umschrie- 
ben, nicht erklärt, und wir ziehen es, es kann nicht 
oft genug gesagt werden, wir ziehen es vor, unter der 
klaren Vorstellung der Abstammung uns etwas zu den- 
ken, als die unbekannte höhere Macht sich in den 
Entwickelungstypen auf eine unbegreifliche Weise 
manifestiren zu lassen. Schliesst man die Verkettung der 
Reihen durch directe Abstammung und Vererbung aus, 
so ıst absolut nicht einzusehen, wie die höchste schö- 
pferische Macht, die Natur oder der persönliche Gott, 
indem er sämmtliche höhere Thiere an gemeinsame 
niedrigste Entwickelungsstufen knüpfte, sie damit so 
vielfachen unzweckmässigen Einrichtungen und grossen 
Gefahren aussetzte. Von den Milliarden junger Au- 
stern, welche jährlich aus dem Ei schlüpfen, gehen die _ 
allermeisten unter der Ungunst der äussern Verhält- 
nisse zu Grunde, weil die Auster das alte Erbtheil 
der schwärmenden Segellarve nicht abgelegt hat. Sie 
hat den Kampf um die Existenz mit Glück aufnehmen 
können, da sie gleich den meisten ihrer Klassengenos- 
sinnen sich der höchsten Fruchtbarkeit erfreute. Das 
lässt sich einsehen; dass aber ein persönlicher Schöpfer 
aus blossem Princip, um die Auster innerhalb des 
Entwickelungstypus zu halten, auch ihr das für sie 
höchst unpraktische Stadium der Segellarve gegeben, 
kann man, wie so vieles Unsinnige, nur glauben. 
Haben sich ganz im allgemeinen die Uebereinstim- 
mungen in den Grundzügen der Entwickelung aus der- 
Gleichartigkeit der Abstammung ableiten lassen, so 
kann man weiter schreiten zur Erklärung derjenigen 
Entwickelungserscheinungen, welche uns als Genera- 


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als phylogenetische Erinnerungen. 487 


&  tionswechsel und Metamorphose bekannt sind. 


Im ihnen sind die historischen Entwickelungs- 


stufen ganzer Klassen und Ordnungen auf die 


individuelle Entwickelung vererbt; ein Satz, 


‚welcher nur eine Folge und Anwendung des vorher 
.erörterten ist, auch schon angedeutet wurde. In kei- 


ner Klasse bietet sich eine solche Fülle von Erschei- 
nungen des Generationswechsels, welche der Erklärung 


Fig. 14. 


sich ohne jede Schwierigkeit fügen, als bei den Quallen. 
Wir haben oben (S. 38) die Entstehung des Cladonema an 
dem polypenartigen Stauridium kennen gelernt. Die 
Qualle ist die geschlechtsreife Form des Artkreises; 
ihre Eier .entwickeln sich zum Polypen, der Zwischen- 
form, die in ihrer Entwickelung innehält, das heisst 
nicht sich in das Thier verwandelt, von dem sie ab- 
stammt, sondern Knospen treibt. Erst in dieser Ge- 
neration kehrt die Art zur Geschlechtsform zurück. 


8 


188 Ontogenie und Phylogenie dee 


Das Verständniss dieses Generationswechsels wird uns 
wenn wir von den einfachsten Quallenpolypen ausgehen. 
Ein solcher ist die beistehende Hydractinia carnea 
und zwar ein weibliches Individuum. Verglichen mit 
der Zwischenform Stauridium, als einer auf ungeschlecht- 
lichem Wege sich fortpflanzenden Vorstufe zu Clado- 
nema, erscheint Hydractinia höher, insofern als sie 
selbst Geschlechtsform ist. Die Zone von kugeligen 
Körpern in der Mitte des Leibes sind die Eierstöcke 
oder Eikapseln, welchen bei den männlichen Indivi- 
duen Samenkapseln entsprechen. Ein Generations- 
wechsel findet bei unserer Hydrac- 
tinia nicht statt, wol aber, wie 
auch in der Entwickelung des Cla- 
donemaeies zum Stauridium, eine 
Yerwandlung einerflimmernden Larve 
zum festsıtzenden Polypen. Es ist 
aber ersichtlich, dass die Rolle, 
welche bei der Hydractinia durch 
die männlichen und weiblichen Ge- 
schlechtsorgane versehen wird, im 
Zeugungskreise des Cladonema von 
den Geschlechtsthieren übernom- 
men wird. Und in der Verfolgung 
dieses Ueberganges eines unselbstän- 
digen Organes in das selbständige 
Thier finden wir die Lösung und das Verständniss des 
als Generationswechsel bezeichneten Vorganges. Zwi- 
schen den Gattungen, welche gleich Hydractinia, und 
denen, welche gleich Cladonema sich fortpflanzen, fin- 
den sich zahlreiche Gattungen, deren Fortpflanzung 
uns den allmähligen Uebergang des anfänglichen Ge- 


Fig. 15. 


schlechtsorganes in das dGeschlechtsthier vor Augen 


stell. Wir können die Gattungen der „Quallenpoly- 
pen‘‘ so aneinander reihen, dass sich herausstellt, wie 
die Theile, welche bei Hydractinia blos die Eier er- 
zeugenden und umschliessenden Kapseln sind, immer 
vollkommener werden. Sie erhalten eine besondere 


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Quallen und Eingeweidewürmer. 139 


i Abzweigung des Nahrungskanales und Blutgefässe, wer- 
den glockenförmig und versehen sich mit den für die 


Quallen charakteristischen „Randbläschen“, eigenthüm- 
lichen Sinnesorganen. Kurz, was an einem gewissen 


 Gliede der systematischen Reihe allenfalls noch als 
Organ bezeichnet werden kann, ist an dem nächsten 


die sich ablösende und zur neuen Generation werdende 
Qualle: das Geschlechtsorgan ist zum Ge- 


 schlechtsthier geworden. Wie nun die indivi- 


duelle Entwickelung von Cladonema und den andern 
sich gleich ihm vermehrenden Quallen mit der syste- 


 matischen Reihe der Quallenpolypen correspondirt, so 
ist die einzig vernünftige und denkbare Erklärung der 


Ontogenie der den Generationswechsel zeigenden Qual- 
len die, dass in ıhm die historische Entwickelung der 
Gattung fixirt ist. Weder das Ei, noch das Huhn 
wurde geschaffen. Ehe die zartfarbigen Quallen in 
einsamer Pracht das Urmeer bevölkerten, waren die 

Quallenpolypen an den in stetem Wechsel begriffenen 
Küsten die einzigen Repräsentanten der noch in der 
Kindheit liegenden Klasse. Warum einzelne Gattun- 
gen, nach Art der Hydractinia, streng conservativ 
geblieben, die andern in geringerm oder höherm Grade 
dem Fortschritt gehuldist, ob und wie Kampf ums 
Dasein und Auslese des Bessern hierbei wirksam ge- 
wesen, lässt sich allerdings für die einzelnen Arten 
nicht nachweisen. Entscheidend ist der Gesammtein- 
druck und der Umstand, dass die Theorie sich mit 
den Thatsachen deckt. 

Zu gleichen Betrachtungen und Resultaten führt die 
Entwickelungsgeschichte der Eingeweidewürmer. 
Diese in ihrem Bau weit auseinander gehenden Thiere 
sind entweder in und mit ihren Wirthen zugleich ge- 
schaffen, oder später ihnen anerschaffen, oder sie haben 
sich auf natürlichem, rechtem Wege an sie gewöhnt. 
Dass sie dabei von einem eingepflanzten „dunkeln 
Drange“ geleitet wurden, von dieser Modification des 
dritten Falles dürfen wir wol absehen. Nach unserer 


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190 Ontogenie und Phylogenie 


Lehre stammen also die jetzt ihr ganzes Leben oder 


einen Theil ihres Lebens als Schmarotzer auf oder 


in andern Organismen verweilenden Würmer von frei 
lebenden Thieren ab, und die in ihrer Entwickelung 


auftretenden Perioden, während welcher das Schma- 
rotzerthum mit freien Stadien vertauscht ist, bedeutet 


den in allen Individuen sich regelmässig einstellenden 
Rückfall in den einst bleibenden Zustand der Vor- 


fahren. Von den zur Klasse der Plattwürmer gehö- 


renden Saugwürmern und Bandwürmern sind die letz- 
tern am weitesten von ihrem einstigen Ausgangspunkt 
entfernt; ihre Anpassung an das Leben in andern 
Thieren hat den Nahrungskanal entbehrlich gemacht, 
und so zeigen ihre Generationen und Verwandlungs- 
zustände weniger auf die Vorfahren hin, als dies bei 
einer andern Anzahl von Saugwürmern der Fall ist, 
mit denen jene durch eine Reihe anatomischer Cha- 
raktere als eng verwandt legitimirt werden. Beide 
wiederum theilen die Klassencharaktere mit den frei 
lebenden Turbellarien oder Strudelwürmern. Von sol- 


chen, d. h. von Formen, welche den jetzigen Strudel- 
würmern nahe standen, müssen Trematoden und Ce- 


stoden abstammen, und hiermit stimmt das freie 


Schwärmstadium, welches die Larve des Doppelloches 
(Distomum) als sogenannte Cercarie und vorher als 
rundlicher über und über flimmernder Körper durch- 
macht. Auch viele Fadenwürmer — die Abtheilung, 
zu welcher unter andern der Spulwurm gehört — 
haben in ihrer Jugend eine Stufe freien Lebens, auf 
welcher sie von den Jugendformen der zahlreichen, nie 
zum Schmarotzerleben übergehenden Verwandten, die 


sich vorzugsweise im Meere finden, nicht unterschieden 


werden können. Der Uebergang zum Parasitenthum, 
den uns die Ontogenie recapitulirt, war nichts anderes 
als eine Ausbreitung auf neues, der Ernährung Vor- 
theile bietendes Terrain, und mit Bezug hierauf ist es 
höchst lehrreich, neben den Fadenwürmern die syste- 
matische Reihe der von van Beneden so ausgezeichnet 


- vielfach varlürten und 


der Eingeweidewürmer und Krebse. 191 


beschriebenen egelartigen Saugwürmer zu vergleichen. 
Wir finden in ihr alle Uebergänge von ganz frei leben- 
den, räuberischen Gattungen zu gelegentlich schma- 
rotzenden, und von diesen zu solchen, welche unmittel- 
bar nach dem Auskriechen aus dem Ei sich für ihre 
ganze Lebenszeit fixiren. Der Parasitismus erscheint 
hier, wie überall, als eine Anpassung an neue Wohn- 
plätze, welche die Lebensgeschichte des Individuums 
aufbewahrt mit der Erinnerung an die einstige Gestalt. 

Die Verhältnisse der parasitischen Würmer finden 
ihre Wiederholung in den parasitischen Krebsen, wie 
denn überhaupt eine höchst Bauliche Urform 
- des Krebsstammes in der 
_ Metamorphose mehrerer 
Ordnungen dieser grossen, 


doch so zusammenhängen- 
den Klasse aufbewahrt 
ist. Die Larve, welcher, 
wie man mit grosser Si- 
cherheit annehmen darf, 
die Urform der Krebs- 
klasse sehr nahe stand, 
wurdeeinst für eine selb- 
ständige Gattung gehal- 
ten und empfing den 
Namen Nauplius. Man spricht also von einem Nauplius- 
stadium, welches sich namentlich bei den niedern 
Krebsen, den Copepoden, Parasiten, Rankenfüssern 
und den sich diesen anschliessenden merkwürdigen 
Wurzelfüssern erhalten hat, jedoch auch in der höch- 
sten Ordnung, den zehnfüssigen stieläugigen Krebsen 
nicht fehlt. Wir werden unten uns mit der sogenann- 
ten verkürzten Entwickelung bekannt zu machen haben, 
welche sich unter den Krebsen die Zehnfüsser ange- 
eignet haben, wie man früher glaubte, alle. Wäre 
dies wirklich der Fall, so würden wir zwar auch noch, 
zestützt auf die Analogie, für sie den directen Zu- 


Fig. 16. Nauplius. 


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192  Ontogenie und Phylogenie } 


sammenhang mit den übrigen noch die Naupliusstufe > 


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in der Entwickelung wiederholenden Ordnungen er- 
schliessen, allein es war doch eine hochwillkommene 
Entdeckung Fritz Müller’s, dass eine Garnele (ein Pe- 


neus) noch heute ihre Entwickelung als Nauplius be- re 
ginnt, während alle andern Ordnungsgenossen, soviel 


bekannt, im höhern Zo&astadium (vgl. S. 50) das Ei 


verlassen. Da bisjetzt von Hunderten der stieläugigen 
Krebse kaum ein Dutzend nach ihrer Entwickelung 


untersucht sind, so kann ‘man nicht zweifeln, dass 
hinsichtlich des Naupliusstadiums noch andere Arten 
sich jenem Peneus von der brasilianischen Küste an- 
schliessen werden. Aber selbst wenn dieser Fall ein 


Unicum in der Ordnung bliebe, würde er als leben- 


diges Zeugniss des Zusammenhanges der Gegenwart 
der Zehnfüsser mit den Urkrebsen ausreichen. Oder 
gibt es etwa eine andere Auffassung? Nein. Die 
Naupliusentwickelung des Peneus ist entweder ein 
glänzender Beleg für die Abstammungslehre, oder ein 
sinnloses Paradoxon. : 


Nach dem Vorangegangenen erläutert sich die Ver- 


wandlung der Amphibien von selbst. Ihre Vorgänger 
waren Wasserathmer, deren Gestalt und Lebensweise 
die langschwänzigen Amphibien, also die Tritonen 
und Molche, getreuer bewahren als die Frösche. Bei 
unsern Tritonen tritt die Geschlechtsreife nicht selten 
schon im Larvenzustande ein, das ist also auf einer 
Stufe, welche bei den Vorfahren der heutigen Gattun- 
gen die definitive war. Es gibt sogar noch eine Art, 
den mexicanischen Acholotl, der regelmässig auf die- 
ser Larvenstufe sich fortpflanzt. Höchst interessant 
ist Aug. Dumeril’s Beobachtung, dass von den Tau- 
senden von Acholotls, welche er in Paris zog, einzelne 


über das bisher bekannte Stadium ihrer Entwickelung & 


hinausgingen, nämlich ihre Kiemen verloren, ihre Kör- 
pergestalt nicht unwesentlich veränderten und aus 
Kiemenathmern und Wasserthieren zu Lungenathmern 
und Landthieren wurden. Es bedarf der weitern 


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Fig. 17. Acholotl. 


Fig. 18. Amblystoma. 


SCHMIDT, Descendenzlehre. 13 


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194 Directe oder verkürzte 


Forschung, ob nicht etwa, was jedoch unwahrscheinlich, 
in ihrer Heimat alle Acholotls, nachdem sie sich schon 
im Larvenzustande fortgepflanzt, die Metamorphose 
zu molchartigen Thieren (Amblystoma) durchmachen, 
oder ob die Versetzung nach Europa und die damit 
verbundene gänzliche Veränderung der Lebensverhält- 
nisse den Anstoss zu einer fortschreitenden Umwand- 
lung jener einzelnen Individuen gegeben, welche unter 
Andauer dieser Bedingungen in spätern Generationen 
auf immer mehr Individuen sich ausdehnen und schliess- 
lich der Art, als einer neuen, eigenthümlich werden 
würde. 

Die bisher betrachteten Beispiele der Ontogenie oder 
individuellen Entwickelung hatten das Eigenthümliche, 
dass das geschlechtsreife Thier sich nicht unmittelbar 
aus seinem Ei gleich dem Phönix aus der Asche 
verjüngte, sondern verschiedene Gestalten und Wesen- _ 
heiten durchzumachen hatte, in welcher die Vorfahren 
der Art wieder greifbar und lebendig werden. Es 
fragt sich nun, wie zu dieser wahrhaft epischen, er- 
zählenden Entwickelung sich die Form der Fortpflan- 
zung stellt, welche die Systematik lediglich nach der 
Thatsache, ohne sich dabei etwas denken zu können, 
„directe Entwickelung‘“ oder „Entwickelung ohne Ge- 
nerationswechsel und Verwandlung“ genannt hat. Die 
flimmerhaarigen Embryone vieler Quallen werden nicht - 
zu polypenförmigen Zwischenformen, sondern gehen 
unmittelbar in die Qualle über. Die meisten höhern 
Krebse verlassen nicht als Nauplius das Ei, sondern 
schon mehr oder weniger vollkommen als Zehnfüsser 
ausgebildet. Der Vogel, das Säugethier, der Mensch, 
sie alle sind, wenn sie geboren werden, „ihren Aeltern 
ähnlich“. Erwägt man, dass die Vorgänge des Gene- 
rationswechsels an sich durchaus nicht vortheilhaft 
oder „zweckmässig“ sind — man denke nur an die 
Schicksale der Eier des Bandwurms —, dass durch 
den Larvenzustand die Zeit der Kindheit und Schwäche 
verlängert, die Zeit der Reife und der erfolgreichen 


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Entwickelung. | 195 


. Obsorge für den Artbestand hinausgeschoben wird, so 


folgt, dass Abkürzungen und Reductionen dieser Ent- 
wickelungsformen, welche infolge von Anpassungen 
eintreten, als vortheilhafte Aenderungen Aussicht auf 
Befestigung haben. Wie die Verlängerung des Larven- 
stadiums der Amphibien durch natürliche Umstände 
und künstliche Versuche herbeigeführt werden kann, 
so ist in gleicher Weise eine Zusammendrängung der 
Stadien der Verwandlung und überhaupt eine Ver- 
kürzung der Verwandlung denkbar, und es liegen 
serade aus der Klasse der Amphibien mehrere Bei- 


‚spiele der verkürzten und modificirten Metamorphose 


vor, welche die scheinbare Kluft zwischen der Ent- 
wickelung mit und der ohne Verwandlung überbrücken 
und die directe Entwickelung als allmählich er- 
worben begreiflich machen. Amphibien werden sich 
überall hin auszubreiten suchen, wohin sie genügende 
Insektennahrung einladet, und der schwarze Salamander 
des Hochgebirges (Salamandra atra) hat selbst das 
Hinderniss überwunden, welches man für ein unüber- 
steigliches halten sollte, den Mangel won Gewässern 
für seine Larven. Er legt seine Eier nicht, gleich 
seinen Verwandten, sondern nur zwei werden in die 
Eileiter aufgenommen, und die von deren Wandungen 
ausgeschiedene Flüssigkeit ersetzt ihnen und den hier 
auskriechenden Larven den Sumpf. Hier, nicht ausser- 
halb der Mutter, kommen die Kiemen zum Vorschein, 
während die allmählich nachrückenden übrigen Eier 


von den nahrungsbedürftigen Larven gefressen werden. 


Die Verwandlung des schwarzen Molches, über welche 
leider neuere Untersuchungen vermisst werden, geht 
also im Mutterleibe vor sich, und es macht keine 
Schwierigkeit, die Erwerbung dieser Eigenthümlichkeit 
durch die Nöthigung der Anpassung an aussergewöhn- 
liche Lebensverhältnisse sich vorzustellen. Wenn uns 
die Lebensweise des Beutelfrosches, dessen Junge in 
einer Hautfalte des Rückens ausgetragen werden, der 
surinamischen Kröte, deren Larven einzeln in waben- 
13* 


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196 Directe Entwickelung. 


artigen Fächern des Rückens leben, bekannter wären, 


als sie es sind, würden wir gewiss zu ähnlichen Re- 


sultaten, wie beim schwarzen Salamander kommen. 
In Ermangelung dessen ist eine erst 1873 veröffent- 
lichte Beobachtung des Herrn Bavey, Marine-Pharmaceut 
in Guadeloupe, höchst wichtig.° Ein dortiger Frosch 
(Hylodes martinicensis) macht seine ganze Verwand- 


lung im Ei durch. Er hat im Ei die Kiemen und den 


Schwanz, und aus der kurzen Notiz, dass auf der In- 
sel nur schnell verrinnende Giessbäche, nirgends stehende 
Gewässer und Sümpfe sich finden, geht hervor, dass 
es sich auch in diesem Falle um eine die Entwicke- 
lung modificirende und verkürzende Anpassung handelt. 

Sehen wir nun nach dieser Hinüberleitung die so- 
genannte directe Entwickelung näher an, so lässt sie 
sich durchaus der Metamorphose des Hylodes von 
Guadeloupe vergleichen. Die directe Entwicke- 
lung ist eine Verwandlung im Ei, und auch wo 
sie stattfindet, sind die embryonalen Entwicke- 
lungsstufen mehr oder weniger deutliche 
Wiederholungen der historischen Entwicke- 
lung des Stammes. Wir wollen nur an den der 
Metamorphose nicht unterworfenen Wirbelthieren einige 
Phasen des embryonalen Lebens hervorheben, welche 


- 


Stufen einer verkürzten Verwandlung sind und stabile 


Zustände der Vorfahren recapituliren. Dass bei allen 
Wirbelthieren die Wirbelsäule als ein ungegliederter 
Strangund eineungegliederte Scheide für dasRückenmark 
sich anlegt, ist wiederholt erwähnt. Es ist der blei- 
bende Zustand niedrigster Fische. Auch bei den 
höhern Wirbelthieren besteht das Gehirn anfangs aus 
einigen hintereinander liegenden Blasen, der definitiven 
Form der niedrigen Gruppen. Das embryonale Herz 
der Säuger und Vögel beginnt mit der Schlauchform 


und besitzt später die Communication der Kammern, 


welche bei den Reptilien sich nie schliessen. Die Kie- 
menbogen sind bei den Amphibien während der Lar- 
venperiode wirklich Kiemen tragend. Sie fehlen den 


Entwickelung der Ammoniten. 197 


Embryonen der Reptilien, Vögel und Säuger nicht, 
ebenso wenig als die Spalten, durch welche bei Fischen 
und Amphibienlarven das Athemwasser abfliesst. Sollen 
wir die einzig mögliche Erklärung dieser Thatsachen 
nochmals niederschreiben ? 

Ehe wir auf die Erscheinungen hinweisen, welche 
für das Entsprossen der Stämme aus gemeinsamer 
Wurzel sprechen, wollen wir noch eines der bedeutend- 
sten Zeugnisse der neuesten Zeit anführen, welches 
die Artwerdung durch einen grössern geologischen 


Fig. 19. Ammonites Humphresianus. Eine den Planulaten sehr nahe 
stehende Form. 


Zeitraum verfolgt und die Beziehungen der individuellen 
zur Art-, Gattungs- und Familienentwickelung ins 
einzelnste darlest. Es ist L. Würtenberger’s Beitrag 
zum- geologischen Beweise der Darwin’schen Theorie, 
auf die wir uns schon einmal (S. 88) berufen haben. 
Es handelt sich um die beiden Ammonitenfamilien der 
Planulaten und Armaten, welche letztere nach Wür- 
tenberger’s Untersuchungen sich aus den erstern ent- 
wickeln, indem die Rippen der Planulaten allmählich 
in die Stacheln der Armaten übergehen. Uns interes- 
siren besonders folgende Stellen der vorläufigen Mit- 


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Bere x & re I ui 


198 Individuelle und historische 


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theilungen über die Entdeckungen, welche an Tausen- 
den von Exemplaren gewonnen sind und wol erst in 
einigen Jahren mit allen Belegen veröffentlicht werden. 
„Es war für mich eine besondere Freude“, sagt Wür- 
tenberger, „als ich endlich nach mancherlei sorgfältig 
vergleichenden Studien eine interessante einfache Ge- 
setzmässigkeit in dem Variiren der Ammoniten auf- 
fand. Wenn nämlich eine Veränderung, welche 
später für eine ganze Gruppe eine wesentliche 
Bedeutung erlangt, zum ersten mal auftritt, 
so ist dieselbe nur aufeinem Theil der letzten 
Windungen ganz leicht angedeutet. Gegen 
jüngere Ablagerungen hin tritt diese Ver- 
änderung immer deutlicher hervor und schrei- 
tet dann, dem spiralen Verlaufe der Schale 
folgend, nach und nach immer weiter gegen 
das Centrum der Ammonitenscheibe fort; d. h. 
sie ergreift allmählich immer mehr auch die 
innern Windungen, je höher man die betref- 
fenden Formen in jüngere Schichten hinauf 


verfolgt. Diese Fortpflanzung der in vorgeschritte- 


nem Lebensalter auftretenden Aenderungen auf immer 
jüngere Lebensstufen geht indessen nur langsam vor- 
wärts, sodass wir an den innern Windungen mit grosser 
Beharrlichkeit die ältern Formen wiederholt sehen. 
Oft hat sich dann eine solche Aenderung erst eines 
kleinern Theiles der Windungen bemächtigt, bis aussen 
schon wieder eine neue hinzutritt, welche der erstern 
nachfolgt. So sehen wir, die Schichten von unten 
nach oben durchsuchend, Veränderung um Veränderung 
auf dem äussern Theile der Ammoniten beginnen und 
nach dem Centrum der Scheiben hin fortschreiten. 
Die innersten Windungen widerstehen indessen oft mit 
grosser Beharrlichkeit diesen Neuerungen, sodass man 
auf denselben gewöhnlich mehrere solcher Entwicke- 
lungszustände nahe zusammengedrängt findet, indem 
die Schale eines Ammonitenindividuums mit 
einem ältern Formentypus beginnt und dann 


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Entwickelung der Ammoniten. 199 


einander aufnimmt, wie dieselben bei der 
geologischen Entwiekelung der betreffenden 
"Gruppe in langen Zeiträumen aufeinander 
folgen.“ 
„Die Ammoniten erhalten also“, heisst es später, „in 
_ einem vorgeschrittenern und reifern Lebensalter — erst 
wenn sie den von ihren Aeltern ererbten Entwicke- 
lungsgang möglichst in derselben Weise, wie diese, 
durchgemacht haben — die Fähigkeit, sich nach einer 
neuen Richtung abzuändern, d. h. sich neuen Verhält- 
nissen anzupassen; jedoch kann sich dann eine solche 
Veränderung in der Weise auf die Nachkommen fort- 
erben, dass sie bei jeder der folgenden Generationen 
ein klein wenig früher auftritt, bis diese letzte Ent- 
 wickelungsstufe selbst wieder den grössten Theil der 
_ Wachsthumsperiode charakterisirt. Eine solche letzte 
und längste Entwickelungsstufe lässt sich dann aber 
dureh neuere, sich auf gleiche Weise ausbildende kaum 
jemals. wieder ganz verdrängen: die Vererbung wirkt 
so mächtig, dass eine solche einmal vorherrschende 
Periode -der Entwickelung sich im jugendlichen Alter 
der Ammoniten, wenn auch oft kaum angedeutet, 
wiederholt. An einem Ammonitenindividuum aus einer 
jüngern Schicht müssen dann also die zurück- und 
zusammengedrängten Entwickelungsperioden auf den 
innersten Umgängen in derselben Reihenfolge auftreten, 
wie sie einander die Herrschaft abransen. Es ist 
äusserst interessant, an Inflaten des obern weissen 
Jura, die sich zu Ammonites lıparus, der auf den 
sichtbaren äussern Windungen nur eine Stachelreihe 
zeigt, stellen, Windung für Windung behutsam abzu- 
sprengen und so den Entwickelungsgang zu studiren: 
gegen innen zu sind auf einer Strecke immer zwei 
Stachelreihen vorhanden, weiter gegen das Centrum 
verschwindet die innere, sehr bald darauf auch die 
äussere, und der Kern von einigen Millimetern Durch- 
messer erscheint dann auf etwa einem halben Umgange 


jene Veränderungen in derselben Weise nach- 


Eee Se el SE N u en 


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200 Die ammonitischen Nebenformen. 


als Planulat mit deutlichen Rippchen, welche gegen 
den Anfang hin ebenfalls wieder verschwinden. Also 
selbst die Planulatenrippen, welche bei den liasischen 
Ahnen dieser Inflaten die Windungen beherrschten, 
jedoch schon im obern braunen Jura von den Stacheln 
verdrängt wurden, bezeichnen noch im obersten weissen 
Jura bei diesen späten und wesentlich veränderten 
Nachkommen eine kurze Periode des jugendlichen | 
Alters.“ 

Würtenberger zeigt weiter, wie diese Verhältnisse 
auf einfache Weise sich nur durch die Darwin’sche 
Theorie erklären lassen: „ohne diese letztere blieb uns 
hier blos ein wunderliches Räthsel“. 

Es lag nahe, die Anwendbarkeit 
der Selectionstheorie auch an den 
sogenannten ammonitischen Neben- 
formen, wie Ancyloceras, zu er- 
proben, denjenigen Gattungen näm- 
lich, deren Windungen und Curven 
sich nicht, wie bei den echten 
Ammoniten, unmittelbar berühren, 
und zum Theil verhüllen, und 
welche als Spätlinge und Ausläufer 
der Gruppe den Verfallin sich zu 
tragen scheinen. Selection und 
Verfall!? Würtenberger zeigt, wie 
das Aufgeben der Berührung der 
Umgänge bei bestachelten Ammo- 
niten ein Vortheil war, der sich 
durch Auslese befestigen musste. 
Fig. 20. Ancyloceerase Wenn daneben andere Paläonto- 

logen das mit der Auflösung der 
geschlossenen Spirale auftretende Schwanken der Form. 
als einen Ausdruck des Niederganges der Gruppe an- 
sehen, so scheint kein Widerspruch darin zu liegen, 
indem, was anfänglich als Vortheil von der natürlichen 
Züchtung ausgebeutet wurde, in seinen Folgen sich 
verderblich erwies. \ 


\ FOR j 


Ursprung der Stämme. | 201 


Wie wir gesehen, werden durch Abkürzung der 
Entwickelung gerade die frühesten Zustände in dem 
Grade verwischt, dass die Hinweisung auf die Be- 
schaffenheit der Vorfahren immer mehr zurücktritt. 
Unsere Lehre führt aber mit Nothwendigkeit zu der 
Ueberzeugung, dass die Stämme, innerhalb deren wir 
bisjetzt die Ontogenie mit der Phylogenie vergleichen 
konnten, sich in ihren Ursprüngen immer mehr ein- 
ander nähern, und rechtfertigt die Erwartung, dass 


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Fig. 21. Gastrula. 


wenigstens hier und da in der individuellen Entwicke- 
lung einzelner Repräsentanten der verschiedenen Stämme 
die Zeugen gemeinschaftlicher Abstammung auftauchen. 
Das trifft denn auch zu, und zwar in dem Masse, dass 
durch früheste Larvenstufen ein Band zwischen den 
niedrigsten und den höchsten Thieren hergestellt ist. 
Wenn man eine Anzahl von Gruppen niedrigster Lebe- 
wesen, bei denen das ungeformte Protoplasma die 
verschiedenen Lebensfunctionen der Ernährung, Reiz- 


ir i . = 3 Dre cye Arı I a ph en ae a ei nF 


w7,47 


202 Gemeinsame Entwickelungszustände | 


barkeit, Bewegung und Fortpflanzung versieht, mit 
Haeckel deshalb als ein Mittelreich abscheidet, weil 
ihnen die geschlechtliche Fortpflanzung mangelt, so 
muss man wol weiter dem Genannten zustimmen, 
wenn er die sonst an jene Protisten sich anschliessen- 
den Spongien oder Schwämme wegen ihrer ge- 
schlechtlichen Vermehrung und der Art ihrer embryo- 
nalen Entwickelung und der ersten Larvenstadien 
Thiere nennt. Haeckel hat eine Larvenstufe der Kalk- 
schwämme mit dem Namen Gastrula belegt, wo das 
Thier einen Sack, oder, wenn man will, einen mit 
einer Mundöffnung versehenen Magen vorstellt. Die 
Wandung wird gebildet aus zwei Schichten von Zellen; 
die äussere besteht aus Geiselzellen, d. h. jede Zelle 
ist mit einer längern Wimper versehen. An der Sack- 
öffnung geht die äussere Schicht in die innere über, 
und aus diesen beiden Blättern baut sich der Spon- 
gienleib in ganz bestimmter Weise auf. Wenn nun 
diese Gastrulalarve zunächst bei den Cölenteraten, 
den Polypen und Quallen, wiederkehrt, wo man schon 
seit langer Zeit die allmähliche Entwickelung aus den 
beiden, Entoderm und Ektoderm genannten Blättern 
zu den complicirtesten Gestalten kennt, und wenn, 
wie Haeckel weiter gezeigt hat, der Vergleich des 
Osculums oder der grössern Oeffnung des Schwamm- 
individuums mit dem Munde des Polypen und der 
Qualle, der grossen Centralhöhle des Schwammes mit 
dem Magen jener, des Kanalsystems mit den Kanälen 
und Höhlungen der Cölenteraten sich genau durch- 
führen lässt, so ist im Zusammenhange der Tausende 
von andern die Descendenzlehre - bedingeuden und 
stützenden Thatsachen der Schluss unausbleiblich, dass 
in der Gastrula ein Zeuge der Blutsverwandtschaft der 
Spongien und Cölenteraten vorliege. Nun kehrt diese 
Gastrula aber wieder bei den Holothurien, also Echi- 
nodermen, bei Sagitta, bei den, unten im Stamm- 
baum der Wirbelthiere noch näher zu berücksichtigen- 
den Ascidien, endlich im Lanzettfisch, und wir 


a ae ee Et ST ya 


verschiedener Stämme, 203 


halten uns daher berechtigt, dieses Zusammen- 
treffen der frühesten Entwickelungszustände 
verschiedener Stämme als das Ueberbleibsel 
der gemeinsamen Wurzel zu betrachten, wel- 
ches in andern Stämmen, z. B. den Gliederthieren, in 
der Verkürzung der Entwickelung verloren gegangen 
ist. Die Bedeutung der „Keimblätter“ für das Wir- 
belthier war schon von Pander und in den bahn- 
brechenden Arbeiten von Bär erkannt worden; die 
Ausdehnung und Verwerthung dieser Beobachtung über 
das ganze Thierreich, wie man sie besonders Kowa- 
lewsky verdankt, bezeichnet einen der grössten Fort- 
schritte der vergleichenden Entwickelungslehre. 
 — Wir mussten früher den ausserhalb der Detailfor- 
schung unserer Wissenschaft stehenden Leser darauf 
aufmerksam machen, dass es Gegner der Selections- 
theorie gibt, wie Owen, welche gleichwol die Descen- 
denz als unbestreitbar annehmen. Auch der Paralle- 
lismus der Ontogenie mit der Phylogenie kann mit 
Zurückweisung der natürlichen Züchtung in den von 
uns verfochtenen natürlichen Zusammenhang gebracht 
werden unter der Voraussetzung einer unnatürlichen, 
will sagen übernatürlichen Leitung, welche jene schein- 
bar natürliche Einheit zum Wunder macht. Erst jüngst 
hat Al. Braun die Uebereinstimmung des botanischen 
Systems und damit der paläontologischen Folge mit 
der Entwickelung des Pflanzenindividuums hervor- 
gehoben, indem er sagt‘”: „In der weitern Ausbildung 
‚des natürlichen Systems tritt der Stufenbau des Pflan- 
zenreichs und damit zugleich die Beziehung des Systems 
zur Entwickelungsgeschichte immer deutlicher, un- 
gesucht und unabweisbar hervor. Die Acotyledonen 
werden als blütenlose Pflanzen, wofür sie schon die 
alten Botaniker der vorlinne’schen Zeit hielten, con- 
statirt und dadurch ihr Verhältniss zu den Blüten- 
pflanzen klarer ausgesprochen; die Blütenlosen werden 
in zwei wesentlich verschiedene Abtheilungen, in denen 
sich gleichfalls Stufenfolge bestimmt ausspricht (Zellen- 


TEL Me u a SAME D 


204 Gleichheit in den Kae 


kryptogamen und Gefässkryptogamen — Thallophyten 
und Kormophyten) zerlegt; zwischen den vollkommenen 

Blütenpflanzen und den Blütenlosen wird eine Mittel- 
stufe, die der nacktsamigen Pflanzen nachgewiesen, 

das Wichtigste aber ist der Umstand, dass 

die gewonnenen vier Hauptstufen des Pflan- 

zenreiches aufs genaueste den allen höhern 
Pflanzen zukommenden individuellen Ent- 
wickelungsstufen entsprechen,dem Keime, dem 

vegetativen Stock, der Blüte und der Frucht.“ 
Warum aber dieser Parallelismus das Wichtigste sein 

soll, wenn wir damit nicht zur Erkenntniss der wahren 

Causalität geführt werden, ist uns nicht begreiflich. 

Wir können uns wol denken, dass man sich mit den 

„innern Ursachen‘ und dem „Princip der Vervoll- 

kommnung“ als dem refugium ignorantiae abfindet, 

nicht aber, dass sich die Forschung damit wirklich 

beruhigt. Unserm Standpunkte muss daher die Ein- 

stimmung der Resultate der botanischen Forschung 

auch höchst wichtig sein, aber aus dem sagbaren 
Grunde, weil damit die Theorie abermals durch eine 
grosse Reihe von Thatsachen gestützt und befestigt _ 
wird. 

Hat man einmal die Uebereinstimmung der Ent- 
wickelung der Stämme bis zur Gastrula verfolgt, so 
wird man dabeı nicht stehen bleiben, sondern auch 
die Gleichheit der Samenkörperchen und Eizellen von 
den Spongien bis zu den Wirbelthieren als uraltes 
Gemeingut auffassen, welches die Thier- und die Pflan- 
zenwelt verbindet, a vor dessen Erwerb nur solche 
Weisen der Fortpflanzung stattfanden, wie sie bei den 
Protisten und ım Generationswechsel erhalten sind. 

Wie nun schon die Gemeinsamkeit der Grundlagen . 
der geschlechtlichen Fortpflanzung der verschiedenen , 
Stämme auf gemeinsamen Ursprung drängt, so führt 
die, wie wir gesehen, mit der geschlechtlichen Ver- 
mehrung in unmittelbarem Zusammenhange stehende 
ungeschlechtliche Fortpflanzung durch unbefruchtete ' 


BER ne und Elementen der Entwickelung. 205 


- Eizellen und Keimkörper immer tiefer zurück in die 
Anfänge des Lebens. Die mit Kern und Hülle ver- 
'sehene Zelle ist aber unablöslich von den kern- und 
hüllenlosen Protoplasmakörperchen, auf deren Wachs- 
'thum und Theilung die Fortpflanzung der niedersten 
Lebewesen beruht. 
Ihre Entstehung aus der unorganischen Materie ist, 
wie wir oben auseinandergesetzt, ein Postulat des ge- 
sunden Menschenverstandes. An diesen Anfang des 
Lebens leitet uns, nicht, wie die Gegner der Descen- 
denzlehre sagen, eine dogmatisirende Afterphilosophie, 
sondern die aufmerksame und vorurtheilsfreie Betrach- 
tung und Combination der Thatsachen der Entstehungs- 
geschichte des Individuums. $3 


pn 


Die geographische Verbreitung der Thiere im Lichte 
der Abstammungslehre. 


. Obwol schon seit dem Jahrhundert der grossen 
geographischen Entdeckungen das Material für Pflan- 
zen- und Thiergeographie sich anhäufte, ist die Grund- 
lage einer wissenschaftlichen Pflanzengeographie doch 
erst, abgesehen von Georg Forster’s Beobachtungen, 
in Humboldt’s berühmten ‚Ideen zu einer Physiognomik 
der Gewächse‘‘ enthalten. Es ist die erste, das ge- 
sammte Areal der Erde umfassende Schilderung von 
Pflanzenformen, wie sie theils einzeln, theils combinirt 
ihren Verbreitungsbezirken ein eigenthümliches land- 
schaftliches Gepräge geben,- und wiederum ihrerseits 
sich in Harmonie mit den andern landschaftlichen 
Factoren befinden. Der berühmte Begründer der Kl- 
{| matologie, welcher den Erdball mit den Linien gleicher 
Temperatur, der gleichen Inclination und Declination 
der Magnetnadel umspann, in trockene und regenreiche 


206 Vicarirende oder es 


Zenen sonderte, wusste besser als irgendeiner seiner 
Zeitgenossen, dass Thier- und Pflanzenwelt von allen 
diesen Factoren abhängig seien. Allein weder er noch 


seine Nachfolger bis auf Darwin sind über die Stufe 


der Naturschilderung hinausgekommen, die schon Buffon 


in seinem grandiosen Naturgemälde, den „Zpoques de 


la Nature‘, eingehalten. 

Eine selbstverständliche Folge der ausserordentlichen 
Erweiterung des geographischen Horizontes und der 
Vertiefung in die Specialuntersuchung war die immer 
sorgfältigere Feststellung der Verbreitungsbezirke der 


Thier- und Pflanzenfamilien und ihrer hervorragenden 


Arten, wobei man, wie gesagt, entweder gar nicht 


nach den Ursachen der Verbreitung fragte, oder es 
sich so leicht machte, wie Louis Agassiz, der die Ar- 
ten nicht, wie Linne, von je einem Paare herleitete, 
sondern sie in beliebigen Mengen von Individuen über 
ihre Verbreitungsbezirke erschaffen werden liess. Dass 


damit keine der sich jetzt uns aufdrängenden Fragen, 


z.B.: warum nicht unter gleichen natürlichen Ver- 
hältnissen immer die gleichen Arten sich finden, oder 
umgekehrt? warum einander sehr nahe stehende Arten 
oft unter ganz ungleichen äussern Bedingen auftreten ? 
wie man sich das Verhältniss der sogenannten vica- 
rirenden Formen zueinander zu denken habe u. del., 
gelöst wird, ist zu erwarten. Wie neuerdings Rüti- 
meyer in seiner ausgezeichneten Abhandlung: „Ueber 
die Herkunft der schweizerischen Thierwelt“®®, bemerkt 
hat, hob schon Buffon jene Wiederholung der afrika- 
nischen in der amerikanischen Fauna hervor, wiez.B. 
hier das Lama ein verjüngtes und schwächeres Abbild 
des Kamels sei, der Puma der Neuen Welt den Löwen 


der Alten repräsentire. Allein mit dem Wort „Reprä- 


sentativform“ oder „vicarirende Form“ ist an sich 
nichts gewonnen, und ein Verständniss kommt in diese 
Thatsachen einzig und allein, wenn wir mit der An- 


nahme an die Untersuchung gehen, Kamel und Lama‘. 


Puma und Löwe seien gemeinschaftlicher Abstammung, 


97 


BI WET Fr oa s ir iz Ak > pr ” + } % 
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h Ba 
analoge Arten. NT 


"und ihre Sonderentwickelung sei im Laufe der Zeiten 
durch Trennung der Wohnsitze ihrer Vorfahren be- 
günstigt und bedingt worden. 

Ein anderes, der Schlussfolgerung zugänglicheres 
Beispiel für die sogenannten vicarirenden oder „ana- 
logen“ Arten gibt die Vergleichung der südeuropäischen, 
namentlich spanischen Schnecken mit den nordafrika- 
nischen, worüber wir Bourguignat ausgezeichnete 
Beobachtungen verdanken. Derselbe hat in Ueber- 
einstimmung mit den übrigen faunistischen und flori- 
stischen Thatsachen festgestellt, dass die spanische 
und die nordafrikanische Molluskenfauna ein Ganzes 
bilden, sodass die algierische Schneckenwelt als ein 
blosser Anhang der südeuropäischen erscheint trotz 
der Trennung durch die Meerenge von Gibraltar. Nun 
ist es erwiesen, dass in jüngerer geologischer Zeit 
diese Strecke von Nordafrika in der That eine Halb- 
insel von Spanien war, und dass ihre Vereinigung mit 
Afrıka im Norden bewirkt wurde durch den Durch- 
bruch der Strasse von Gibraltar, ım Süden und Osten 
durch eine Hebung, welcher die Sahara ihr Dasein 
verdankt. Noch jetzt werden die Ufer des einstigen 
Saharameeres gekennzeichnet durch die Gehäuse der- 
selben Schnecken, die am Mittelmeerufer leben. Aber 
nicht alle nordafrikanischen Schneckenarten sind iden- 
tisch mit den spanischen, zu zahlreichen Afrikanern 
finden sich auf unserer Seite nur „analoge‘‘ Arten. 
- Wenn nun also gewisse spanische Arten zwar nicht 
selbst in Afrika vorkommen, aber doch durch sehr 
ähnliche Formen vertreten sind, so verbindet sich mit 
dem sonst bedeutungslosen Wort „analoge“ Arten für 
unsern Standpunkt zugleich der Begriff der gemein- 
schaftlichen Abstammung der einander ersetzenden 
Formen und der durch die Isolirung und die verän- 
derten Verhältnisse hervorgebrachten localen Umwand- 
lungen. Wer an die Sonderschöpfung der Arten glaubt, 
wird gerade bei den Land- und Lungenschnecken auf 
eine harte Probe gestellt, indem es sich zeigt, dass 


203 - Analoge Arten. 


auf isolirten Inseln und Inselgruppen diese schwer 
wandelnden und bodenständigen Thiere eine ganz ausser- 
ordentliche Mannichfaltigkeit erreicht haben. Auf der 
Madeiragruppe zählte man vor etwa zehn Jahren 
134 Arten Lungenschnecken, von denen nur 21 Arten 
sich auch in der afrikanisch-europäischen Fauna fanden. 
Sie und die andern 113 Arten sind meist an enge 
Districte und einzelne Thäler gebannt. Sollen wir 
annehmen, dass die 113 Arten für Madeira und die 
21 Arten für Madeira und Afrika-Europa einzeln ge- 
schaffen wurden? Müssen wir nicht vielmehr schliessen, 
dass einst ein Zusammenhang zwischen Europa und 
der heutigen Inselgruppe von Madeira stattfand, und 
dass jene 21 Arten blieben, was sie vor der Trennung 
waren, während aus den übrigen uns unbekannten, nur 
noch in analogen Formen auf dem Festlande vorhan- 
denen Arten die merkwürdige Fülle von neuen Arten 
hervorging? Ihnen und ihren Genossen auf andern 
isolirten Inseln war vielseitiger Kampf erspart, und 
ohne Zweifel geben sie ein günstiges Beispiel ab für 
das Wagner’sche Migrationsgesetz, indem bei der Schwie- 
rigkeit der Wanderung dieser Thiere und der Unwahr- 
scheinlichkeit eines reichlichen Nachschubes die sich 
absondernden Individuen auch unter geringen neuen 
Einwirkungen Aussicht auf Abweichung von der Stamm- 
art hatten. | 
Die unwissenschaftliche Meinung, dass unter gleichen 
oder fast gleichen äussern Verhältnissen gleiche oder 
ähnliche Organismen in grosser Anzahl geschaffen wor- 
den seien, erhält einen argen Stoss durch die Wahr- 
nehmung, dass oft das gerade Gegentheil eingetreten 
ist. Wir werden weiter unten mehr Thatsachen hier- 
für beibringen und wollen hier nur auf ein schlagendes 
Beispiel hinweisen. Warum hat Amerika in der heu- 
tigen Periode keine Pferde, obschon, wie sich gezeigt, 
die eingeführten Pferde vortrefflich gedeihen? Die 
Sache steht nicht so, dass wir erklären müssten, warum 
die fossilen Pferde, welche in Amerika so gut wie auf 


a Saal gs Ti I Arm FE 
nn v - x E z 


Ursachen der Verbreitung. 209 


_ der östlichen Halbkugel existirten, erloschen sind, ohne 
* Nachkommen zu hinterlassen — wir wissen die Ur- 
sache nicht, ergründen sie aber vielleicht noch — 
_ sondern dass die Anhänger der Schöpfungslehre hier 
und in allen ähnlichen Fällen die Unzulänglichkeit 
ihrer Glaubenstheorie zu bekennen haben. 
Unsere bisherige Darstellung hat uns die jetzt leben- 
den Arten als Nachkommen früher lebender Organis- 
men gezeigt; die heutige Vertheilung über die Erde 
ist daher eine Folge der Verbreitung der Vorfahren der 
heutigen Organismen und der vielfachen Verschiebun- 
genvon Land und Wasser, von welchen jene unmittelbar 
‘oder mittelbar betroffen wurden. Wir können nicht 
hoffen, je ein getreues Bild von den fortlaufenden 
_ Umgestaltungen der Erdoberfläche uns zu bilden. Erst 
wenn dies gelänge und wenn wir zugleich von den 
jedesmaligen Bewohnern der einstigen Inseln, Fest- 
länder und Meere genaue Verzeichnisse hätten, würde 
die Verbreitung der jetzigen Organismen vollkommen 
ergründet und begründet sein. Wir haben aber mit 
dieser Erkenntniss der Unvollkommenheit unserer sta- 
tistischen Hülfsmittel so viel gewonnen, dass wir mit 
Sicherheit den Weg der Untersuchung vorzeichnen 
können. Wir haben erstens in der Weise der ältern 
Pflanzen- und Thiergeographie fortzufahren in der 
Constatirung der natürlichen Grenzen oder der Ver- 
breitungsbezirke, und zweitens diese Thatsachen mit 
den Thatsachen der durch die jeweiligen geologischen 
‘Verhältnisse bedingten Verbreitung der einstigen Vor- 
fahren der heutigen Lebewelt zu combiniren. Es ver- 
steht sich von selbst, dass auch für diese Arbeit 
Darwin die Grundzüge gegeben hat. Unter seinen Nach- 
folgern verdienen aber besonders zwei hervorgehoben 
zu werden, Wallace mit seinen, an feinen Beobach- 
tungen überreichen Untersuchungen über den Malai- 
ischen Archipel’®, und Rütimeyer in der schon ceitirten 
Abhandlung. Wir können uns im Folgenden wesentlich 
an letztern anschliessen. 
SCHMIDT, Descendenzlehre. 14 


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5 E u Er > 


210 Unzulänglichkeit der Booten 


Be 

Unsere Kenntniss der Verbreitungsbezirke der Thier- 
welt ist noch ausserordentlich mangelhaft. Was wissen 
wir z. B. von dem Vorkommen der Seethiere? Sind 
doch erst wenige Jahre verflossen, seit überhaupt die 
Tiefen des Meeres der Erforschung zugänglich gemacht 
wurden, dieses allerdings mit einem Erfolg, dass un- 
sere frühern Anschauungen über die geologische Be- 
deutung des Meeresbodens und seine Bewohnbarkeit 
nahezu ganz umgestossen wurden. Nach der mächtigen 
Anregung, welche Maury für die Erforschung der 
physikalischen Beschaffenheit des Meeres gegeben, sind 
wir jetzt.dabei, die unterseeischen Temperaturen und 
Strömungen, Beschaffenheit des Meeresbodens, Vor- 
kommen und Lebensbedingungen der Tiefseeorganismen 
festzustellen. Wir fangen also eben an, das Material 
für eine künftige Geographie der Meeresorganismen zu 
sammeln. Von Landthieren sind gewisse Gruppen, 
deren Verbreitung an sich bestimmt werden kann, für 
unsere allgemeinen Zwecke unbrauchbar. So die 
Schmetterlinge. Eine leichte Beute der Luftströmungen 
spotten sie der geologischen Barrieren, vor allen jener 
wichtigen Scheidewand, welche seit den tertiären Zei- 
ten zwischen Australien und Indien aufgerichtet oder 
vielmehr in den Meeresgrund eingesehnitten ist. ”t 
Aehnlich verhalten sich die Fledermäuse, auch die 
Wander-, Raub- und Wasservögel, während die an- 
dern Ordnungen dieser Klasse, wie Wallace zeigt, 
in den heissen Erdstrichen sehr zuverlässige und sta- 
bile Bewohner ihrer oft begrenzten und zur Auswan- 
derung scheinbar einladenden Bezirke sind. So bleiben 
ausser ihnen fast nur die Säugethiere übrig, auf deren 
Herkunft mit dem Vergleich ihrer gegenwärtigen Can- 
tonirung — ein Ausdruck, den wir Rütimeyer ent- 
lehnen — mit den Lagerstätten ihrer einstigen Ver- 
wandten mit Sicherheit geschlossen werden darf, woneben 
sich zugleich allgemeine Gesichtspunkte für die Ur- 
sachen der heutigen geographischen Vertheilung der 
Organismen ergeben. | 


ie Verbreitungsbezirke der Säuger. >11 
- ‘Beschränkt man sich also in der vorbereitenden Fest- 
‚stellung des Thatsächlichen auf die Säugethiere, mit 
‚Ausschluss der Wale und Fledermäuse, so ergibt sich 
schon bei oberflächlicher Musterung nicht nur für 
die einzelnen Arten, sondern meist auch für die Fa- 
milien, dass jede derselben einen gewissen Bezirk der 
grössten Dichtigkeit des Vorkommens, ein Verbreitungs- 
centrum hat, und dass von da aus Ausstrahlungen 
‚je nach der Bequemlichkeit und Eignung des Terrains 
stattgefunden haben. Löwe und Tiger, Elefanten und 
Kamele sind über bestimmtes Areal verbreitet; die 
"Affen der Neuen Welt ünterscheiden sich nicht blos 
geographisch, sondern durch Familienkennzeichen von 
den altweltlichen. Die Beutelthiere sind zum grössten 
Theil auf Australien concentrirt, die Faulthiere und 
Gürtelthiere auf Südamerika. Und diese‘ leicht zu ver- 
mehrenden Beispiele weisen darauf hin, wie die Indi- 
viduen weit zerstreuter Arten und die Arten selbst 
aus einzelnen Punkten der Erdoberfläche hervorgequollen 
und über das jetzt eingenommene Verbreitungsgebiet 
ausgeströmt sind. Wenn nun aber zu dieser Beobach- 
tung die andere hinzukommt, dass auch in vergangenen 
Erdperioden dieselben Gruppen dieselben Verbreitungs- 
mittelpunkte hatten, wie denn z. B. Brasilien nicht 
blos jetzt die Faul- und Gürtelthiere beherbergt, son- 
dern einst von zahlreichern, zum Theil kolossalen Ar- 
ten dieser Familien bevölkert war, und Australien die 
zahlreichsten und ansehnlichsten fossilen Reste von 
Beutelthieren geliefert hat, so wird uns die Wahr- 
nehmung dieser dauernden Localisirung sehr bedeu- 
tungsvoll, und wir erklären die „Wiederholung‘‘ dieser _ 
Formen-aus der Abstammung. 

Gelingt es nun, die auf den ersten Anblick äusserst 
zahlreichen Verbreitungscentren in nähere Verbindung 
zu bringen, der Zahl nach möglichst zu reduciren, da 
ja nach unserer Theorie die Säuger nur einen Aus- 
gangspunkt gehabt haben, gelingt es, hiermit auch 
die geologische Aufeinanderfolge der untersuchten 
14* 


Kl Ze et pa Z Ede I 2 SE SA EEE 
ne ee ae SAN Ser RE 


212 Die Bevölkerung der Inseln | 


Organismen in Einklang zu bringen, also mit andern 


Worten die horizontale Verbreitung mit der verticalen 
oder historischen Folge, so tritt die Thiergeographie 


der Lösung ihrer Aufgabe nahe. Daher liegt in _Wal- 


lace’s und Rütimeyer’s Arbeiten ein höchst wichtiger 
Fortschritt, indem von jenem der detaillirte Nachweis 


gegeben wurde, dass die Fauna der complicirten und 3 


ausgedehnten australsch Audiekhien Inselwelt durchaus 


unselbständig sei und nur aus Ablegern der Fest- 


länder bestehe, und von diesem in grossartigem 


Ueberblick über die gesammte Erdoberfläche die Ver- 


breitungseentren auf das einfachste bisjetzt mögliche 
Mass zurückgeführt wurden. 


Von hohem Interesse ist natürlich zunächst die Ver- 


gleichung der Inselfaunen mit den Festlandsfaunen. 
Denn sollte sich herausstellen, dass sämmtliche Inseln 
in ihrer Thierwelt blosse Anhängsel der Festländer, so 
würde das Problem schon ausserordentlich vereinfacht 
sein. Folgen wir Peschl’s lichtvoller Auseinandersetzung 


über den Ursprung der Inseln’?, so handelt es sich 
zuerst um die Bruchstücke von Festlanden. Eine grosse 
Anzahl von Inseln geben sich ohne weiteres als Bruch- 
stücke noch bestehender Continente zu erkennen, so 
Britannien und die grossen asiatischen Inseln. Dagegen 


ist Madagascar mit den Seychellen nicht, wie man ver- 
muthen sollte, ein Glied von Afrika, sondern der 
Ueberrest eines ehemaligen, in Flora und Fauna sehr 
eigenartigen Festlandes. Die übrigen Inseln rühren 
entweder von unterseeischen Vulkanen her oder von 


Korallen, und im letztern Falle geschieht der Aufbau 


von untersinkendem Lande aus. Es folet nun von 
selbst, dass auf den vulkanischen und den Korallen- 


eilanden nur solche Thiere angetroffen werden, welche 
sie schwimmend oder fliegend erreichten. Die An- 
wesenheit von Säugern setzt daher Menschenhand oder 


> 


er, 


ausserordentliche Zufälle voraus. Alle solche Inseln 


werden, je älter, desto reicher an Organismen sein. 


Umgekehrt werden die von Festländern losgelösten 


Der Malaiische Archipel. 913 


_ Inseln im allgemeinen um so reicher sein, je jünger 
sie sind, wofür Britannien Zeugniss ablegt. Je mehr 
ihre Fauna abweicht, eine desto längere Zeit muss seit 
ihrer Ablösung verflossen sein. So z. B. lässt sich 
das Verhältniss von Tasmanien und Australien auf- 
fassen; und wenn Neuseeland überhaupt je mit dem 
alten australischen Continent zusammengehangen, so 
ist die Losreissung in einer so frühen Zeit erfolgt, 
dass auf die heutige Physiognomie der neuseeländischen 
Thierwelt daraus gar kein Licht geworfen wird und 
umgekehrt. 

Ein Muster thiergeographischer Untersuchung hat 
Wallace in der Beschreibung seiner Reisen im Ma- 
laiischen Archipel gegeben. Schon vor Jahren hatte 
G. Windsor darauf hingewiesen, dass die grossen In- 
seln Sumatra, Borneo, Java durch ein seichteres Meer 
mit dem asiatischen Continent in Verbindung gebracht 
sind, während ein ähnlich seichtes Meer Neuguinea 
und einige benachbarte Inseln an Australien weisen, 
mit welchem sie durch die Beutelthiere charakterisirt 
werden. Wallace hat diese Scheide näher bestimmt 
in einer Linie, welche eine tiefere Einsenkung des 
Meeresbodens bezeichnet. 'Sie zieht sich unterhalb der 
Philippinen hin, geht, Celebes südlich lassend, durch 
die Strasse von Macassar und trennt die beiden klei- 
nen Eilande Bali und Lombok. Wir folgen nun Wal- 
lace’s Schilderung (a. a. O., S. 10 fg.) mit verschie- 
denen Auslassungen. 

„Man gibt jetzt allgemein zu, dass die gegenwärtige 
Vertheilung der lebenden Wesen über die Erdober- 
fläche hauptsächlich das Resultat der jüngsten Reihe 
von Veränderungen ist, welche dieselbe erlitten hat. 
Die Geologie lehrt uns, dass die Oberfläche des Lan- 
des und die Vertheilung von Land und Wasser immer 
einer leichten Veränderung unterliegt, und dass auch 
die Lebensformen im Verlaufe der Perioden, von denen 
wir Zeugnisse besitzen, an dieser allmählichen Um- 
änderung theilnehmen. Was den Malaiischen Archipel 


RE N ee EN TE EN A er 


214 2 Die Thierwelt des 


anbetrifft, so finden wir, dass die weite Seestrecke, 


welche Java, Sumatra und Borneo voneinander und von 


Malakka und Sıam trennt, so seicht ist, dass überall 


auf ihr Schiffe ankern können, indem die Tiefe selten 


über 40 Faden beträgt; und wenn wir bis zur 


Linie von 100 Faden vorgehen, so können wir die 


- 


u 


_ 


Philippinen und Bali östlich von Java mit einschliessen. 
Wenn daher diese Inseln voneinander und vom Fest- 
lande durch das Sinken dazwischenliegender Land- 
strecken getrennt worden sind, so dürfen wir schliessen, 

dass die Trennung eine verhältnissmässig junge ist, da 


die Tiefe, bis zu welcher das Land gesunken, so 


gering. — Wenn wir nun die Zoologie dieser Länder : 
betrachten, so finden wir eine Bestätigung dessen, was 


wir suchen, nämlich einen sehr überzeugenden Beweis, 


dass diese grossen Inseln einst dem grossen Continent 


angehört haben müssen und erst in einer sehr jungen 


geologischen Epoche von ihm getrennt sein können. 
Der Elefant und Tapır von Sumatra und Borneo, das 
Nashorn von Sumatra und die ähnliche javanische Art, 
das wilde Rind von Borneo und die javanische Form, 
die man so lange für eigenthümlich hielt, von allen 


weiss man jetzt, dass sie da oder dort auf dem Fest- 


lande von Südasien vorkommen. Es ist unmöglich, 


dass einst diese grossen Thiere die Meerengen über- 
schritten, welche jetzt diese Länder trennen, und ihre 
Anwesenheit beweist klar, dass, als die Arten ent- 
standen, eine Landverbindung existirt haben muss. 
Eine beträchtliche Anzahl der kleinern Säuger sind 
allen Inseln und dem Festlande gemeinsam; aber die 


grossen physikalischen Veränderungen, die vor sich 


gegangen sein müssen seit der Ablösung und dem 


Untersinken so grosser Strecken, haben den Untergang 


einiger auf verschiedenen Inseln herbeigeführt, und in 
einigen Fällen scheint Zeit genug zu Artumwandlungen 
gewesen zu sein. Vögel und Insekten bestätigen diese 
Ansicht; denn jede Familie und fast jede Gattung 
dieser Gruppen, welche man auf einigen Inseln findet, 


malaiischen Archipels. 215 


gehören auch dem asiatischen Festlande an, und in 
- einer grössern Anzahl von Fällen sind die Arten völlig 
‚gleich. Die Vögel bieten uns eins der besten Mittel 
_ dar zur Bestimmung des Gesetzes der Vertheilung; 
denn obwol es auf den ersten Blick scheinen könnte, 
dass die Wassergrenzen, welche die Landvierfüsser ab- 
trennen, von den Vögeln leicht überschritten werden 
könnten, ist es in Wirklichkeit doch nicht so. Nehmen 
wir nämlich die Wasservögel als ausgezeichnete Wan- 
derer aus, so findet es sich, dass die andern, und be- 
sonders die Sperlingsvögel oder die wahren Hocker, 
welche die grosse Mehrzahl bilden, im allgemeinen 
_ durch Meerengen und Meeresarme ebenso streng ab- 
gegrenzt werden als die Vierfüsser. Beispielsweise ist 
es eine merkwürdige Thatsache, dass Java zahlreiche 
Vögel besitzt, welche nicht nach Sumatra hinüber- 
- gehen, obschon diese Inseln nur durch eine 15 eng- 
lische Meilen breite Strasse getrennt sind und Inseln 
in der Mitte liegen. In der That besitzt Java mehr 
eigenthümliche Vögel und Insekten als Sumatra und 
Borneo, ein Zeichen, dass es am frühesten vom Fest- 
lande abgetrennt wurde. Es folgt dann, was die 
Eigenthümlichkeit der Organismen angeht, Borneo, 
während Sumatra in allen Thierformen fast so voll- 
kommen mit der Halbinsel Malakka übereinstimmt, 
dass wir mit Sicherheit schliessen können, es sei die 
zuletzt losgelöste Insel. 

„Die Philippinen stimmen in vieler Hinsicht mit 
Asien und seinen Inseln überein, bieten aber einige 
Abweichungen, welche anzuzeigen scheinen, dass sie 
in einer frühern Periode abgetrennt wurden und seit- 
dem einer Reihe von Umwälzungen in ihren physika- 
lischen Verhältnissen unterworfen waren. 

„Wenden wir uns nun zum übrigen Theil des 
Archipels, so finden wir, das alle Inseln östlich von 
Celebes und Lombok zumeist eine ebenso auffallende 
Aehnlichkeit mit Australien und Neuguinea zeigen, als 
die westlichen zu Asien. Es ist bekannt, dass die 


a Be N vi TE ET a Ta BE a 0 a DE At de RE ee LE 1 FE 
x > k .' as _ 3 ö - Er "% Rn 


216 Die Thierwelt des 


Naturerzeugnisse Australiens von denen Asiens mehr 
abweichen, als die der vier ältern Erdtheile vonein- ' 
ander. Wirklich steht Australien für sich. Es hat 
keine Affen, Katzen, Wölfe, Bären oder Hyänen; keine 
Hirsche oder Antilopen, Schaf oder Rind; weder Ele- 
fant noch Pferd, Eichhörnchen oder Kaninchen: kurz 
nichts von jenen Familientypen der Vierfüsser, die 
man in jedem andern Theile der Erde findet. Statt 
dieser besitzt es nur Beutler, Kängurus und Opossums 
und das Schnabelthier. Auch seine Vogelwelt ist fast 
ganz eigenthümlich. Es besitzt weder Spechte noch 
Fasane, Familien, die überall sonst vorkommen. Statt 
derselben hat es die erdhügelbauenden Fusshühner, die 
Honigsauger, Kakadus und pinselzungigen Lories, die 
sonst nirgends leben. Alle diese auffallenden Eigen- 
thümlichkeiten finden sich auch auf den Inseln, welche 
die südmalaiische Abtheilung des Archipels bilden. 
„Der grosse Gegensatz zwischen den zwei Abthei- 
lungen des Archipels tritt nirgends so plötzlich in die 
Augen, als wenn man von der Insel Balı nach Lombok 
übersetzt, wo die beiden Regionen sich am engsten 
berühren. In Balı haben wir Bartvögel, Frucht- 
drosseln und Spechte; in Lombok sieht man diese nicht 
mehr, aber eine Menge von Kakadus, Honigsaugern und 
Fusshühnern, die ihrerseits wieder in Balı und allen 
westlichern Inseln unbekannt sind. Die Meerenge ist 
hier 15 englische Meilen breit, sodass man in zwei 
Stunden von einem dieser beiden grossen Distriete 
zum andern gelangen kann, die hinsichtlich ihrer Thier- 
bevölkerung so tief voneinander abweichen, als Europa 
von Amerika.* Reisen wir von Java oder Borneo 
nach Celebes oder den Molukken, so ist der Unter- 
schied noch auffallender. Dort sind die Waldungen 
reich an Affen, Katzen, Hirschen, Zibethkatzen und 
Öttern, und man begegnet zahlreichen Formen von 


* Das ist zu unbestimmt gesagt. Es würde annähernd 
treffen, wenn es hiesse: als Europa von Südamerika. (0.S.), 


Malaiischen Archipels. _ &T7 


Eichhörnehen. Hier — keines dieser Thiere; aber der 
Kuskus mit dem Greifschwanz ist fast das einzige 
Landsäugethier, ausgenommen die wilden Schweine, 
die auf allen diesen Inseln vorkommen und — wahrschein- 
lich in neuerer Zeit eingeführte — Hirsche auf Celebes 
und den Molukken. Die auf den westlichen Inseln 
zahlreich vorkommenden Vögel sind Spechte, Bartvögel, 
Fruchtdrosseln und Laubdrosseln; man findet sie täg- 
lich und sie geben dem Lande die eigenthümliche 
ornithologische Physiognomie. Sie sind auf den öst- 
lichen Inseln ganz unbekannt, wo Honigsauger und 
kleine Lories die gemeinsten Vögel sind, sodass der 
Naturforscher sich wie in einer neuen Welt fühlt und 
schwer sich vorzustellen vermag, dass er in wenigen 
Tagen, ohne das Land aus Sicht zu verlieren, aus 
einer Region in die andere übergegangen ist. 

„Unzweifelhaft müssen wir aus diesen Thatsachen 
den Schluss ziehen, dass die östlich von Java und 
Borneo gelegenen Inseln im wesentlichen einen Theil 
eines frühern australischen oder pacifischen Continentes 
bilden, obschon einige von ihnen vielleicht nie mit 
ihm im wirklichen Zusammenhange gestanden. Dieser 
Continent muss schon zertrümmert worden sein, nicht 
nur ehe die westlichen Inseln sich von Asien trennten, 
sondern wahrscheinlich schon bevor die Südostspitze 
von Asien aus dem Ocean aufgetaucht war. Denn 
man weiss, dass ein grosser Theil von Borneo und 
Java einer ganz jungen geologischen Formation an- 
gehört, während diese grosse Verschiedenheit der Ar- 
ten, in vielen Fällen auch der Gattungen, von den 
Erzeugnissen der östlichen malaiischen Inseln und Au- 
straliens, sowie die grosse Tiefe der See, welche sie 
jetzt trennt, auf eine verhältnissmässig lange Periode 
der Isolirung schliessen lässt. 

„Bezüglich des Verhältnisses der Inseln unterein- 
ander ist es interessant zu bemerken, wie ein seichtes 
Meer immer auf eine neuere Landverbindung deutet. 
Die Aru-Inseln, Mysol und Waigiu, sowie auch Jobie 


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218 Inselfaunen unselbständig. 


stimmen mit Neuguinea in ihren Säugethier- und Vögel- 
arten überein, und wir finden, dass sie alle mit Neu- 
guinea durch ein seichtes Meer verbunden sind. - In der 
That bezeichnet die Hundert-Faden-Linie von Neuguinea 
genau die Verbreitung der wahren Paradiesvögel. 

„Man muss ferner bemerken — und das ist ein sehr 
interessanter Punkt in Verbindung mit der Theorie 
über die Abhängigkeit der specifischen Lebensformen 
von den äussern Bedingungen — dass diese Einthei- 
lung des Archipels in zwei durch eine auffallende Ver- 
schiedenheit ihrer Naturproducte charakterisirte Re- 
gionen durchaus nicht in Uebereinstimmung steht mit 
den wesentlichen physikalischen oder klimatischen Ab- 
theilungen der Oberfläche.“ Wir führen nur Folgendes 
an: DBorneo und Neuguinea, welche in ihrer physika- 
lischen Beschaffenheit einander so ähnlich sind, als 
zwei bestimmte Länder nur sein können, sind in zoo- 
logischer Beziehung polar entgegengesetzt; während 
Australien mit seinen trockenen Winden, seinen offenen 
Ebenen, seinen steinigen Wüsten und seinem gemässigten 
Klima dennoch Vögel und Vierfüsser besitzt, die den- 
jenigen eng verwandt sind, welche die heissfeuchten, 
überall die Ebenen und Gebirge Neuguineas bedecken- 
den Waldungen bewohnen. 

Wallace gibt die speciellsten Nachweise, dass, wie 
die Theile dieser Inselwelt als die losgelösten End- 
glieder zweier Continente sich einander nähern, so auch 
mit ihnen zwei völlig verschiedene Faunen. Ebenso 
sind der Mittelländische und der Westindische Archipel 
ohne eigenthümlichen Charakter, sondern in Thier- 
und Pflanzenwelt lediglich von den benachbarten Fest- 
ländern abhängig. Von Madeira und seinen Land- 
schnecken war oben die Rede. Die Inselfaunen er- 
fordern also nicht die Annahme von mehr 
Schöpfungsmittelpunkten als die Continente 
darbieten, und Rütimeyer hat den Versuch gemacht, 
das Herkommen der Vögel und Säugethiere auf zwei 
Ausgangscentren zurückzuführen. Eine grosse Reihe 


Hypothetischer Südcontinent. 219 


 thiergeographischer Thatsachen kann nur durch die 
Annahme des einstigen Bestehens eines südlichen Con- 
tinents erklärt werden, von welchem das australische 
Festland ein Ueberbleibsel ist. In Australien concen- 
triren sich die heutigen Beutelthiere. Ihr Vorkommen 
auf dem südwestlichen Theile des Malaiischen Archi- 
pels, Neuguinea eingerechnet, erscheint als eine Aus- 
'strahlung von dort. Kein einziges Zeichen spricht 
dafür, dass Nachkommen der in frühern Perioden vom 
Jura an auf der nördlichen Halbkugel existirenden 
Beutler den vom Südcontinente aus gegen den Aequa- 
tor vordringenden entgegengewandert wären. Nur über 
_ die in Südamerika so verbreitete Beutelratte könnte 
man in Zweifel sein, der gehoben wird durch Betrach- 
tung einer Anzahl von Genossen, welche sämmtlich 
der vorherrschenden amerikanischen Bevölkerung fremd 
sind und auf Import, wahrscheinlich in tertiärer Zeit, 
deuten, wenn man nicht mit Rütimeyer meint, dass 
ihr Vorkommen vielmehr darauf hinweise, „dass pla- 
centalose Säugethiere auch ausserhalb Australien ge- 
schaffen wurden“. Da sind vor allen zu nennen die 
" Hügellosen Vögel, diejenigen nämlich, welche anato- 
misch und systematisch zusammengehören und welche 
wir heute über die Continente und einige grosse In- 
seln zerstreut finden. Der neuholländische und der 
amerikanische Casuar, die ausgestorbenen Riesenvögel 
von Madagascar und Neuseeland, der vom Süden nach 
dem Norden vorgedrungene afrikanische Strauss, sie 
können nicht in ihrer heutigen Isolirung entstanden 
sein. Zu gleicher Erwägung drängen die von Linne 
Bruta, von den Neuern wegen ihres unvollständigen 
'Gebisses Zahnlose genannten Säugethiere, wozu, wenn 
man die letztere Bezeichnung annimmt, die tasmani- 
schen Schnabelthiere einzubeziehen sind. Diese Schna- 
belthiere nehmen unter den jetzt lebenden Säugern 
unstreitig die niedrigste Stufe ein; nicht minder fremd- 
artig aber verhalten sich die andern eigentlichen Zahn- 
armen zu den höhern Ordnungen, und ihr Vorkommen 


220 Herkunft der Süsswasser- und 


einerseits in Südamerika, andererseits in Südafrika 
und Südasien, sowie die Unmöglichkeit, sie aus einem 
einstigen gemeinsamen Centrum aus der nördlichen 
Halbkugel herzuleiten, weisen auf das verschwundene 
Südland, wo auch die Heimat der Vorfahren der Makis 
von Madagascar zu suchen sein mag. „Oder sollte‘, 
sagt Rütimeyer, „die Annahme eines theilweise vom 
Ocean, theilweise von einer Eisdecke verhüllten Polar- 
landes mit einst reichlicher Thierwelt als eine boden- 
lose Hpothese erscheinen für uns, die wir gewisser- 
massen uns soeben des Auftauchens aus einer ähn- 
lichen Eisdecke der nördlichen Hemisphäre erfreuen 
und in unsern Alpen von noch fortbestehenden, in un- 
serer Gletscherdrift von kaum entschwundenen Scenen 
arktischen Lebens umgeben sind!? Oder sollte die 
Vermuthung, dass die fast ausschliesslich vegetivoren 
und insectivoren Beutelthiere, Faulthiere, Gürtel- und 
Schuppenthiere, Ameisenfresser, Strausse einst in der 
südlichen Hemisphäre einen wirklichen Sammelpunkt 
fanden, von welchem die heutige Flora von Feuerland, 
des Caplandes und Australiens die Ueberreste sein 
müssten, auf Schwierigkeiten stossen in einem Moment, : 
wo Heer die frühern Wälder von Smithsund und Spitz- 
bergen aus ihren fossilen Ueberresten uns wieder vor 
Augen führt?“ | 

Nachdem Rütimeyer den südlichen Continent mit 
einem Theile seiner fremdartigen, in seinen Ueber- 
resten versprengten Thierwelt zu reconstruiren sich. 
getraut hat, sieht er sich nach speciellern Belegen 
für die aus dem Gange der Erdbildung allgemein sich 
ergebende Annahme um, dass die Thiere dessüssen 
Wassers und mit ihnen die Landthiere dem 
Meere entstiegen seien. Da kann man denn nicht 
daran denken, die merkwürdige kleine Abtheilung der 
sirenoiden Fische (Lepidosiren, Protopterus), welche 
in der trockenen Jahreszeit Luft athmen, für Repti- 
lien zu halten, die sich dem Wasserleben anpassen, 
sondern umgekehrt. Das Organ, was bei den Fischen, 


Landthiere aus dem Meere. 91 


_ als hydrostatischer Apparat diente, die Schwimmblase, 
wird bei ihnen zur Lunge. Da muss man von den 
Landschildkröten zurück auf die Wasserschildkröten, 
und von diesen zurück zu solchen Meerbewohnern, die 
den im Jura so verbreiteten Enaliosauriern sich an- 
geschlossen haben. Da zeigt uns die Entwickelungs- 
und Lebensgeschichte der Landkrabben auf das deut- 
lichste, wie der Meerbewohner zum Landthier wird, 
eine specielle Aufgabe, welche, wie schon erwähnt, 
Fritz Müller vollständig gelöst und ‚für Darwin“ ver- 
werthet hat. Von den gewöhnlich, ‘aber fälschlich 
den Walen zugerechneten Sirenen, von denen die Mehr- 
zahl sich am liebsten vor den grossen Flussmündungen 
aufhalten, ist die eine Art gänzlich in die afrikani- 
schen Binnengewässer gedrungen, und gewisse Lachs- 
arten, sowie die Störe, welche periodisch zwischen 
Meer und Süsswasser wechseln, sind in dem Stadium, 
sich das Meerleben abzugewöhnen. Ich füge aus mei- 
_ nen speciellen Erfahrungen hinzu, dass die Brak- 
wasserspongien eine sichere Dependenz mariner Fami- 
lien sind und dass die Süsswasserschwämme unver- 
kennbar auf jene brakischen Formen hinweisen. 

Hat man es in allen diesen Fällen mit allmählicher 
Umgestaltung und mehr oder minder freiwilliger An- 
passung zu thun, so fehlt es nicht an ausgezeichneten 
Beispielen gewaltsamer und fast plötzlicher Absperrung, 
d.h. von Landhebungen, wodurch einstige Abschnitte 
des Meeres zu Binnenseen wurden. Welche Verände- 
rungen die mitabgesperrten Fische und Krebse er- 
litten, zeigen die schönen Beobachtungen von Loven 
- über die Thiere des Wenern und Wettern, und von 
Malmgren über die des Ladoga. Letzterer Forscher 
liefert den Beweis, dass der Alpen-Sälbling (Salmo 
salvelinus) dem Polarmeere entsprungen ist und seinen 
leiblichen Bruder in dem skandinavischen Salmo alpi- 
nus besitzt. 

Rütimeyer spricht die Ansicht aus, dass aus der 

speciellern Verfolgung der Verhältnisse der Thierwelt 


BRETT 


NE EEE SED ARE 
222 Die arktische hirw. 000° 0... 


des süssen Wassers zu denen der Bevölkerung des 
Meeres die Thatsache des Kosmopolitismus der Süss- 
wassergeschöpfe ihre Erklärung finden werde, sowie 
auch das Verhältniss der antarktischen zur arkti- 
schen Thierwelt. Einstweilen jedoch stehen diese 
beiden grössten Thierprovinzen, in Beschränkung auf 
die höhern warmblütigen Klassen, in ziemlich scharfem 
Gegensatze sich gegenüber. Wir wissen nur aus spär- 
lichen Ueberresten, dass schon zur Jurazeit die nörd- 
liche Halbkugel mit Beutlern bevölkert war, offenbar 
nicht dicht. Wir müssen annehmen, dass, während 
auf dem Südcontinente die Beutelthiere mit Festhal- 
tung ihres Charakters ihre Anpassungsfähigkeit zu prü- 
fen hatten und sie bewährten, aus ihnen auf der andern 
Seite des Aequators eine Säugethierwelt von ganz 
anderer Physiognomie hervorging. Es ist diejenige, _ 
welche noch heute für die ganze Erdoberfläche vom 
Norden an bis zur Begegnung mit den antarktischen, 
mehr stabil gebliebenen Lebensüberresten charakteri- 
stisch ist. Während wir aber über ihren Ursprung 
nur auf Combination und Schlüsse angewiesen sind, 
liest der historische Zusammenhang der heute die 
Alte Weit und den grössten Theil der Neuen Welt 
bevölkernden Säugethiere mit ihren Vorgängern bis in 
die ältern Tertiärzeiten äusserst klar vor Augen. 

Die Reste der frühesten hier in Betracht kommen- 
den Säugethiere finden sich in den eocänen Ablage- 
rungen der Schweiz und in entsprechenden Schichten 
Frankreichs und Südenglands. Vom Südrande des 
Juraplateau waren weder Alpen noch überhaupt Land 
zu. sehen, und das denselben bespülende Meer hat sich 
bis nach China hin verfolgen lassen. Die bekannt ge- 
wordenen Säuger dieser Periode belaufen sich, nach 
Rütimeyer’s Zusammenstellung im Jahre 1867, auf 
mindestens 70 Arten. Die Mehrzahl sind Hufthiere, 
also Pfanzenfresser, und unter diesen wieder bei wei- 
tem die grosse Hälfte Dickhäuter. Dies Verhältniss 
ist heute, wo kaum die gesammte Erde so viele Dick- 


Pen x x 


Far Vorfahren; | 293 


PR ph a8. 5 DB: we z wu 
TE ER ? . 


_ häuter nährt, völlig verschoben. Nur das Schwein 
repräsentirt auf dem Schauplatze von Europa diese 
Abtheilung, und die Wiederkäuer sind überall vorherr- 
schend. Annähernd kann Afrika in seiner heutigen 
Thierbevölkerung mit dem eocänen Europa verglichen 
werden. Da aber zu jenen Hufthieren noch eine Anzahl 
viverren- und hyänenartigerFleischfresser kommen, und 
es jetzt sowol in Afrika wie in Asien Viverren gibt, 
da ferner die in jener frühesten Fauna vertretenen 
 moschusartigen Wiıederkäuer jetzt ebenfalls asiatisch 
und afrikanisch sind, da endlich die damaligen fran- 
_ zösischen Beutelratten in Central- und Südamerika 
fortleben, „erhalten wır den Eindruck, als ob die 
älteste tertiäre Fauna Europas die Mutterlauge einer 
heutzutage auf dem Tropengürtel beider Welten, allein 
am entschiedensten in dem massiven Afrika vertrete- 
nen, echt continentalen Thiergesellschaft bilde“ (R.). 

Weit mannichfaltiger ist das Bild des höhern Thier- 
lebens der mittlern und neuern tertiären Zeiten, das 
wir uns aus zahlreichen und zum Theil äusserst 
‚reichhaltigen Lagerstätten der Ueberreste reconstruiren. 
_ Innerhalb dieser Perioden engere Grenzen ziehen zu 
wollen, ist ganz unthunlich, von Localıität zu Locali- 
tät, von Schicht zu Schicht findet sich Zusammenhang, 
nirgends tritt eine Art auf, die nicht von einer an- 
dern abgeleitet werden könnte, und unser Gewährs- 
mann sagt, dass Anatomie, Morphologie, Paläontolo- 
gie, geographische Verbreitung ihm keine Lehre mit 
grösserer” Energie und Consequenz vorzuführen schie- 
nen, als die, „dass getrennte Species eines Ge- 
nus, d. h. wirklich ohne allen historischen 
und daher auch einst localen Verband mit 
einem Urstamm, nicht existiren“. Der be- 
rühmteste Fundort der tertiären Säugethiere ist Pi- 
kermi, einige Stunden von Athen, eine Anhäufung von 
ganzen Skeleten und Skelettheilen, welche eine Thier- 
fülle voraussetzt, von welcher uns allenfalls die am 


224 Eocäne und miocäne Säuger. 


dichtesten belebten Gegenden Afrikas nach Living- 
stone’s Schilderungen eine Vorstellung geben können. 
Wiederum treten die reissenden Thiere gegen die 
Pflanzenfresser zurück, doch thun sich schon die katzen- 
artigen Raubthiere hervor, und unter den grossen 
tertiären Raubthieren finden sich Beispiele von ebenso 
grosser Ausbreitung, wie sie jetzt der Tiger hat. Da- 


mals erstreckte sich das Gebiet des Schwertzahness 


(Machairodus) über einen grossen Theil von Amerika 
und Europa. Gleich hier sei erwähnt, dass die hunde- 
artigen Thiere etwas später auftreten, und noch spä- 
tern Ursprungs die Bären sind. Das reichhaltigste 
Material steht auch in dieser Periode wieder für die 
Hufthiere zu Gebote. Noch immer überwiegen die 
Vielhufer. Am constantesten bleiben die Schweine und 
Moschusthiere. Allein zu dem an die alten Formen 
sich anschliessenden Tapir treten Nashorn, die eigent- 
lichen Pferde und die Elefanten. Ist schon das Nas- 
horn ziemlich unvermittelt, so ıst die Herkunft der 
Mastodonten, als der ältern Elefantenform, bisjetzt ganz 
unaufgeklärt.”® Und dennoch, wenn wir uns auch in 
der bekannten eocänen Säugethierfauna vergeblich nach 
ihren nächsten Stammformen umsehen, dennoch sind 
selbst für Europa und Asien eine Reihe Anzeichen 
vorhanden, dass ‚die meisten eocänen Genera als wahre 
Wurzelformen der miocänen zu betrachten“ (R.) sind. 
Dies ergibt sich aus den Funden von Nebrasca in 
Nordamerika, wo wichtige Gattungen, die in der 
Alten Welt mit der eocänen Periode auslebten, wie 
Palaeotherium, sich in die Gesellschaft der neuern 
Gattungen hineinretteten. Wir finden dort auch Mittel- 
formen zwischen Lama und Kamel, wodurch das einst 
bedeutungslose Wort der vicarirenden Gattungen für 
diesen Fall ebenfalls seine reelle Bedeutung erhält. 
Wir finden in Nebrasca ferner die dreihufigen Pferde 
(Anchitherium) und wissen damit den Ursprung der 
einhufigen Pferde in der Alten und in der Neuen 
Welt. 


sch De a ee Su NE . MeE 
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1 ni x | 
Thierverbreitung in Amerika. 995 


Was in der Alten Welt seitdem geschehen, beschränkt 
sich auf das Erlöschen vieler Dickhäuter, eine Ver- 
schiebung der Nashorne, Elefanten, Tapire, Fluss- 
pferde, und auf eine ausserordentlich reiche Entfaltung 
der eigentlichen Wiederkäuer und der aus ihnen zu 
einem Extrem in der Kopfbildung hervorgehenden 
Rinder. Bären und Hunde nehmen das Terrain ein, 
wo einst die Viverren und Hyänen herrschten, aber eg 
„bleibt eine starke Anzahl, unter der kleinen Fauna 
sogar die grosse Mehrzahl miocäner Geschlechter in 
zahlreichen local und historisch begrenzten Species im 
Besitz des alten, wahrscheinlich ohne Unterbrechung 
an Umfang zunehmenden Wohnplatzes“ (R.). „Niemand 


wird in diesem allmählichen Wechsel der Dinge etwas 


anderes erblicken können, als Erscheinungen derselben 
Ordnung, deren Zeugen wir noch sind“ (R.). 

Wie die Verhältnisse in Amerika sich gestaltet 
haben, ist von Rütimeyer meisterhaft in folgenden 
Worten geschildert worden: „Amerika bietet schon 
vornherein in seinem Bau eine von der Alten Welt 
völlig verschiedene Grundlage für Thierverbreitung. 
Hier nur stelienweis durchbrochene Kämme, welche in 
der Richtung von Breitengraden das ganze Festland 
in gebirgige Zonen theilen, welche der Vertheilung 
der Temperatur entsprechen und so in doppelter Weise 
der Ausdehnung der Thiere bestimmte Bahnen von 
Ost nach West vorschreiben, während sie für die mei- 
sten Tniere eine Wanderung von Nord nach Süd 


weniger durch ihre Höhe als dadurch hindern, dass 


an ihnen der Norden fast unmittelbar an den greller 
Süden grenzt. Und hinter dieser Mauer überdies in 
der Ausdehnung vom Kaspischen Meer bis nach China 
eine Steppen- und Wüstenzone, welche die Thiere des 
Waldes noch wirksamer einzäunt als das Gebirge. In 
Amerika können nicht nur Raubthiere, sondern auch 
Pflanzenfresser ohne Hemmniss von den Flechtenzonen 
am Makenzie durch die Tannenwälder des Obersees 
nach den Magnoliengebieten von Mexico fortschreiten; 
SCHNIDT, Descendenzlehre. 15 


TE FLIRTEN 


_ 7 . er > 


2936 Thierverbreitung- Bee 


40—50 Breitengrade trennen die Extreme, welche sich 


am Himalaya berühren, und die grossen Ebenen und 


weiten Flusssysteme scheinen zu Wanderungen fast 


einzuladen. Die Uebereinstimmung des gesammten 


Thierlebens in Mexico und Guyana zeigt überdies, wie 
wenig der Isthmus von Panama ein Ueberschreiten 
nach Südamerika hemmt, wo von neuem ein mächtiges 
Flussgebiet ohne hohe Schranken an das andere stösst; 
‘auch keine vegetationslose Wüste auf der ganzen 
Strecke von den canadischen Seen bis nach Patagonien. 


„Man wird wol nicht irren, wenn man diesem Um- 


stande die auffällige Verbreitung der fossilen und 
heutigen Säugethiere Amerikas zu einem guten Theile 


zuschreibtt. Wie wir sahen, ist schon die miocäne 


Fauna von Nebrasca eine Tochter der eocänen der 
Alten Welt. Die pliocäne Thierwelt von Niobrara, 


welche auf demselben Boden wie Nebrasca, nur in 


jüngern Sandsteinschichten, begraben liegt, belegt dies 


noch in höherm Masse; Elefanten, Tapire und reich- 
liche Arten von Pferden sind kaum von den altwelt- 


lichen verschieden, die Schweine sind, nach ihrem Ge- 


biss zu urtheilen, Abkömmlinge europäisch miocäner 


Palaeochoeriden. Auch die Wiederkäuer sınd in den 
gleichen Genera und theilweise in denselben Species 


vertreten, wie in den gleichartigen Schichten von Eu- 


ropa, als Hirsche, Schafe, Auerochsen; und die fleisch- 
fressende, sowie die ganze kleine Thierwelt macht 
davon keine Ausnahme. Viele Genera von exquisit 
altweltlichem Gepräge sind mit der Zeit selbst weit 
nach Südamerika vorgedrungen und erloschen daselbst 
nur kurz vor der Ankunft, oder vielleicht sogar unter 
Mitwirkung des Menschen, so die zwei Mammutharten 


der Cordilleren und die südamerikanischen Pferde, 


Als 


deren heutige Nachfolger dann auf weit kürzerm Wege 
diesen insularen Continent erreichten. Sogar eine An- 


tilopenart und zwei fernere horntragende Wiederkäuer 
(Leptotherium) fanden ihren Weg bis Brasilien. Heut- 


zutage sind noch zwei Tapirarten, im Gebiss selbst‘ 


12 NZ Be 
Er Fe S 


Bee, SA 2m Amerikar 297 


_ für Cuvier’s Auge kaum von dem indischen unterscheid- 
bar, zwei Arten von Schweinen, welche den Charakter 

ihrer Stammform im Milchgebiss noch erkennbar an 
sich tragen, und eine Anzahl von Hirschen nebst den 
Lamas, einem erst in Amerika geborenen und spätern 
Sprössling der eocänen Anoplotherien,lebende Ueber- 
reste dieser alten und auf so langem Wege 
nicht ohne reichliche Verluste an ihren der- 
maligsen Wohnort gelangten Colonie des 
Ostens. Man darf kaum zweifeln, dass ein guter 
Theil der Raubthiere, welche im Diluvium von Süd- 
amerika noch mehr als gegenwärtig altweltliche Stamm- 
verwandtschaft behalten haben, auf demselben Wege 

hierher gelangten. Erinnern wir uns jetzt, dass selbst 
der eocäne Caenopithecus von Egerkingen schon ver- 
nehmlich nach heutigen amerikanischen Affen hinwies, 
und Didelphen (Beutelratten) in denselben Terrains 
von Europa begraben liegen, so sollte man fast glau- 
ben, dass die auf den Aufenthalt auf Bäumen an- 
gewiesene Abtheilung der Vierhänder sowie der Beutel- 
ratten es vorzüglich waren, welche dann in den 
ungeheuern Waldungen der neuen Heimat sich heimisch 
fanden und mit neuem Aufschwunge eine grosse Menge 
von speciellen Formen zeugten, ohne indess bis heute 
die Höhe der Entwickelung ihrer in der Alten Welt 
zurückgebliebenen Vettern erreicht zu haben. 

„Hier ist es auch am Platze, auf die frühere Be- 
merkung zurückzukommen, dass eine solche Wan- 
‚derung der Thiere den Süden der Neuen Welt nicht 
leer an Säugethieren, sondern vielmehr schon reichlich 
mit den zahnlosen Vertretern einer antarktischen oder 
doch mindestens südweltlichen Thierwelt besetzt fanden. 
Die diluviale Fauna von Südamerika, welche von Lund, 
von Castelnau und Weddell aus den Höhlen von Bra- 
silien und dem Alluvium der Pampas gesammelt wor- 
den ist, enthielt in der That unter den 118 aufgeführten 
Arten, neben den eben erwähnten von wahrscheinlich 
altweltlichem Stammbaum, nicht weniger als 35 Species 

152 


2928 Thierverbreitung in Amerika. | 


von Edentaten, und zwar alles Thiere von bedeutender 
Körpergrösse. Sehen wir von 36 Nagern und Fleder- 
mäusen, überhaupt von der kleinern Fauna ab, so 
bilden sie fast die Hälfte der grössern diluvialen Thiere 


von Südamerika überhaupt. Die vermuthlich früher 


hier ansässig gewordene Gesellsehaft der Zahnlosen 


hielt daher der Invasion aus Norden so ziemlich das 


Gleichgewicht. 


„Es ist begreiflich, dass die gleichen äussern Hülfs- 
mittel, welche den Zug der Kinder der nördlichen 
Hemikphäre stets weiter leiteten, auch die Glieder der 
antarktischen Fauna zur Ausdehnung nach Norden ein- 


laden konnten. Wie wir noch heute die fremdartige 
Form des Faulthiers, des Gürtelthiers und des Ameisen- 
fressers in Guatemala und Mexico mitten in einer 
Thiergesellschaft antreffen, die guten Theils aus noch 
jetzt in Europa vertretenen Geschlechtern besteht, 


\ 


finden wir daher auch schon in der Diluvialzeit riesige 
Faulthiere und Gürtelthiere bis weit hinauf nach Nor- 


den verbreitet. Megalonyx Jeffersoni und Mylodon 


= 


Harlemi, bis nach Kentucky und Missouri vorgescho- 
bene Posten südamerikanischen Ursprungs, sind in dem 
Lande der Bisonten und Hirsche .eine gleich fremd- 


artige Erscheinung, wie die Mastodonten in den Anden 


von Neugranada und Bolivia. Mischung und Durch- 


dringung zweier vollkommen stammverschie- 
dener Säugethiergruppen fast auf der ganzen 
ungeheuern Erstreckung beider Hälften des 
neuen Continents bildet überhaupt den her- 
vorstechendsten Charakterzug seiner Thier- 
welt, und es ist bezeichnend, dass jede Gruppe an 


Reichthum der Vertretung und an Originalität ihrer‘ 
Erscheinung in gleichem Masse zunimmt, als wir uns 


ihrem Ausgangspunkte nähern.“ 


Wir stehen also diesseit und jenseit des Oceans, 


nördlich von jener vielfach gekrümmten Grenze der 
antarktischen oder südlichen Fauna, noch mitten in der 
diluvialen Thierwelt, die von den alten Continenten 


a a Fe ee ae A Fe De ee 37 u N 


Ca Stammbaum der Wirbelthiere. 299 


über eine dem Nordpol sich nähernde Brücke sich nach 
dem amerikanischen Festlande erstreckte und dort in 
den Mastodonten und pferdeartigen Thieren länger ihr 
älteres Aussehen bewahrte. 

- Drüben und hier ist die gegenwärtige Ordnung der 
Dinge, ist die Cantonirung der Thiere vielfach be- 
stimmt und modificirt worden durch mächtige Ver- 
gletscherungen und lange Eiszeiten. Von daher die 
Uebereinstimmung so vieler hochnordischer Pflanzen mit 
Alpenpflanzen, nachdem die europäische Pflanzenwelt 
von Osten her ihren Einzug gehalten. Seit jener Zeit 
die Verschiebung des Renthieres nach unserm Norden, die 

Verdrängung des Moschusochsen und seine Vertilgung 
in der Alten Welt. Die vor dem Eise flüchtenden 
Elefantenarten sind nicht zurückgekehrt, auch das nach 
der Eiszeit mit einem Nashorn aus dem Nordosten 
einwandernde Mammuth hat nebst seinem Gefährten den 
Untergang gefunden. Andere seiner Genossen, wie der 
Urstier, sind kaum vor einigen hundert Jahren als 
wilde Thiere erloschen, andere, der Auerochse, der 

Biber, sind als Bewohner von Europa dem Aussterben 
nahe, und noch andere, Hirsch und Reh, werden mit 
den Wäldern und Jagdvorrechten sterben. Aber fast 
für alle Arten, nach deren näherer Herkunft wir uns 
umschauen, liefert uns die Vorzeit ihre Geschichte und 
erklärt uns die Abstammung, und in der Abstammung 
finden wir mit lichten Zügen die Ursachen des geogra- 
phischen Vorkommens verzeichnet. 


XI. 
Der Stammbaum der Wirbelthiere. 


Das Endergebniss, nach welchem die -Descendenz- 
lehre strebt, ist die Darstellung des Stammbaumes der 
Organismen. Um ihn auszuarbeiten ist die ganze, fast 
unübersehbare Fülle von Thatsachen zusammenzufassen, 


u) 


230 . Berechtigung der 


welche die beschreibende Botanik und Zoologie, ein- 


schliesslich der Anatomie und Entwickelungsgeschichte, 


im Laufe ungefähr eines Jahrhunderts angehäuft haben, 


und ist das Detail an der Hand von Specialhypothesen 
einer Sichtung und erneuten Prüfung zu unterwerfen. 


Wir haben daher für die Abstammungslehre dasselbe 


Recht in Anspruch genommen, auf welches sich der 


Fortschritt der Wissenschaft überhaupt stützt, das 
nämlich, nach bestimmten Gesichtspunkten zu üunter- 


suchen und- das Wahrscheinliche als Wahrheit im Ge- 


wande der wissenschaftlichen Vermuthung oder Hypo- 
these zu anticipiren. Es ist klar, dass, als die De- 


scendenzlehre mit ıhrer durch Darwın versuchten Be- 
gründung ans Licht trat, nur die allgemeinsten Umrisse 


jenes grossen Stammbaumes angedeutet werden konnten, - 


den in seinen Einzelheiten darzulegen eben die Auf- 
gabe der neuen Richtung der Wissenschaft sein sollte. 


Sowie und wo man aber an die Detailforschung ging, 


musste man entweder am Abschluss der Untersuchun- 
gen dem Resultate die Form eines Theiles des grossen 


Stammbaumes geben, oder man hatte von vornherein 
Grund, gewisse Verwandtschaften vorauszusetzen- und 
prüfte diese Vermuthung. Je weiter ein Forscher es 
in der Uebersicht über die Organisationsverhältnisse 
einer grössern Gruppe gebracht hat, desto weniger wird 
er sich der Stammbaumideen bei allem seinen Thun 
und Denken entschlagen können. 

Das alies ist so selbstverständlich, dass, sollte man 
meinen, aus der Handhabung dieser Methode der De- 
scendenzlehre kein Vorwurf gemacht werden könnte. 
Dennoch geschieht es oft, dennoch verargt man es den 


Vertretern der Descendenzlehre, häufig von blosser 


Wahrscheinlichkeit zu sprechen, wobei man vergisst, 
dass selbst in den Fällen, wo das Wahrscheinliche 
schliesslich als unwahr sich herausstellt, die widerlegte 
Hypothese zum Fortschritt geführt hat. Soeben gibt 
uns die Sprachwissenschaft einen Beleg hierfür. Es 
ist bekannt, dass die Sprachvergleichung innerhalb des 


‚Aufstellung der Stammbäume, 231 


_ indo-germanischen Sprachstammes an die Reconstruction 
der allen zu Grunde liegenden Ursprache dachte. 
Johannes Schmidt’? zeigt nun, dass die Grundformen, 
welche erschlossen werden, in sehr verschiedenen Zei- 
ten entstanden sein können, und dass demnach die 
Ursprache, als Ganzes betrachtet, eine wissenschaft- 
liche Fiction sei. Nichtsdestoweniger wurde die For- 
schung durch diese Fiction wesentlich erleichtert, und 
hiermit hing die Aufstellung eines Stammbaumes der 
indo-germanischen Sprachfamilie eng zusammen als eine 
durch viele Anzeichen gestützte Hypothese. Man nahm 
eine Gabelung in eine südeuropäische Sprache, mit 
den Abzweigungen des Griechischen, Italischen und 
 Celtischen, und in die Sprache an, aus deren aber- 
 maliger Zweitheilung die nordeuropäische Grundsprache 
und die arische Grundsprache hervorgingen. Obgleich 
Johannes Schmidt nachgewiesen, dass dieser Stamm- 
baum falsch, da die Beschaffenheit des Slavolettischen 
die vorausgesetzte erste Zweitheilung als unmöglich 
erscheinen lässt, wird der Werth jener Stammbaum- 
hypothese deshalb doch nicht verkleinert. Sie war 
der Weg zur Wahrheit. 

In unserer Wissenschaft hat von dem Rechte, 
hypothetische Stammbäume als Wegweiser für den 
Gang der Forschung zu entwerfen, Haeckel den aus- 
gedehntesten Gebrauch gemacht. Es kommt gar nicht 
darauf an, dass er selbst sich wiederholt hat ver- 
- bessern müssen, oder dass andere ıhn oft verbessert 
haben: der Einfluss dieser Stammbäume auf den Fort- 
schritt der Descendenz-Zoologie ist für den, welcher 
das Feld überblickt, ein ganz offenbarer, abgesehen 
davon, dass eine Reihe von Untersuchungen des letz- 
ten Jahrzehntes ihre Resultate in gute Stammbäume 
endgültig fixirt haben. Da wir blos eine Einführung 
in die Descendenzlehre beabsichtigen, so begnügen 
wir uns damit, darzulegen, wie in ihrer Anwendung 
auf die eine Gruppe der Wirbelthiere sich das System 


932 Verknüpfung der Wirbelthiere 


Säugethiere 
Vögel 
Reptilien 
(Amnioten) 


(?) Enaliosaurier Amphibien 


| 
Fische 
| Amphioxus 


Mantelthiere 


N Tr — 
(Urwirbelthiere) 


Würmer. 


oder der Stammbaum derselben gestaltet. Zu diesem 
Zweck halten wir uns an das vorstehende Schema. 
Wie wir oben gesehen, sind in der Entwickelungs- 
geschichte der Individuen die wichtigsten Fingerzeige 
für den Stammbaum der Arten enthalten. Allein wenn 
auch alle Wirbelthiere hinsichtlich der Anlage des 
Keimes, sowie der fundamental wichtigen Organe, des 
Rückenmarkes und der Wirbelsäule, unter sich eine 
ihren verwandtschaftlichen Zusammenhang erweisende 
Uebereinstimmung zeigten, so schien jedes Kennzeichen 
ihrer Abstammung von niedrigern Thieren, wie die 
Theorie unbedingt fordert, zu fehlen. Es schien, mit 
andern Worten, bei sämmtlichen Wirbelthieren das 
Andenken an ihre erste Abstammung in der abgekürz- 
ten Entwickelung (vgl. S. 195) verwischt worden zu 
sein. So stand es, bis Kowalewsky vor einigen Jahren 
die Entwickelung des niedrigsten bekannten Wirbel- 
thieres, des Lanzettfisches (Amphioxus) studirte und 
nachwies, dass bei diesem Thiere den typischen Er- 


mit den Wirbellosen. 233 


scheinungen der Wirbelthierentwickelung Stadien vor- 
ausgehen, welche die Theorie verlangt hatte. Wir 
haben diese Entwickelungsform schon kennen gelernt 
(S.45 fg.) und heben hier nochmals die tiefe Bedeutung 
derselben hervor. Erst nachdem der Amphioxus die 
Stufe der flimmernden, mit einem Hohlraum versehenen 
Gastrulalarve durchgemacht, flacht sich die künftige 
Rückenseite ab und erheben sich die Wülste, die sich 
bald darauf zum Rückenmarksrohre schliessen, während 
darunter jener wichtige Zellenstrang entsteht, die 
Chorda dorsalis oder Rückensaite. Erst hiermit wird 
der Lanzettfisch zum Wirbelthier, und die vorausgehen- 


7 
N) 


Fig. 22. Lanzettfischlarve (nach Kowalewsky). 


den Stufen erinnern nicht, wie C. E. v. Bär einst 
solche Erscheinungen aufgefasst wissen wollte, durch 
Indifferenz ganz allgemein an das Niedrige und Un- 
entwickelte, sondern stimmen ın Werden und Anlage, 
in der Sonderung der Zellenlagen und in ihrer Tota- 
lität mit den Gastrulastadien wirbelloser Thiere überein. 

Wir dürfen daher mit vollem Rechte diese frühesten 
Entwickelungsvorgänge am Amphioxus als eine Er- 
innerung an die Wurzeln des Wirbelthierstammes an- 
sehen, und dieser directe Hinweis auf die Abstammung 
der Wirbelthiere von Wirbellosen wird durch eine 


| | ee > N ae ee a a ce 
‚234 Verknüpfung der. Wirbelthiere 


zweite, nicht minder wichtige Entdeckung des russi- 
schen Naturforschers unterstützt. Es ist die, dass eine 


Di; 


"EG 


-(asjAnyy yaru) HArB[uaTpIosY 


Anzahl von Mantelthieren aus der Abtheilung der 
Ascidien während ihrer Entwickelung vorübergehend 


- 


mit den Wirbellosen. 235 


ein Rückenmark und die Anlage der Wirbelsäule besitzen. 
Kowalewsky’s Untersuchungen sind in allen wesentlichen 
Stücken von Kupfer bestätigt und vielfach erweitert 
worden, und das Thatsächliche, was uns interessirt, 
lässt sich an der Abbildung 23, den Vordertheil einer 
ziemlich vorgeschrittenen Ascidienlarve darstellend, er- 
läutern. Der Körper der Ascidienlarven besteht aus 
einem Rumpftheil, den unsere Figur ganz zeigt, und 
' einem Ruderschwanze. Die vom Rumpfe nach rechts 
vorstehenden Anhänge sind Haftorgane, mit denen die 
Larve sich behufs ihrer definitiven Umgestaltung festsetzt; 
. bei o entsteht die Mundöffnung, aus d entwickelt sich 


 Kiemenhöhle und Darmkanal, wobei wir beiläufig her- 


vorheben, dass auch beim Lanzettfisch der Vordertheil 
des primitiven Darmes zur Kiemenhöhle wird. Die 
für die Beziehung zu den Wirbelthieren wichtigsten 
Theile der Ascidienlarven sind aber folgende. Sie be- 
sitzt ein wirkliches Rückenmark mit einem blasig auf- 
getriebenen Gehirn (r a). Anlage und Lage dieses 
Organs stimmt genau mit den entsprechenden Theilen 
des Wirbelthieres überein, und Kupfer hat sogar den 
Ursprung von Nerven entdeckt (s s s), welche die 
Gleichheit des fraglichen Organs mit dem Rückenmark 
und den paarigen daraus entspringenden Nerven der 
Wirbelthiere noch unwiderleglicher machen würden, 
wenn die Beobachtung sich bestätigte. Wir wissen 
aber, dass nicht das Rückenmark für sich, sondern 
seine Verbindung mit der Wirbelsäule den Charakter 
des Wirbelthieres ausmacht. Auch diese Wirbelsäule 
als Rückensaite besitzt die Ascidienlarve (c), und wie 
beim Wirbelthiere schiebt sich diese embryonale Wir- 
belsäule zwischen Darm und Rückenmark ein. Bis 
hierher geht die Uebereinstimmung, dann aber wird 
die Entwickelung dieser für das Wirbelthier wichtig- 
sten Theile bei der Ascidie eine rückgängige. Der 
Ruderschwanz mit dem in ihm enthaltenen Rücken- 
marke und der Saite wird, indem das Thier sich fest- 


Be 2 u iR ug 


- 


ze „. . om 


236 Das niedrigste Wirbelthier. 


setzt, abgeworfen, das vielversprechende Larvengehirn 
schrumpft zu einem unansehnlichen Nervenknoten zu- 


sammen, und das fertige Thier lässt keine Ahnung 


von einem Anschluss an die Wirbelthiere aufkommen. 


Bewiesen ist durch diese mühevollen Beobachtungen,, 


dass die Wirbelthiere nicht das unbedingte Eigen- 
thumsrecht auf Rückenmark und Wirbelsäule besitzen, 
sondern diese Organe als Erbtheil von niedrigern Or- 


ganisationsstufen als ihren Vorfahren empfingen. So- 
wenig es aber den Darwinisten einfällt, im Menschen 


einen directen Abkömmling der heu- 
tigen Affen zu erblicken, ebenso 
wenig ziehen sie aus den mitgetheil- 
ten Beobachtungen über die Asci- 
dienlarven den Schluss, dass die 


stammten. Die Uebereinstimmung 
nöthigt vielmehr zu der Voraussetzung. 
eines unbekannten Urwirbelthier- 
stammes, der aus irgendeinem Aste: 
der vielgestaltigen Abtheilung der 
Würmer entsprang. Von ihm grenz- 
ten sich nach der einen Seite die 
Mantelthiere ab, die man allenfalls. 
verunglückte Wirbelthiere nennen 
Fig 2 Kassewach- Könnte, nach der andern die eigent- 
lichen Wirbelthiere. ”° - 
Der Amphioxus, welcher an verschiedenen Küsten 
an seichten Stellen im Sande lebt, und z. B. bei Mes- 
sina täglich zu Tausenden gefangen werden kann, wird 


Wirbelthiere von den Ascidien ab- 


fünf bis sechs Centimeter lang, ist fischartig zusammen- 


gedrückt, an beiden Enden zugespitzt und im leben- 
den Zustande fast durchscheinend. Er besitzt keine 
Spur von Extremitäten, am Schwanzende nur ein paar 
feine Hautsäume, die Andeutung von Rücken- und 
Afterflosse, und ist in seinem innern Bau so einfach, 
dass er mit Unrecht gewöhnlich als Fisch bezeichnet 


Stammbaum der Fische. 237 


wird. Sein Skelet beschränkt sich auf die Chorda 
und feine Knorpelstäbchen an Mund und Kiemen. Er 
hat kein Gehirn, Ausser einer vielleicht als Geruchs- 
organ zu deutenden wimpernden Grube kein Sinnes- 
werkzeug, sein Herz ist schlauchförmig. Und so be- 
steht zwischen ihm und den übrigen eigentlichen 
Fischen ein so weiter Abstand, dass die Möglichkeit 
offen bleibt, dass die Fische einen andern Entwicke- 
lungsgang als durch amphioxusartige Stadien zurück- 
gelegt haben. 

Unsere Kenntnisse über die Verwandtschaftsverhält- 
nisse der Fische lassen sich in folgendem Stammbaum 
 niederlegen: 


Doppelathmer 
Knochenfische 


Ganoiden 
Elasmobranchier 
Beutelkiemer. 


Zwar zeigen auch die Beutelkiemer oder Rund- 
mäuler (Cyclostomi) so erhebliche Eigenthümlichkei- 
ten, wie Mangel der Extremitäten, gänzliche Abwesen- 
heit von Knochenplatten und Schuppen in der Haut, 
aber Gehirn, Herz und die weit über den Amphioxus 
sich erhebende, wenn auch durchaus knorpelig blei- 
bende Wirbelsäule vermitteln ihren unmittelbaren An- 
schluss an die Fische. Fossile Reste dieser, in der 
Gattung Pricke (Petromyzon) allbekannten Thiere sind 
nicht vorhanden, wie denn überhaupt höchstens ihre 
Hornzähne sich hätten erhalten können. 


238 Stammbaum der Fische. 


Nach diesen offenbaren Lücken unserer Kenntniss 
bieten die folgenden Ordnungen der Fische sich in 
desto übersichtlicherm Zusammenhange dar. Den Aus- 
gangspunkt bilden die Elasmobranchier, zu wel- 
chen die eigenthümlichen Chimären, die Haie und 
Rochen gehören. Gehirn und Kiemen zeigen die Ver- 
wandtschaft mit den Rundmäulern. In der Beschaffen- 
heit des Schädels und des Gesichtsskeletes, des Schul- 
tergürtels und der vordern Extremitäten, desHerzens und 
Darmes zeigen sie solche Bildungen, zu denen sich die 
gleichen Theile der Ganoiden entweder als Fortent- 
wickelungen oder als Reductionen verhalten, wie 
Gegenbaur in seinen classischen Untersuchungen nach- 
gewiesen. Auch Huxley hat zur richtigen Auffassung 
dieser Verhältnisse die Bahn gebrochen. Um hiervon 
vollständig sich zu überzeugen, ist allerdings ein De- 
tailstudium nothwendig; denn ohne solches kann man 
sich doch keine Vorstellung machen, wie bei den 
Elasmobranchiern noch der eigentliche Kieferapparat 
fehlt, und der Knorpelbogen, der bei ihnen die Kiefer 
vertritt, bei den Ganoiden theils als Gaumen, theils 
als Aufhängestil des wirklichen Unterkiefers verwendet 
wird, wie die innern Kiemen jener zu den äussern 
dieser werden, und wie ım Skelet der vordern Extre- 
mitäten sich Schritt für Schritt von den Haien und 
Rochen zu den Ganoiden, namentlich den dazu ge- 
hörigen Stören, die allmähliche Vereinfachung nach- 
weisen lässt, die einerseits in den Knochenfischen, 
andererseits in den höhern Wirbelthieren ihre Extreme 
erreicht, bei letztern unter der vielgestaltigen Ver- 
vollkommnung des Armes und der Hand, Es leben 
von den Ganoiden nur noch einzelne Ueberreste, die . 
Familie der Störe und einzelne amerikanische und 
afrikanische Gattungen, für welche, wie Rütimeyer 
sagt, die Flucht ins süsse Wasser ein Act der Rettung 
war. Sie reichen eben hin, um das Verhältniss der 
einst ungemein ausgebreiteten Gruppe sowol zu den Elas- 
mobranchiern als den Knochenfischen zu erklären. 


ur u un, Br a ne = -z wi; * Pr. E 
Eee a GE 3 ns x Bu: 


Uebergang zu den Amphibien. | 239 


- In diesen, den.Knochenfischen, ist die bei den 
Ganoiden eingeleitete Umbildung der Organisation 
der Elasmobranchier weiter geführt. Sie sind nur sehr 
bedingt „höher entwickelt‘‘ zu nennen, etwa im Ske- 
let, worauf die ehemalige Zoologie zu viel Gewicht 
legte. Hirn, Herz, die Bildung der Extremitäten, das 
Fortpflanzungssystem sind zwar Sonderentwickelungen, 
die in Verbindung mit der äussern Form und den 
Hautbedeckungen eine sehr grosse Anpassungsfähigkeit 
bewährt haben, einer Weiterentwickelung aber nicht 
fähig gewesen sind. Die vergleichende Anatomie hat 
viele Mühe vergeblich darauf gewendet, aus der spe- 
ciellen Organisation der Knochenfische die Verhältnisse 
der höhern Thiere abzuleiten, oder die Eigenthümlich- 
keiten der Knochenfische von oben her zu erklären. 
Es war verlorene Mühe, weil nur der eben bezeich- 
nete Weg, die Abstammung der Knochenfische durch 
die Ganoiden von den haiartigen Fischen, zur Lösung 
führt. . 

Mit den Knochenfischen schliesst also in der heutigen 
Periode eine Entwickelung ab, und wir haben uns 
nach einer andern Uebergangsstufe von den Fischen 
zu den Amphibien umzusehen. Eine solche ist in der 
spärlich durch nur einige Arten (Lepidosiren, Pro- 
topterus) vertretene Ordnung der Doppelathmer 
(Dipnoi) vorhanden. Diese fischartigen, in einigen in 
der heissen Jahreszeit austrocknenden Flüssen Afrikas 
und Amerikas lebenden Thiere sind nach Skelet und 
Beschuppung und in einigen andern Merkmalen Fi- 
sche; der Schädel ist jedoch fast amphibienartig, auch 
gebrauchen sie ihre Schwimmblase zeitweilig als Lunge 
und veranschaulichen in diesem Wechsel der Wasser- 
und Luftathmung den Uebergang der kiemenathmenden 
Larven der Amphibien in das Stadium der Luftathmung. 
Sie nähern sich unter den eigentlichen Fischen am 
meisten der in der Gegenwart durch den afrikanischen 
Polypterus vertretenen Familie der Crossopterygier, und 
durch die neuere Entdeckung eines sehr merkwürdigen 


240 Stammbaum der Amphibien. 


australischen Fisches, des Ceratodus, wird diese Ver- 
wandtschaft befestigt. 
Durch solche den Doppelathmern ähnliche Formen 

hat sich also wahrscheinlich der Fortgang von den 
Fischen zu den Amphibien vollzogen; es ist jedoch 
auch möglich, wie mich ein wissenschaftlicher, in der 
Entwickelungsgeschichte sehr bewanderter Freund, ge- 
stützt auf die Vergleichung der Athemorgane der 
Rundmäuler mit denen der Amphibien, aufmerksam 
macht, dass Frösche und Salamander direct von Wesen 
abstammen, welche der Myxinoiden genannten Ab- 
theilung der Cyclostomen am nächsten standen. Es 
ist zu hoffen, dass diese sehr interessanten Beobach- 
tungen demnächst in die Oeffentlichkeit treten. Im 
allgemeinen sehen wir in der Ontogenie der Amphi- 
bien, dass geschwänzte Formen die ältern sind. 
So verhalten sich denn auch die ältesten amphibien- 
artigen Thiere, die Labyrinthodonten. Wir haben 
aus ihren, namentlich in der Kohlenformation ent- 
haltenen Resten (Archegosaurus u. a.) erfahren, dass 
sie unvollständige oder keine Gliedmassen hatten, ihre 
Bauchseite theilweise mit knöchernen Panzerstücken 
versehen, die Wirbel fischartig waren, und dass ihr 
Schädel mit Charakteren der heutigen Amphibien andere 
verbindet, welche theils an gewisse Knochenganoiden, 
theils an die später auftretenden Reptilien erinnern, 
Wenn nun auch am Schädel der eigenthümlich schlan- 
genähnlich verlängerten Schleichlurche oder Cöci- 
lien, welche jedoch schwanzlos sind und ohne 
Gliedmassen, einige Besonderheiten des Labyrintho- 
dontenschädels wieder zum Vorschein kommen, so 
müssen wir doch sowol für diese Ordnung, wie für. 
die beiden andern jetzt lebenden Ordnungen der 
Schwanzlurche und der Frösche unsere völlige 
Unkenntniss ihrer eigentlichen Vorfahren eingestehen. 
Wir sind also, wie gesagt, hier lediglich an die Ent- 
wickelungsgeschichte der Individuen gewiesen. Mit 

welchem Rechte wir uns aus dieser ein der Wirklichkeit 


Stammbäum der Reptilien. >41 


mit grosser Wahrscheinlichkeit nahe kommendes Bild 
der Stammesentwickelung entwerfen können, wird der 
Leser aus den frühern Abschnitten entnommen haben. 
Wir sehen unter den geschwänzten Amphibien nicht 
blos in der Ontogenie den Uebergang von der Kiemen- . 
zur Lungenathmung, auch die systematische Reihe von 
Proteus zu Triton und Salamander vergegenwärtigt 
uns diese, an verschiedene morphologische Umwand- 
lungen gebundene physiologische Steigerung, welche 
sich zwischen den jungen und alten Exemplaren der 
Labyrinthodonten ebenfalls nachweisen lässt. Die Frö- 
sche gehen zwar in ihrer Entwickelung höher als die 
Schwanzlurche, sie schliesen sich aber, wie der oben 
schon erwähnte Freund mich belehrt, in der Beschaffen- 
heit der innern Kiemen ihrer Larven näher an die 
Myxinoiden an. Den Ueberblick über die Reptilien 
verschaffen wir uns zunächt durch. die umstehende 
Tabelle (S. 242), wobei wir uns aller nähern syste- 
matischen Bezeichnungen enthalten wollen. 

Die Klasse bietet ein sehr reichhaltiges Bild dar, 
obschon in der Gegenwart nur vier Ordnungen existi- 
ren, von denen noch dazu zwei, die Eidechsen und 
Schlangen, kaum voneinander zu trennen sind. Dass 
die Schlangen, welche erst mit der Tertiärzeit auf- 
treten, ein unmittelbarer Ableger der Eidechsen sind, 
wird durch die vergleichende Anatomie und Entwicke- 
lungsgeschichte zur Gewissheit. Wir sehen innerhalb 
verschiedener Familien der Eidechsen mit der Streckung 
des Körpers und der Vermehrung der Wirbel die Fuss- 
losigkeit eintreten, und auch die Aenderungen, welche 
dem Schädel der „echten“ Schlangen eigenthümlich sind, 
werden in ganz allmählichen Abstufungen vom echten 
Eidechsenschädel an in der systematischen Reihe re- 
präsentirt. Wir können nicht die fossilen Gattungen 
angeben, mit denen die Umwandlung beginnt, ein Zwei- 
fel in diesem Falle würde aber nur eine eigensinnige 
Verneinung sein. Anders steht es mit den übrigen 
'Ordnungen, welche in ihren uns bisher zugänglich. 
SCHMIDT, Descendenzlehre, 16 


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gewordenen Anfängen schon so bestimmt ausgeprägte 
Verschiedenheiten zeigen, dass eine directe Ableitung‘ 
auch nur einiger aus bekannten Gliedern anderer nicht 
möglich ist. Ein sehr guter Kenner der Anatomie 
dieser Thiere, Huxley, lässt sich folgendermassen hier- 
über aus’®: „Wenn wir fragen, wie die frühesten Re- 
präsentanten dieser Ordnungen sich von den jetzt 
lebenden oder den spätest bekannten Gliedern der- 


der Reptilien. 2435 


‚selben unterscheiden, so werden wir in allen Fällen 
finden, dass die Grösse des Unterschiedes an und für 
sich und im Vergleich mit den dazwischen liegenden 
Zeiträumen merkwürdig gering ist. Meines Wissens 
gibt es keine Thatsache, von der man sagen könnte, 
dass sie einen Fortschritt der spätern Pterosaurier oder 
Ichthyosaurier über die jüngsten (ältesten?) repräsen- 
_ tire. Es ist nicht klar, dass die Dinosaurier der 
Wealden- und Kreideformation höher organisirt sind 
als die der Trias; wo aber ein Fortschritt in der 
Differentiation des Baues zu beobachten ist, wie bei 
den Lacertiliern oder Krokodiliern, geht derselbe nicht 
weiter als bis zur Veränderung der Wirbelgelenk- 
flächen oder des Grades, bis zu welchem die innern. 
Nasenöffnungen von Knochen umgeben werden. Die 
osteologischen Unterschiede, welche uns die Fossilreste- 
allein zu überliefern vermögen, sind ohne Zweifel von: 
manchen Veränderungen in der Organisation hinfälliger- 
Körpertheile begleitet gewesen, aber die Gesammtheit 
"der vorliegenden Thatsachen beweist doch, dass der 
Grad von Veränderung in der Organisation der Rep- 
tilien seit ihrem ersten bekannten Auftreten auf der 
Erde an und für sich nicht gross ist und ganz unbe- 
deutend erscheint, wenn wir die seitdem verflossenen 
Zeiträume, sowie die Veränderungen der äussern Um- 
stände in Betracht ziehen, welche durch die meso- 
zoischen und tertiären Formationen repräsentirt sind. 
„Aus dem Gesichtspunkt der Entwickelungshypothese 
ist die Annahme geboten, dass die Reptilien von einem 
gemeinsamen Stamme ausgegangen sind, und ich sehe 
keine Berechtigung für die Ansicht, dass diese Diver- 
genz vor der Trias bedeutender* gewesen sei, als sie 
zu irgendeiner spätern Zeit gewesen ist. Folglich 
müssen, wenn die Annäherung der ältestbekannten Ver- 
treter der verschiedenen Ordnungen aneinander sehr 
gering ist, Reptilien schon vor der Trias eine Zeit 


* Muss wol heissen unbedeutender? 
16* 


a En en Be a8, 


94 Stammbaum 
hindurch gelebt haben, mit welcher verglichen der 
von der Trias bis heute verflossene Zeitraum gering 
ist — die Reptilien müssen, mit andern Worten, weit 
zurück in der paläozoischen Periode aufgetreten sein.“ 

Die Vergleichung weist uns also in Zeiten zurück, 
aus denen keine Kunde zu sicherer Ableitung jener 
Klasse vorliegt. Selbst die Ichthyosaurier und 
Plesiosaurier, welche so oft zusammen genannt wer- 
den, gehen in sehr wesentlichen, ihren etwaigen ge- 
meinsamen Ursprung weit hinausrückenden Charakteren 
auseinander. Wir erwähnen nur die ganz flossenarti- 
gen Extremitäten der erstern, welche in der Hand 
noch den Fischtypus an sich tragen. Wir werden also 
nur im allgemeinen auf solche Mischformen zurück- 
gewiesen, welche sich ähnlich wie die Labyrinthodon- 
ten verhalten haben mögen, ja es muss sogar die 
Frage aufgeworfen werden, ob nicht die Ichthyosaurier 
allein, oder auch mit ihnen die Plesiosaurier unab- 
hängig von den übrigen Aesten des Reptilstammes 
sich selbständig von Fischformen abgezweigt haben, 
welcher Eventualität in dem Stammbaum auf $S. 232 
Rechnung getragen ist. Eine gewisse Aehnlichkeit mit 
dem Schädel der Schildkröten zeigt derjenige der 
Dicynodonten. Auch bei ihnen waren die Kiefer, 
wie sich aus ihrer Gestalt ergibt, offenbar mit Horn- 
scheiden überzogen; zugleich aber enthält der Ober- 
kiefer zwei mächtige Hauzähne, und an einen directen 
Uebergang der in der Trias erscheinenden Dieynodon- 
ten in die spätere Schildkröte ist kaum zu denken. 
Die ältern Formen der Krokodile zeigen in einigen 
Punkten des Schädels sowie der Stellung der hintern 
Nasenöffnungen einen Anschluss an die Eidechsen, aus _ 
deren ältern unbekannten Formen sie sich wahrschein- 
lich abgezweigt haben. Auch die Flugeidechsen 
oder Pterosaurier dürften eine Abzweigung der Eidech- 
sen sein. Sie haben durch Anpassung einige Eigen- 
schaften erlangt, Gestalt und Leichtigkeit des Kopfes, 
Schlankheit und Pneumaticität der Röhrenknochen, die 


der Reptilien, 245 


sie mit den Vögeln theilen. Aber nicht in ihnen, son- 
dern in der Abtheilung, welche Huxley, unter Zu- 
sammenfassung mebrerer Familien, Ornithosceliden, 
d.ı. Reptilien mit Vogelbeinen, nennt, sind die eigent- 
lichen Vorfahren der Vögel zu suchen. Denn in ihnen 
bereitet sich einer der wichtigsten Charaktere der 
Vögel theils vor, sodass seine Entstehung auch noch 
im ausgewachsenen Thier erkennbar bleibt, theils voll- 
zieht sie sich, wie in der Gattung Campsognathus. 
Es ist jene von uns schon auf Seite 9 betrachtete 
Eigenthümlichkeit, dass der obere Theil der Fuss- 
wurzel mit dem Unterschenkel, der untere mit dem 
Mittelfusse verschmilzt, und dass mithin das Fersen- 
gelenk in die Fusswurzel hineingelegt wird. 

Alle lebenden Reptilien unterscheiden sich durch 
einige, ihre Entwickelung begleitenden Erscheinungen 
scharf von den Amphibien und Fischen; sie besitzen 
zwei den Embryo umhüllende Organe, das Amnion, 
welches wesentlich eine Schutzhülle des sich ent- 
wickelnden Wesens ist, und die Allantois, wodurch 
der fötale Kreislauf, Ernährung und Athmung geregelt 
und vermittelt wird. Wir finden bei den Fröschen 
Andeutungen wenigstens der Allantois und müssen vor- 
aussetzen, dass der grösste Theil der fossilen Reptilien 
sich schon diesen Fortschritt der Gesammtorganisation 
angeeignet hatte. Ein Fortschritt nämlich liegt darin, 
dass die mit Amnion und Allantois sich entwickelnden 
Thiere während des embryonalen Stadiums weiter 
kommen als die niedrigen Wirbelthiere, dass sie mit- 
hin widerstandsfähiger das Ei verlassen. Wir müssen 
auch deshalb die Aneignung des Amnion und der 
Allantois in die entlegenen Perioden der Amphibien- 
und Reptilienentwickelung versetzen, weil sowol die 
Vögel, welche von echten Reptilien abstammen, als die 
Säugethiere, welche von wahren Reptilien nicht ab- 
stammen können, mit ihnen im Besitz jener embryo- 
nalen Hüllen und Organe sind. 

Die Vögel schliessen sich anatomisch so eng an die 


a 5 nn an a are ie 
er P 
Be EX * 


246 Stammbaum 


Reptilien an, dass Huxley, welcher die Vergleichung 
am schärfsten durchgeführt hat, beide Klassen zu einer 
grössern systematischen Einheit unter dem Namen 
Sauropsida, d. i. eidechsenähnliche Thiere, zusam- 
menfasste. Eine Eidechsenschuppe und eine Feder 
scheinen zwei gänzlich verschiedene Dinge zu sein; 
sie sind aber in ihrer ersten Anlage völlig gleich, und 
die Feder hat eine weit grössere Uebereinstimmung 
mit der Schuppe als mit dem Haar. Die Befiederung, 
welche dem Vogel einen specifischen Charakter auf- 
zudrücken scheint, ist also aus der Schuppenbildung - 
abzuleiten. Von den innern weichen Organen wollen 
wir nur Herz und Lungen hervorheben. Alle ältern 
Zoologen stellten das Vogelherz dem Säugethier- und 
Menschenherzen gleich; es ist jedoch in seinen spe- 
ciellen Einrichtungen nur aus dem Reptilienherzen zu 
verstehen, und die Luftröhre verästelt sich nicht 
gabelig-baumförmig wie beim Säugethier. Dass in den 
Reptilien ein allmählicher Uebergang zum Vogelbein 
vorliegt, ist wiederholt hervorgehoben. Auch das 
Becken des Vogels, welches durch die Länge der 
Scham- und Sitzbeine auffällt und vorn offen ist, stellt 
nur eine geringe Weiterentwickelung der Beckenbildung 
vor, welche schon verschiedene Ornithosceliden zeigen. 
So sagt Huxley vom Sitzbein des Hypsilophodon, dass 
„die bemerkenswerthe Schmalheit und Verlängerung 
diesem Knochen einen ganz wunderbar vogelartigen 
Charakter gebe‘. Am Schädel endlich sind die Eigen- 
thümlichkeiten, welche der Vogel im Gegensatz zum 
Säugethier besitzt, wie der einfache Gelenkhöcker am 
Hinterhaupt, das Quadratbein, die besondere Form 
des Schneckentheiles des Gehörlabyrinthes, die Zu- 
sammensetzung des Unterkiefers und seine Einlenkung 
am Schädel durch Vermittelung des Quadratbeinesu.s.w., 
nicht specielle Vogel-, sondern allgemeine Reptilien- 
charaktere. Diese Gleichheit des Reptilien- und Vogel- 
typus wird schon vollkommen klar aus der Vergleichung 
lebender Vögel mit lebenden Reptilien. Der Beweis 


TEE 
n y> 


ER Ta Ben ET Tr ar 


Be - der Vögel. | 247 


der Abstammung des Vogels vom Reptil wird aber 
durch die, wenn auch sparsamen Funde fossiler Zwi- 
schenformen unantastbar. Vom Becken und Bein der 
Ornithosceliden ist schon die Rede gewesen. Wir haben 
aber weiter aus den solnhofner Schiefern leider nur 
einen verstümmelten und durch den Druck vielfach 
beschädigten Vogel kennen lernen, den Archaeopteryx 
(Fig. 23. Abdruck des Schwanzes von Archaeopteryx 
macrurusOw.), derunseine höchst 
erwünschte und interessante 
Mittelstufe zwischen Reptilien- 
und Vogelschwanz zeigt. Unter 
den heutigen Vögeln besitzt nur 
der amerkanische Strauss (Rhea) 
zahlreiche gesonderte Schwanz- 
wirbel; der Schwanz dieses Vo- 
gels tritt aber so wenig hervor, 
dass man dabei nicht an den 
Eidechsenschwanz denkt. Ar- 
ehaeopteryx nun zeigt uns einen 
mit zwei Zeilen steifer, im Ab- 
druck wunderbar vollkommen 
erhaltener Federn besetzten 
langen Schwanz. Der Schädel 
des kostbaren, im britischen 
Museum aufbewahrten Exem- 
plares ist so zerstört, dass man 
vonseiner Beschaffenheitsich kein 
Bild machen kann. Namentlich NM 
lässt sich nicht entscheiden, ob | 
die Kiefer Zähne trugen. Das Fig. 23. 
Beispiel der Schildkröten lehrt, 

dass innerhalb des Reptilientypus die Zahnbildung 
durch Hornscheiden ersetzt wurde, ohne Entwickelung des 
Thieres zur Flugfähigkeit; die Flugeidechsen wiederum 
verbinden mit der Flugfähigkeit einen leichten, aber 
doch mit zahlreichen Zähnen versehenen Kopf. Der 
Unklarheit, in der wir uns bezüglich dieser Theile der 


248 Stammbaum der Vögel _ 


ältern vorweltlichen Vögel befanden, ist durch eine 
Entdeckung des amerikanischen Naturforschers Marsh’? 
ein Ende gemacht. Er. fand in der obern Kreide von 
Kansas die Reste zweier Gattungen von Vögeln, die 


einmal durch ihre biconcaven Wirbel an die Merkmale 


der ältern Reptilien erinnern und schon damit als 
höchst werthvolle Zwischenstufen sich darstellen, die 
aber auch ferner in beiden Kiefern Zähne trugen. Die- 
selben sind klein und spitz, und waren so zahlreich, 


dass im Unterkiefer des Ichthyornis dispar genannten 


Thieres jederseits zwanzig gezählt werden konnten. 
Somit sind wir heute über die Verwandtschaft der 
Vögel nach aussen vollständig im Reinen. Der Vogel 
ist ein dem Luftleben angepasstes Reptil, und die- 
jenigen Vögel, die wir dem Fluge mehr entfremdet 


sehen, haben die mit der. geringern oder grössern 


Flugunfähigkeit verbundenen Eigenschaften erst im 


Wege der Rückbildung erworben. . Desto schlimmer 
sieht es mit der innern Ordnung dieser Thierklasse 
aus. Mit einer gewissen Sicherheit lässt sich theils 


aus der geographischen Verbreitung, theils aus ana- 


tomischen Merkmalen, namentlich des Schädels, folgern, 
dass die straussenartigen Vögel nicht etwa wegen ihrer 
Schenkelstärke und Geschicklichkeit im Laufen die 


jüngsten, wol gar den Säugethieren am nächsten 


stehenden Mitglieder ihrer Klasse, sondern dass sie 
die ältesten der jetzt lebenden sind. Die Art der 
Unvollkommenheit ihrer Flügel weist, wie gesagt, 
darauf hin, dass dieselben sich im Zustande der Ver- 
kümmerung und Rückbildung befinden. Ueber diese 
allgemeine Erfahrung kommt man nicht hinaus. Hat 
man den Vogel als ein Flugthier im Auge, so sind 
natürlich von diesem Gesichtspunkt aus diejenigen die 
höchsten im Range, welche am besten fliegen gelernt 
haben. Diese Palme kommt bekanntlich im allgemei- 
nen den Raubvögeln zu, obschon auch andere Ord- 
nungen an hervorragenden Fliegern nicht arm sind. 
Brehm und andere halten die Papagaien wegen ihrer 


und Sängethiere. "249 


Gelehrigkeit für die höchsten Vögel. Aber das alles 
ist Willkür und kann nur zufällig in einzelnen Thei- 
len der wahren, noch unbekannten Verzweigung des 
Vogelastes am Stammbaum der Wirbelthiere ent- 
sprechen. 

Die ältesten Reste von Säugethieren sind aus der 
Trias bekannt; etwas häufiger kommen sie in den 
mittlern mesozoischen Schichten vor, und sie alle ge- 
hören Beutelthieren an. Da nun die Beutler im Ver- 
gleich zu den niedern Wirbelthierklassen, von denen 
sie abgeleitet werden müssen, sehr hoch entwickelt 
sind, und wir in den Monotremen (Schnabelthier und 
Schnabeligel) Säugethiere besitzen, welche offenbar weit 
unter den Beutlern stehen, so sınd wir hinsichtlich 
des Ursprunges der Säuger lediglich auf Vermuthungen 
und Schlüsse angewiesen. Diese führen auf amphibien- 
artige Wesen, in denen gewisse Eigenthümlichkeiten 
des Schädels der Säugethiere, z. B. der doppelte Ge- 
lenkknopf am Hinterhaupte, vorgebildet waren, und 
welche durch Amnios- und Allantoisbildung sich den 
eigentlichen Reptilien näherten. Diese Vorfahren der 
Säugethiere sind jedoch in keiner der jetzt existiren- 
den Ordnungen der Reptilien oder Amphibien noch 
repräsentirt. Auch der Stammbaum ($. 250), in welchem 
wir die genauer bekannten fossilen und die jetzt leben- 
den Säuger gruppiren, enthält erhebliche Lücken und 
beruht zu einem guten Theile auf Hypothese, gibt 
aber doch ein annähernd wahrscheinlich richtiges Bild 
über die Blutsverwandtschaft der Ordnungen und muss, 
verglichen mit dem System, wie es vor dem Wieder- 
aufleben der Descendenzlehre in den Lehrbüchern auf- 
gebaut wurde, als ein grosser, gedankenvoller Fort- 
schritt gelten. 

Die auf Australien mit Tasmanien beschränkten 
Monotremen (Ornithorhynchus, Echidna) sind in An- 
betracht ihres Schädelbaues, der Beschaffenheit des 
Schultergürtels und der auf dem embryonalen Stadium 
der übrigen Säugethiere verharrenden Einmündung der 


f 


S ? ' Mensch 


f 


PR Affen 


M Insektenfresser Fledermäuse 


Nager 
ER Sirenen Hyrax Elefanten 
BT Raubthiere Phoken Wale 
i i=| | 
: =} 
Es 8 
A E Hufthiere Halbaffen 
RL . 8 » 
8 
RN (Ur - Hufthiere) (Ur-- Raubthiere 


Zahnlose 


h ar a 


(Placenta Säugethiere) 


Beutler 


Monotremen 


250 


der Säugethiere. | 251 


Darm-, Harn- und Geschlechtswege in eine Kloake 
die niedrigsten Glieder ihrer Klasse, und müssen als 
ein Rest einer aus unbestimmbaren Zeiten in die Gegen- 
wart hineinragenden Abtheilung angesehen werden. 
Es ist zu vermuthen, dass sıch aus einer ähnlichen 
Stufe die Beutelthiere entwickelt haben. Die An- 
passungsfähigkeit dieser letztern hat sich hauptsächlich 
in Australien bewährt, wo die Unterabtheilungen der 
Ordnung, welche gewöhnlich als Familien bezeichnet 
werden, nach Zahnbildung und Lebensweise sich analog 
zu verschiedenen derjenigen Ordnungen entwickelt 
haben, die auf dem zweiten grossen Schauplatze der 
Säugethierentwickelung, auf der nördlichen Halbkugel, 
auftreten. 

Im Skelet weit vorgeschritten vor den Monotremen 
bleiben sie im Fortpflanzungssystem auf einer niedrigen 
Stufe und theilen mit den Monotremen die Placenta- 
losigkeit. Die embryonalen Blutgefässe treten nämlich 
nicht in jene enge Beziehung zu den Blutgefässen des 
mütterlichen Fruchthalters, wodurch die vollständigere 
Ausbildung der übrigen Säuger im Mutterschose er- 
möglicht ist. Durch diesen Charakter und die damit 
verbundene Beutelbildung behufs des Austragens der 
unreif geborenen Jungen werden die, wie erwähnt, 
gleich den übrigen Ordnungen auseinander gehenden 
Familien der Beutler zusammengehalten. 

Abgesehen also von den beiden obengenannten 
Ordnungen ist bei den übrigen Säugethieren der Em- 
bryo durch die sogenannte Placenta mit dem mütter- 
lichen Organismus verbunden. Die vermittels der 
Allantois an die Wandung des Uterus gelangenden 
Blutgefässe des sich entwickelnden Jungen bilden Zotten 
und Schlingen, zwischen welche ähnliche Auswüchse 
und Anhänge der Blutgefässe des Fruchthalters hinein- 
wachsen, sodass durch die Wandungen der sich be- 
rührenden Blutgefässe hindurch ein reichlicher Aus- 
tausch der beiderseitigen Flüssigkeiten und damit eine 
längere Ernährung und eine weitere, vollkommenere 


959 Stammbaum 


Ausbildung des Fötus stattfindet. Der höhere, in den 
anatomischen Verhältnissen schon meist klar ausgespro- 
chene Charakter der placentalen Säugethiere 
findet also seine Begründung in dem Vorhandensein 
des Fruchtkuchens. Indessen fehlen alle Zwischen- 
stufen, die auf den directen Uebergang von placenta- 
losen zu placentalen Säugern mit Sicherheit schliessen 
liessen. Die offenbar niedrigsten unter den placen- 
talen Säugethieren, die Zahnlosen (Edentaten, Bruta) 
stehen zu den Beutlern so ausser aller nähern mor- 
phologischen Beziehung, dass wir nur ganz allgemein 
mit dem Hinweis und der durch die geographische 
Verbreitung und Geologie unterstützten Wahrschein- 
lichkeit uns begnügen müssen, dass die Edentaten 
einen sehr alten Ast der Placentalien repräsentiren. 
Es sind, wie wir schon im zehnten Abschnitt gesehen, 
versprengte Ueberreste, die nur gezwungen sich in 
eine Ordnung fügen. Faulthier, Gürtelthier, Ameisen- 
fresser sind unter sich mindestens so verschieden, wie 
Nager, Insektenfresser und Fledermäuse. Die Descen- 
denzlehre bethätigt, indem sie mit diesen Bruchstücken 
einer untergegangenen Thierwelt nichts anzufangen 
weiss, nicht ihre Unfähigkeit, sondern steht wegen 
Mangels an Material gegenwärtig vor einer Unmög- 
lichkeit. 

Um den Verwandtschaftsverhältnissen der übrigen 
Ordnungen auf den Grund zu kommen, hat die neuere 
Systematik, auch die Descendenzsystematik, grosses 
Gewicht auf die An- oder Abwesenheit der sogenann- 
ten Decidua legen zu müssen geglaubt. Dies bedarf 
einer kurzen Erörterung. Bei zahlreichen Ordnungen 
der Säuger wachsen die gefässreichen Wucherungen 
und Zotten der Wandung des Fruchthalters so fest in 
den fötalen Theil der Placenta hinein, dass bei der 
Geburt diese gesammte Hautschicht des Fruchthalters 
sich ablöst und mit ausgestossen wird. Bei den an- 
dern legen sich die beiderseitigen Gefässzotten nicht 
so eng aneinander, sie weichen bei der Geburt ohne 


_ der Säugethiere. 208 


‚grössere Zerreissungen, und es wird mithin keine ab- 
fallende Haut (Membrana decidua) ausgestossen. Nun 
sind, wie mir scheint, die speciellen Verhältnisse der 
Deciduabildung noch viel zu wenig verglichen, als dass 
man von der blossen Thatsache, dass Theile der Wan- 
dung des Fruchthalters bei dem Geburtsacte verloren 
gehen, auf nähere Verwandtschaft schliessen müsste. 
Vielmehr muss von vornherein zugegeben werden, dass ab- 
hängig von Nebenumständender verschiedensten Art, und 
daher bei entfernt verwandten oder überhaupt nur als 
placentale Säuger verwandten Ordnungen, eine Deci- 
-dualbildung auftreten könne. Wir halten daher die 
Decidua für ein untergeordnetes systematisches Moment, 
wo anatomische und morphologische widersprechen. 
Wir gehen noch weiter. Die neuere Systematik be- 
nutzt auch die Form der Placenta zur Gruppirung 
der Ordnungen. Wenn man nun unter den Deciduaten 
als Ordnungen mit scheibenförmiger Placenta die Halb- 
affen, Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und Affen 
zusammenstellt, so wird diese Vereinigung allerdings 
durch eine Reihe anderer Gründe gestützt, und es ist 
alle Wahrscheinlichkeit, dass die Form der Placenta 
innerhalb dieser Ordnungsgruppe auf Homologie, d. i. 
auf Abstammung beruht. Wenn aber ferner als Ord- 
nungen mit gürtelförmiger Placenta aufgeführt werden 
die Raubthiere, Elefanten und die Klippschliefer (Hyrax), 
so befinden wir uns in derselben Lage, wie da, wo 
die Decidua über die nähere Zusammengehörigkeit 
entscheiden sollte, und meinen, dass die untergeordnete 
Form der Placenta auf verschiedenem Wege in analoger 
Weise zu Stande kommen konnte, gleich wie sie inner- 
halb der sicher begründeten Abtheilung der Hufthiere 
zu verschiedenem Aussehen sich entwickelt hat. Wir 
können, um unsere Ansicht mit einigen Beispielen zu 
belegen, allerdings über die Abstammung der Rüssel- 
träger nichts Sicheres angeben. Dass jedoch durch 
die übliche Zusammenstellung wegen der gürtelförmigen 
Placenta absolut nichts gesagt ist, ist ebenso sicher. 


254 Stammbaum 
Man wird aber der Wahrheit näher kommen, wenn 
man den Zweig unbekannten Ursprunges schematisch 
demjenigen der Hufthiere näher bringt, als demjenigen 
der Raubthiere. Wenn man nun ferner die Wale als deci- 
dualose Säuger den Hufthieren näher verwandt hält als 
die Carnivoren, welche eine Decidua haben, so entscheidet 
dieser Umstand in unsern Augen nicht, da gewichtigere 
Gründe dafür sprechen, dass von raubthierähnlichen Gat- 
tungen aus die Entwickelung der Wale begonnen hat. 
Schon in der Darlegung der geographischen Ver- 
breitung der Thiere hatten wir Gelegenheit, uns von 
Rütimeyer über die Verwandtschaftsverhältnisse, nament- 
lich der Hufthiere, unterrichten zu lassen. Für keine 


Nashorne Tapire E 
| \ Hipparion 
| Macrauchenia 
Anchitherium 
1} 
Paläotheriden 


andere Abtheilung liegt ein so reiches fossiles Material 
vor. Wir treffen in den ältern Tertiärschichten die 
Reste zweier Hufthierfamilien an, der Paläotheriden 
und Anoplotheriden, welche wesentlich in der Be- 
zahnung sich unterscheiden und der Ausgangspunkt der 
heute zum Theil sehr isolirt erscheinenden Gruppen 
der Hufthiere gewesen sind. Die Wurzel, auf welche 
jene beiden Familien zurückführen, ist unbekannt, da- 
gegen erhellt theils aus der directen Vergleichung der 
betreffenden Gattungen mit den heutigen Hufthieren, 
theils durch zahlreiche Mittelglieder aus dem Miocän, 


a en ee ee re ae 
a A a er ER 


der Säugethiere. 255 


Plioeän und Diluvium, dass mit der Zeit die die Gegen- 
wart charakterisirende Spaltung eintrat und durch das 
Aussterben der Mittelglieder die scheinbare Isolirung 
hervorgebracht wurde. Durch dieselbe wurde die ältere 
Systematik veranlasst, drei Ordnungen von Hufthieren: 
Vielhufer, Zweihufer, Einhufer, aufzustellen. Der aus 
den Paläotheriden erwachsene Specialstammbaum um- 
fasst von den heutigen Hufthieren die Pferde, Ta- 
pire und Nashorne. Ganz direct ist der Uebergang 
vom Paläotherium in das Pferd zu verfolgen, und zwar 
in den beiden wichtigsten Charakteren, den Zähnen 
und den Füssen. In Anchitherium und Hipparion voll- 


Fig. 26. Fussskelet von Anchitherium (P), Hipparion (Z) und Pferd (E). 


zieht sich die Umwandlung des dreizehigen in das 
einzehige Hufthier, und Rütimeyer’s glänzende Unter- 
suchungen haben gezeigt, wie im Milchgebiss jeder 
Gattung das definitive Gebiss der Stammgattung sich 
wiederholt, und in der Ontogenie die Phylogenie einen 
unzweideutigen Ausdruck findet. Anchitherium ist ein 
dreizehiges Pferd, dessen Mittelzehe jedoch schon die 
Hauptaufgabe übernommen hat. Bei Hipparion aber 
sind die beiden seitlichen Zehen dem Boden gänzlich 
entrückt und werden im Nichtgebrauch der beim Pferde 
vollendeten Verkümmerung entgegengeführt. 


256 | Stammbaum 

Die Tapire sind in der Beschaffenheit der Backzähne 
dem Stammtypus am treuesten geblieben. Der Um- 
stand, dass der Tapir vorn vier Zehen hat, während 
die uns bekannten Paläotherien drei besitzen, beweist 
jedoch, dass nicht die Gattung Paläotherium selbst 
der Stammvater der Tapire sein kann. Denn die An- 
nahme, dass der Tapir die vierte Zehe erworben habe, 
widerspricht aller Erfahrung über die Extremitäten- 
bildung. Auch die Rhinocerote sind vorn vierzehig 
und es wird ihre nähere Verwandtschaft mit den Ta- 
piren durch den Zehenbau und eine Reihe von Einzel- 
heiten des Skelets bewiesen. 


Flusspferde Schweine Traguliden Hirsch e Antilopen Rinder 


\ 


Anoplotheriden 


Eine isolirte Abzweigung der Paläotheriden scheint 
die fossile Gattung Macrauchenia zu sein, welche 
Merkmale der Pferde und der Rhinocerote mit denen 
der Kamele verbindet. Inwiefern die letztern als 
Wiederkäuer etwa direct mit den Macrauchenien zu- 
sammenhängen, oder ihre den Pferden sich nähernde 
Schädelbildung auf wahre Homologien hinweist, lässt 
sich zur Zeit nicht sagen. 

Auch die Anoplotheriden zeichnen sich durch eine 
gewisse Indifferenz des Zahnbaues aus, von wo eine 
Reihe von Specialbildungen nach verschiedenen Rich- 
tungen ausgehen konnten. In gerader Linie stammen 


RE Ba ar par Ef ea SE EEE rn 
0% a . » nd 


der Säugethiere. >57. 


von ihnen die Traguliden ab, eine kleine Gruppe, 
welche den Moschusthieren ähnelt und auf Südafrika 
‚und Südasien beschränkt ist. Als Wiederkäuer schliessen 
sie sich enger an die übrigen bekannten typischen 
Ruminantien an, auf der andern Seite nehmen sie eine 
vermittelnde Stellung zu den übrigen nicht wieder- 
käuenden und in der Vorwelt mit jenen durch die 
Anoplotheriden vereinigten Mitgliedern der ganzen Ab- 
theilung ein. Die Suiden oder schweineartigen 
Thiere waren in der Eocän- und Miocänzeit sehr 
reich vertreten. Einem Seitenast dieser zu den Ano- 
plotheriden hinablangenden Vorgänger entstammen die 
Flusspferde oder Hippopotamiden. Die Function 
des Wiederkäuens ist bekanntlich an eine complicirte 
Structur des Magens gebunden, sowie an besondere 
Vorrichtungen der Schlundrinne. Es lässt sich natür- 


lich nicht bestimmen, bei welchen fossilen Thieren _ 


diese Einrichtungen begonnen haben, doch scheint es 
sehr früh geschehen zu sein, indem möglicherweise der 
zusammengesetztere Bau einiger nicht wiederkäuenden 
Gattungen, wie von Hippopotamus und dem Nabel- 
schwein, von den Zeiten der Anoplotheriden her ererbt 
sind, und die so augenfällige Uebereinstimmung der 
wiederkäuenden Traguliden mit den Anoplotherien 
letztere mit ziemlicher Sicherheit zu Wiederkäuern 
stempelt. 

Sehen wir von den schon oben erwähnten, ihrer 
Stellung nach unsichern Kamelen ab, so zerfallen die 
typischen Wiederkäuer in die hirschartigen und in 
die hörnertragenden. Durch die ungehörnten Moschus- 
thiere sind die Hirsche mit den Traguliden und den 
ältern Gattungen verbunden. Einen Seitenzweig bil- 
den die Giraffen. Wenn aber auch in dem der 
Giraffe nahe stehenden, einst auf athenischem Boden 
heerdenweise lebenden Helladotherium und in dem in 
den Vorbergen des Himalaya gefundenen kolossalen 
Sivatherium die in der Jetztwelt ganz unvermittelte 
SCHMIDT, Descendenzlehre, I% 


"7 


958 Stammbaum ° 


Stellung der Giraffe etwas ausgeglichen wird, bleibt 
das Nähere ihrer Abstammung doch noch sehr unklar. 

Von den Antilopen zu den sich eng an sie an- 
schliessenden, voneinander kaum zu trennenden Gat- 
tungen Ziege und Schaf, sowie zu den Rindern 
bieten sowol die systematische als die paläontologische 
Reihe, als auch die ontogenetischen Stufen diejenigen 
Uebergänge dar, aus denen die Stammverwandtschaft 
unwiderleglich hervorgeht. Höchst interessant ist, ausser 
den auch hier von Rütimeyer im Detail verfolgten 
Beziehungen des Milchgebisses der Tochtergattungen zu 
den Stammgattungen, die allmähliche Umgestaltung des 
Schädels, welche in den Rindern ihr Extrem erreicht, 
und von Antilope und Schaf durch Ovibos, Bubalus 
(Büffel), Bison (Auer), zu Bos (Ochs) fortschreitet. Im 
letztern erreicht die steile Stellung der Scheitelbeine 
ihren äussersten Grad, und diese Umgestaltung des 
Antilopenschädels wiederholt sich individuell im Kalbe. 

Die gewöhnliche Zusammenstellung der Sirenen 
‘oder Seekühe mit den Walen war entschieden ein 
systematischer Misgriff, hervorgegangen aus der ein- 
seitigen und dazu nur oberflächlichen Berücksichtigung 
der Bewegungsorgane. Alle übrigen charakteristischen 
Merkmale, vor allen Dingen der Bau des Schädels 
und die Beschaffenheit der Zähne entfernen sie ebenso 
von den Walen, als sıe dieselben den Hufthieren nähern. 
Wir haben schon ım Flusspferd ein fast zum Wasser- 
thier gewordenes Mitglied dieser Ordnung. Von an- 
dern unbekannten und wahrscheinlich sehr früh ab- 
gezweigten Gattungen ausgehend, haben wir uns die 
Entstehung der Sirenen zu denken. 

Eine sehr ungewisse Stellung nehmen die Hyra- 
coiden ein, gegenwärtig nur durch einige Arten der 
Gattung Klippdachs (Hyrax) repräsentirt. Wenn man 
sagt, dass ihre Merkmale theils an die Hufthiere, theils 
an die Nager, theils an die Insektenfresser erinnern, 
so ist damit keine Aufklärung gegeben. Bei der 
grossen Wichtigkeit, welche die Backzähne für die 


, 


Ir Wr ie Fe Fe ben) . . 
Pe \ 


der Säugethiere. b 959 
Entscheidung der Abstammung haben, ist wol der 
grösste Nachdruck auf die Aehnlickeit derselben bei 
Hyrax mit denen des Nashorns zu legen, und wir be- 
trachten mithin die Klippdachse als einen Ableger eines 
alten Hufthierstammes. 
Hinsichtlich der Vorfahren der Rüsselträger ent- 
halten wir uns jeder Vermuthung. 
Später als die Pflanzenfresser scheinen die Fleisch- 
fresser und insonderheit die Raubthiere auf dem 
Schauplatz der arktischen Thierwelt erschienen zu sein. 


Gibt man die Möglichkeit zu, wie man wol nicht 


anders kann, dass Placentabildungen auf verschiedenem 
Wege entstanden sind, so liegt auch die Möglichkeit 
vor, dass die Fleischfresser, und freilich auch andere 
Ordnungen, wie namentlich die Nager, directe Ab- 
kommen fleischfressender Beutler sind. Die ältesten 
bekannten Raubthiere sind katzenähnlich oder gleichen 
den Viverren und Hyänen. Dann kommen die Hunde, 
und am spätesten die Bärenartigen. Ein Seitenast 
sind die Seehunde nach Schädel, Gebiss und Ex- 
tremitäien. Ohne dass an eine speciellere Verwandt- 
schaft der ÖOttern mit den Robben gedacht werden 
kann, erleichtert doch die Vergleichung dieser bei- 
den miteinander die Vorstellung, wie aus wahren 
Raubthieren und Landthieren die seltsame Gestalt der 
Seehunde hervorgehen musste. 

Wenn sich unsere oben ausgesprochene Vermuthung, 
dass die Zerreissungen und Abstossungen im Bereiche 
der Placenta, welche die Erscheinung der Decidua 
bilden, in stammverwandten Gruppen sehr verschieden- 
artig ausfallen und in nicht näher verwandten ähnlich 
werden können, bestätigen sollte, so würden in un- 
serm Stammbaume die Wale in der Nähe der Raub- 
thiere ihren Platz finden. Zwischen einem Löwen und 
einem Bartenwal liest freilich in Winkelform eine un- 
übersehbare Anzahl von Zwischenformen. Wir haben 
uns aber immer gegenwärtig zu halten, dass es sich 
nicht um die Ueberbrückung der Lücken zwischen den 


TIEF 


260 Stammbaum 


heutigen, die Enden der Entwickelungsreihen vor- 
stellenden extremen Formen handelt, sondern um das 
Auffinden der Ausgangs- und Knotenpunkte. Fossile 


walartige Thiere kennt man aus der Tertiärzeit, so 


Zeuglodon und Squalodon. Die vorzüglich erhaltenen 
Reste der erstern kolossalen Gattung werden in Berlin 
aufbewahrt, wo Johannes Müller ihre Beziehungen 
theils zu den Robben, theils zu den Walen entdeckte. 
Die Bezahnung ist robbenartig, im Skelet manches wie 
bei den Walen, und obgleich den Zeuglodonten eine 
grosse Reihe von Arten vorangegangen, und eine, wenn 
auch weniger lange, doch immer noch ansehnliche 
Reihe gefolgt sein muss, ehe die heutigen Wale daraus 
 hervorgingen, so erscheint eine solche Entwickelung 
doch höchst wahrscheinlich und natürlich. Die ältern 
Glieder der eigentlichen Wale sind, wegen der noch 
vollständigen Bezahnung und der noch verhältniss- 
mässigen Dimensionen des Schädels, die Delphine. 


Ihnen haben sich die Potwale oder Physeteren an- 


geschlossen, und das späteste Glied sind die Barten- 
wale. Das geht daraus hervor, weil die Barten sich 
erst dann entwickeln, nachdem in den Kiefern des 


Embryo hinfällige Zähne zum Vorschein gekommen 


waren, ein Erbtheil von den reichlich und zeitlebens 
bezahnten Vorfahren. 

In den sogenannten Halbaffen oder Lemuriden 
vereinigt das System die heterogenen Reste einer Thier- 
gesellschaft, welche man wegen der greifenden, mit 
einem opponirbaren Daumen versehenen Hinterfüsse für 
Ördnungsgenossen der „eigentlichen“ Affen hielt. Das 


sie zusammenhaltende Band ist nicht ihre anatomische . 


Beschaffenheit — sie gehen in Schädelform und Be- 


zahnung weit auseinander —, sondern mehr ihr geogra- 


phisches, auf Madagascar und einige vorgeschobene 


Posten Asiens beschränktes Vorkommen; auch hat man 
sich, was allerdings sehr unwissenschaftlich, durch einen 
gewissen besonders fremdartigen Eindruck, den sie auf 
den Beobachter machen, leiten lassen. Ihre Gehirn- 


ee © m r 7 
RE | der Säugethiere. 261 


beschaffenheit weist ihnen auf der Leiter der Säuge- 
thiere eine sehr tiefe Stufe an. Da sie nun nicht in 
ihrer Gesammtheit Beziehungen zu einer bestimmten 
Ordnung der Säuger zeigen, sondern nach den ein- 
zelnen Gattungen auf diejenigen Ordnungen weisen, 
welche allesammt mit ihnen eine kreisförmige Placenta 
besitzen, so sprechen die meisten Gründe für die An- 
nahme, dass die jetzt lebenden Lemuriden die letzten 
wenig veränderten Ausläufer einer einst viel reicher 
entfalteten Abtheilung der Säugethierwelt, und dass 
Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und Affen Zweige 
dieses Astes sind. 

Die Nager sind darum besonders interessant, weil 
sie mit zäher Festhaltung der höchst charakteristisch 
ausgebildeten und von mehrern Eigenthümlichkeiten 
des Schädels begleiteten Bezahnung die ausserordent- 
lichste Anpassungsfähigkeit an Baum und Steppen- 
boden, Land und Wasser zeigen. Die Insekten- 
fresser, obwol nicht entfernt so reich an Arten, 
bieten ein ähnliches Bild der Anpassungen dar, wodurch 
ihre Gattungen gleichsam zu Wiederholungen von Na- 
gern geworden sind; und die Fledermäuse können 
in ihrer am zahlreichsten vertretenen Abtheilung als 
ein Seitenzweig der Insektenfresser angesehen werden, 
wenn sie nicht direct aus halbaffenähnlichen Thieren 
hervorgegangen sind. 

Zu welcher geologischen Periode die Herausbildung 
von Affen aus lemuridenartigen Formen geschehen, 
wissen wir nicht. Die wenigen bekannt gewordensn 
fossilen Affen gehören höhern Affenfamilien an und setzen 
eine lange Reihe von Ahnen voraus. Zu derselben 
Voraussetzung nöthigt die geographische Isolirung der 
amerikanischen von den altweltlichen Affen, welche 
mit erheblichen anatomischen Differenzen verbunden 


ist, ohne dass es dem Zoologen und vergleichenden 


Anatomen einfallen könnte, ihre engste systematische 
Zusammengehörigkeit zu leugnen, 


RE EU 


262 Der Mensch ‚als Object 


Das Verhältniss der niedrigern Affen zu den höhern 
bedarf noch weiterer Erörterungen, welche wir mit 
der Besprechung des Verhältnisses des Menschen zu 
den Affen verbinden. | 


XI. 
Der Mensch. 


Wenn Goethe einmal äussert: „Wir tasten ewig an 
Problemen. Der Mensch ist ein dunkles Wesen; er 
weiss wenig von der Welt und am wenigsten von sich 
selbst‘ 78, so wiederholt er ungefähr, was J. J Rousseau 
ım Emil sagt’®: „Wir haben keinen Massstab für diese 
ungeheuere Maschine (der Welt); wir können die Be- 
ziehungen derselben nicht der Rechnung unterwerfen; 
wir kennen weder ihre Grundgesetze noch ihren End- 
zweck; wir kennen uns selbst nicht; wır kennen weder 
unsere Natur, noch das in uns thätige Princip.“ 

Solche und ähnliche Citate hält man uns gern ent- 
gegen, um damit die Behauptungen über die Beschränkt- 
heit unsers Erkenntnissvermögens und die Grenzen 
der Wissenschaft mundgerecht zu machen und zu be- 
kräftigen. Allein dem vortrefflichen J. J. Rousseau 
können wir in der Anthropologie unmöglich eine grössere 
Autorität als einem Kirchenvater beimessen, und dem 
Goethe, dessen gelegentlich hingeworfene Worte Ecker- 
mann der Nachwelt überliefert, stellen wir den andern 
Goethe entgegen, welcher im Vollgefühl der Jugend- 
kraft ausruft: 


Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich 
fähig 
Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich 
aufschwang, 
Nachzudenken — 80 


und welcher die schönste Organisation, wie er den 
Menschen nennt, in völliger Harmonie mit jenem höch- 
sten Gedanken begreift. 


der Abstammungslehre. a0 


- Unsern bisherigen Betrachtungen und Ausführungen 
würde der Abschluss mangeln, sollte der Mensch aus- 
geschlossen sein, sollte nicht alles, was über Werden 
und Zusammenhang der Thierheit gesagt ist, auch für 
die Erkenntniss seines Wesens unmittelbar verwandt 
werden können und müssen. Alles Unbehagen an der 
 Abstammungslehre, der Zweifel an derselben, der Zorn 
_ über sie concentrirt sich auf ihre Anwendbarkeit und 
vollzogene Anwendung auf den Menschen. Und wenn 
man uns auch nothgedrungen die Leiblichkeit preisgibt, 
so soll wenigstens die geistige Sphäre des Menschen 
ein Unerforschliches, ein Noli tangere für die Natur- 
forschung sein. Vor einigen Jahren noch hatten die 
‘ Gegner der Descendenzlehre den Trost, dass Darwin 
selbst über den Menschen sich nicht direct ausgespro- 
chen. Man eiferte über seine Anhänger, welche Dar- 
win überdarwint hätten. Dazu kam das unglückselige 
Misverständniss, als ob die Vertheidiger der Descen- 
denzlehre das Menschengeschlecht aus der Veredlung 
vom Orang, Schimpanse oder Gorilla, kurz, von noch 
lebenden Affen hervorgehen liessen. 

Aber jeder einigermassen logische Denker musste 
_ vom ersten. Auftauchen der darwinistischen Lehre an 
den Menschen ebenfalls als veränderlich und aus der 
Veränderlichkeit der Arten hervorgegangen ansehen; 
und nun hat uns auch Darwin in seinem Werke „Ueber 
die Abstammung des Menschen“ gesagt, warum. er 
diesen selbstverständlichen Schluss nicht schon in sei- 
ner ersten Schrift ausgesprochen habe:, er wollte da- 
durch nicht die Vorurtheile gegen seine Ansicht ver- 
stärken und herausfordern; er verschwieg den Schluss 
als ein Kenner der menschlichen Schwachheit. „Es 
schien mir hinreichend‘ , sagt er, „in der ersten Aus- 
gabe meiner «Entstehung der Arten» darauf hinzuwei- 
sen, dass durch dies Buch Licht auf den Ursprung des 
Menschen und seine Geschichte geworfen werden würde, 
und. dies’ schliesst doch den Gedanken ein, dass der 
Mensch mit andern organischen Wesen: bei jedem all- 


264 a Vorläufige = 2 ER 


gemeinen Schlusse in Bezug auf die Art seiner Penn 
nung auf der Erde inbegriffen sein müsse.“ 

Ja, noch weiter ist nun Darwin selbst gegangen; « er 
hat zum Entsetzen aller, die sich den Menschen kaum 
anders als rasirt und mit dem Complimentirbuch er- 
schaffen denken können, ein allerdings nicht schmeichel- 
haftes und in manchen Stücken vielleicht auch nicht 
zutreffendes Porträt unserer muthmasslichen Vorfahren 
entworfen, auf der Stufe, wo die Menschwerdung erst 
im Zuge. 

Ehe wir das ernste Thema ernst behandeln, ge- 
statten wir uns, ein leichteres Urtheil eines geistreichen 
Feuilletonisten voranzustellen.° ‚Nehmen wir, blos 
zum Scherz, an, die Natur, welche wir immer und 
überall vom Einfachsten bis zum Zusammengesetzten, 
vom Niedrigen zum Höhern schreiten sehen, hätte die- 
sem Gesetze nicht angesichts des Menschen plötzlich 
entsagt; sie hätte seinetwegen nicht ihre Entwickelung 
plötzlich aufgegeben; sie hätte in ihm nicht plötzlich 
eine neue Schöpfung begonnen, sondern sie wäre 
hierbei wie bei allem übrigen hübsch sachte, allmäh- 
lich, natürlich vorgegangen, und der Mensch wäre 
demnach nichts als das letzte Glied der endlosen Reihe 
von Thieren, nichts als ein «entwickelter Affe». Das 
Erste, was sich uns dann aufdränge, würde die Be- 
merkung sein, dass in den Thatsachen dadurch nicht 
das Geringste geändert sei, dass der Mensch ganz der- 
selbe bliebe, der er ist, mit derselben Gestalt, dem- 
selben Gesicht, demselben Gang, denselben Geberden, 
denselben Anlagen, Kräften, Gefühlen, Gedanken, und 
mit derselben Herrschaft über den Affen, wie bisher. 
Dies ist sehr einfach, sehr selbstverständlich, aber auch 
sehr wichtig. Denn es gibt ihm, dem Menschen, die 
starke Empfindung davon, dass er, sowie er jetzt ist, 
ein ganz eigen geartetes, auch von den verwandtesten 
Geschöpfen sehr verschiedenes Wesen, und dass diese 
Eigenart zugleich sein eigenstes Eigenthum ist, er 
mag es nun als ein fertiges Geschenk empfangen oder 


ner HA De a a a er BT I u 
Sa vw = ie EP Be -£ N N F 


"Folgerungen. | - 265 


es aus einem niedern Zustande mühsam in Jahrzehn- 
tausenden herausgearbeitet haben. Ist nun aber seine 
gegenwärtige Beschaffenheit durch seinen (vorausgesetz- 
ten) thierischen Ursprung nicht im geringsten beein- 
trächtigt, so können auch seine Ziele und Aufgaben, 
seine Bestrebungen und Berufsarten, kurz seine ganze 
Zukunft keine andere sein, als er sie sich seinem gan- 
zen Wesen nach vorstellen und denken muss. Oder 
sollte der gebildete Theil der Menschheit durch den 
Gedanken, vom Affen abzustammen, wirklich so tief 
entmuthigt werden können, dass er, an der Möglich- 
keit verzagend, seine Bildung, welche ihm keineswegs 
als reife Frucht in den Schos fiel, sondern die er sich 
schwer errungen hat, aufrecht zu erhalten und fort- 
zuführen, seinen Handel und Wandel, seine Rechts- 
und Staatsformen, seine Kunst und Wissenschaft auf- 
gäbe und sich zu dem Austral-Neger herabsinken 
liesse? Dass er das, wodurch er sich über den Affen 
so hoch erhoben hat und immer höher erhebt, fahren 
liesse, weil es ihm einst schwer geworden, sich auch 
nur um eines Haares Breite über jenen zu erheben? 
Aber welcher von der Natur zum Herrscher bestimmte 
Mann hätte deshalb nach der Krone nicht gegriffen, 
weil sein Vater ein Knecht gewesen? Oder welcher 
geborene Rafael hätte deshalb Pinsel und Palette weg- 
gelegt, weil sein Erzeuger das Handwerk eines An- 
streichers ausgeübt? Die Menschheit wird, wie jeder 
einzelne, ihre Kräfte üben und ausbilden, weil sie sie 
hat, nicht weil sie sie von da oder dort her hat.“ 
Wir geben solchem flüchtigen Sprühfeuer sein Recht, 
verlangen aber eingehendere Begründung, um das End- 
urtheil schöpfen zu können. Denjenigen, welche sich 
in die Descendenzlehre vertiefen, ist die Anwendung 
derselben auf den Menschen ein einfacher Deductions- 
fall aus einem fallgemeinen, durch die Methode der 
Induction gewonnenen Gesetze. Wie Goethe den Zwi- 
schenkiefer für den Menschen postulirte, noch ehe er 
ihn gesehen und nachgewiesen, so muss die Descendenz- 


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266 Wesen der Menschheit. ER 


lehre alle ihre Resultate und mehr oder weniger schon 
klar gelegten Gesetze auf den Menschen übertragen. 
Die Jnduction wurde durch die gehäuften, sich decken- 
den, controlirenden und bestätigenden Beobachtungen 
der vergleichenden Anatomie, der Entwickelungsge- 
schichte und Paläontologie bewerkstelligt. Es bleibt 
daher für alle, welche der Wunderglaube und die 
Unterwerfung unter die Annahme einer Offenbarung 
nicht befriedigt, nichts übrig, als die Abstammungs- 
lehre. Dieselbe auf den Menschen anzuwenden, ist 
nicht gewagter, ist vielmehr ebenso innerlich noth- 
wendig, als wenn wir Zoologen danach irgendeinen 
bisher unbekannten Polypen, einen Seestern, eine Maus 
beurtheilen. Unsere Gegner verneinen das. Der Mensch 
habe Eigenschaften, welche ihn absolut vom Thier 
trennen und die Anwendbarkeit der Descendenzlehre, 
dieselbe überhaupt vorausgesetzt, in diesem einen Falle 
ausschliessen. Dieser sehr oft zu hörenden Behaup- 
tung setzen wir zunächst eine allgemeine Bemerkung, 
die Auffassung des menschlichen Wesens betreffend, 
entgegen. _ | 

Man pflegt zu übersehen, dass man, ganz abgesehen 
von der Gültigkeit der Abstammungslehre oder von deren 
Existenz überhaupt, einer merkwürdigen Inconsequenz 
hinsichtlich des Begriffes der Menschheit sich schuldig ge- 
macht hat. Die Philosophie der Geschichte hat das Wesen 
der Menschheit in die Veränderlichkeit, nämlich in 
das Vermögen zum Fortschritt gesetzt. Wenn man 
. aber irgendwelche untrennbare Abhängigkeit des Gei- 
stigen vom Körperlichen zugab, wie es, eine extreme 
spiritualistische Richtung ausgenommen, geschah, so 
war doch die Vervollkommnung des Geistesvermögens 
des Menschengeschlechtes nicht denkbar ohne eine ge- 
wisse damit parallel laufenden Umbildung des körper- 
lichen Substrates, welche über die Grenzen der blossen 
Variabilität hinausging. Selbst unter der Voraussetzung, 
dass der Geist sein Organ, das Gehirn, sich selbst 
bilde, hätte man den specifischen Begriff des Menschen 


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EN | Der Leib des Menschen. 267 


in die Fähigkeit auch zur körperlichen Vervollkomm- 
nung gegenüber der vermeintlichen Starrheit des thie- 
rischen Organismus setzen müssen. Denn im Princip 
ist es ja einerlei, ob Arme und Beine sichtbar, oder 
ob die Moleculen der Gehirnsubstanz für das Auge un- 
sichtbar sich verändern. Wir holen also nur eine 
Versäumniss der Philosophie nach, wenn wir der kör- 
‚perlichen Veränderlichkeit des Menschen diejenige Aus- 
dehnung zuerkennen, welche ihr aus der Anwendbar- 
keit der Descendenzlehre auf den besondern Fall 
zukommt. 

‘ Die leibliche Uebereinstimmung zwischen 
Mensch und Thier lässt für die Abstammungslehre 
wenig zu wünschen übrig, sodass die. Befürchtung des 
Mephistopheles, es möchte dem grübelnden Menschen 
am Ende noch vor seiner Gottähnlichkeit bange wer- 
den, viel eher auf die Thierähnlichkeit angewendet 
werden könnte. Der menschliche Leib, wie der jeden 
Thieres, weist in seiner Ausbildung auf ein Heraus- 
arbeiten aus der indifferenten zur specificirten Form. 
Und wenn die Gesammtanlage des Körpers, die Ent- 
wickelung der einzelnen Organe dem Menschen mit 
allen Säugern, und in den frühern Stadien des embryo- 
nalen Zustandes mit allen Wirbelthieren gemein- ist 
und auf diese allgemeine Verwandtschaft führt, so stellt 
uns das Vorhandensein einer kreisförmigen Placenta, 
insofern wir nicht eine besondere wiederholte Neu- 
‚schöpfung dieses Entwickelungsorganes belieben, wobei 
der Schöpfer sich an das Muster der Placenta der 
Halbaffen, Nager, Insektenfresser, Fledermäuse und 
Affen gehalten hätte, vor die Alternative, dass ent- 
weder bei der natürlichen, uns unbekannten Entwicke- 
lung des Menschen der Zufall oder eine ganz andere 
Kette von Ursachen zur kreisförmigen Placenta, wie 
dort, geführt habe, ‘oder dass die Uebereinstimmung 
in der Blutsverwandtschaft mit den discoplacentalen 
Säugern ihren Grund habe. Wir haben oben ($. 253) 
unsere Bedenken ausgesprochen dagegen, dass man aus 


% eg 


Ä 268 Anatomischer Vergleich‘ 


der oberflächlichen Uebereinstimmung der Placenta auf 
die Verwandtschaft von Säugethierordnungen mit Sicher- 
heit schliessen könne, haben uns daher hier, wo wir 
auf die Uebereinstimmung der menschlichen mit der 
Affenplacenta Gewicht legen, zu rechtfertigen. Die 
obengenannten Ordnungen besitzen sämmtlich eine 
Placenta von geringerer Ausdehnung und scheibenför- 
miger Gestalt. In der Form dieser Scheibe und in der 
Vertheilung und Anzahl der Blutgefässe im Nabel- 
strange, wodurch die fötale Athmung und Ernährung 
vermittelt wird, kommen mancherlei Varietäten vor. 
So zerfällt in der Familie der pithecoiden Affen die 
Placenta in zwei Scheiben, während die Nabelstrang- 
gefässe mit denen des Menschen übereinstimmen; bei 
den amerikanischen Affen dagegen ist die Placenta 
einfach und die Gefässe verhalten sich abweichend. 
Ueber diese Organe beim Orang und Gorilla wissen 
wir nichts; aber der Schimpanse stimmt darin mit dem 
Menschen überein, dass er eine einfache scheibenför- 
mige Placenta hat mit zwei zuführenden Gefässen 
(2 arteriae umbilicales) und einem zurückführenden 
(vena umbilicalis). 

Bei allgemeiner Gleichförmigkeit der menschlichen 
Placenta mit derjenigen der discoplacentalen Säuger 
steht der Mensch speciell wenigstens einem der so- 
genannten anthropomorphen Affen näher, als dieser 
den übrigen Affen. Und so ist allerdings die Beschaffen- 
heit der Placenta von grosser Bedeutung für die Be- 
urtheilung der systematischen Stellung des Menschen. 
So ungeheuer unwahrscheinlich jener oben in Betracht 
gezogene Zufall, so wahrscheinlich, so einzig annehm- 
bar ist die Blutsverwandtschaft, und mit Berücksich- 


tigung der gesammten Organisation muss bei einer 


speciellen Vergleichung des Menschen mit den Säuge- 
thieren der Affe in den Vordergrund treten. 

Diese Vergleichung ist ausgezeichnet durchgeführt 
worden von Huxley und Broca.°* Der letztere hat 
sich die Aufgabe gestellt, abgesehen von allem Prin- 


\ 


nn re Ze E 
des Menschen mit dem Affen. 269 


eipienstreit und unbekümmert um die Abstammungs- 
‚lehre, als rein beschreibender Anatom und Zoolog zu 
untersuchen, ob die anatomische Beschaffenheit des 
Menschen, verglichen mit derjenigen der Affen, nach 
aligemeinen zoologischen Grundsätzen die Vereinigung 
beider zu einer Ordnung — Primaten — rechtfertige. 
Huxley zeigt, dass die anthropomorphen Affen (Gibbon, 
Schimpanse, Orang, Gorilla) von den niedrigen Affen 
viel mehr abweichen als vom Menschen, und dass, 
wenn man sich zur Annahme der Blutsverwandtschaft 
sämmtlicher Affen unter sich genöthigt sieht, die ge- 
meinsame Abstammung der anthropomorphen Affen und 
des Menschen mindestens ebenso natürlich sei. 

Zwischen den Endgliedern der systematischen Affen- - 
gruppen, z. B. zwischen den amerikanischen Sahuis 
und den altweltlichen Pavianen und den Anthropo- 
morphen, bestehen höchst erhebliche Differenzen, sowol 
in der Beschaffenheit der Gliedmassen und der andern 
Theile des Skelets sammt der dazu gehörigen Weich- 
theile, namentlich der Muskulatur, als in der Bezah- 
nung und Gehirnbildung. Es ist falsch, die Affen 
Vierhänder zu nennen, vielmehr trıtt innerhalb der 
Ordnung der Affen der Gegensatz zwischen Hand und 
Fuss in ihren ‘wesentlichen anatomischen Attributen 
hervor, und hat bei den anthropomorphen Affen, am 
entschiedensten beim Gorilla, fast dieselbe Ausprägung, 
wie beim Menschen. 

Der durch seine sorgfältigen Schädelmessungen be- 
kannte Anatom Lucä will in der Stellung der Schädel- 
achse eine höchst wichtige Marke zwischen Menschen 
und Affen sehen. Bei den Affen nämlich liegen die 
drei, die Schädelachse bildenden Knochen, unteres Hin- 
terhauptsbein und die beiden Keilbeine, fast in einer 
Linie gestreckt, während beim Menschen eine doppelte 
Knickung dieser Achse eintritt; und zwar vergrössern 
sich mit dem Alter bei den Affen die Winkel, welche 
beim Menschen kleiner werden, und umgekehrt. Auch 
stellt sich das Hinterhauptsloch beim Menschen mit 


270 * Anatomischer Vergleich 


dem Alter horizontaler, beim Affen steiler. Allein 
das alles zeigt nur, was die Descendenzlehre behaup- 
tet, dass beide Reihen, Affe und Mensch, auseinander- 
gehen und die jugendlichen Individuen sich mehr 
gleichen als die alten, dass der Affe, indem er wächst, 
thierischer, der Mensch, wie schon das Räthsel der 
Sphinx andeutet, menschlicher wird. Die Kniekung des 
Grundbeines und die horizontale Stellung des Hinter- 
hauptsloches hat den aufrechten Gang im Gefolge, 
womit die völlige Scheidung von Hand und Fuss sich 
vollzieht. Jene Knickung der Schädelachse mag daher 
immerhin als menschlicher Charakter den Affen gegen- 
über hervorgehoben, ein besonderer Ordnungscharakter 
kann daraus schwerlich abgeleitet werden, und zumal 
für die Abstammungsfrage scheint uns dieser Umstand 
nicht im geringsten entscheidend zu sein. | 

Die anthropomorphen Affen stehen nicht nur in Be- 
ziehung auf Hand und Fuss, sondern auch auf Gebiss 
und Gehirnbildung dem Menschen viel näher als jenen 
niedrigen, den breitnasigen neuweltlichen Affen. Diese 
nämlich haben sechs Backzähne und ihr Gehirn zeigt 
die Unvollkommenheiten des Gehirns der Halbaffen 
und der Nagethiere. Mit den Affen der Alten Welt 
haben dagegen die anthropomorphen Affen fünf Back- 
zähne, und jeder Theil des menschlichen Gehirns, bis 
auf den kleinen Pferdefuss, ist bei ihnen auch vor- 
handen. Der Streit um diesen unbedeutenden Hirn- 
theil, welchen R. Owen als ein ausschliesslich mensch- 
liches Merkmal ansprach, hat nur noch ein historisches 
Interesse, nachdem es mit dem hintern Horne der 
seitlichen Hirnhöhlen durch eine Reihe der ausgezeich- 
netsten Anatomen bei Orang und Schimpanse nach- 
gewiesen ist. Und so bleiben für denjenigen, welcher 
von der Hoffnung auf specifische Unterschiede zwischen 
Menschen- und Affenhirn nicht lassen will, nur die 
an der Oberfläche des grossen Gehirnes befindlichen 
Furchen und Erhebungen, die sogenannten Gehirn- 
windungen übrig. Aber auch hier sucht man vergeblich 


— z 


des "Menschen mit dem Affen. 971 


nach fundamentalen Unterschieden, wofern man nicht 
‘ darauf das Hauptgewicht legen will, dass beim mensch- 
lichen Embryo die Faltung des Gehirns mit den Stirn- 
lappen, beim Affen mit den Schläfenlappen beginnt. 
Die constanten, allen menschlichen Gehirnen gemein- 
samen Hauptwindungen zeigen sich auch bei Orang 
und Schimpanse. Diese Windungen verlieren sich, oder 
vielmehr sind unvollkommener vorhanden bei den, den 
Anthropomorphen näher stehenden Affen, sie fehlen 
ganz bei den Ouistitis. So gross aber ist die Aehn- 
lichkeit der Gehirnoberfläche der beiden genannten 
Affen mit der des Menschen, dass es, wie Broca sagt, 
„des Auges eines geübten Anatomen bedarf, um nach 
Zeichnungen, welche auf dieselbe Grösse reducirt sind, 
ihr Hirn von menschlichen Hirnen zu unterscheiden — 
besonders wenn man zu Vergleichsobjecten Hirne von 
Negern oder Hottentotten nimmt, die einfacher sind 
als die der Weissen“. Einen äussersten Versuch zur 
Rettung specifischer menschlicher Hirncharakter machte 
der zu früh verstorbene pariser Anatom Gratiolet. 
Der Mensch sollte sich durch eine der sogenannten 
Uebergangsfalten unterscheiden. Diese Uebergangs- 
falten sind Windungen, durch welche der hintere Lap- 
pen des grossen Gehirns mit den vordern und seit- 
lichen Theilen verbunden wird. Allein Broca hat sehr 
lichtvoll ausseinandergesetzt, dass es sich mit diesem 
wie mit den andern Merkmalen verhält, z. B. das 
Verhalten der Uebergangsfalten des Orang vielmehr 
denen des Menschen, als denen des Schimpanse gleicht, 
und dass überhaupt die vorhandenen Unterschiede 
höchstens den Werth von Art- und Gattungscharak- 
teren haben können. 

Der Abstand zwischen den niedern und den höhern 
Affen ist weit grösser als zwischen letztern und dem 
' Menschen, und wenn über die Blutsverwandtschaft der 
gesammten Affenheit nach darwinistischer Anschauung 
entschieden ist, so kann um so weniger über den ver- 
wandtschaftlichen Zusammenhang der altweltlichen Affen 


3" ee ae re = ze a BEER 


272 Anatomischer Vergleich 


mit dem Menschen ein Zweifel sein. Die Form des 
fertigen Schädels und des Gebisses, um diese Organe 
hervorzuheben, lassen aber den Gedanken gar nicht 
aufkommen, dass der Mensch seine unmittelbaren Ahnen 
unter den jetzt lebenden Affen hätte. Der wohlfeile, 
mit vielem Behagen vorgebrachte Witz, warum man 
denn nicht das interessante Schauspiel der Umwand- 
lung des Schimpanse in einen Menschen, oder des 
Menschen rückwärts durch Verkümmerung in einen 
Orang vor sich gehen sähe, zeugt von nichts als der 
gröbsten Unwissenheit in Angelegenheit der Descen- 
denzlehre. Sowenig als einer dieser Affen zum Zu- 
stande seiner Urvorfahren zurückkehrt, weil er sich 
seiner erworbenen und durch die Vererbung fixirten 
Eigenschaften nicht entäussern kann, es sei denn auf 
dem Wege der Verkümmerung — womit nichts weniger 
als ein Urzustand erlangt wird —: ebenso wenig kann 
er über sich hinaus zum Menschen werden; denn der 
Mensch liegt eben nicht in gerader Entwickelungs- 
richtung vor ihm. Die Entwickelung der menschen- 
ähnlichen Affen hat einen Gang genommen abseits von 
den nächsten menschlichen Vorfahren, und der Mensch 
kann ebenso wenig sich in einen Gorilla umformen, 
als ein Eichhörnchen sich in eine Ratte verwandeln 
wird. Der Affenverwandtschaft des Menschen wird 
daher kein Eintrag gethan durch die bestialische Stärke 
des Gebisses des ausgewachsenen männlichen Orangs 
oder Gorillas,. durch die Leisten und Auftreibungen 
an den Schädeln dieser Thiere.. Ein namhafter Zoo- 
log, einer der wenigen, welche beim alten Glauben 
geblieben, hat sich die unnütze Mühe gegeben, nach- 
zuweisen, dass der ÖOrangschädel sich unmöglich in 
das Menschenhaupt umwandeln könne. Als ob je die 
Descendenzlehre solchen Unsinn behauptet hätte! Der 
knöcherne Schädel jener Affen ist bei einem Extrem ! 
angelangt, vergleichbar dem des Hausrindes. Dieses 
Extrem tritt aber erst nach und nach im Verlaufe 
des Wachsthums hervor, und das Kalb weiss davon 


des Menschen mit dem Affen. 973 


noch wenig, sondern besitzt, wie wir schon oben er- 
wähnt, die Schädelgestalt der antilopenartigen Vor- 
fahren. In den heutigen Antilopen, auch noch bei den 
Ziegen und Schafen ist jene beim Kalbe vorübergehende 
Form stabil geblieben. Indem nun der jugendliche 
Schädel der anthropomorphen Affen unwiderleglich 
deutlich die Abkunft von Vorfahren mit einem wohl- 
geformtern, noch bildsamen Schädel und einem, dem 
menschlichen ganz nahe stehenden Gebiss zeigt, so 
hat bei ihnen die Umformung dieser Theile mit dem 
‘ Gehirn, letzteres wegen des stabil gebliebenen geringen 
Volumens, einen sozusagen verhängnissvollen Weg 
eingeschlagen, während in dem menschlichen Zweige 
die Selection in der grössern Conservirung jener Schä- 
deleigenschaften wirkte. 

Hiermit fällt auch der noch jüngst von dem ehr- 
würdigen Karl Ernst v. Bär erhobene Einwurf, dass 
man sich nicht vorstellen könne, wie aus dem zum 
Klettern und Umfassen eingerichteten Fusse des Affen 
der zum platten Auftreten und Gange geschickte Men- 
schenfuss sich im Kampfe ums Dasein habe entwickeln 
sollen, in sich zusammen. Die Anlage, die grosse 
Zehe den übrigen entgegenzusetzen, also zum Greif- 
fuss, ist bekanntlich auch dem Menschen eigen, und 
diese Anlage ist jedenfalls ererbt. Wie weit aber die 
Fähigkeit zum Klettern bei den Urahnen ausgebildet 
sein mochte, ist ebenso unbekannt, als diese Urahnen 
selbst. Es steht demnach die Geschicklichkeit der mei- 
sten heutigen Affen im Klettern mit dem Ungeschick 
des Menschen hierzu nur im entfernten Zusammen- 
I hange, und kommen diese Eigenschaften bei der Be- 
Jurtheilung der Blutsverwandtschaft kaum in Betracht. 
Indem die Descendenzlehre einen gemeinschaftlichen 
4Ursprung des Menschen und der menschenähnlichen 
Affen in logischer Schlussfolge fordert, weist sie, wie 
nochmals hervorzuheben eigentlich überflüssig, die un- 
verständige Forderung nach Zwischenformen zwischen 
Mensch und Gorilla zurück. - Was künftige Zeiten 


Schmipr, Descendenzlehre, f 18 


274 ‘Wie der Mangel an fossilen 


vielleicht noch entdecken, sind Zwischenformen, welche 
zu der gemeinschaftlichen Ausgangsform der heutigen 


Affen und des Menschen zurückgehen. Und so besteht 
trotz der intimsten bisher besprochenen Beziehungen 
die Kluft, welche etwa in dem Verhältniss des Ge- 
wichtes des niedrigsten bisher gemessenen Menschen- 
gehirnes zu dem des Gorillagehirnes ihren Ausdruck 
findet. Das Gewicht eines, nach ihrer Stammesweise 
noch normal fungirenden Buschmannweibes betrug 


872 Gramm (Cuvier’s Gehirn wog 1629 Gramm), das 


eines Gorilla lässt sich nach der Capacität des Schä- 
dels auf etwa 563 Gramm schätzen; das ergibt 
das ungefähre Verhältniss von 3:2. Allein wie 
erhaben der Mensch in seiner Leiblichkeit sich 
über dem Thiere fühlen mag, auch hierin macht er 
für sich keine Ausnahme, insofern ja zahlreiche Thier- 
formen zu ihren unverkennbar nächsten Verwandten 
eine ebenso isolirte Stellung einnehmen. 

Werden wir an eine doppelte Schöpfung ax Wir- 
belthiere denken, weil der Lanzettfisch jetzt um eine 
ganze Stufenleiter nicht mehr vorhandener Zwischen 
formen von den Fischen absteht? Sehr lehrreich für 
unsern Fall ist unter anderm das Beispiel des Pferdes. 
Vergegenwärtigen wir uns, dass diese Gattung sich in 
der Beschaffenheit der Gliedmassen und des Gebisses 
von allen jetzt lebenden Pflanzenfressern viel bedeu- 
tender unterscheidet, als der Mensch vom Affen. Hätte 
man die fossilen Hufthiere, welche den gemeinsamen 
Ursprung des Pferdes mit den Zwei- und Mehrhufern 
klarlegen, nicht gefunden, so würden wir gleichwol 
das Pferd für keine besondere Wunderschöpfung hal- 
ten, sondern seine wirkliche Verwandtschaft mit den 
übrigen Hufthieren unanfechtbar deduciren. Diese 
‘reine Deduction ist aber deshalb nicht nöthig, weil, 
die Vorfahren des Pferdes in ausgezeichneten Ueber- 
resten da sind und, wie wir frähet sahen, schon vor 
einem halben Jahrhundert in R. Owen die Ueberzeu- 
gung von einer directen Verwandlung der dreizehigen 


Be Zwischenformen aufzufassen. TED 


Gattungen in die einzehige hervorriefen. Das Be- 
kanntwerden der dreizehigen Pferde ist ein Glücks- 
fall; sie waren in Theilen Europas heimisch, welche 
am fleissigsten für die Paläontologie blossgelegt und 
durchwühlt wurden. 

Dass uns aber die fossilen Vorfahren des Menschen 
in den Museen noch fehlen, ist nicht auffallender als. 
der bisherige Mangel der Zwischenformen, welche z. B. 
die Stellung des Dinotherium im System endgültig 
entscheiden würden. Auch auf den Elefanten weisen 
wir nochmals hin, der mit dem ihm nächstverwandten 
Mastodon eine viel ısolirtere, durch keine Fossile er- 
läuterte Stellung zu* den andern Dickhäutern ein- 
nımmt, als der Mensch zu den Affen. Wir wollen damit. 
erörtert haben, dass der Einwurf, der Mensch ver- 
rathe durch unüberbrückte Eigenthümlichkeiten — auf- 
rechten Gang, relative Haarlosigkeit, Kinn, Ueber- 
gewicht des Gehirns u. a. — eine absolute Sonderstellung, 
für die vergleichende Anatomie und Paläontologie nicht: 
besteht, und dass das Verlangen, die Anhänger der 
Descendenzlehre möchten doch die nothwendig einst. 
vorhanden gewesenen Zwischenformen vorzeigen, nur 
von solchen Dilettanten erhoben werden kann, denen. 
das Reich des Lebendigen in seiner Ganzheit ein ver- 
schlossenes Buch geblieben. 

Wie wir nun oben bemerkten, lässt man sich wol 
herbei, wie man sagt, die Leiblichkeit des Menschen 
der Naturforschung preiszugeben, um die andere Seite: 
des Dualismus desto gewisser zu retten. Aber auch 
hierin lassen wir uns das Wort und eigenes Urtheil 
nicht nehmen. Die geistigen Kräfte des Menschen sind 
| in ıhrem Entstehen, Wachsen und Wirken der Natur- 
iforschung auch zugänglich, und nur zu lange meinte 
| die Psychologie der Physiologie entrathen zu können. 
1Gehen wir also getrost an eine kurze Prüfung. 
| Man gibt allgemein zu, dass eine gewisse Verwandt- 
ischaft oder Analogie des seelischen Vermögens .der 
“Ihöhern Thiere mit dem Menschen bestehe. Nur die 


187 


276 Entwickelung der Vernunft. 


Vernunft, sagt man, der Inbegriff der Seelonthatige]| 
keiten, womit der Mensch zum Selbstbewusstsein ge- 
langt ned sich zum Abstracten erhebt, Begriffe com- 
ER namentlich religiöse, in Kunst -—: Wissenschaft 
lebt, diese Vernunft besitze das Thier nicht. Wir 
erwidern, dass allerdings diesen Grad der geistigen 
Entwickelung die Thiere nicht besitzen, aber auch der 
Mensch nicht auf niedern Entwick 
Die Seele des neugeborenen Kindes ist in 
ihren Aeusserungen von der des jungen Thie- 
res gar nicht verschieden; ihre Aeusserungen sind 
Functionen des kindlichen Nervensystems; mit diesem 
wachsen sie und entwickeln sich zugleich mit der 
Sprache. Die Stufe, bis wohin im allgemeinen diese 
Entwickelung steigt, ist von den vorausgegangenen 
Generationen abhängig. Die Seelenfähigkeiten jedes 
Individuums tragen den Stammestypus an sich und 
sind durch die Gesetze der Vererbung bestimmt. Denn 
es ist einfach nicht wahr, dass unabhängig von Farbe 
und Abstammung jeder Men on unter übrigens gleichen 
Bedingungen eine gleiche Höhe der geistigen Entwicke- 
lung erreichen könne. Man hält uns, um diese prin- 
cipielle Gleichheit der Menschheit zu beweisen, ein- 
zelne Beispiele begabter Neger und Indianer vor. 
Allein diese haben ungezählte Generationen, geübt in 
vielfacher Industrie, gewandt in einem, wenn auch | 
einseitigen Menschenverkehr, hinter sich; und wenn] 
man diese seltenen Phänomene gründlich untersucht, 
so bleiben sie doch hinter den Durchschnittsindividuen 
der vorgeschrittenen Rassen zurück. ‘Nun macht aller- 
dings in jeder Rasse jedes Individuum die untern Stu- 
fen der Leiter geistiger Entwickelung durch, welche, 
durchaus analog den anatomischen Entwickelung 
gesetzen, allgemeine Geltung haben, während nac 
oben die psychologischen Sonderheiten der Rasse zur 
Geltung kommen. In der Menschheit aber ist es wie 
im Individuum: sie hat sich im Verlaufe der Zeit die 


Geistiger Fortschritt, 277 


höhern Geistesfähigkeiten errungen, die wir in der 
Vernunft zusammenfassen. 
_ Die Geschichte zeigt, wie niemand leugnet, einen 
geistigen Fortschritt, aber nur bei Völkern, 
welche an der Geschichte Selbst sich betheiligt haben, 
und nur so lange, als diese Betheiligung und die Uebung 
der Geistesorgane stattfand. Es gibt aber auch nie- 
drige Menschenrassen, wir können sie auch Menschen- 
arten nennen, die sich zu den andern ähnlich ver- 
halten, wie niedrige Thiere zu höhern. Man könnte 
sögar die Menschengattung damit charakterisiren, dass 
ihre Arten so ganz ausserordentlich verschiedene Stufen 
des Geisteszustandes einnehmen. Wir lassen uns durch 
die gegentheiligen Behauptungen von Missionaren und 
andern Menschenfreunden, durch das Reden von Men- 
schenwürde und Gottähnlichkeit nicht irremachen, 
auch nicht auf die noch zu erwartende Entwickelung 
aller bisjetzt zurückgebliebenen Völker vertrösten. 
Selbstverständlich ist es zwar aus der Descendenz- 
und Selectionstheorie, dass viele der gegenwärtig in 
geistiger Hinsicht tief zurückstehenden Stämme es 
künftig viel weiter gebracht haben werden. Für an- 
dere aber, wenn wir die Ethnographie und Anthropo- 
logie der Naturvölker nicht vom Standpunkt des Phi- 
lanthropen und Missionars, sondern des kühlen und 
nüchternen Naturforschers betrachten, ist infolge ihres, 
von den allgemeinen Entwickelungsverhältnissen ge- 
regelten Zurückbleibens das Unterliegen im Kampfe 
um das Dasein der natürliche Verlauf der Dinge. 
"Wenn wir den geistigen Zustand der Menschheit 
untersuchen und mit den Seelenfähigkeiten der Thiere 
vergleichen, so dürfen wir nicht den europäischen oder 
indischen Durchschnittsmenschen zum Massstab nehmen, 
sondern jene Austral- und Papuastämme, die zum 
Theil auch körperlich auf einer Stufe zurückgeblieben 
sind, welcher die übrigen begünstigten längst in vor- 
historischen Zeiten entwuchsen. Allerdings machen viele 
es sich leicht, indem sie, von einer egalisirenden 


278. Geistiger Fortschrit. 


Menschenwürde, wie von einem nicht weiter zu be- 
gründenden Dogma überzeugt, für alle jene tief unten 
gebliebenen Rassen die Redensart bereit haben, man 
könne nicht zweifeln, dass sie aus einer einst reichern 
Geistesentwickelung zurückgebildet und zur Barbarei 
herabgesunken seien. Allein, wenn man diese Mög- 
lichkeit für einzelne Stämme, wie die Feuerländer, 
zugeben könnte, für die andern, z. B. die Australier, 
mangelt jeder urkliche Beweis dieses ehemaligen men- 
schenwürdigern Zustandes. 

Die höhern geistigen Vorzüge, welche den Mänschö 
vom Thiere trennen sollen, ee sich um etwa fol- 
gende Punkte. | 

Der Mensch allein, heisst es, sei entwickelungsfähig 
oder fortschrittsfähig. Specifisch menschlich ist aller 
durch die menschliche Sprache — denn auch viele 
Thiere besitzen die Gabe der Mittheilung — bedingte 
und vermittelte Fortschritt. Wenn wir uns aber den 
Menschen nicht als von Ewigkeit her fortschreitend 
denken wollen, so fragt es sich, wie der Anfang die- 
ses Fortschrittes beschaffen war, und so reducirt sich 
die ganze fundamentale Angelegenheit auf die Frage 
nach dem Ursprung der Sprache. Wir kommen darauf 
zurück. Fortschritt im allgemeinen ist aber auch dem 
Thiere nicht abzusprechen. Wer kann in Abrede stel- 
len, dass einzelne Hunderassen, deren Abstammung 
von stupiden Schakalen und Wölfen so gut wie sicher, 
sich geistig hoch über diese Vorfahren erhoben haben? 
Wer kann zweifeln, nachdem er die reichhaltigen Un- 
tersuchungen von H. Müller, dem Bruder unsers Fritz 
Müller, gelesen, dass die Honigbiene, indem sie all- 
mählich ihre körperlichen Vorzüge und Eigenthümlich- 
keiten erreichte, auch die ihrem feiner und detaillirter 
organisirten Gehirn entsprechenden höhern Geisteskräfte 
entwickelte. Der Mensch, das ist unser, vorbehalt- 
lich der Sprachfrage, aufzustellender Satz, ist nur 
durch den Grad und das Mittel des Fort- 
schrittes von vielen Thieren verschieden. Es 


Freier Wille. Gewissen. — "279 


_ ist nämlich unwissenschaftlich, hierbei abstract Mensch- 
heit und Thierheit gegenüberzustellen. 

Der Mensch allein, wird weiter behauptet, hat 
freien Willen. Insofern der höher entwickelte Mensch 
nach philosophischen, sittlichen und religiösen Grund- 
sätzen handelt, welche er der Erziehung und Unter- 
_ weisung verdankt, insofern er Ideale fassen und ihnen 
nachstreben kann bei geistiger und körperlicher indi- 
vidueller Befähigung, mag man dieses Gebiet des 
Willens gern zugeben, obschon wir wissen, dass auch 
diese „Freiheit“ das Gesammtresultat natürlicher Ur- 
sachen ist. Je einfacher und einförmiger aber die 
Lebensbedingungen, desto mehr verlieren die Hand- 
lungen des Menschen den Anschein und den Charakter 
der Freiheit, und desto mehr handelt das Individuum 
nur im Stammeswillen, ich möchte sagen, im Heerden- 
willen, das heisst instinctiv. Es handelt alsdann nicht 
einmal mit der staunenswerthen Ueberlegung, mit wel- 
cher einzelne glücklich organisirte Thierindividuen oder 
alle Individuen einzelner Arten sich in scheinbar ganz 
freiem Willen die Umstände zu Nutze machen. Der 
freie Wille des ethisch erhobenen Menschen 
ist kein Gemeingut aller Menschen. 

Der Mensch allein, und alle Menschen sollen ein 
Gewissen haben. Wir meinen dagegen, dass das Ge- 
wissen, welches bekanntlich auch in den civilisirtesten 
Staaten vielen Individuen total abhanden kommt, über- 
haupt gleich dem sittlichen Willen ein Erziehungs- 
 resultat einzelner Rassen und Stämme sei. 
Furcht, nach schlechter That ertappt zu werden, ist 
kein Gewissen; und dass wohlerzogene Hunde Regun- 
gen der Gewissensscham haben, welche hoch über der 
thierischen Furcht wilder Kannibalen nach vollbrachter 
Tödtung ihrer Mitmenschen stehen, kann unmöglich 
geleugnet werden. Die Belege hierzu sind überreich 
in dem anthropologischen Sammelwerke von Waitz 
aufgespeichert. 

Auch dass ein Gottesbewusstsein Grund- 


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280 . Der Gottesbegriff‘ 


eigenthum aller Menschen, stellen wir in Ab- 
rede. Es ist eben wiederum eine feststehende Phrase, 
dass auch die rohesten Völkerschaften von einem, wenn 
auch dunkeln Gefühle und Drange nach dem unbekann- 
ten Gotte geleitet würden. Diese Annahme ist so alt, 
als der bekannte Versuch des Beweises vom Dasein 
Gottes: ,De quo omnium natura consentit, id verum 
esse necesse est.“ (Worin alle in angeborener Weise 
übereinsämmen, - das muss wahr sein.) Wie oft ist 
diese ciceronische Sentenz gedankenlos nachgesagt wor- 
den! Es ist aber dieser Gottesbegriff ebenso wenig 
angeboren, als die Unterscheidung von gut und böse 
durch das Gewissen. Andere behaupten das Gegen- 
theil. So sagt Gerland von den Australiern®: „Nir- 
gends zeigt sich die Behauptung, dass der australische 
Bildungszustand auf eine höhere Stufe hinweist, klarer 
wie hier (im religiösen Gebiet), wo alles einzelne wie 
verhallende Stimmen aus früherer reicherer Zeit her- 
überschallt, wir aber keineswegs den Eindruck er- 
halten, als hätten wir es mit Halbentwickeltem, Stehen- 
gebliebenem zu thun. Daher ist denn diese Ansicht, 
die Australier hätten keine Spur von Religion oder 
Mythologie, eine durchaus falsche. Aber freilich ist 
diese Religion ganz ausgeartet, ganz zu Grunde ge- 
gangen in wilder, zusammenhangsloser, oft unglaublich 
abgeschmackter Dämonologie, in abergläubischer Ge- 
spensterfurcht.“ 

Wenn aber wenige Zeilen später in dem citirten 
Werke mitgetheilt wird, dass die Eingeborenen west- 
lich der Liverpoolkette alles in der Natur, was sie 
sich nicht selber erklären können, auf „Devil-Devil“ 
zurückführen, und dass dies offenbar nur ein aus dem 
Englischen devil (Teufel) abgeleiteter Name einer Gott- 
heit sei, welche allerdings nicht mehr deutlich vor- 
gestellt würde, so dürfen wir wol von der Seichtigkeit 
dieses Beweises für die Annahme eines ehemaligen, 
nun aber in Vergessenheit gerathenen höhern Stand- 
punktes auf die übrigen Fälle schliessen. Wir haben 


ist nicht allgemein. 281 


weit mehr Veranlassung, diesen niedrigen Stand der 
geistigen Entwickelung mit der körperlichen in Ein- 
klang zu finden, wenn wir hören, dass die Eingebo- 
renen des Vincentgolfes und der Umgebung von Adelaide 
eine sehr starke Behaarung haben, und dass selbst 
das braun gefärbte Flaumhaar der Kinder so reichlich 
und lang ist, dass die Haut fünf bis sechsjähriger Jun- 
gen ein fellartiges Aussehen annimmt. Aller Erfah- 
rung und Geschichte entgegen sollen wir aber glauben ®*, 
dass die Bewohner des australischen Nordens die ur- 
sprünglichsten seien, denn — „sie sind, wie die ge- 
bildetsten, so auch körperlich und geistig am besten 
entwickelt, sie die allein sesshaften; und jedenfalls ist 
die Annahme leichter und naturgemässer, dass die 
übrigen Eingeborenen bei ihren ewigen Wanderzügen 
verkommen sind, als dass jene, durch das bequemere 
Land fixirt, sich gehoben hätten‘. 

Das heisst das, was man bisher Anthropologie ge- 
nannt, auf den Kopf stellen. Uebrigens gibt es sogar 
recht vorgeschrittene Völkerschaften ohne Gottesbewusst- 
sein. Schweinfurt erzählt, dass die Niam-Niam, jenes 
höchst interessante innerafrikanische Zwergvolk, ein 
Wort für Gott nicht haben, also wol auch den Begriff 
nicht; und Moritz Wagner hat eine ganze Auswahl 
von Nachrichten über den Mangel religiösen Bewusst- 
seins niedriger Völker gegeben.®” Wenn trotzdem 
allen diesen Bekräftigungen immer wieder entgegen- 
gesetzt wird, dass sich doch auch bei den niedrigsten 
Wilden irgendwelch dunkles Gefühl von höhern Mäch- 
ten manifestire, so kommt der Streit schliesslich auf 
eine Silbenstecherei hinaus, welche für die Descendenz- 
lehre weiter kein Interesse hat. 

Und doch können wir diesen Gegenstand nicht ver- 
lassen, ohne noch eine zwar allbekannte, aber in die- 
sem Zusammenhange auffallenderweise noch nicht be- 
nutzte Thatsache zu berühren, welche, wie es scheint, 
allein hinreicht, um die Behauptung zu entkräften, 
dass der Gottesbegriff der menschlichen Natur immanent 


.282 | Die Sprache 


sei. Wir meinen die Thatsache, dass viele Millionen 


aus den gebildetsten Völkern, und darunter die aus- 


gezeichnetsten, klarsten Denker, den persönlichen Gott 
"nicht in ihrem Bewusstsein finden, die Millionen, als deren 


Sprecher der heldenmüthige David Strauss aufgetreten, 


indem er Ulrich’s von Hutten, seines Lieblings, Devise 
zur seinigen machte: Ich hab’s gewagt — Jacta est alea! 

Aber die Sprache?! Alle Sprachforscher der neuern 
Zeit stimmen darin überein, dass die Sprachen sich 
entwickeln, und dass höchst wahrscheinlich alle Sprach- 


familien drei Stufen durchmachen. Auf derjenigen der 


isolirenden Sprachen sind alle Wörter Wurzeln, und 
“ diese werden blos nebeneinander gestellt. Auf der 
zweiten Stufe, der der agglutinirenden Sprachen, de- 
finirt eine Wurzel die andere, und es wird die defi- 
nirende Wurzel schliesslich blos determinirendes Ele- 
ment. Endlich in den flectirenden Sprachen wird das 
determinirende Element, dessen determinirende Bedeu- 
tung längst aus dem Volksbewusstsein geschwunden, 
mit dem formellen zu einem Ganzen vereinigt. Wie 


gesagt, diese Entwickelung, in welcher auch die Rück- 


bildung ausgedehnt sich geltend macht, wird allgemein 
zugegeben. Allein über die Entstehung des Sprach- 
materials, welches als „Wurzeln“ den Scharfsinn der 
Forscher herausfordert, weichen die Ansichten ab. 
Eine grosse Autorität, Max Müller°‘, sieht in dem 
Vorhandensein der Wurzeln den Beweis der absoluten 
Trennung des Menschen vom Thier. Während Locke 
sagt, der Mensch unterscheide sich vom Thier dadurch, 


dass er allgemeine Begriffe bilden könne, müsse der 


Sprachforscher sagen, die menschliche Sprache unter- 
scheide sich von der thierischen Fähigkeit zu Mitthei- 


lungen dadurch, dass sie Wurzeln bilde. Alle Wörter 


auf Nachahmungs- und Ausrufungslaute zurückzuführen, 
sei unzulässig, da man vielmehr am häufigsten auf 


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Wurzeln von fester Form und allgemeiner Bedeutung 


komme, die an sich unerklärbar seien. In dem Vor- 
handensein dieser fertigen Wurzeln, vor welchen die 


- entwickelt sich. 983 


Sprachforschung rathlos stehen bleibe, sei ein unüber-. 
steigliches Hinderniss, den Menschen als Glied in der 
allgemeinen Entwickelung der Organismen aufzufassen. 

Abgesehen von diesem Punkte gibt der berühmte 
Gelehrte natürlich alle jene Erscheinungen der Ver- 
erbung, der Erwerbung, der Verkümmerung zu, die 
in den Sprachgesetzen sich aussprechen und ihre voll- 
kommensten Analogien in unserer Descendenzlehre fin- 
den. Wenn wir z. B. das Zend mit dem Sanskrit 
vergleichen, gewisse Worte desselben erklären hören, 
so werden wir durchaus an die rudimentären Organe 
und ihre Deutung erinnert. Eine Menge von Anoma- 
lien sind gleich den in der Gegenwart isolirt stehenden 
Organismen uralte, ganz eigens normale Ueberbleibsel 
und Zeugen vergangener Sprachperioden. Kurz, bis 
ins einzelnste hinein stösst man in der Sprachforschung 
auf Uebereinstimmung und Analogie mit der Lehre der 
Abstammung der Organismen. Und da sollen wir vor 
dem Ursprung der Sprache als vor einem Unbegreif- 
lichen, Unerforschlichen halt machen?! 

Das tbun denn auch die meisten Sprachvergleicher. 
der Gegenwart nicht. Wenn Max Müller die Wurzeln. 
„phonetische Grundtypen‘‘ nennt, „die durch eine der 
menschlichen Natur innewohnende Kraft hervorgebracht 
werden‘, wenn nach ihm der Mensch „in einem voll- 
kommenern Zustande das Vermögen besessen haben 
soll, den vernünftigen Conceptionen seines Geistes einen 
bessern, feiner articulirten Ausdruck zu geben‘, so 
bezeichnet der geniale Lazarus Geiger?” die Annahme 
eines jetzt erloschenen Vermögens zur Sprachbildung 
und die damit zusammenhängende von einem vollkom- 
menern Urzustande als eine Zuflucht zum Unbegreif- 
lichen und eine Rückkehr auf einen mystischen Stand- 
punkt. Denn das Unbegriffene ist nicht das Unbegreif- 
liche. Es ist nicht unsere Sache, Partei zu nehmen 
für Geiger, der die Gesichtswahrnehmungen beim Her- 
vorrufen der Worte wesentlich betheiligt sein lässt, 
oder für Bleek, G. Curtius, Schleicher, Steinthal und 


284 Mit der Sprachentwickelung 


so viele andere, welche der Schallnachahmung den 


ersten Platz in der Spracherweckung einräumen. So- 
viel steht jedoch fest, dass der Standpunkt Max 
Müller’s zwar sehr vielen, welche nicht selbst Kritik 
üben, ein sehr bequemer zum Nachbeten ist, aber 
ein vereinsamter innerhalb der Wissenschaft, und dass 
die Ueberzahl der Autoritäten auf diesem der Natur- 
forschung so innig verwachsenen Gebiete sich . aus 
sprachvergleichenden und sprachphilosophischen Grün- 
den zu dem Schlusse genöthigt sah, dass aus dem 
vernunftlosen Urzustande menschenähnliche 
Wesen allmählich zu Menschen wurden, indem 
mit der Sprache, einem Werke von vielen 
Jahrtausenden, die Vernunft sich einfand. 
Schon 1851, als es von der Descendenzlehre noch 
ganz still war, sagt Steinthal®®: „Indem Sprache wird, 
entsteht Geist.“ Zehn Jahre nach Darwin’s Auftreten 
schreibt Geiger: ‚Die Sprache hat die Vernunft ge- 
schaffen; vor ihr war der Mensch vernunftlos.“ Ihm 
und allen, welche den mystischen Standpunkt über- 
wunden, ist die Menschheit „eine in der Entstehung 


und Enfaltung ihres Sonderwesens aus “der Thierheit- 


heraustretende Gattung“. Und dieser Schluss ist 
nicht entlehnt, wie die Orthodoxie und Reaction gern 
der Menge aufbinden, ist nicht entlehnt dem Dar- 
winismus, sondern von der Sprachforschung 
auf ihrem eigenen Wege, aber mit naturwis- 
senschaftlicher Methode deducirt. Es sei nur 
angedeutet, wie Geiger an vielen Beispielen historisch 
nachweist, dass „langsame Entwickelung, der Hervor- 
tritt des Gegensatzes aus unmerklichen Abweichungen 
die Ursache ist, dass dasselbe Wort verschiedene Be- 
deutung erlangt“, dass also Sprachschöpfung auf die- 
sem Process beruht, nirgends katastrophisch eintritt; 
dass die sogenannten Lautgesetze Lautgewohnheiten 
sind, dass die Sonderbedeutung, die ein Laut im Laufe 
der Zeiten schliesslich erlangt hat, immer ein Resultat 


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wird die Vernunft entwickelt. 285 


des blossen Zufalles, oder mit anderm Worte der Ent- 
wickelung ist. 

Diese Schlussfolgerung der Sprachforschung 
bestätigt mithin in vollkommenster Weise 
das Resultat der Naturforschung. Und wer sich 
die Mühe gibt, den Gang der Sprachwissenschaft zu 
verfolgen, wird sich, wie gesagt, überzeugen, wie ihre 
Vertreter, etwa Bleek, Schleicher und Friedrich Müller 
ausgenommen, den Einfluss der Descendenzlehre eher 
abzuschwächen als anzuerkennen bestrebt sind. Um 
so höher schlagen wir es an, und der mächtigste Ein- 
wurf gegen die Einbeziehung des Menschen in das grosse 
Entwickelungsgesetz ist damit beseitigt. 

Das übrige ist Nebensache und Ausführung. Die 
oft ventilirte, jetzt eigentlich abgeschmackte Frage, 
ob die Menschheit von einem oder mehrern Paaren 
abstamme, erledigt sich damit, dass aus den thieri- 
schen Vorfahren der Stamm, in welchem später die 
Sprache zum Durchbruch kam, sich natürlich allmäh- 
lich absonderte, und dass die zur Sprache und Ver- 
nunft führende. Zuchtwahl in grössern Individuen- 
gemeinschaften vor sich gehen musste. Näher an den 
Begriff der biblischen Einheit des Menschengeschlechts 
würde man gelangen, wenn alle Sprachstämme auf eine 
Quelle zurückwiesen. Liesse sich aber zeigen, dass 
gewisse Sprachstämme auf unbedingt unvereinbare Wur- 
zeln führten, so würde die Naturforschung ihr Jawort 
zu der nothwendigen Folgerung geben können, dass 
an verschiedenen Stellen der Erde Sprachen entstan- 
den, mit andern Worten, dass das Auseinandergehen 
in Arten früher stattfand, als die Zuchtwahl auf dem 
Punkt der Sprachbildung angekommen. Der letztere 
Fall ist der bei weitem wahrscheinlichere, wird sogar 
von den meisten mit dieser Frage beschäftigten Sprach- 
forschern als der einzig mögliche angenommen und 
am nachdrücklichsten von Friedrich Müller vertreten. 9 
„Der Mensch“, sagt er, „war damals, als es nur Ras- 
sen und keine Völker gab, ein sprachloses, der geistigen, 


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Stammbaum der Menschenrassen. 987 


auf der Sprachthätigkeit beruhenden Entwickelung noch 
völlig ermangelndes Wesen. Zu dieser Annahme wer- 
den wir, abgesehen von den entwickelten naturhisto- 
rischen Voraussetzungen, durch die Betrachtung der 
Sprachen selbst gedrängt. Die verschiedenen Sprach- 
stämme nämlich, auf welche die Wissenschaft die 
Sprachen zurückzuführen im Stande ist, setzen nicht 
nur bei den verschiedenen Rassen vermöge ihrer tota- 
len Verschiedenheit in Form und Stoff mehrere von- 
einander unabhängige Ursprünge voraus, sondern sie 
weisen selbst innerhalb einer und derselben Rasse auf 
. mehrere voneinander unabhängige Ursprungspunkte hin.“ 

Wir theilen den nebenstehenden Stammbaum, in wel- 
chem sich Friedrich Müller eng an den Entwurf Haeckel’s 
anschliesst, mit, um dem Leser eine Vorstellung zu 
geben, wie man sich allenfalls den Zusammenhang der 
Völkerfamilien zu denken habe. Es ist in demselben 
von Menschenarten und Menschenrassen die 
Rede, wobei die Arten als nicht mehr existirend be- 
trachtet und die gegenwärtigen Menschenformen blos 
als Rassen unterschieden werden. Wir wollen hierüber 
nicht viele Worte machen, da es sich, bei Licht be- 
sehen, nur um Worte handelt. Der Mensch bildet in 
der Ordnung der Primaten Eine Familie und reprä- 
sentirt sie jedenfalls nur durch Eine Gattung. Ob man 
"nun die Neger, Kaukasier, Papuas, Amerikaner u. s. w. 
Arten oder Rassen nennt, ist fast gleichgültig. Die 
Leichtigkeit der Kreuzungen der verschiedenen Men- 
schen würde für den Rassencharakter sprechen; da 
aber die Kreuzung der Arten durchaus nicht prineipiell 
von der Rassenkreuzung verschieden, und da zu den 
körperlichen, in Farbe, Haar, Schädel, Extremitäten 
und andern Merkmalen sich aussprechenden Verschie- 
denheiten auch die so tief gehenden Sprachunterschiede 
kommen, so erscheint uns die Zertheilung der Men- 
schengattung in Arten, welche in viele Rassen ausein- 
 andergehen, doch mehr naturgemäss. Es ist aber 
schliesslich, wie bei der Artfrage überhaupt, das in- 


2838 Sprachen innerhalb der Rasse, 


dividuelle Gefühl des einzelnen entscheidend. Ob es 
ein glücklicher Griff gewesen, die Stellung der Haare, 

in einzelnen Büscheln oder gleichmässig über die Kopf- 

haut vertheilt, sowie weiterhin ıhre auf dem Querschnitt 
mehr platte und ovale oder kreisrunde Form, endlich 
die Neigung sich zu locken oder straff und schlicht zu 
bleiben, der Eintheilung des Menschengeschlechtes zu 
Grunde zu legen, muss die Zukunft lehren. 

Die zwölf in der obigen Stammtafel aufgeführten 
Rassen sind nach naturhistorischen Merkmalen zu kenn- 
zeichnen, und da innerhalb der am besten bekannten 
Rassen sich Sprachen und Sprachfamilien finden, welche 
einen gemeinschaftlichen Ursprung ausschliessen, so 
folgt daraus, dass die Sprachbildung erst begonnen, 
nachdem der noch sprachlose Urmensch in Rassen aus- 
einander gegangen war. Alle Zeitrechnung für geolo- 
gische Perioden und Urgeschichte sind zwar höchst 
trügerisch, dennoch wollen wir uns eine Schätzung 
gefallen lassen, welche Friedrich Müller für die Ent- 
wickelung der Sprachen innerhalb der mittelländischen 
Rasse angestellt hat. Die Sprachstämme innerhalb der, 
vorzugsweise das Becken des Mittelmeeres umwohnen- 
den Völker sind: Baskiısch, kaukasische Sprachen, 
hamito-semitische Sprachen, indo-germanische Sprachen. 
„Die Sprachen aller dieser vier Stämme“, sagt Müller, 
„sind, wie von den competentesten Sprachforschern 
allgemein angenommen wird, miteinander nicht ver- 
wandt. Wenn wir nun sehen, dass die mittelländische 
Rasse vier miteinander in keinem verwandtschaftlichen 
Verhältnisse stehende Volksstämme umfasst, so liegt 
der Schluss nahe, dass, nachdem man jede Sprache 
auf eine Gesellschaft zurückführen muss, die eine 
Rasse nach und nach in vier Gesellschaften zerfiel, 
deren jede selbständig ihre Sprache sich schuf, Eine 
weitere Folgerung ist die, dass der Rasse als solcher 
keine Sprache zukommt, indem ja, wenn dies der Fall 
wäre, Rasse und Sprache sich gegenwärtig decken 
müssten, was nicht der Fall ist, 


d > 3 ey ur u a u “ u 3 MER RE . I, aa 


Alter der Menschheit, DE 289 


„Wir müssen also annehmen, dass dem Menschen 
damals, als die verschiedenen Völker der mittelländi- 
schen Rasse eine Einheit bildeten, damals, wo der 
Mensch keinem Volke, sondern nur einer Rasse an, 
gehörte, die Sprache noch gänzlich gefehlt habe.‘- 
Müller hält annähernd 3000 Jahre für hinreichend für 
den Zeitraum von dem Auseinandergehen der Rasse in 
noch sprachlose Gesellschaften bis zu dem Zeitpunkt, 
wo sie durch Sprachen geschiedene und charakterisirte 
Völker bildeten, eine Zahl, welche manchem als 
viel zu gering geschätzt scheinen dürfte. Wenn man 
nun ferner an das alte Culturvolk der Aegypter an- 
knüpft und die Zeit seiner muthmasslichen Wanderung 
aus Asien veranschlagt, so „erscheint wenigstens das 
Jahr 6500 vor Beginn unserer Zeitrechnung als jener 
Zeitpunkt, wo wir von. einem hamito-semitischen Ur- 
volk im Norden Europas reden können“. Es bestand 
also bereits vor 12000 Jahren eine mittelländische Rasse. 
Welche Zeit aber nöthig war, den Urmenschen in die 
Rassen sich scheiden zu lassen, liegt völlig ausser Be- 


rechnung, und dies um so mehr, als nicht die ge- 


ringsten Spuren von ihm bisjetzt gefunden worden 
sind. 

Mit dem allgemeinen Nachweis der Geologie, dass 
die Perioden der Erdschichte unmerklich ineinander 
übergingen, und dass insbesondere von den Tertiär- 
zeiten durch die Diluvialperiode in die Gegenwart die 
Continuität nur local unterbrochen wurde, hat die 
ehemals für cardinal geltende Frage nach dem ,„fossi- 
len Menschen“ ein anderes Aussehen erhalten. In 
Europa hat der Mensch mit dem für uns, weil sie 
ausgestorben, „fossilen“ Mammuth und dem Rhinoce- 
ros mit knöcherner Nasenscheidewand (Elephas primi- 
genius, Rhinoceros tichorhinus) zusammen gelebt. Es 
ist behauptet worden, schon in der obertertiären Zeit 
habe der europäische Mensch existirt, allein die Be- 
weise dafür sind anfechtbar. Was man von Ueber- 

ScHuipt, Descendenzlehre. 19 


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unbedingt der Periode an, wo der Mensch s 
der en das Werkzeug a hatte, die Set 


Belege und Citate. 


1 Luthardt, Apologetische Vorträge, 7. Vortrag, S. 129. 


2 Philosophia quaerit, theologia invenit, religio possidet: 


veritatem. 


3 Tageblatt der Naturforscher- Versammlung in Leipzig, 
1872, S. 12. Die Rede ist auch im Sonderdruck erschienen. 


4 A. Fick, Physiologie, 1860. 

5 Wer sich tiefer über das Problem der Empfindung als 
einer allgemeinen Ureigenschaft der constituirenden Elemente 
der Materie unterrichten will, ist auf das höchst klare und 
interessante Werk zu verweisen: ,„Das Unbewusste vom 


Standpunkt der Physiologie und Descendenztheorie“ (Berlin. 


-1872). Anonym erschienen. 
; 6 L. Geiger, Ueber den Ursprung der Sprache (Stuttgart 

1869), S. 207. 

- 7 Rollet, Ueber Elementartheile und Gewebe und deren 
Unterschei@äung. Rollet, Untersuchungen etc., 1871. 

8 Karl Ernst v. Bär, Ueber Entwickelungsgeschichte der 
Thiere. Beobachtung und Reflexion, 1828. 

BEA. QD.,:L, 223. 

10° A. a. O.,I, 230 fe. 

11 Credner, Elemente der Geologie, 1872, S. 353. 

12 Aoassiz, Essay on classification, 1858. „It exhibits every- 
where the working of the same creative Mind through all 
times and upon the whole surface of the globe.“ 

13 Rütimeyer, Beiträge zur Kenntniss der fossilen Pferde. 
Verhandlung der naturforschenden Gesellschaft in Basel, 
1863, IH, 642. 

14 Die Stellen sind aus einer Gelegenheitsrede: Oratio de 
tellüare habitabili, welche in den Amoenitates academicae 
enthalten ist. „Initio rerum ex omni specie viventium uni- 
eum sexus par fuisse creatum, suadet ratio.“ 


19* 


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292 Belege und: Gile. 


15 A. a. O.: „Non multum a veritate me aberraturum ; 
fido, si dixerim, omnem continentem terram fuisse in infan- 
tia mundi aquis submersam et vasto oceano obtectam, prae- 
ter unicam in immenso hoc pelago insulam, in qua commode 
habitaverint animalia omnia et vegetabilia laete germinaverint.‘“ 

16 „Tot numeramus species, quot ab initio creavit infini- 
tum ens.“ 

ı7 E. Geoffroy St.-Hilaire schrieb an Cuvier: „Venez 
Jouer parmi nous le röle de Linne, d’un autre legislateur de 
V’histoire naturelle.“ 

18 Ossements fossiles. 

1% L. Agassiz, An Essay on classification, 1859, S. 253.: 

„As representatives of Species, individual animals bearthe 
closest relations to one another; they exhibit definite rela- 
tions also to the surrounding element and their existence 
is limited within a definite period. 

„As representatives of Genera, these same individuals have 
a definite and specific ultimate structure, identical with that 
of the representatives of other species ete. — Dazu S. 261: 

„Branches or types, are characterized by the plan of their 
structure; 

„Classes, by the manner in which that plan is executed, 
as far as ways and means are concered; 

„Orders, by the degrees of complication of that structure; 

„„Families, by their form, as far as determined by structure; 

„@enera, by the details ofthe execution in special parts; and 

„Species, by the relations of individuals to one another 
and to the world in which they live, as well as by the pro- 
portions of their parts, their ornamentation etc.“ 

20 Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen (Ber- 
lin 1866), I, '323 fg. 

21 L’espece est — „la r&eunion des individues descendant 
Yun de Yautre et des parents communs, et de ceux qui 
leur ressemblent autant quils se ressemblent entr’eux“, 
Cuvier, Le regne animal. 

»2 0. Schmidt, Die Spongien der Küste von Algier, 1868, 
und Versuch einer Spongienfauna des atlantischen Gebietes, 
1870. | 
23 Haeckel, Die Kalkschwämme. Eine Monographie in 
zwei Bänden Text und einem Atlas mit 60 Tafeln Abbil- 
dungen (Berlin 1872). 

?* Hilgendorf, Ueber Planorbis multiformis im Steinheimer 
Süsswasserkalk. Monatsbericht der Berliner Akademie aus 
dem Jahre 1866, S. 474 fe. 

®5 Waagen, Die Formenreihe des Ammonites subradiatus. 
Beneke’s Beiträge, 1869, Bd. 2. 


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Belege und Ct.  . - 298 


Zittel, Die Fauna der ältern Cephalopoden führenden 


Tithonbildungen. Paläontologische Mittheilungen, 1870. 
Kayser, d. Brachiopoden des Mittel- u. Ober-Devon der 
Eifel. Jahrb. d. geol. Ges. in Berlin. 1871. 
Neumayr, die Fauna d. Schichten mit Aspidoceras ac. 1873. 
 L. Würtenberger, Neuer Beitrag zum geologischen Be- 
weise der Darwin’schen Theorie (,‚, Ausland“, 1873). 

?° Darwin, Das Variiren der Pflanzen und Thiere im Zu- 
stande der Domestication. Uebersetzt von Carus (Stuttgart 
1868). — Unsere Citate beziehen sich auf diese Ausgabe. 

27 L. Oken, Die Zeugung, 1805. _Lehrbuch der Natur- 
philosophie, 1809—11, 3 Thle. 

28 Ich entlehne die folgende Darstellung meinem Essay: 


- „War Goethe ein Darwinianer?‘“ Gratz, Leuschner und Lu- 


binsky, 1871. 
Dazu ein anderes Schriftchen von mir: „Goethe’s Verhältniss 


zu den organischen Naturwissenschaften‘“ (Berlin 1852). 


Zu den im Text mitgetheilten Stellen, welche Goethe als 
Darwinianer erscheinen lassen könnten, sei noch folgende 
aus Eckermann’s „Gespräche mit Goethe“ mitgetheilt (3. Aufl., 
S. 191): „So hat der Mensch in seinem Schädel zwei un- 
ausgefüllte hohle Stellen. Die Frage warum? würde hier 


‚nicht weit reichen, wogegen aber die Frage wie? mich be- 


lehrt, dass diese Höhlen Reste des thierischen 
Schädels sind, die sich bei solchen geringern Or- 
ganisationen in stärkerm Masse befinden, und die 
sich beim Menschen, trotz seiner Höhe, noch nicht 
ganz verloren haben.“ 

2% Ein etwas abschätziges Urtheil über Goethe’s Bedeutung 
auf unserm Felde fällt V. Carus in seiner „Geschichte der 
Zoologie“ (München 1872). Der Leser möge vergleichen: 
„Wie wenig ihm trotz seiner wiederholten Beschäftigung mit 
Anatomie ein wirklicher Einblick in den gesetzmässigen Bau 
der Thiere gelungen war, be,reist seine Einleitung in die 
vergleichende Anatomie. Er findet hier keinen andern Weg, 
zwischen dem trockenen Detail der beschreibenden Anato- 
mie und der ihm unbestimmt vorschwebenden Morphologie 
zu vermitteln, als die Idee eines Urtypus für die Thiere 
anzudeuten, welchen er aber weder definiren, noch durch 
allgemeinere Andeutungen einigermassen anschaulich machen 
kann. Seiner ganzen Eigenheit nach war ihm ein solcher 
Typus Bedürfniss, aber nicht wissenschaftliches, sondern 
ästhetisches u. s. w.“ S. 590. 

30 R. Owen hat sich über seine Stellung zur Descendenz- 
lehre im Schlussheft seines „Lehrbuches der vergleichenden 
Anatomie der Wirbelthiere‘‘ ausgesprochen. Dasselbe ist 


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294 Belege und Citate. 


separatim ausgegeben u. d. T.: ,„Derivative hypothesis of 
life and specıes“, 1868. B- 

31 A. a. O. „— such cause being the servant of predeter- 
mining intelligent will.‘ 

s2 .No one can enter the saddling ground at Epsom be- 
fore the start for the Derby, without feeling, that the 
glossy-coated, proudly-stepping creatures led out before him 
are the most perfect and beautiful of quadrupeds. As such, 
I believe the Horse to have been predestined and prepared 
for ‚Man Aa: DIS HE 

3 I deem an innate tendency to derivate from parental 
type, operating through periods of adequate duration, to 
be the most probable nature or way of operation of the 
secondary law, whereby species have been derived one from 
the other.“ A.a. O., S. 22 

3% Lamark, Philosophie zoologique (Paris 1809). Im Text 
sind folgende Stellen berücksichtigt: 

„Aussi l’on peut assurer que, parmi ses productions la 
nature n’a r&ellement forme ni classes, ni ordres, ni familles, 
ni especes constantes, mais seulement des individus qui se 
succedent les uns aux autres, et qui ressemblent & ceux qui 
les ont produits. Or, ces individus appartiennent ä des 
races infiniment diversifi&es, qui se nuancent sous toutes 
les formes et dans tous les degres d’organisation, et qui 
chacune se conservent sans mutation, tant qu’aucune cause 
de changement n’agit sur elles.“ I, 22. 

„La supposition presque generalement admise, que les corps 
vivans constituent des especes constamment distincetes par 
des caracteres invariables, et que l’existence de ces especes 
est aussi ancienne que celle de la nature m&me, fut etablie 
dans un temps, ou l’on n’avait pas suffisamment observe, et 
oü les sciences naturelles etaient & peu pres nulles. Elle 
est tous les jours d&mentie aux yeux de ceux, qui ont beau- 
coup vu et qui ont long-temps suivi la nature.“ I, 54. 

„Les especes n’ont reellement qu’une constance relative & 
la duree des circonstances dans lesquelles se sont trouves 
tous les individus qui les representent.“ I, 55. 

„— les considerations ete. nous font voir: 

„1) Que tous les corps organises de notre globe sont de 
veritables productions de la nature, qu’elle a successivement 
executees a la suite de beaucoup de temps; 

„2) Que dans sa marche la nature a commence&, et recom- 
mence encore tous les jours, par former les corps organises 
les plus simples et qu’elle ne forme directement que ceux- 
la, c’est a-dire que ces premieres ebauches de l’organisation, 
qu’on a designees par l’expression de generations spontanees; 


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Belege und Cilate. 995 A 


3) Que les premieres ebauches de l’animal et du vegetal 
etant forme6es dans les lieux et les circonstances convenables, 
les facultes d’une vie commencante et d’un mouvement or- z 
ganique etabli ont necessairement developpe peu a peu les | 
organes, et qu’avec le temps elles les ont diversifies ainsi 

que les parties; 

„4) Que la faculte d’accroissement dans chaque portion du 
corps organise etant inherente aux premiers effets de la vie, 
elle a donne lieu aux differens modes de multiplication et 
de regenerations des individus; et que parla les progres 

. acquis dans la composition de l’organisation et dans la forme. 
et la diversite des parties, ont &te conserve6s; 

„D) Qu’ä l’aide d’un temps suffisant, des circonstances, qui 
ont ete necessairement favorables, des changemens que tous { 
les points de la surface du globe ont successivement subis | 
dans leur’etat, en un mot, du pouvoir qu’ont les nouvelles 
situations et les nouvelles habitudes pour modifier les or- 
ganes des corps doues de la vie, tous ceux qui existent 
maintenant ont ete insensiblement formes tels que nous les 
voyons; 5 

,„6) Enfin, que d’apres un ordre semblable de choses, les 
corps vivants ayant Eprouv& chacun des changemens plus 
on moins grands dans l’etat de leur organisation et de leurs 
parties, ce qu’on nomme espece parmi eux a ete insensible- 
ment et successivement ainsi forme, n’a qu’une constance 
relative dans son etat, et ne peut &tre aussi ancien que la 
nature.‘ I, 65 fe. 

„La progression dans la composition de l’organisation subit, 
ca et lä, dans la serie generale des animaux des anomalies re 
operees par l’influence des circonstances d’habitation, et par 2 
celle des habitudes contractees.“ I, 135. ’ 

„Dans tout animal qui n’a point depasse le terme de ses 
developpemens, l’emploi plus frequent et routine d’un or- 
gane quelconque, fortifie peu & peu cet organe, le deve- \ 
loppe, Vagrandit, et lui donne une puissance proportionnee - 


IT 


& la duree de cet emploi; tandis que le defaut constant = 
d’usage de tel organe l’affaiblit insensiblement, le deteriore, 4 
diminue progressivement ses facultes et finit par le faire Re, 
disparaitre. er 

„Tout ce que la nature a fait acquerir ou perdre aux in- 
dividus par influence des circonstances oü leur race se 
trouve depuis long-temps exposee, et, par consequent, par 5: 
Yinfluence de l’emploi predominant de tel organe ou par RE 
celle d’un defaut constant d’usage de telle partie, elle le Zu 
conserve par generation aux nouveaux individus, qui en ® 


proviennent.“ I, 235. (22 


296 Belege-und Ciiate: 


„La volonte dependant toujours d’un jugement queleon- 
que, n’est jamais veritablement libre; car le jugement qui y/ 
donne lieu, est, comme le quotient "d’une, operation arith- 
metique, un rösultat n&cessaire de ensemble des elemens 
qui l’ont forme.* I, 342. 3 

„Les animaux contractent, pour satisfaire a ces ERS 
diverses sortes d’habitudes, qui se transforment en euxen 
autant de penchans, auxquels ils ne peuvent resister et 
qu’ils ne peuvent changer eux-mömes. De la l’origine de 
leurs actions habituelles et de leurs inclinations partieulieres, 
auxquelles on a donn& le nom d’instinct. Ce penchant des ani- 
maux & la conservation des habitudes et au renouvellement 
des actions qui en proviennent, etant une fois acquis, se 
propage ensuite dans les individus, par la voie de la repro- 
duction ou de la generation, qui conserve l’organisation et 
la disposition des parties dans leur tat obtenu; en sorte 
que ce me&me penchant existe deja dans les nouveaux indi- 

“ vidus, avant m&me qu’ils l’aient exerce.‘“ I, 325. 

Zu der 1873 in Paris bei Savy erschienenen zweiten Auflage 
der „Philosophie zoologique‘‘ hat der ausgezeichnete Pro- 
fessor in Montpellier, Charles Martins, eine vorzügliche 
Lebensbeschreibung und Würdigung Lamark’s als Einleitung 
gegeben. 

»5 Der scharfsinnige Verfasser des Werkes: „Das Unbe- 
wusste‘‘ (s. Note 3), definirt im wesentlichen den Instinct 
nicht anders als Lamark: „In diesem Sinne kann man sagen, 
jeder Instinct sei seiner Entstehung nach in letzter In- 
stanz ererbte Gewohnheit, und das Sprichwort: Gewohn- 
heit ist die zweite Natur — erhält dadurch die unerwartete 
Ergänzung, dass die Gewohnheit zugleich auch das Prius und 
der Ursprung der ersten Natur, d. h. des Instincts ist. 
Denn immer ist es die Gewohnheit, d. h. die häufige Wie- 
derholung der nämlichen Function, was die gleichviel wie 
hervorgerufene Handlungsweise den Centralorganen des Ner- 
vensystems so fest eingräbt, dass die so entstandene Prädis- 
position vererbungsfähig wird. A. a. O., S. 182. 

36 Die wichtigste Lehre, welche Lyell mit seiner reichen 
Erfahrung begründet, ist ebenfalls von Lamark in der „Phi- 
losophie zoologique‘‘ klar und bündig ausgesprochen: „Si 
l’on considere, d’une part, que dans tout ce que la nature 
opere, elle ne fait rien brusquement, et que partout elle 
agit avec lenteur et par degres successifs, et de l’autre part, 
que les causes particulieres ou locales des desordres, des 
bouleversemens, des deplacemens etc. peuvent rendre rai- 
son de tout ce que l’on observe & la surface de notre globe, 
et sont neanmoins assujetties & ses lois et & sa marche 


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Belege und Citate. 297 


generale, on reconnaitra, qu’il n’est nullement necessaire de 


supposer qu’une catastrophe universelle est venue culbuter 
et detruire une grande partie des operations m&mes de la 
nature.“ I, 80. 

37 Principles of Geologie. 

38 Sowol im Jahre 1870 als 1872 stellte die Majorität der 
französischen Akademie Darwin dieses Zeugniss aus. Der 
wiederholte Vorschlag, ihn zum Mitglied zu wählen, fiel 
durch, allerdings nicht ohne dass Männer wie Lacaze - Duthiers, 
Milne-Edwards und Quatrefages den wissenschaftlichen 
Richtern den Standpunkt klar machten. 

39 Wir eitiren folgende Uebersetzungen und Auflagen von 


'V. Carus: Ueber die Entstehung der Arten durch natür- 


liche Zuchtwahl, oder die Erhaltung der begünstigten Ras- 


sen im Kampfe ums Dasein (5. Aufl., 1872). 


Die übrigen hierher gehörigen Werke sind: 

Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der 
Domestication (oben Note 26). 

: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche 
Zuchtwahl (2. Aufl., 1871). 

Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem 
Menschen und den Thieren, 1872. 

40 Malthus (1798) untersucht die Bedingungen der Zu- und 
Abnahme und des Gedeihens der menschlichen Bevölkerung. 
Er findet, dass die Zunahme der Bevölkerung nothwendiger- 
weise beschränkt ist durch die Subsistenzmittel, und dass das 


"Wachsthum im Verhältniss zu den Subsistenzmitteln zu- 


nimmt, abgesehen von einigen besondern und leicht zu ent- 
deckenden Hindernissen. Diese Hindernisse, welche die 
Bevölkerung noch immer unter dem von den Subsistenz- 
mitteln gewährten Masse zurückhalten, sind der moralische 
Zwang, das Laster und das Unglück. Malthus schildert den 
Kampf ums Dasein, ohne das Wort auszusprechen; er weist 


nach, dass die Träume von zukünftiger seliger Gleichheit 


der gesammten Menschheit auf der zu einem grossen Garten 
umgestalteten Erde auf Täuschungen beruhen. Jedes Indi- 
viduum muss vielmehr in unermüdlicher Thätigkeit sein, um 
seine Lage zu verbessern. Aus den Erfahrungen der Thier- 
züchter und Gärtner weiss er, dass Thiere und Pflanzen 


verbessert und veredelt werden können, und zwar durch 


Zuchtwahl. Von einer organischen Veredlung des Men- 
schengeschlechts im ganzen sei nichts zu merken, auch 
könnte das Menschengeschlecht nicht anders veredelt wer- 
den, ale indem man die weniger vollkommenen Individuen 
zur Ehelosigkeit verdammte. - 

Es sind wol diese und ähnliche Gedanken des Werkes 


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298 Belege und Citate. | 


von Malthus, durch welche Darwin, wie er angibt, zu seiner 


Theorie angeregt wurde. 

‘1 Das Varliren, II, 252. 

42 Sehr lehrreich in Bezug auf die Artfrage sind auch die 
Abhandlungen von A. Kerner: „Gute und schlechte Arten“ 


(Innsbruck 1866), und „Die Abhängigkeit der Pflanzenwelt 


von Klima und Boden. Ein Beitrag zur Lehre von der Ent- 
stehung und Verbreitung der Arten, gestützt auf die Ver- 
wandtschaftsverhältnisse, geographische Verbreitung und 
Geschichte der Cytisusarten aus dem Stamme Tuboecytisus _ 
D. C.“, 1869. Eine vorzügliche Untersuchung über Ver- 
änderlichkeit, Anpassung und Artbildung ist endlich Kerner’s 
neueste Schrift: „Die Schutzmittel des Pollens“ (Innsbruck 
1873). 

43 Die Mittheilung in der „Entstehung der Arten“ (5. Aufl., 
Kap. 3; nach der 6. engl. Aufl.). 

+ Ebend., S. 96. 

#5 Ebend., S. 141. 

16 8. 7. Die folgenden Seiten enthalten eine Zusammen- 


fassung der Einwürfe über die Unzulänglichkeit der Selections- 


theorie. 

47 Moritz Wagner, Die Darwin’sche Theorie und das Mi- 
grationsgesetz der Organismen, 1868. Hierzu 48 u. 49. 

48 August Weismann, Ueber den Einfluss der Isolirung 
auf die Artbildung, 1872. 

#9 Nägeli, Entstehung und Begriff der naturhistorischen 
Art (Sitzungsberichte der bairischen Akademie der Wissen- 
schaften), 1865. Die neuern Untersuchungen Nägeli’s (Sitzungs- 
berichte der mathematisch-physikalischen Klasse der Münchner 
Akademie, 1872, S. 305) bestätigen die Descendenzlehre. Er 
weist nach, dass die Geselligkeit nahe verwandter Arten und 
ihrer Varietäten für die Speciesbildung sich förderlicher er- 
weisen als die Isolirung. ‚Die in Gesellschaft beisammen- 
lebenden Formen — gewisser Alpenpflanzen — haben sich 
mit Rücksicht auf ihre Merkmale gleichsam gegenseitig ge- 


modelt, sie zeigen, um mich so auszudrücken, einen spe- 


cifischen Gesellschaftstypus, der für jede Gesell- 
schaft, somit für jede Gegend ein anderer ist. 
Diese Thatsache zeigt unwiderleglich, dass die Formen, 
seit sie beisammenwohnen, sich veränderthaben 
„Ihr specifischer Gesellschaftstypus besteht darin, dass sie 
in gewissen Merkmalen eine bemerkenswerthe Uebereinstim- 
mung zeigen, während sie in andern Merkmalen Extreme 
darstellen und darin zuweilen über alle in andern Gegenden 
vorkommende Verwandte hinausgehen. | 
„Aus diesen Thatsachen ergibt sich unzweifelhaft, dass 


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Belege und Citate | 299 


die Bewegung in den coenobitischen (d. i. gesellschaftlich 
lebenden) Formen eine divergirende ist. Denn in ihnen 
sind extreme Merkmale entwickelt, während die eremitischen 
Formen in ihren Merkmalen ihre mittlern Bildungen dar- 
stellen.“ 

Nägeli weist nach, dass und in welcher Weise bei Alpen- 
pflanzen seit der Eiszeit eine Veränderung stattgefunden hat. 
. 5% J. Broca, L’ordre des primates. Parallele anatomique 
de l’homme et des singes, 1870. 

51 Abstammung des Menschen, S. 132. 

52 Der Inhalt von Professor Max Müller’s: ‚Three lectures 
on Mr. Darwin’s Philosophy on language“ liegt uns im Mo- 
ment, wo wir dies schreiben, leider nur in unvollständigen 
Referaten der Tagesblätter und dem Programm mit Inhalts- 
angabe vor. 

53 Zöllner, Ueber die Natur der Kometen (1. Aufl., S. 305). 

54 Zur weitern Information des Lesers wollen wir über 
die vor unserm Verstande sich sehr einfach erledigende 
Angelegenheit des Uranfanges des Lebens noch einen Phi- 
losophen und einen Naturforscher reden lassen. Es handelt 
sich um Hypothesen über das Werden. In der kritischen 
Beleuchtung der Philosophie des Unbewussten (7) heisst 
es S. 22: „Die Philosophie des Unbewussten sagt S. 558: 
Es ist wahrscheinlich, dass vor der Entstehung der ersten 
Organismen schon organische Verbindungen niederer Stufen 
‘vorhanden gewesen seien, welche sich (S. 556) unter dem 
Einflusse einer feuchten und sehr kohlensäurereichen Atmo- 
sphäre, sowie der höhern Wärme, des Lichtes und starker 
elektrischer Einflüsse gebildet hatten. Eignet man sich 
diese Voraussetzungen an und fügt die Betrachtung hinzu, 
dass, wenn solche der Urzeugung günstige Bedingungen ein- 
mal, wie doch nothwendig, stattfanden, sie wol auch durch 
ansehnliche geologische Zeiträume hindurch bestanden, so 
ist in der That die Folgerung nicht zu umgehen, dass im 
Laufe der Zeit und im Wechsel der Umstände diese organi- 
schen Stoffe in zahllose Combinationen zueinander treten. 
Unter diesen zahllosen Anordnungsweisen, Gruppirungen und 
Verbindungen musste der bei weitem grösste Theil auf der 
Stufe der unorganischen Form stehen bleiben, weil er nicht 
die zu einer solchen nothwendige chemische Zusammen- 
setzung und physikalischen Eigenschaften erlangte; ein sehr 
viel kleinerer Theil der aus diesen Combinationen organi- 
scher. Materie hervorgegangenen Resultate mochte vielleicht 
vorübergehend sich der organischen Form nähern, oder 
auch wirklich in dieselbe eintreten, dabei aber nicht die 
zur längern Behauptung derselben erforderliche Beschaffen- 


300 Belege und Citate, 


heit besitzen; ein dritter noch kleinerer Theil vermochte 
etwa für sich selbst diese Form im Wechsel des Stoffes so 
lange zu behaupten, als etwa noch jetzt die ungefähre Lebens- 
dauer der primitivsten Protistenarten beträgt, entbehrte aber 
derjenigen Eigenschaften, welche durch Theilung und Fort- 
pflanzung die Species auch nach dem natürlichen Absterben 
des Individuums erhalten; ein vierter Theil mochte sowol 
die zur Selbsterhaltung als die zur Gattungserhaltung nothwen- 
digen Eigenschaften besitzen, entbehrte aber jener eigen- 
thümlichen Tendenz, abzuändern («Philosophie des Unbewuss- 
ten», S. 591) oder doch jener Tendenz, in der bestimmten 
Richtung abzuändern, welche allein zur Entwickelung in 
höhere Formen führen konnte; ein fünfter Theil endlich be- 
sass auch diese Eigenschaft zu den übrigen. Die Nachkom- 
men der vierten und fünften Klasse unserer Unterscheidung 
sind es, welche noch heute Meer und Erde bevölkern*: von 
welcher Art von Moneren die Fortentwickelung zu Infusorien 
ausgegangen ist, ob von einer der jetzt noch lebenden, oder 
von einer untergegangenen Art, davon wissen wir noch 
nichts; das aber schon können wir als sicher annehmen, 
dass die Mehrzahl der Protisten, die wir heute noch kennen, 
zu jener entwickelungsunfähigen vierten Klasse gehören. 
Die ephemeren Schöpfungen unserer zweiten und dritten 
Klasse konnten natürlich nur so lange ihren Bestand als 
Arten gesichert sehen, als die günstigen Bedingungen ihrer 
stets erneuten Urzeugung fortdauerten; die erste Klasse aber 
würde vom teleologischen Standpunkt aus als die der gänz- 
lich mislungenen Schöpfungsversuche zu bezeichnen sein.“ 
Diese und ähnliche mehr oder minder ansprechende Phan- 
tasien, auf die wir gar kein besonderes Gewicht legen, schö- 
pfen insgesammt aus Haeckel’s Hypothese der Autogonie 
(„Generelle Morphologie der Organismen“, I, 179 fe.), die 
er nach seinen schönen Entdeckungen über die jetzt existi- 
renden einfachsten Organismen, die Moneren und andere 
Protisten, aufstellte.e Wir heben daraus folgende Stelle her- 
vor: „Zweifelsohne haben wir uns den Act der Autogonie, 
der ersten spontanen Entstehung einfachster Organismen, 
ganz ähnlich zu denken, wie den Act der Krystallisation. 
In einer Flüssigkeit, welche die den Organismus zusammen- - 
setzenden chemischen Elemente gelöst enthält, bilden sich 
infolge bestimmter Bewegungen der verschiedenen Moleculen 
gegeneinander bestimmte Anziehungsmittelpunkte, in denen 


* Einfacher und wahrscheinlicher ist wol die Erklärung, dass diese 
niedrigen Organismen deshalb noch existiren, weil Platz für sie ist. Sie 
bleiben übrig trotz der Differenzirung und infolge der Differenzirung. 


Belege und Citate. = BIOJE 


Atome der organogenen Elemente (Kohlenstoff, Sauerstoff, 
Wasserstoff, Stickstoff) in so innige Berührung miteinander 
treten, dass sie sich zur Bildung complexer ternärer und 
quaternärer Moleculen vereinigen. Diese erste organische 
 Atomgruppe, vielleicht ein Eiweissmolecule, wirkt nun, gleich 
dem analogen Kernkrystall, anziehend auf die gleichartigen 
Atome, welche in der umgebenden Mutterlauge gelöst sind, 

und welche nun gleichfalls zur Bildung gleicher Moleculen 
_ zusammentreten. Hierdurch wächst das Eiweisskörnchen und 
gestaltet sich zu einem homogenen organischen Individuum, 
einem structurlosen Moner oder Plasmaklumpen, gleich 
einer Protamoebe u. s. w. Dieses Moner neigt, vermöge der 
‚leichten Zerlegbarkeit seiner Substanz, beständig zur Auf- 
lösung seiner eben erst consolidirten Individualität hin, ver- 
mag aber, indem die beständig überwiegende Aufnahme 
neuer Substanz vermöge der Imbibition (Ernährung) das 
Uebergewicht über die Zersetzungsneigung gewinnt, durch 
Stoffwechsel sich am Leben zu erhalten. Das homogene or- 
ganische Individuum oder Moner wächst nur so lange durch 
- Intussusception, bis die Attractionskraft des Centrums nicht 
mehr ausreicht, die ganze Masse zusammenzuhalten. Es 
bilden sich, infolge der überwiegenden Divergenzbewegungen 
der Moleculen nach verschiedenen Richtungen hin, nun in dem 
homogenen Plasma zwei oder mehrere neue Anziehungsmit- 
telpunkte, die nun ihrerseits anziehend auf die individuelle 
Substanz des einfachen Moners wirken und dadurch seine 
Theilung, seinen Zerfall in zwei oder mehrere Stücke her- 
beiführen (Fortpflanzung). Jedes Theilstück rundet sich 
alsbald wieder zu einem selbständigen Eiweissindividuum 
oder Plasmaklumpen ab, und es beginnt nun das ewige Spiel 
der Anziehung und Abstossung der Moleculen von neuem, 
welches die Erscheinungen des Stoffwechsels oder der Er- 
nährung und der Fortpflanzung vermittelt.“ 

Haeckel hat ferner, gestützt auf die bekannten Eigenthüm- 
lichkeiten der chemischen Verbindungen des Kohlenstoffes, 
diesem in seinen Vorstellungen über die erste Entwickelung 
des Lebens und der physiologischen Erscheinungen der nie- 
drigsten Organismen die wichtigste Rolle angewiesen. Dies 
ist die bei seinen Gegnern so berüchtigte „Kohlenstofftheorie.“* 
Die Geister würden sich weniger darüber erhitzen, wenn man 
sich gegenwärtig halten wollte, dass durch eine Widerlegung 
dieses, wieHaeckel sagt, „gewagten Versuches‘, der Vorstellung 
des Geschehens zu Hülfe zu kommen, an der zwingenden logi- 
schen Nothwendigkeit der Anerkennung der Erweckung des 
Lebens auf natürlichem Wege nicht ein Haar geändert wird. 
- Die Gründe gegen die „Kohlenstofftheorie‘ sind unter anderm 


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302 Belege nd tt. 000000 


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entwickelt von Preyer: „Ueber die Erforschung des Lebens“. 


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(Jena 1873). Es wird geltend gemacht, dass der Kohlenstoff 


in seinen jetzigen terrestrischen Zuständen fast ausschliess- 


lich auf organischen Ursprung führe und bisjetzt keine ge- 


nügende Kohlenstoffquelle für die erste Bildung lebender 
Körper auf der Erde nachgewiesen sei. TE 


55 A. B. Wallace, The Malay Archipelago (3d ed., London 
1872), und 


Contributions to thetheory of natural selection (2ded., 1871). 


56 „Die Hypothese der Papgenesis, wie sie auf die ver- 
schiedenen grossen Klassen von Thatsachen, welche jetzt 
erörtert wurden, angewendet wird, ist ohne Zweifel äusserst 


complieirt. Aber sicher sind es auch die Thatsachen. Die 


Annahme indessen, auf denen die Hypothese ruht, kann man 


nicht als in irgendeinem extremen Grad complicirt ansehen, 


nämlich dass alle organischen Einheiten ausser dem Ver- 
mögen, was allgemein zugegeben wird, durch Selbsttheilung 
zu wachsen, noch die Fähigkeit haben, zahlreiche äusserst 


kleine Atome ihres Inhalts, d. h. Keimchen abzuwerfen. 


Diese vervielfältigen und verbinden sich zu Knospen und 


den Sexualelementen. Ihre Entwickelung hängt von der = 


Vereinigung mit andern in der Entstehung begriffenen Zellen 
oder Einheiten ab; und sie sind einer Ueberlieferung im 


schlummernden Zustande auf später folgende Generationen 


fähig. In einem hoch organisirten und complicirten Thiere 
müssen die von jeder verschiedenen Zelle oder Einheit durch 


den ganzen Körper abgeworfenen Keimchen unbegreiflich _ 


zahlreich und klein sein. Jede Einheit eines jeden Theiles 
muss, wie er sich während der Entwickelung verändert (und 


wir wissen, dass manche Insekten mindesten zwanzig Meta- 


morphosen erleiden), ihre Keimchen abgeben. Ueberdies er- 
halten alle organischen Wesen viele von ihren Grossältern 
und noch entferntern Vorfahren, aber nicht von allen ihren 
Vorfahren herrührende schlummernde Keimchen. Diese fast 
unendlich zahlreichen und kleinen Keimchen müssen in jeder 


y 


Knospe, in jedem Ei, Spermatozoon und Pollenkorn einge- 


schlossen sein. Eine solche Annahme wird für unmöglich 
erklärt werden, aber Zahl und Grösse sind nur relative 


Schwierigkeiten, und die von gewissen Thieren und Pflanzen 


producirten Eier oder Samen sind so zahlreich, dass sie 


vom Verstand nicht erfasst werden können.“ — Darwin, Das E 
Variiren, I, 526. a 


5” A. Rollet, Ueber die Erscheinungsformen des Lebens 


und den beharrlichen Zeugen ihres Zusammenhanges. Alma- 


nach der kais. Akademie der Wissenschaften (Wien 1872). 
5® Darwin, Das Variüren, I, 247. 


> rt 


BA 
rab I Alchir des nur ‚der Toren 
zum Darwinismus. . Zeitschrift für wissenschaftliche 

logie, Bd. 22. ; 
’ Hermann v. N athusius, Voktudiea fer Gechichte ind + 
‚Zu cht ‚der Hausthiere, zunächst am ‚Sehweineschädel, ‚ 1864. 

$1 Ebendaselbst, S. 108. 
BB, Na Abstammung. des Menschen, S. 367. 
6 Entstehung der Arten, $. 153. 
64 Lamark hat am Schluss seiner „Philosophie Zoologique* 
ch schon einen Stammbaum construirt, in dem er die 


ern Ausgangspunkt anweist. Er et: daher zwei durch 
ıgung entstandene Urformen für das Thierreich an. Er 
2a also en Is 5 
Tableau 


Tnfüshikeh 
Polypes 
Radiaires 


’ 


Insectes 
Arachnides 
Crustacees 


- 


Poissons 
Reptiles 


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- 


Mammales amphibiens 


M. cetaces 


M. ongules 


- 5 E - - £ . v ae: rl RL yr - N S 
304 FE EN 


Eine Vergleichung dieses Stammbaums mit dem, welchen 3% 
wir heute aufstellen, ist höchst interessant und zeigt den 


Fortschritt unserer Kenntnisse. 


65 „Zum Streit über den Darwinismus.“ Augsburger 


Allgemeine Zeitung, 1873, Nr. 130. i 
66 Die vorläufige kurze Mittheilung in: „Revue scienti- 
fique‘‘ (Paris 1873), Nr 37. 


°” Braun, Ueber die Bedeutung der Entwickelung in der > 


Naturgeschichte (Berlin 1872). 
„Das Pflanzenreich zeigt uns: 


„I- Gewächse, welche in ihrer vegetativen Entwickelung der 


Stufe des Pflanzenkeimes die erste ungeschlechtliche Gene- 


ration in meist thallusartiger Ausbildung darstellen (Keim- 


pflanzen, Bryophyten, wozu die Thallophyten der Autoren, 
nebst den Characeen und Moosen); 


Knie, 


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1 


„II. Gewächse, bei welchen die erste Generation transito- 


risch ist und erst die zweite sich zum vegetativen, blatt- 


bildenden Pflanzenstock entwickelt, jedoch ohne bis zur 
Blütenpflanze fortzuschreiten (Stockpflanzen, Cormophyten, 


wozu die Farrn u. s. w.); 


„II. Gewächse, bei welchen die Metamorphose bis zurBi- 


dung einer Blüte fortschreitet, jedoch ohne die letzte For- 
mation, die der Fruchtblattbildung zu erreichen (Blüten- 


pflanzen ohne wahre Früchte, gymnospermische Anthophyten); 


„IV. Gewächse, welche in einer wahren Fruchtbildung den 


letzten und höchsten Abschluss vegetabilischer Entwickelung 


erreichen (angiospermische Anthophyten, wozu Monocoty- 
ledonen und Dicotyledonen als untergeordnete Abstufungen).‘, 

6° Da wir in diesem Abschnitte die individuelle Entwicke- 
lung in Beziehung auf die allgemeine historische Entwicke- 


lung besprochen, müssen wir hier wol auch der sonderbaren 


Gegnerschaft gedenken, welche der Descendenzlehre in 


Kölliker erwachsen ist. Derselbe hat seine Ansichten in sei- 
ner „Monographie der Pennatuliden‘‘ und in einem Separat- 
abdruck niedergelegt, welcher den Titel führt: „Morphologie 


und Entwickelungsgeschichte des Pennatulidenstammes, nebst 
allgemeinen Betrachtungen zur Descendenzlehre“ (Frankfurt 


1872). Während der Darwinismus die Continuität und Ein- 
heit der organischen Welt aus der Variabilität, der natür- 


lichen Züchtung, der Vererbung und Anpassung, kurz aus 
greifbaren, sichtlich wirkenden Ursachen ableitet, ist Kölli- 


ker der Meinung, „dass dieselben allgemeinen Bildungsgesetze, 
die in der anorganischen Natur walten, auch im Reiche des 
Örganischen sich geltend machen, und dass es somit durch- 
aus nicht nothwendig eines gemeinsamen Stammbaumes und 
einer langsamen Umbildung der Formen ineinander bedarf, 


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a Da a A EL RE U u 
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* 


um die Uebereinstimmungen der Formen und Formenreihen 
der belebten Weit zu erklären und zu begreifen‘ (a. a. O., 
S. 3). Es erhebt wol niemand, ausser den ausgesprochenen 
Dualisten, Einspruch gegen den ersten Theil des Kölliker’- 
schen Satzes. Allein die Identifieirung der Entwickelung 
der organischen Individuen unter Ausschliessung der Gesetze 
der Vererbung mit dem reinen Krystallisationsprocess oder 
irgendeinemuntergegebenen Verhältnissen sich wiederholenden 
chemischen Verbindungsvorgange ist eine doch kaum der 
eingehenden Widerlegung bedürftige Aufstellung. Kölliker 
sagt und sucht zu beweisen, dass die sogenannte monophy- 
letische Hypothese, wonach die verschiedenen Stämme der 
Organismen von einer einzigen Urform abzuleiten seien, mit 
unüberwindlichen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Grössere 
Wahrscheinlichkeit besitze die vielstämmige (polyphyletische) 
Descendenzhypothese. Gebe man dies aber zu, so — und 
nun kommt ein kühner Gedankensprun — „sieht sich der 
Anhänger einer polyphyletischen Descendenzhypothese in der 
Lage, nicht nur den höhern Abtheilungen, sondern selbst 
den Gattungen verschiedene Stammbäume und Urformen 
anweisen und eine selbständige Entstehung derselben an- 
nehmen zu können. Ja, es erscheint sogar gedenkbar, dass 
eineund dieselbe Art in verschiedenen Stammbäu- 
men auftritt, da bei der unabweisbaren Annahme allge- 
meiner Bildungsgesetze nicht abzusehen ist, warum gleiche 
Anfangsgestalten nicht auch unter Umständen zu gleichen 
Endformen sollten führen können“ (a. a. O., 8. 21). Ja, 
noch viel mehr leistet diese Hypothese, da „auch wenn In- 
dividuen Einer Art an weiter entfernten Localitäten sich 
finden, wie z. B. Pennatula phosphorea, Funieulina quadran- 
gularis, Renilla reniformis u. s. w., es wol passender ist, eine 
selbständige Entstehung derselben anzunehmen.“ Die Kölli- 
ker’sche polyphyletische Hypothese macht allen Schwierig- 
keiten ein Ende, so unter anderm erklärt sie die sogenann- 
ten in unserm zehnten Abschnitte zu erwähnenden Repräsen- 
tativformen, denn es sei von jenem „Standpunkte aus auch 
edenkbar, dass diese Formen genetisch gar nicht zusammen- 
hängen, sondern besondern Stammbäumen angehören‘‘(S. 23). 
Und alles dieses und noch vieles andere soll begreiflich sein, 
weildie Welt der Organismen in ihrer successiven Entwicke- 
lung innern Ursachen oder bestimmten Bildungs- 
gesetzen folge, „Gesetze, welche die Organismen in ganz 
bestimmter Weise zu immer höherer Entwickelung treiben“. 
Dabei erwägt Kölliker (S. 38), „ob nicht ebenso wie hier 
- Keime und Knospen, so auch frei lebende Jugendformen von 
Thieren die Fähigkeit besassen, eine andere Entwickelung 
ScHMIDT, Descendenzlehre, 20 


| Belege und Citate. 305. 


306 Belege und Citate, 


als die typische einzuschlagen“, bei welcher Freiheit das 


Entwickelungsgesetz, das an entgegengesetzten Polen Indivi- 
duen derselben Art schaffen kann und schaffen muss, arg in. 4 
E 


die Brüche kommen müsste. Kölliker fasst (S. 44) seine 


oe Wr 


Grundanschauung dahin zusammen, „dass bei und mit der 
ersten Entstehung der organischen Materie und der Orga- $ 
nismen auch der ganze Entwickelungsplan, die gesammte = 
Reihe der Möglichkeiten potentia mitgegeben wurde, dass Be: 


aber auf die Entwickelung im einzelnen verschiedene äussere 


Momente bestimmend einwirkten und derselben ein bestimm- 
tes Gepräge aufdrückten“. Damit ist trotz der wissenschaft- R 
lichen Einkleidung der Dualismus fertig. Während die a 
sik und Chemie ihre für die unorganische wie für die orga- 
nische Natur gültigen Gesetze nach Form, Inhalt und Wir 
kung verständlich machen, weiss Kölliker von der Beschaffen- 
heit seiner Gesetze auch nicht ein Wort. Die Lehre der 
natürlichen Züchtung lässt uns Ursachen und Wirkuägen 
der Vererbung und AÄnpassune erkennen und stellt die Er- 
scheinungsreihen unter der Form von Gesetzen auf. Gesetze 


7 


ART ER 


> 


aber, welche sich blos auf einen künftig zur Ausführung 


kommen sollenden Plan gründen, im Dienste dieser Mitgift 
der unvollkommenen Organismen stehen, kennt die Natur- 
wissenschaft nicht. 


6° Ueber die Herkunft unserer Thierwelt. Eine zoo- 


geographische Skizze von L. Rütimeyer (Basel 1867). 

Wir benutzten im Text vielfach dieses höchst inhaltreiche 
Schriftehen. 

’o A. B. Wallace, The Malay Archipelago (3d ed., London 
1870). Die von uns im Text weiter unten mitgetheilten 
Stellen finden sich S. 10 fg. 

"ı @. Koch, Die indo-australische Lepidopteren-Fauna in 
ihrem Zusammenhange mit den drei Hauptfaunen der Erde 
(2. Aufl., Berlin 1873). 

e Peschl, Neue Probleme der vergleichenden Erdkunde, 

1870: 

’3 Desto klarer ist die Zusammengehörigkeit von Masto- 
don und Elefant. Zwischen dem pliocänen Mastodon Borsoni 
und Elephas primigenius schieben sich 20 Arten ein, zu 
denen unsere noch lebenden, die indische und afrikanische Ark = 


gehören. Es wird damit die Grenze der beiden Gattungen 


völlig verwischt. Elephas primigenius, der Mammuth, selbst 
zerfällt nach andern Angaben in mindestens vier geographi- e 
sche Spielarten, denen sich amerikanische Arten anreihen. 
Eine Zwergart des Elefanten ist in Höhlen auf Malta ge- 


funden, welche dem Zahnbau nach sich an den afrikanischen B- 


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u FRA NRENR TEEN DIEBE? NE * 


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on] oh. Schmidt, Die Verwandtschaftsverhältnisse der indo- 


_ germanischen Sprachen, 1872. 


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75 Verschiedene Gegner der Descendenzlehre haben ihrer 


_ moralischen Entrüstung, dass man den Stammbaum der 


"Wirbelthiere und damit den des Menschen sogar über die 
Wirbelthiere hinaus bis zu so gemeinen Wesen wie die 
Ascidien verfolgte, in den schärfsten, eine wissenschaftliche 
Erörterung ausschliessenden Ausdrücken Luft gemacht. Ein 
anderes ist es mit solchen Kritikern der Beobachtungen Ko- 
walewsky’s und Kupffer’s, welche das Thatsächliche aner- 


- kennen, in der Auslegung aber abweichen zu müssen glauben. 


Dahin zählt A. Giard in einer Arbeit über „Emybrogenie 
des Ascidiens‘“ („Archives de Zoologie experimentale‘‘, Paris 
1872). Der Schüler von Lacaze-Duthiers sagt: „La chorde 


et l’appendice caudal sont chez la larve Ascidienne des or- 


ganes de locomotion d’une importance assez secondaire 


malgr& leur generalit& pour qu’on les voie disparaitre pres- 


que entierement dans le genre Molgula oü ils sont devenus 
inutiles par suite des. m@urs de l’animal adulte; ’homologie 
entre cette chorde dorsale et celle des vertebres n’est done 
qu’une homologie d’adaptation determinee & remplir l’iden- 
tite des fonctions, et n’indique pas de rapports de parente 
immediate entre les vertebres et les Ascidiens.* Der Ver- 
fasser leugnet also die Blutsverwandtschaft der Wirbelthiere 
und Aseidien und führt dieder Gleichheit nahe kommende Aehn- 


lichkeit der beiderseitigen Organe auf die Anpassung zurück. 


Die Folgerungen in jenen wenigen Sätzen scheinen uns voll- 
ständig verfehlt zu sein. An der Wichtigkeit der Thatsachen 


wird durch den Umstand, dass die Entwickelung bei Mol-“ 


gula und so vielen andern Mantelthieren einen andern Gang 
genommen, ebenso wenig etwas geändert, als etwa der Be- 
deutung der Naupliusentwickelung des von Fritz Müller 
beobachteten Peneus, sowie der der Segellarven der Weich- 


thiere dadurch Eintrag geschieht, dass die übrigen Decapo- 


den das Naupliusstadium, oder dieLandschnecken das Segel- 
larvenstadium eingebüsst haben. Worin aber die Gleichheit 
der Fwmetionen bestehen soll, welche bei den Wirbelthieren 


. die Chorda, notabene mit dem Rückenmark! (was Herr 


Giard ganz vergisst), dort aber die homologie d’adaptation 
hervorzubringen.im Stande wäre, ist uns geradezu unver- 
ständlich. Wir sehen im Gegentheil diese Organe in den 
beiden Gruppen schon deshalb ganz verschieden functioniren, 
weil sie in der einen für das ganze Leben fundamental wich- 


22 tig bleiben, bei der andern nicht. Wir legen daher um- 


gekehrt auf die morphologische Gleichheit bei functioneller 


Belege at ae RER 


- Verschiedenheit den Nachdruck. 
Giard nichts vorgebracht. 4 
‘* T, H. Huxley, Handbuch der Anatomie der Wirbele 7 
thiere. Uebersetzt von Ratzel, 1873, S. 230. 22 
‘7 March, American Journal of sciences and arts, Februar 
1873. BE 
"8 Eckermann, Gespräche mit Goethe, II, 132. en, 
7° Rousseau, Emile ((Euvres, Paris 1820, IX, 17). „Nous 
n’avons point la mesure de cette machine immense, nous. 
n’en pouvons calculer les rapports; nous n’en comnaissons ni 
les premieres lois ni la cause finale; nous nous ignorons 
nous memes; nous ne connäissons ni notre nature ni. notre S: 
principe actif.“ | 7 
80 Metamorphose der Thiere. EN: 


A 


&I R. Valdek in der „Presse“, 1865, Nr. 327, Ei 
82 Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der r 
Natur, 1863. Uebersetzt von Carus. $ 
Derselbe, Handbuch der Anatomie der Wirbelthiere, 1873. . 
Uebersetzt von Ratzel. = 
Broca, L’ordre des Primates. Parall&le anatomique det 3 
I’homme et des singes (Paris 1870). B. 
s3 Waitz, Anthropologie der Naturvölker, 6. Thl., S. 796 Kr 
(bearbeitet von Gerland). ER 
s4 Ebend., S. 708. | 
55 Augsburger Allgemeine Zeitung, 1873,Nr.92—94, Beilage. 
86 Die Vorlesungen, welche dieser Gelehrte in Strassburg _ 


„Ueber die Resultate der Sprachwissenschaft‘ Bei llen habez 

ich mit grossem Interesse und Nutzen gehört. . 
87 L. Geiger, Der Ursprung der Sprache, 1869, 837. nd 
®® Steinthal, Der Ursprung der Sprache, 1851. 3 
2. Ir. Müller, Allgemeine Ethnographie (Wien 1873). a 


Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig. 


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