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THE UNIVERSITY
OF ILLINOIS
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UNIVERSITY OF ILLINOIS LIBRARY AT URBANA-CHAMPAIGN
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L161—O-1096
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Inhaltsverzeichnis
Seite
Bohrer 3 483
R. Walther Darré / Warum würdigen wir Guſtav Ruhland? . . 484
Karl Scheda / Zu Guſtav Ruhlands Gedächtnis 485
Leopold Plaichinger / USA. - UdSSR.. . . 497
Ragnar Berg / Die Berwertung des deutfchen ere . 508
Walter Bohm / Richtlinien zur Schöpfung deutſchen Bodenrechts 519
Fritz Zweigelt / Die Zukunft der Direktträgerfrage im mitteleuro-
päifhen Weinbuu . a ae DZO
Karl Motz / Blut und Boden 335
Das ArchiuVuVu 858342
Das Buch „ 4
Anſchriftenverzeichnis
Jedes Heft RM. 1.50 - Vierteljährlich 3 Hefte RM. 3.00
zuzüglich Beſtellgeld. Beſtellungen durch den Verlag oder bei jeder Poſtanſtalt.
Poſtvertrieb ab Detmold
2 #¢ —
= 2 u
a Ee * — —
Deullche Agrarpolitil
WMonatefcheift fürDeutlches-Bauerntum
Hauptichriftleitung Dr. Hermann feilchle
„Zeitgeſchichte Verlag und Vertriebs⸗Geſellſchaft m. b. H., Berlin 15
Heſt 7
Meinekeſtraße 20
„die Verwirklichung des vom National-
ſozialismus wieder erweckten fundamenta-
len volkspolitiſchen Gedanken, der in der
Thefe von „Blut und Boden“ feinen Aus-
drud findet, wird die tiefgehenöfte revolu⸗
tionäre Umgeſtaltung bedeuten, die jemals
ftattgefunden hat.“
Adolf Hitler in feiner Rede auf der agrarpoli⸗
tischen Tagung der ISDAP. am 3. Januar 1933.
— —
E as
8858801
Januar 1933
R. Walther Darre:
Warum würdigen wir Guſtav Ruhland?
Zu ſeinem Todestag am 4. Januar
Mit der Franzöſiſchen Revolution von 1789, wenn auch nicht urſächlich von
ihr ausgelöſt, zieht über Europa ein neuer politiſcher SEN herauf: die
Nation. Hatte im Mittelalter die Einheit des germaniſchen Blutes für ein
Gemeinſamkeitsgefühl des Abendlandes die Grundlage abgegeben, ſo hatte
doch die ichſüchtige Entwicklung des Territorialfürſtentums dieſe Einheit zer⸗
ſtört und im Abſolutismus der Fürſten die politiſche Zerſtückelung des Abend⸗
landes verankert. Hiergegen wandte ſich eine Gegenbewegung, die die Nation,
d. h. das Volk, zur Grundlage ihrer ſtaatspolitiſchen Aberlegungen machen
wollte. In der Franzöſiſchen Revolution von 1789 fing dieſe Idee erſtmalig
an, politiſch greifbare Formen zu bekommen. Das 19. Jahrhundert vollendete
im weſentlichen dann dieſe Entwicklung, und in der heutigen Zeit ringt ſich
dieſe Idee zu klaren Vorſtellungen durch.
Mit dieſer Entwicklung hielt nicht ſtand die Entwicklung volks wirt ⸗
ſchaftlicher Vorſtellungen. Das iſt verſtändlich, wenn man berüdfichtigt,
daß das Wort „Volkswirtſchaft“ ja ſagt: „Wirtſchaft des Volkes“: was
immerhin zur Vorausſetzung hat, daß es erft einmal ein „Volk“ als Vor⸗
1 und Begriff geben muß, ehe man feine „Wirtſchaft“ begreifen ler⸗
nen kann.
So hat es bisher aus naheliegenden Gründen eine eigentliche Volkswirt⸗
ſchaftslehre nicht gegeben. Wohl haben aber gewiſſe Männer die Entwicklung
klar erkannt und ihrerſeits den Verſuch unternommen, zu Grundlagen volks-
wirtſchaftlicher Betrachtungsweiſen zu kommen. In der Reihe dieſer Männer
nimmt der unmittelbar vor dem Weltkrieg verſtorbene Gu ſtav Ruhland
wohl eine der bedeutendſten Stellungen ein. And zwar im weſentlichen des⸗
halb, weil er als einer der erſten klar erkannte, daß die Vorausſetzung aller
„volkswirtſchaftlichen“ Aberlegungen die Sorge um die Sicherſtellung der Er⸗
nährung des Volkes zu fein hat. Da nun alle „Volkswirtſchaft“ „National-
wirtſchaft“ ſein muß, wenn ſie Wirtſchaft des Volkes ſein will und nicht zur
Wirtſchaft ſchlechthin werden ſoll, fo erhellt dies, daß die Landwirtſchaft
zur Grundlage der „Volkswirtſchaft“ wird, wenn die Volks wirtſchaſt wirklich
als Begriff und als Tatſache Geltung beanſprucht. Ruhland hatte alſo erkannt,
daß die „Agrarpolitik“ eines Volkes die Achſe feiner wirtſchaft⸗
lichen Aberlegungen zu fein hat, wenn er als Volk beſtehen blei-
ben will.
Es iſt mithin falſch, Guftav Ruhland zum Agrarpolitiker zu ſtempeln; er
iſt einer der erſten wirklichen Volkswirtſchafter geweſen, die das deutſche
Volk hervorbrachte. Gerade wir Landwirte haben alle Arſache, dies ſo laut
wie nur irgend möglich immer und immer wieder zu betonen, um die durch den
‘ 10 —
OD
I Karl Scheda, Zu Gustav Ruhlands Gedächtnis 485
Liberalismus und die Freihandelslehre üblichen, völlig verfahrenen Vorſtel⸗
Jungen von der Wirtſchaft zu berichtigen und um zu verhüten, daß man aus
u. und Bequemlichkeit am Weſen der volkswirtſchaftlichen Dinge vor-
eidenkt.
Wir haben aber auch allen Anlaß zu verhüten, daß Ruhland der Ver⸗
Ageſſenheit anheimfällt, wie es ſyſtematiſch verſucht worden iſt; man fürchtete
Soffenbar den ſcharffinnigen Kritiker beſtehender liberaliſtiſcher Wirtſchaftsvor⸗
„stellungen! Daher nehmen wir die Wiederkehr feines Todestages am 4. Ja-
S nuar zum Anlaß, feiner in dieſer Monatsſchrift zu gedenken, ift doch die
3, Deutſche Agrarpolitik“ die geeignetſte Stätte, um im Geiſte Guſtav Ruh⸗
Hlands zu arbeiten und zu wirken und fein Andenken lebendig zu erhalten.
Cc
—
Karl Scheda:
Zu Guſtav Ruhlanoͤs Gedächtnis
Am 4. Januar jährte ſich wieder der Todestag Gu ſtav Ruhlands, der
es durch Genie und Fleiß vom Jungbauern zum Profeſſor der National-
ökonomie gebracht und durch ſeine wiſſenſchaftlichen Arbeiten ſich die größten
Verdienſte um die deutſche Volkswirtſchaftslehre und insbeſondere um die Er⸗
kenntnis von der grundlegenden Bedeutung der Deutſchen Landwirtſchaft für
das Wohl des geſamten Volkes erworben hat. Mit Rückſicht auf den verfüg⸗
baren Naum können wir hier allerdings nur die Hauptpunkte feines eigen-
artigen Werdegangs ſchildern.
Leider iſt Ruhlands Bedeutung weiten Kreiſen unſeres Volkes bisher noch
unbekannt geblieben, weil die Zunftgelehrten, mit denen er die ſchwerſten
Kämpfe ſiegreich beſtanden hat, dieſen hervorragenden Mann und ſein Werk
völlig totſchweigen. Bekanntlich haben die deutſchen Gelehrten fich der gleichen
Pflichtverletzung gegenüber unſerem erſten großen Nationalökonomen Fried⸗
rich Lift ſchuldig gemacht; auch feine Werke waren über 30 Jahre völlig ver-
geſſen, bis ſie von Eugen Dühring wieder ausgegraben wurden. Es iſt
heute außer Zweifel, daß unſere geſamte wirtſchaftliche Entwicklung durch das
Totſchweigen der Werke Liſts um mehr als 30 Jahre zurückgeblieben iſt. Der
unermeßliche Schaden, den unſere wirtſchaftliche und ſoziale Entwicklung durch
das Totſchweigen Ruhlands und ſeiner Werke erlitten hat, läßt ſich heute noch
gar nicht überſehen.
Guſtav Ruhland wurde am 11. Juni 1860 auf einem Einödhofe zu
Heſſenthal im bayeriſchen Speſſart als Sproß einer alten Bauernfamilie
geboren. Er beſuchte die Realſchule in Mainz, kurze Zeit das Technikum
zu Langenſalza und erwarb ſich dann durch eine mehrjährige Ausbildung auf
verſchiedenen Gütern eine ſehr gründliche, praktiſche und theoretiſche Kenntnis
der Landwirtſchaft. Der frühe Tod ſeines Vaters brachte ihm die ſelbſtändige
Bewirtſchaftung des väterlichen Bauernguts. Hier lernte er nun die Notlage
486 Karl Scheda
der Speſſarter Kleinbauern gründlich kennen, was ihn bei feiner hohen get-
ſtigen Begabung und idealen Gefinnung veranlaßte, nach den Arſachen dieſer
Notlage zu forſchen, um eine Beſſerung der bäuerlichen Lebensverhältniſſe
herbeizuführen. Das damalige volkswirtſchaftliche Schrifttum, das er nun mit
heißem Bemühen ſtudierte, brachte ihm jedoch faſt nur Enttäuſchungen. Denn
die Anſichten der Gelehrten ſtanden in unüberbrückbarem Widerſpruch zu ſei⸗
nen praktiſchen Erfahrungen in der Landwirtſchaft. And er bekannte ſich zu
Juſtus v. Liebigs Anſicht, daß gerade in der Volkswirtſchaft die Erfahrungen
der Praktiker der Stoff ſein müſſen, aus dem die Wiſſenſchaft das edle Metall
vom tauben Geſtein zu ſcheiden hat. Ruhland wandte ſich deshalb an den da⸗
maligen erſten Nationalökonomen Albert Schäffle in Tübingen, der als
öſterreichiſcher Gewerbeminiſter ſich auch gründliche Kenntniſſe der praktiſchen
olkswirtſchaft angeeignet hatte. Dieſer Altmeiſter der deutſchen Sozialwiſſen⸗
ſchaft riet dem jungen Landwirt Ruhland, ſeine Erfahrungen und Anſichten
ſelbſt zu ſchildern, und veröffentlichte 1883 drei Abhandlungen Nuhlands, die
er als „groß gedacht und weitblickend“ beurteilte, in der Tübinger
„Zeitſchrift für die geſamten Staatswiſſenſchaften“. Dieſer Erfolg ermutigte
Ruhland, ſeine volkswirtſchaftlichen Arbeiten mit Eifer fortzuſetzen, wobei er
durch die damals erſchienene bahnbrechende Badiſche Agrarenquéte Buchen-
bergers wertvolle Anregungen erhielt. Er veröffentlichte noch 1883 ſeine erſte
mehr theoretiſche Schrift: „Aber das natürliche Wertverhältnis des landwirt-
ſchaftlichen Grundbeſitzes“. Mit dieſer Schrift hatte Ruhland feinen Wert-
begriff und die Grundlinien feines ſpäteren Syſtems der „volksorga⸗
niſchen“ Volkswirtſchaftslehre „Hinter Pflug und Senſe“ bereits gefunden.
Er veröffentlichte dann „Die Löſung der landwirtſchaftlichen Kreditfrage im
Syſtem der agrariſchen Reform“, eine Schrift, die auch heute noch von größter
Bedeutung iſt. Ruhland hatte erkannt, daß der Bauer bei der heutigen Wirt⸗
ſchaftsordnung der Zinsknecht des Großkapitals iſt, und daß ſich zwiſchen den
Landwirt und den Verbraucher der Börſenſpekulant als überflüſſiges
Zwiſchenglied ſchiebt, der bald den Bauern, bald den Verbraucher ausbeutet.
„Schon die erſten Schriſten Nuhlands“, ſagt Profeſſor Dr. Beck, „waren
unmittelbar aus der Erfahrung geſchöpft und vertraten mit zwingender Aber.
zeugungsgewalt die Forderungen des praktiſchen Lebens.“ Dieſer Vorzug, der
ſeinem Schreiben und Auftreten den Zauber der Friſche, Aktualität und Wahr⸗
haftigkeit gab, errang dem jugendlichen Sozialpolitiker die Anerkennung ſei⸗
ner Berufsgenoſſen. Auf Schäffles Rat übergab Ruhland den Bauernhof
ee Bruder und vervollſtändigte feine wiſſenſchaftlichen Studien an den
niverfitäten in München und Tübingen. In dieſer Zeit wurde feine Schrift:
„Welchen Einfluß hat die Reichsgeſetzgebung auf die Entwicklung der bay⸗
riſchen Landwirtſchaft gehabt?“ preisgekrönt, und ſeine Denkſchrift über „Die
Entwicklung von Handel und Verkehr mit Getreide in Bayern in den letzten
100 Jahren“ fand größte Beachtung.
Die Getreidepreiſe waren damals, trotzdem ſeit 1879 die Getreidezölle mehr⸗
12 erhöht waren, immer mehr zurückgegangen. Damit war die Agrarfrage als
rage der natürlichen Preisbildung für landwirtſchaftliche Erzeugniſſe und
damit als Frage des gerechten und natürlichen Arbeitslohnes des ſelbſtändigen
Landwirts entſtanden, welche die Exiſtenz der Landwirtſchaft bedrohten. Da
von Deutſchland aus die Arſachen des Getreidepreisſturzes durch die auslän-
diſche Konkurrenz nicht zuverläſſig zu ermitteln waren, ſchlug Ruhland eine
Zu Gustav Ruhlands Gedächtnis 487
Studienreiſe durch alle wichtigen Kornländer der Erde vor. Auf Empfehlung
der Bayriſchen Regierung und Albert Schäffles, der Ruhland als den „beit
vorbereiteten Volkswirt für dieſe Studienreiſe“ bezeichnete, gewährte Für ft
Bismarck Reichsmittel für dieſe Studienreiſen, nachdem er mit Ruhland
verhandelt und einen fehr günſtigen Eindruck von ihm erhalten hatte. „Der
Kerl gefällt mir“, ſagte der Altreichskanzler in ſeiner geraden Art, „er hält die
Getreidezölle nicht für geeignet, die Landwirtſchaft dauernd zu retten. Ich bin
derſelben Meinung, aber ich habe bis jetzt noch niemanden gefunden, der mir
etwas Beſſeres hätte vorſchlagen können.“ Ruhland unternahm ſeine großen
Studienreiſen von 1887 bis 1890 nach Rußland, den Donauländern, Agypten,
Indien, Auſtralien und Amerika und ſchließlich nach England, als dem Haupt⸗
handelsplatz für das ausländiſche Getreide. Auf dieſen Reifen hat Ruhland
mit mehr als tauſend hervorragenden Volkswirten aller Länder alle volkswirt⸗
ſchaftlichen Fragen eingehend erörtert. Als er mit feinem ungeheuren volks⸗
wirtſchaftlichen Stoff heimkehrte, war Fürſt Bismarck entlaſſen, und fein Nach-
folger, General v. Caprivi, hatte „als Mann ohne Ar und Halm“
kein Verſtändnis für die landwirtſchaftlichen Fragen. Trotz Ruhlands War⸗
nung wurden in Caprivis Handelsverträgen die Getreidezölle herabgeſetzt und
dadurch die landwirtſchaftliche Notlage erheblich vergrößert.
Aber die Getreidepreiſe hatte Ruhland folgende Feſtſtellungen gemacht:
1. Die von den Gelehrten behauptete Aberproduktion von Greide iſt nicht
vorhanden.
2. Die Notlage der Landwirte iſt international. Grenzzölle find deshalb
nicht geeignet, die Arſachen des herrſchenden Abels dauernd zu beſeitigen.
3. Die Getreidepreiſe find deshalb fo ruinös, weil die Bildung der Preiſe
in der Hand des internationalen, ſpekulativen Kapitalismus liegt.
4. Die Landwirte ſollten deshalb danach ſtreben, die Preisbildung ihrer Er«
zeugniſſe ſelbſt in die Hand zu nehmen. |
5. Es wäre von größter allgemeiner Bedeutung, daß ſich die Landwirte
international über die Sätze verſtändigen und ausſprechen könnten.
6. Als nächſtes praktiſches Ziel iſt die Abſchaffung des Börſenterminſpiels
in Getreide zu erſtreben. |
Der dann 1893 durch landwirtſchaftliche Not entſtandene „Bund der
Landwirte“, der Vorgänger des Reichslandbundes, hat das geſetz⸗
liche Verbot des Blankoterminhandels 1896 erreicht. Als Ergebniſſe ſeiner
Studienreiſen veröffentlichte Ruhland noch mehrere Schriften, fo: „Aber Wir⸗
kung und Bedeutung der Schutzzölle“, „Aber die Zukunft des Goldes und die
Süßſche Theorie“, „Aber den achtſtündigen Arbeitstag und die Arbeiterſchutz⸗
geſetzgebung der auſtraliſchen Kolonien“, „Aber die Auſtraliſche und Nord-
amerikaniſche Landgeſetzgebung“, „Aber das Verfaſſungs⸗ und Verwaltungs-
recht des Anglo⸗Indiſchen Kaiſerreichs“. Von 1890 an leitete Ruhland vor-
übergehend noch einen öſterreichiſchen Großgrundbeſitz, wo er ſeine landwirt⸗
ſchaftlichen Kenntniſſe vervollſtändigte und praktiſche Proben auf feine Erfah⸗
rungen der Studienreiſen machte. So ſtellte er feſt, daß die Marxiſtiſche
Konzentrationstheorie für die Landwirtſchaft völlig un⸗
richtig iſt, und daß gerade der Mittelſtand am vorteilhafteſten in der
Landwirtſchaft fet. Im Sommer 1893 habilitierte ſich Ruhland als Privat-
Dozent der Nationalökonomie an der Aniverſität in Zürich. In feiner Antritts-
rede führte er u. a. aus: Die eigentliche Agrarfrage iſt „die Frage nach
488 Karl Scheda
der Funktion des Grund und Bodens im Leben des Volkes“.
Die Ideen von Freihandel und Weltwirtſchaft bezeichnete er als die gefähr-
lichſten Irrtümer, die der menſchliche Geiſt je geboren. Alle Agrarſtaaten lehn⸗
ten die engliſche Irrlehre der internationalen Arbeitsteilung zwiſchen Agrar-
und Induſtrieſtaaten unbedingt ab und ſchufen ſich mit rückſichtsloſer Energie
eine eigene Sr ide Er warnte mit eindringlichen Worten vor der falſchen
Wirtſchaftspolitik der einſeitigen Förderung der Induſtrie auf Koſten der
Landwirtſchaft, die früher oder ſpäter geradezu verhängnisvoll werden müſſe.
„Die Selbſtändigkeit eines Staates“, ſagte er, „iſt kein bloß juriſtiſcher Be⸗
griff; ſie muß einen wirtſchaftlichen Kern umſchließen, der der feſte Körper iſt,
um den ſich das Imperium ſchlingt. And dieſer Körper braucht wie ein gutes
Haus ein feſtes Fundament auf Grund und Boden. Eine Aberwucherung der
oberen Stockwerke für Induſtrie und Handel muß namentlich bei gleichzeitiger
Rückbildung des landwirtſchaftlichen Fundaments über kurz oder lang das
ganze Gebäude zerſtören. Nicht der induſtrielle Reichtum, ſondern die har⸗
moniſche Entwicklung des Ganzen in Selbſtändigkeit bewahrt das Glück den
Völkern. Der gleichmäßige Fortſchritt von Induſtrie und Handel mit der
Landwirtſchaft bildet die höchſte Aufgabe aller Wirtſchaftspolitik. Für die
Einhaltung dieſer harmoniſchen Entwicklung gibt es einen untrüglichen Maß⸗
ſtab: das iſt das Verhältnis zwiſchen Erzeugung und Bedarf
an Brotgetreide. Das Land muß in der Regel das Brotgetreide für das
Volk bauen!“ Seine Studienreiſen hatten ihm die Erfahrung gebracht, daß
auf der ganzen Erde, wo Freihandel mit Grundeigentum beſteht, genau die
gleichen Verſchuldungserſcheinungen auftreten, die bis zu / als Reſtkauf⸗
oder Erbſchaftsgelder entſtünden. Die landwirtſchaftliche Kreditnot könne nur
durch Anderung des Agrarrechts beſeitigt werden vermittels Einführung des
natürlichen Grundſatzes: „Der freien Arbeit auf eigenem Grund
und Boden ungefhmälert ihren Arbeitsertrag als Ar-
beitslohn!“ Hierzu fei erforderlich, daß an Stelle der heutigen freien Preis⸗
bildung für Grund und Boden bei jeder Handänderung der „wahre Wert“
unbedingt maßgebend bleibe. Ruhland führt dann weiter aus, was er unter
„wahrem Wert“ verſteht, und wie der heutige Abelſtand beſeitigt werden
könne, daß das Kapital einen Raub an dem Arbeitsertrag des Landwirts be⸗
geht. Der Arbeit ihren Lohn, und dem Volke ſein Brot! Bei Durchführung
dieſer Grundſätze würde die heutige Agrarfrage gelöſt ſein und wieder Lebens⸗
friſche und Sonnenſchein in der Zukunft der Völker herrſchen.
Ruhland wurde ſpäter Profeſſor der Nationalökonomie an der Aniverſität
zu Freiburg in der Schweiz. Sowohl von Zürich wie von Freiburg aus wurde
er jedoch als wiſſenſchaftlicher Berater vom Bund der Landwirte nach Berlin
geholt. Diefe Berufung erfolgte auf Empfehlung des bekannten National-
ökonomen Adolf Wagner, für den das Arteil ſeines Lehrers Albert
Schäffle über die hervorragende Begabung Ruhlands maßgebend war. 1895
erſchien Ruhlands Schrift „Die Wirtſchaftspolitik des Vaterunſer“, worin
er feine ſittliche Auffaſſung der Volkswirtſchaft unter Hinweis auf die urchriſt⸗
lichen Lehren darlegte. Er entwickelte als Geſetz der normalen volkswirtſchaft⸗
lichen Entwicklung den Grundſatz, daß die Löſung der Agrarfrage in
der rechten Weiſe die Löſung der ſozialen Frage bedeute.
And daß heute, wo die germaniſchen Völker am Scheidewege ihrer Entwick⸗
lung zwiſchen Aufſtieg oder Antergang ſtehen, ſie ſich vor dem Verderben nur
Zu Gustav Ruhlands Gedächtnis 489
durch Einführung einer neuen, auf Gerechtigkeit und Sittlichkeit beruhenden
Rechts⸗ und Wirtſchaftsordnung ſchützen könnten.
Das Studium der landwirtſchaftlichen Kreditverhältniſſe veranlaßte Ruh⸗
land, durch eine Denkſchrift vom 1. Februar 1885 die Errichtung einer ge⸗
N Zentralbank vorzuſchlagen. Der Finanzminiſter
iquel zeigte ſofort das größte Intereſſe für dieſe Idee, ſo daß bereits
am 1. Oktober 1895 die „Preußenkaſſe“ ihre ſegensreiche Tätigkeit be⸗
ginnen konnte.
1896 hatte der erſte „Internationale Agrarkongreß“ zu Buda⸗
peft ſich den Ruhlandſchen Auffaſſungen über die Agrarfrage angeſchloſſen. Er
konnte deshalb mit Hilfe des Bundes der Landwirte und anderer agrariſcher
Verbände verſchiedener Länder im Herbſt 1899 zu Freiburg in der Schweiz
eine „Internationale Getreidepreis warte“ errichten. Daraus
gingen dann die „Internationalen Mitteilungen zur Regu-
lierung der Getreidepreiſe“ hervor, die bald darauf wegen der Aber⸗
ſiedlung Ruhlands nach Berlin zur Wochenſchrift „Getreidemarkt“ um⸗
gewandelt wurden. Da Ruhland die Agrarfrage als internationales Problem
erkannt hatte, jo machte er die landwirtſchaftlichen Verbände faſt aller euro-
päiſcher Staaten mit ſeinen Ideen bekannt. Es gelang ihm, 1901 in Paris
von 29 dort vertretenen landwirtſchaftlichen Verbänden 6 europäiſcher Staaten
die „Internationale landwirtſchaftliche Vereinigung für
Stand und Bildung der Getreidepreiſe“ zu bilden, die dann zur
Gründung des „Internationalen Agrarinſtituts“ in Rom führte.
Im März 1905 kam es in Rom auch unter Teilnahme amerikaniſcher Land⸗
wirte zur Bildung der „Welt⸗Agrarkammer“. Die amtliche Italie⸗
niſche Denkſchrift bat die wefentliche Mitarbeit Rublands hierbei mit beſon⸗
derer Anerkennung hervorgehoben.
Ruhlands Förderer, der hervorragende badiſche Volkswirt Miniſter
Buchenberger, hatte ihn darauf hingewieſen, daß bei aller Anerkennung des
weitblickenden Agrarprogramms Ruhlands ein ſolches für ſich allein nicht
beſtehen könne, wie es auch ausgeſchloſſen ſei, die eine Hälfte des menſchlichen
Körpers einer gründlichen Kur zu unterziehen, ohne die andere Hälfte zu berück⸗
ſichtigen. Als Ruhland darauf feinen Plan entwickelte, fein Agrarprogramm
als „Reformprogramm für das ganze Volk“ zu Ende zu denken,
und zwar in Verbindung mit der Entwicklungsgeſchichte aller bedeutſamen
Kulturvölker, erkannte Buchenberger dieſen Plan als großartig an, hielt ihn
aber für viel zu groß, um durch die Arbeitsleiſtung eines Menſchenlebens
beendet zu werden. Ruhland jedoch ſchuf ſich einen Stab von wiſſenſchaftlichen
Mitarbeitern, die ſeine Fragen nach den beſten Quellen ſorgfältig bearbeiten
mußten, während er die Ergebniſſe dieſer Arbeiten überprüfte. Trotz emſiger
Tagesarbeit beim Bund der Landwirte und großer Kämpfe mit feinen zahl ⸗
reichen Gegnern ſchuf er in den Jahren 1903 bis 1908 ſein Meiſterwerk, das
dreibändige „Syſtem der Politiſchen Okonomie“. Leider haben die
beiden Volkswirte Schäffle und Buchenberger, die den Werdegang diefes
Syſtems beeinflußt hatten, feine Vollendung nicht mehr erlebt.
Im 1. Bande ſeines Syſtems gibt Ruhland eine meiſterhafte Entſtehungs⸗
geſchichte und Kritik der bisherigen nationalökonomiſchen Schulſyſteme, wobei
er namentlich auch die Zeitverhältniſſe ihres Arſprungs klar ſchildert und
damit erſt das richtige Verſtändnis für die Schulſyſteme ermöglicht. Für ſein
490 Karl Scheda
Syſtem geht Ruhland vom Getreide aus, weil dasfelbe die wichtigſte
Güterkategorie der menſchlichen Wirtſchaft iſt, denn ohne Getreide iſt das
Leben der Menſchen undenkbar. Die Ernährungsphyſiologie lehrt, daß eine
Ernährung des Menſchen mit ausſchließlich tieriſcher Koſt unmöglich ijt, daß
aber ſchon ganze Völker mit Vorteil nur von Getreidekoſt gelebt haben, weil
das Getreide die zur Ernährung des Menſchen notwendigen Grundſtoffe in
der rationellſten Miſchung enthält. Jene gewaltigen geſchichtlichen Ereigniſſe,
die wir als „Völker wanderungen“ bezeichneten, waren nicht, wie
früher fälſchlich angenommen wurde, aus einem Mangel an Weideplätzen
hervorgegangen, ſondern im Grunde getreidepolitiſche Maßnahmen. Vor der
Begründung größerer Städte haben die Völker es unterlaſſen, durch Anſamm⸗
lung von Getreidevorräten den Folgen ungünſtiger Erntejahre vorzubeugen.
Wenn dieſe kamen, ſo wanderten die Völker mit ihrer leichten Habe nach
ſolchen Gegenden, die genügend Getreide hatten. Dieſe Getreidepolitik der
Wanderung findet ihren formellen Abſchluß gewiſſermaßen erſt im Jahre 1362
durch das Gebot des Kaiſers Karls IV. an Städte und Klöſter, Kornſpeicher
anzulegen. Ruhland fügt ſeinem Werk eine Karte bei, in der die Weizenpreiſe
in Straßburg für 500 Jahre in Jahresdurchſchnitten wie in einunddreißig⸗
jährigen Durchſchnitten aufgezeichnet ſind. „Dieſe Bewegungslinie
der Getreidepreiſe bietet den bezeichnendſten Ausdruck der geſchichtlichen
Ereigniſſe und der geſamten kulturellen Entwicklung. Was die Temperatur-
kurve in dem phyſiſchen Leben des einzelnen Menſchen bedeutet, das bedeutet
im Wirtſchaftsleben des Volkes die Kurve der Getreidepreiſe. Wie jene Sid-
zackbewegung in der Temperaturkurve des einzelnen Menſchen eine ernſte
Kriſis bedeutet, der bald entweder die Wiedergeneſung oder die Auflöſung
folgt, ſo bedeutet auch jene Zickzackbewegung der Getreidepreiskurve mit voller
Sicherheit eine tiefeinſchneidende wirtſchaftliche Kriſis, die bei häufiger Wie⸗
derkehr auch das Wirtſchaftsleben des Volkes vor die Wahl ſtellt, entweder
den Weg zur Beſſerung zu finden oder zugrunde zu gehen.“
Die zweite Hälfte des 1. Bandes und der ganze 2. Band enthalten die
Entwicklungsgeſchichte der bedeutſameren Kultur völker,
der Juden, Griechen, Römer und des Islamiſchen Weltreichs. Es folgt das
Mittelalter mit der Geſchichte des „Kapitalismus auf päpſtlichem
Thron“, des „Kapitalismus auf den Fürſtenthronen“, dann die
Geſchichte der italienischen Handelsrepubliken und der Handels und Kolonial-
ſtaaten nach dem Ausgang des Mittelalters (Portugal, Spanien, Holland,
Frankreich und England).
Ruhland zieht aus dieſer Weltgeſchichte die Lehre, daß der Niedergang und
Antergang aller Völker, deren Leichen ſchon auf dem Seziertiſch der Geſchichte
liegen, ſtets dieſelbe Arfache hatte, den „Kapitalismus“, den er jedoch
völlig anders als Marx beſtimmt. Dieſer verſteht unter „Kapitalismus“ die
private Ertragswirtſchaft von Anternehmern unter Verwendung von Kapital
und Hilfsarbeitern, die angeblich dabei vom Arbeitgeber um den Mehrwert
betrogen würden. Ruhland verſteht unter „Kapitalismus“ die Aneignung
fremder Werte in einem Rechtsgeſchäftsverkehr, bei dem Leiſtung und Gegen⸗
leiſtung nicht gleichwertig ſind. Auch die Weimarer Reichsverfaſſung fordert
wirtſchaftliche Gerechtigkeit für den Geſchäftsverkehr. Die bisher
herrſchenden demokratiſchen Parteien haben es aber unterlaſſen, die zur Rechts-
wirkſamkeit jener Verfaſſungsbeſtimmung erforderlichen Geſetze zu erlaſſen.
Zu Gustav Ruhlands Gedächtnis 491
Infolgedeſſen herrſcht auch heute noch bei uns völlige Wucher⸗ und Raubfrei-
heit. Bei den Zwangsverſteigerungen wird den Urmſten ihre letzte Habe,
ohne Rückſicht auf deren Wert, für Schleuderpreiſe weggenommen. Alle Vor⸗
ſtellungen gegen dieſe ſchandbaren Zuſtände waren bisher erfolglos. Ruhland
verlangt auch für die Landwirtſchaft als „gerechten Arbeitslohn“
Preiſe, welche die Koſten decken und einen angemeſſenen Gewinn dem Land-
mann einbringen. Nur für den „Vollarbeiter“, der Eigentümer ſeiner
Produktionsmittel ijt, gilt der Satz, daß das Arbeitserzeugnis den natürlichen
Arbeitslohn bildet. Die Lohnhöhe der Hilfsarbeiter richtet ſich nach dem
Arbeitserfolg der Vollarbeiter, denn kein Anternehmer kann mehr Arbeitslohn
bezahlen, als fein Unternehmen verdient. Er fordert deshalb für den Voll⸗
arbeiter einen guten Arbeitsertrag und für den Hilfsarbeiter hohen Arbeits-
lohn. Nach ſeiner Auffaſſung ſind „hohe Arbeitslöhne ein Zeichen
hoher Kultur und ein Beweis dafür, daß die breiten Volks-
maſſen den gerechten Anteil am Volkseinkommen erhalten“.
Für Ruhland iſt eine Volkswirtſchaft mir dann geſund, wenn die überwiegende
Mehrheit des Volkes zum „echten“ Mittelſtand gehört, der Kapital und Arbeit
in einer Perſon vereinigt, und wo deshalb der Gegenſatz zwiſchen beiden Fak⸗
toren verſchwindet. Der Kapitalismus (Geldkrebs) bewirkt die Auflöſung
dieſer Grundzellen einer geſunden Volkswirtſchaft und die Aufteilung des
Volkes in eine kleine Anzahl ſehr Reicher und die große Maſſe beſitzloſer
Proletarier. Ruhland verwirft den öden Mechanismus des Marxismus, der
durch die Verſtaatlichung der Produktionsmittel die ſoziale Frage angeblich
löſen will, während er in Wahrheit nur volksverderbend ſein würde. Durch
eine mehrtauſendjährige Entwicklung ift aus der Sklavenarbeit die freie Arbeit
entſtanden. Der Marxismus würde wieder zur unfreien Arbeit führen und
damit zur Vernichtung aller Kultur.
Jedermann weiß, daß ſowohl auf einem Bauernhof wie in einem gewerb⸗
lichen Unternehmen die Perfon des Unternehmers, ſeine Fähigkeiten und fitt-
lichen Eigenſchaften für den Arbeitserfolg entſcheidend ſind. In demſelben
Anternehmen mißglücken viele, während andere erfolgreich find. Die Güter⸗
welt iſt daher das natürliche Arbeitsfeld für die individu-
ellen Kräfte, und von ihren Arbeitserträgen müffen die⸗
ſelben einen Teil für die gemeinfamen Aufgaben des Staa-
tes abgeben. Seit dem Amſturz hat man die umgekehrte Politik betrieben,
die Gütererzeugung zu verſtaatlichen oder zu kollektivieren und die Privatunter-
nehmungen zu bezuſchuſſen. Der Mißerfolg mußte zwangsläufig eintreten.
Nuhland verlangt die Löſung der ſozialen Frage auf organiſchem Wege, d. h.
durch den Aufſtieg der befähigten Arbeiter zur wirtſchaftlichen Selbſtändigkeit.
Es iſt wohl zweifellos, daß auch unſere Wahlen ganz anders ausfallen wür⸗
den, wenn die Mehrheit der Wähler die wirtſchaftliche Selbſtändigkeit hätte,
der ja auch die Selbſtverantwortlichkeit entſpricht. Die heutigen unſelbſtän⸗
digen und verantwortungsloſen Wählermaſſen müſſen auf die Dauer das Reich
zerftören, zumal auch das Wahlrecht ein rein individuelles iſt, d. h.
vom Intereſſe des einzelnen Bürgers aus geregelt iſt. Der Erſatz dieſes ſchlech⸗
ten Wahlrechts durch ein ſoziales Wahlrecht ijt deshalb eine Lebensfrage
für unſer Volk. Ruhland als hervorragendſter Vertreter einer ſittlichen Volks.
wirtſchaftslehre lehnt es deshalb ab, daß dieſelbe eine Lehre vom Reichtum der
Völker fein fol. Er begründet feine Forderung, daß nicht der Geld- und Güter⸗
492 Karl Scheda
reichtum, fondern die Menſchen in erſter Linie berüdfichtigt werden müßten,
und daß deshalb die Volkswirtſchaftslehre eine „Lehre vom geſunden
und kranken Volkskörper“ fein müſſe. Nuhland weiſt ferner darauf
hin, daß es ein Irrtum ſei, den Marxismus als einen Gegenſatz zum frei⸗
händleriſchen Kapitalismus der Schule Adam Smiths zu betrachten. Schon
Schäffle hat nachgewieſen, daß der Marxismus ein ebenſo einſeitiger Indi⸗
vidualismus wie der reine Liberalismus iſt und ebenfalls auf rückſichtsloſem
Klaſſenegoismus beruht. Er ſetzt die Individuenmaſſe an Stelle des geglie⸗
derten Volkes, während der Liberalismus die bürgerlichen Individuen an
Stelle des Volkes geſetzt hat. Jener will durch den Staat alles für den vierten
Stand, dieſer will den Staat von allem weghaben, was die Gewinnſucht des
Einzelnen einengt. Nach Ruhlands volksorganiſcher Auffaſſung ijt die Volks.
wirtſchaft auch nicht die bloße Summe von Privatwirtſchaften, ſondern die
einheitliche Gliederung von unſelbſtändigen Teilen zu
einem gemeinſamen Leben. Die Einzelwirtſchaften find nur orga-
niſche Grundzellen, die vor allem dem Leben des ganzen Volkskörpers ihr
Leben verdanken. Ebenſowenig gibt es nach organiſcher Auffaſſung Volks⸗
klaſſen (Arbeiterklaſſe, Erzeugerklaſſe, Verbraucherklaſſe), zwiſchen deren ver⸗
ſchiedenen Intereſſen ein Ausgleich etwa auf der mittleren Linie geſucht werden
müſſe. Nach organiſcher Auffaſſung gibt es nur „verſchiedene Glieder
an demſelben Volkskörper“. Die Lehren und Ziele des Marxismus
ſind daher einfach ſinnlos. Dies gilt beſonders auch von der Irrlehre des
Klaſſenkampfes, aus dem angeblich die ganze Geſchichte beſtehen ſoll. Nicht
aus dem Kampf der einzelnen Glieder gegeneinander, ſondern nur aus ihrer
Harmonie und gegenſeitigen Anterſtützung kann die Wohlſahrt des Ganzen
in allen ſeinen Teilen erwartet werden. Dieſe Erkenntnis iſt uralte Weisheit
und ſchon vor 2400 Jahren in der berühmten Fabel des Menenius Agrippa
ausgeſprochen worden. Auch die politiſch beſonders begabten Griechen haben
die Begriffe „Organ“, „organiſch“ und „Organismus“ als politiſche
Begriffe ſehr gut formuliert. Jedes Organ hat den Grund ſeines Daſeins
nur im Ganzen, dem es angehört, und es beſitzt auch nur im Zuſammenhang
mit dem Ganzen Leben. Die Vereinigung einer Anzahl von verſchiedenen
Organen zu einem lebensfähigen Ganzen heißt Organismus. Die einzelnen
unter ſich verſchiedenen Organe erhalten ſich gegenſeitig, deshalb iſt ein har⸗
moniſches Verhältnis zwiſchen ihnen notwendig. Deshalb verlangt ſchon
Pythagoras mit Recht für die volkswirtſchaftliche Entwicklung ein har⸗
moniſches Verhältnis zwiſchen Ackerbau, Handel und Induſtrie.
Auch die deutſche Geſchichte beweiſt die Richtigkeit der volksorganiſchen
Auffaſſung. Anſer Volk hat eine eigenartige, von anderen Völkern verſchiedene
Entwicklung durchgemacht. Während die griechiſchen Staaten und das NRö⸗
miſche Weltreich aus Stadtſtaaten hervorgingen, iſt unſer Volk ſaſt ein
Jahrtauſend ein Bauernvolk geblieben und dank dieſer glücklichen
Entwicklung organiſch, d. h. ganz allmählich, zu ſeinen weiteren Aufgaben
herangereift. Der Freiheitsſinn der Germanen konnte ſich auf Grund feind-
licher Einfälle nur ſchwer entſchließen, Städte zu bilden und ſie mit Mauern
zu umgeben. And dann entſtand in den Städten ein freies Bürgertum,
von deſſen Kulturhöhe noch heute zahlreiche Bauten ſowie andere Erzeugniſſe
des Kunſtgewerbes beredtes Zeugnis ablegen. Es war wohl die denkbar größte
ſoziale Amwälzung, als ſich der unfreie Landarbeiter, der „Hörige“ in einen
Zu Gustav Ruhlands Gedächtnis 493
freien Stadtbürger verwandelte. Und diefe großartige Umwandlung iſt völlig
ohne Klaſſenkampf, ohne das geringſte revolutionäre Bewußtſein erfolgt, ledig⸗
lich als natürliche Folge der allmählich entſtandenen Organiſation der Gefell-
ſchaft neben dem Staate. Dieſe Amwandlung ging ſo allmählich wie alles
organiſche Wachstum und fo unbemerkt vor fic, daß faſt gar keine Geſchichts⸗
quellen darüber vorhanden ſind. Auf einmal war die Stadtmitihrem
freien Bürgertum da.
Jeder Menſch wird einmal krank und muß ſterben; deshalb darf man
doch nicht ſagen, daß das menſchliche Leben nur aus Krankheit beſtehe. Ebenſo
find auch unſerem Volke ſoziale Klaſſenkämpfe nicht erſpart geblieben. Es ſei
nur an die Bauernkriege und an den entſetzlichen Dreißigjährigen Krieg er⸗
innert. Aber dies waren eben Zeiten ſozialer Krankheiten; deshalb darf man
nicht ſagen, die ganze Geſchichte beſtehe nur aus Klaſſen⸗
kämpfen.
Die berechtigten Kritiken, die heute an der liberalen Wirtſchaftsordnung
geübt werden, überſehen aber meiſt, daß auch der Liberalismus eine
geſchichtliche Aufgabe zu erfüllen hatte. Er hat uns befreit von
den Feſſeln des alten Polizeiſtaates und der Bevormundung durch eine bor-
nierte Bürokratie, die ſogar in allen volkswirtſchaftlichen Fragen entſcheiden
wollte. Schließlich iſt der Kernpunkt des wirtſchaftlichen Liberalismus, die
Idee der Selbſtverantwortlichkeit des Einzelnen für ſein Schickſal
und damit der Selbſtändigkeit, d. h. der freien wirtſchaftlichen Arbeit
als Schöpferin aller Fortſchritte doch eine dauernde Errungenſchaft der Kultur.
Damit ſoll nicht bezweifelt werden, daß die Schattenſeiten der liberalen Ent⸗
wicklung ihre Lichtſeiten je länger deſto mehr verdunkeln. Die Auf⸗
löſung der alten geſellſchaftlichen Organiſationen, der Innungen uſw. hat den
Einzelnen vereinſamt, ihm die wirkſame Hilfe, die ihn früher von der Wiege
bis zum Grabe begleitete, entzogen und ſchließlich den Kampf aller gegen alle
erzeugt, der unſer Volksleben zerſetzt und es mit Antergang bedroht. Deshalb
ſagt Ruhland, daß das neue Jahrhundert ein Zeitalter großartiger
Organiſationen ſein würde, das die einzelnen Wirtſchaften wieder zu⸗
ſammenfaßt. Er entwirft einen Plan für eine neue Rechts⸗ und Wirtſchafts⸗
ordnung auf der Grundlage von Gerechtigkeit und Sittlichkeit. Der Fort-
ſchritt unſerer Kultur von der „Libertät“, d. h. der abſoluten Freiheit,
kann niemals in der Rückkehr zur Anfreiheit nach den Lehren des Marxismus
erfolgen, ſondern einzig und allein in dem Aufſtieg von der abſoluten zur
ſittlichen Freiheit. Näheres hierüber zu bringen, verbietet leider der ver-
fügbare Raum. Anſere Ausführungen haben aber vielleicht bei vielen den Er⸗
folg, ſich mit Ruhlands Schriften ſelbſt vertraut zu machen. Ruhland hat
1910 noch „eine Orientierungstafel der volkswirtſchaftlichen Grundbegriffe
der verſchiedenen volkswirtſchaftlichen Syſteme“ für den „Internationa⸗
len Verband zum Studium der Verhältniſſe des Mittel-
ſtandes“ verfaßt, ſowie „Leitſätze für Mittelſtands politik, für
wirtſchaftliche und ſoziale Reformen der deutſchen Land-
wirtſchaft ſowie für vaterländiſche Berufs vereine“ entworfen,
welche die Kerngedanken ſeiner volksorganiſchen Anſchauungen enthalten.
Auf Grund feiner Studien der wirtſchaftlichen Verhält⸗
niſſe auf ſeiner dreijährigen Weltreiſe hatte Ruhland
auch die Erkenntnis des unvermeidlichen Ausbruchs des
494 Karl Scheda
Weltkrieges gewonnen. Er hat den Weltkrieg ſchon 1907
als einen „Geldkrieg“, einen Kampf um die induſtrielle
Weltherrfdhaft vorausgeſagt und ebenſo die Revolution
für den unterliegenden Teil. Aber alle ſeine Mahnungen,
unſere Rüftungen für den unvermeidlichen Kampf zu ver-
ſtärken, blieben unbeachtet.
Ruhlands neue und eigenartige Ideen brachten ihm ſchwere Kämpfe mit
den auf deutſchen Hochſchulen herrſchenden Kathederſozialiſten ein, vor allem
mit Schmoller-Berlin, Conrad-Halle und Brentano⸗München. Dieſer war
durch die Reklame der Freihandelspreſſe zu einer großen volkswirtſchaftlichen
Autorität emporgelobt worden, deren großer Einfluß namentlich darin beſtand,
daß er das Prüfungsmonopol für die jungen Studierenden ſeiner Aniverſität
hatte und dieſe daher mit ſeinen Anſchauungen anſteckte. Später haben dann
dieſelben in Amt und Würden die falſchen Anſchauungen Brentanos weiter-
vertreten. Selbſt ein Fürſt Bismarck mußte ſeine ganze Titanenkraft auf⸗
wenden, um die ſchädlichen Einflüſſe der mancheſterlichen, freihändleriſchen
Geheimräte zu beſeitigen. Auch unſere heutige verkehrte Wirtſchaftspolitik iſt
ein Erzeugnis jener falſchen Lehren der Kathederſozialiſten. Als Heinrich
von Treitſchke von einer Reiſe nach England zurückkam, war er entſetzt
über „das ſteinreiche Land ohne Bauern“. Brentano dagegen hat
ſich von dem britiſchen Reichtum blenden laſſen und die Wohlfahrt des deut⸗
ſchen Volkes in der kritikloſen Nachahmung engliſcher Verhältniſſe geſucht.
Er behauptete, daß die engliſchen Gewerkvereine, deren Organiſation in den
Schieds- und Einigungsämtern gipfeln, zur vollſtändigen Löſung der Arbeiter-
frage führen. Er verlangte, daß Deutſchland wie England zum Exportindu⸗
ſtrieſtaat werde und hatte keine Bedenken, für dieſes Ziel die deutſche Land⸗
wirtſchaft zu opfern. Er ſah auch keine Gefahr für die Volksernährung darin,
weil die chemiſch⸗techniſche Herſtellung aller weſentlichen Nahrungsmittel nur
eine Frage kurzer Zeit ſei. Dieſen Anſinn, den er in mehreren Büchern aus⸗
führlich begründet hat, mußten ſeine Studenten zum Examen auswendig
lernen, „als diktierte es der heilige Geiſt“, und je überzeugter die
Studenten von dieſer Weisheit waren, deſto beſſer war ihre Laufbahn. Sie
wurden ſehr bald ebenfalls Profeſſoren der Nationalökonomie oder Manda⸗
rine in einflußreichen Miniſterialſtellen, wo ſie unſerem unglücklichen Volke
die Kraft ſolcher Wiſſenſchaft einimpfen konnten. Ruhland hat deshalb auch
gerade mit Brentano die ſchwerſten Kämpfe geführt, wobei er ſich auch als
Meiſter der Ironie und der Satire gezeigt hat. Namentlich in ia Aufſätzen
„Brentanos Agrarpolitik“ und „Der hochberühmte Profeſſor Lujo
Brentano“ hat er Brentanos Afterwiſſenſchaft klar nachgewieſen und ſeine
wiſſenſchaftliche Bedeutungsloſigkeit überzeugend dargeſtellt.
Dieſe ſchweren Kämpfe mit ſeinen wiſſenſchaftlichen Gegnern, die ſchließlich
zu ſeinen perſönlichen Feinden wurden, zwangen Ruhland, gegen den ſeitdem
auch ſchon verſtorbenen Profeſſor Dr. Biermer in Gießen einen Verleum⸗
dungsprozeß anzuſtrengen, weil er von dieſem in einer Broſchüre als Menſch
und Wiſſenſchaftler aufs ſchwerſte beleidigt und beſchimpft worden war. Die⸗
ſer Prozeß dauerte etwa 7 Jahre; in ihm wurden die Profeſſoren Brentano,
Conrad, Lexis, Sombart und Adolf Wagner als Sachverſtändige gehört. Der
Richter erſter Inſtanz hatte trotz des berechtigten Einſpruchs Ruhlands, daß
ſeine Gegner und Feinde als Sachverſtändige gehört würden, Brentano und
Zu Gustav Ruhlands Gedächtnis | 495
Conrad gehört und war ihren einfeitigen und befangenen Gutachten gefolgt.
Er erklärte deshalb Biermer für zwar der Beleidigung ſchuldig, aber für ſtraf⸗
frei, weil ſeine Beſchuldigungen gegen Ruhland von ihm in der Hauptſache
erwieſen ſeien. Dieſes Arteil erweckte in der ganzen internationalen Jobber⸗
preſſe hellen Jubel. Die Frankfurter Zeitung verkündete das ruhmreiche Ereig⸗
nis unter dem ſchönen Titel: „Der Antiſemit Ruhland ein toter
Mann!“ In der Berufungsinſtanz vor der Strafkammer wendete ſich aber
das Blatt. Der berühmte Ausſpruch: es gibt noch Richter in Berlin! fand
feine Beſtätigung. Der Vorſitzende hatte nämlich ſämtliche Schriften Nub-
lands gründlich ſtudiert und daraus die Aberzeugung gewonnen, daß Biermers
Anſchuldigungen völlig unbegründet waren. Zu ſeiner Genugtuung wurde ſeine
Anſicht von den neuen Sachverſtändigen, den Profeſſoren Adolf Wagner und
Werner Sombart, trotzdem fie betonten, eine andere wiſſenſchaftliche Anficht
als Ruhland zu haben, völlig beſtätigt. Nach langen Verhandlungen ſah Vier⸗
mer ſich genötigt, einen Vergleich abzuſchließen, durch den er Ruhland vollſte
Genugtuung gewähren mußte. Der Wortlaut des Vergleichs ſei hier ange⸗
führt, weil er erkennen läßt, welch großen Kränkungen und Beſchimpfungen
der geniale, ſchöpferiſche Volkswirt Ruhland ſeitens der Zunftgelehrten aus⸗
geſetzt war, und weil es dann begreiflich erſcheint, daß dieſer Prozeß, den
Ruhland zur Verteidigung feiner menſchlichen und wiſſ enſchaftlichen Ehre zu
führen gezwungen war, ſchließlich ſeine Lebenskraft, die durch eine ſaſt über⸗
menſchliche Arbeitsleiſtung ein Vierteljahrhundert hindurch verbraucht war,
völlig zerſtört hat. Er ſtarb am 4. Januar 1914 zu Bad Tölz, wo er auch ſeine
letzte Ruheſtätte gefunden hat, die feine Freunde mit einem Denkmal ge-
Ihmüdt haben
Der Vergleich lautete:
1. Profeſſor Dr. Biermer erklärt: Ich habe mich im Gange der zweitinſtanz⸗
lichen Hauptverhandlungen davon überzeugt, daß der Hauptvorwurf, den
ich Profeſſor Dr. Guſtav Ruhland gemacht habe, nämlich, daß er per⸗
ſönlich, wiſſenſchaftlich und politiſch charakter und
geſinnungslos gehandelt habe, von mir nicht aufrechterhalten
werden kann. Insbeſondere nicht nach der Richtung, daß er um per-
ſönlicher Vorteile willen ſeine Aberzeugung verkauft
habe. Auch nehme ich meine Behauptung, daß Herr Profeſſor Dr. Ruh⸗
land an der Einreichung des Antrages Köhler (im heſſiſchen Landtag,
Ruhland eine Profeſſur in Gießen zu übertragen) direkt oder indirekt
beteiligt geweſen ſei, als unzutreffend zurück. Für ebenſo unzutreffend
erkläre ich meine in der Broſchüre aufgeftellte Behauptung, daß der
Privatkläger Ruhland an den Schmidtmannſchen Anternehmun⸗
gen Pinzgau nach der Richtung des Bauernlegens aktiv
eteiligt geweſen und aus ſeiner dortigen Stellung
Knall und Fall entlaſſen worden ſei. Auch nehme ich die
Behauptung, daß Profeſſor Dr. Guſtav Ruhland niemals wiſſen⸗
ſchaftlich ernſt zu nehmen fei, nach Anhörung eines fo hervor⸗
ragenden und von mir hochgeſchätzten Fachmannes, wie der Wirkliche
Geheime Rat Profeſſor Dr. Adolf Wagner es iſt, zurück. Endlich nehme
ich alle in meiner Broſchüre vielfach enthaltenen formalen
Beleidigungen des Privatklägers auch mit dem Ausdruck
des Bedauerns zurück.
*
496 Karl Scheda, Zu Gustav Ruhlands Gedächtnis
2. Der Privatkläger Rubland erklärt: Ich erkläre hiermit, daß es mir fern-
gelegen hat, durch den Aufſatz vom 4. 2. 1903 (die Antwort auf Biermers
Broſchüre) die perſönliche oder wiſſenſchaftliche Qualität des Herrn Pro⸗
feſſor Dr. Giermer in Zweifel ziehen zu wollen. Soweit dies aus dem
Inhalt des Artikels gefolgert werden kann, bedaure ich es.
3. Die Koſten des Verfahrens übernimmt Profeſſor Dr. Viermer.
Den erſten Deutſchen Nationalökonomen Friedrich Lift haben die Zunft-
gelehrten zum Selbſtmord getrieben, den zweiten, Guſtav Ruhland, zu Tode
gehetzt. Wahrlich eine Rieſenſchuld, die zum Himmel ſchreit. Ein wahrer
Skandal iſt es aber, daß ſelbſt nach Ruhlands Tode der Haß ſeiner Gegner
noch über das Grab hinaus währt. Es gibt kein weſentliches Werk der
Nationalökonomie, das den Namen Ruhlands oder ſeine Werke erwähnt.
Dieſer Haß beruht vor allem darauf, daß Ruhland den Gelehrten ihre Anfähig⸗
keit und Unfruchtbarkeit nachgewieſen hat. Schmoller hat in feierlicher Nek⸗
toratsrede behauptet, daß allein die Ereigniſſe der hiſtoriſchen Schule der
Nationalökonomie als „feſtſtehende“ Wiſſenſchaft zu betrachten fei.
Ruhland erwiderte darauf, daß ein noch ſo großer Haufen Bauſtoffe von der
denkbar beſten Qualität noch immer keine Vorſtellung von einem fertigen
Gebäude gibt, das allein den Bedürfniſſen der Menſchen voll entſpricht. Des⸗
halb verwirft Ruhland die Anſicht der Hiſtoriker, daß die Volkswirtſchafts⸗
lehre ſich nur zu beſchäftigen habe mit dem, was iſt und geweſen iſt,
aber nicht mit dem, was ſein ſoll. Demgegenüber betont Ruhland,
daß die Fürſorge für die Zukunft die wichtigſte Aufgabe der Wiſſenſchaft ſein
müſſe nach dem bekannten Satze: „Die Wiſſenſchaft iſt die Magd, die mit der
Fackel der Wahrheit der Praxis vorausleuchtet“. Nach einem zutreffenden
Ausſpruch des Miniſters Miquel ſind die nationalökonomiſchen Schulſyſteme
entſtanden aus der Summe der Konſequenzen der jeweiligen Zeitverhältniſſe.
So das phyſiokratiſche Syſtem aus den Verhältniſſen Frankreichs vor der
Franzöſiſchen Revolution. So das Adam Smithſche Syſtem aus den engliſchen
Verhältniſſen zu Ausgang des 18. Jahrhunderts. And Karl Marx hat ſeine
Theorien aus der Lage der engliſchen Lohnarbeiter bis ins 6. Jahrzehnt des
19. Jahrhunderts abgeleitet. Seitdem haben ſich unſere von den engliſchen Ver⸗
hältniſſen von vornherein abweichenden wirtſchaftlichen und ſozialen Verhält⸗
niſſe derartig von Grund auf verändert, daß man Ruhland beipflichten muß,
daß jetzt endlich ein neues, den heutigen Verhältniſſen entſprechendes Wirt⸗
ſchaftsſyſtem geſchaffen werden muß. Die deutſchen Gelehrten haben ſich hierzu
als unfähig erwieſen. Der Profeſſor Dr. med. v. Bardeleben in Jena
ſchrieb einſt: „Wenn die Zerſplitterung, die Auſlöſung der Medizin in immer
kleinere Einzelfächer ſo weitergeht, wie ſeit einigen Jahrzehnten, ſo wird es
bald keine wiſſenſchaftliche Medizin mehr geben“. Ruhland hält ſich für berech⸗
tigt, genau dasſelbe von der heutigen Nationalökonomie zu ſagen. Auch in ihr
iſt der Grundſatz der Spezialiſierung in verhängnisvoller Weiſe eingeführt.
Die modernen Handbücher der Nationalökonomie entſtehen durch die Zuſam⸗
menarbeit einer möglichſt 3 Zahl von Gelehrten, von denen faſt jeder eine
andere Anſchauung vertritt. In Conrads „Handwörterbuch der Staatswiſſen⸗
ſchaften“ findet man in der erſten Auflage, daß dort von über 100 verſchiedenen
Gelehrten etwa 240 verſchiedene Krankheiten des ſozialen Körpers behandelt
und über 900 verſchiedene Heilmittel zu ihrer Heilung verordnet werden, die
ſich zum Teil auf das ſchärfſte widerſprechen. Man wird Nuhland beipflichten
Leopold Plaichinger, USA.— UdSSR. 3 497
miiffen, wenn er das als eine Afterwiſſenſchaft bezeichnet. Man kann
auch unmöglich die wirtſchaftlichen und fozialen Fragen der Gegenwart an der
Hand veralteter Theorien beantworten. Anentwegt wird aber der Schutzzoll
z. B. mit den Argumenten Adam Smiths aus dem Jahre 1776 bekämpft. Marr
kennt nur die Lohnarbeiterfrage als ſoziale Frage; von der Landwirtſchaft
befitzt er keine Kenntnis. Trotzdem vertreten die heutigen Nationalökonomen
die Anſchauungen des Adam Smith und des Karl Marx in verſchiedenen
Miſchungen. Wenn die Anſichten zu 24 von Marx und zu ½ von Smith
entlehnt find, fo nennt man das einen „Kathederſozialiſten“; und bei
umgekehrter Miſchung einen „gemäßigten Freihändler“, und wenn
er etwas agrariſch „angehaucht“ iff, einen „gemäßigten Schutz-
zöllner“. Daß Ruhland es nun durchgeführt hat, ein unſeren heutigen Ver⸗
hältniſſen Rechnung tragendes „volksorganiſches Syſtem der poli-
tiſchen Okonomie“ zu ſchaffen, hat natürlich auch den Neid der geiſtig
befitzloſen Kollegen erweckt. Bei der Cliquenwirtſchaft der Profeſſoren werden
ja grundſätzlich befähigte Leute, wie Liſt und Ruhland, ſchon deshalb bekämpft,
weil „ſie nicht einmal das Abiturientenexamen gemacht haben“. Hierzu kommt
die bekannte Anzugänglichkeit der Gelehrten für neue und eigenartige Ideen,
ſobald dieſelben nicht von einem verehrten Herrn Kollegen herſtammen, mit
dem fie durch eine ſtille Geſellſchaft auf gegenſeitige Lobhudelei verbunden
find. Ruhland lehnt es auch ab, die ſoziale Frage als bloße Gutterfrage zu
betrachten. Für ihn i ſt die ſoziale Fragekeine Magenfrage, ſon⸗
dern eine Frage der Amwandlung eines jeden Menſchen
aus einem Egoiſten in ein dienendes Glied des nationalen
Volkskörpers. Mit größter Sorgfalt ſollte daher die Gefinnung des
nationalen Gemeinſchaftsbewußtſeins gepflegt und ſchon in das Gemüt der
Kinder verſenkt werden durch eine große, nationale Schulreform, die in einem
modernen Religionsunterricht gerade dieſe Geſinnungspflege mit einer befon-
deren Weihe zu umgeben hat. Jedem Deutſchen muß von Jugend auf gelehrt
werden, mit ſeinem geiſtigen Auge zu erkennen, daß unſer Dichter Hoff⸗
mann v. Fallersleben die volle Wahrheit geſagt hat, als er ſang:
5 ich bin und was ich habe, dank’ ich Dir, mein Vater-
and!“
Zeopold Plaichinger:
USA. - UdSSR.
USA. iſt beleidigt. Gekränkt wie ein angealtertes Mädchen, das wohl reich
iſt, aber mit einemmal entdeckt, daß nicht einmal mehr der Reichtum die Freier
anlockt, das mit einemmal entdeckt, daß ſelbſt ein Balkaneintänzer der Politik
ſich vom Tanz zu verdrücken ſucht. Letzthin haben wir die ſeeliſche Verkramp⸗
fung in den Beziehungen zwiſchen Europa und USA. dargeſtellt. Karikiert mit
498 Leopold Plaichinger
Abſicht, um durch die Karikatur Klarheit zu ſchaffen. Der „wahre Kern“ wird
durch die Abertreibung nicht wahrer, aber anſchaulicher, und die größere An⸗
ſchaulichkeit bedeutet ein beſtimmtes Maß von Wahrheit. Alles war über⸗
trieben durch ein Vergrößerungsglas geſehen, und dennoch blieb alles Geſagte
richtig. Das optimiſtiſche Lächeln der Innenpolitik in USA., jenes Pflicht⸗
lächeln, das eine Weltanſchauung erſetzen muß, iſt in der Außenpolitik ver⸗
ſchwunden. Die Schminke iſt abgefallen, und der verhärmte und vergrämte
Mund eines vielfach enttäuſchten älteren Mädchens iſt das Charakteriſtiſche
des Bildes.
Solange die USA. nur Nutznießer des Weltkrieges geweſen, ſolange ein
Wirtſchaftserfolg ſich auf den andern türmte und das tauſendjährige Reich des
Wirtſchaftsglückes anzubrechen ſchien, da war auch die Politik, die man in den
USA. betrieb, ungefähr darauf eingeſtellt: Gute Wirtſchaft iſt gute Politik,
beſſere Wirtſchaft iſt noch beſſere Politik, welch glänzende Politik muß erſt
entſtehen, wenn die Wirtſchaft an der Spitze marſchiert!
Daß man den Krieg gewonnen hatte, das wußte man, hat es mit freudigem
Erſchauern erlebt (älteres Mädchen, ſpät gepflückter Kuß !). Aber da fett die
Altjungferntragödie der Politik ein. Man war ja ſo reich, daß man zunächſt
nur immer wieder die Hand den Bewerbern zum Kuß hinhalten brauchte, die
es übrigens gerne taten, wenn dieſer Handkuß mit einem Lächeln und mit
einem Scheck quittiert wurde. Aber eines Tages waren es ſo viele, daß nie⸗
mand mehr wußte, wer Favorit ſei, und die Lady ſelbſt erſt das Scheckbuch zu
Rate ziehen mußte.
Kurz geſagt, ihre überſchüſſigen Kriegsgewinne inveſtierten die Vereinigten
Staaten in Europa nicht nur als Anlagekapital, ſondern auch als politiſches
Druckkapital. Morgan und ſein Bankhaus z. B. wollten nur die vornehme
Liaiſon mit Frankreich, eine Liaiſon, die den Franzoſen das Leben gerettet
und die Amerikaner in jenen Zwieſpalt der Gefühle und der Politik hinein⸗
geriſſen hat, in dem fie ſich heute befinden. Hätte Morgan während des Krieges
nicht die Rieſenkredite an Frankreich gewährt, fo hätten wahrſcheinlich die
USA. niemals in den Krieg eingegriffen. Der Krieg war die Rettungsaktion
für das bereits verloren erſchienene Kapital. Friedensſchluß und Friede (Sta⸗
biliſierung des Franken unter Poincaré) konnte nur durch weitere Kredit⸗
gewährung Morgans durchgeführt werden. Welche Zwiſchengewinne er an
den Kursdifferenzen dieſer Finanztransaktionen gemacht, wird man wohl erſt
erfahren, wenn Mr. Morgan eine ſchwache Stunde haben ſollte und es als
einziger, der es weiß, ausplaudert. Tröſten wir uns, es wird nicht geſchehen.
Doch dieſe finanzielle Bindung bedeutete durch Jahre hindurch gleichzeitig eine
ſtarke politiſche Bindung, und von den Gefühlsduſeleigründen, die wir ſchon
ſkizziert, abgeſehen, ſchien es, als wenn Paris der Mittelpunkt der
europäiſchen Politik der Vereinigten Staaten ſei.
USA. — UdSSR. | 499
Andere Bankhäuſer und Induſtriegruppen näherten ſich dem Gretchen
Deutſchland. Es tat allen Herzen ſo wohl, von Liebe und Wohltätigkeit zu
reden und ein ſicheres 15prozentiges Geſchäft zu machen. Dann flatterte Ka⸗
pital in den Orient, man wollte dort nicht nur Petroleumintereſſen, ſondern
auch ein ganz klein wenig weltpolitiſche Intereſſen fic) fichern. And welcher
Staat immer ſich an die USA. richtig anzubiedern verſtand, bekam feine An⸗
leihe mit jenen politiſchen Bindungen, die nichts und alles beſagen, wie ein
Heiratsverſprechen, das Gigolo einer alten Schachtel gibt.
Die Vereinigten Staaten haben bis zur Weltkriſe nicht nur Geld in Europa
inveſtiert, um ein gutes Geſchäft zu machen, ſondern Geld inveſtiert, um da⸗
durch eine politiſche Vorherrſchaft zu erringen. Aber eben, weil man allen
Geld gab und damit glaubte, alle an die Strippe zu bekommen, erreichte man
nur eines, daß ſich wieder niemand bevorzugt fühlte und niemand wußte,
woran er eigentlich ſei. Von einer Vorherrſchaft über Europa politiſch kann
keine Rede mehr ſein. So zerriſſen Europa in ſich iſt — bei rechtem Licht be⸗
trachtet, ein jämmerliches Kleinſtaatengewimmel —, ſo iſt es dennoch heute
politiſch von USA. wieder unabhängig geworden. Das kränkt das Mädchen.
And dieſe Frage iſt noch viel wichtiger, als ſie im erſten Augenblick erſcheint.
In Oſtaſien lauerte der zum Todeshaß aufgepeitſchte Gegner Japan. Seit der
Einwanderungsſperre für die Gelben in Nordamerika, ſeit den politiſchen
Schwierigkeiten, die die Vereinigten Staaten den Japanern überall bereitet
haben, gab es für Japan nur noch eine Politik, jeweils einen Schlag gegen
Amerika, ihm zuvorkommend, zu führen, ehe Amerika in der Lage iſt, dieſen
Schlag wirkſam abzuwehren. Dazu follte Europa helfen; aber man hat es
reichlich ungeſchickt angefaßt. Man hatte ſeinerzeit geglaubt, es genüge, zwi⸗
ſchen Oſten und Weſten zu ſitzen, angebliche Wohltaten zu erweiſen und da⸗
mit die Möglichkeit zu haben, den Schiedsrichter der Welt zu ſpielen. Doch
die Beine des Schiedsrichterſtuhles find gebrochen, und man ſitzt raunzend
und gekränkt auf der Erde.
Amerika hatte knapp nach dem Krieg die Möglichkeit, nicht nur die Schwer⸗
punktsverlagerung der Politik, die zunächſt ſowieſo nach Amerika gegangen,
bei ſich zu ſtabiliſieren, ſondern die Möglichkeit, die weiße Raſſe Europas
und Amerikas und der Kolonialgebiete Afrikas und Aſiens unter feiner Füh⸗
rung zuſammenzufaſſen. Eine weltpolitiſche Perſpektive von unausdenkbarem
Ausmaß!
And nun? Führer der weißen Raffe für den Planeten bleibt nach wie vor
England, aber England nicht als Freund, ſondern als Gegner von USA. mit
dem klaren politiſchen Bewußtſein, daß der Tag der Auseinanderſetzung kom⸗
men muß. Die Revolutionen, die in Südamerika wie die Vulkane ausbrechen,
find der bereits in Gang befindliche Kampf zwiſchen den beiden Weltmächten.
Agrarpolitik Heft 7, By. 2
500 Leopold Plaichinger
Amerika ift iſoliert! Darum auch die ſchlechte Laune, darum der plötzliche
Auftrag, das Flottenprogramm dennoch zum Ausbau zu bringen, darum die
Sperre über alle europäiſchen Waren, darum der Verſuch, beim Völkerbund
einzugreifen, damit er in Oſtaſien Ruhe ſchaffe.
Amerika war nach dem Krieg überzeugt, daß es durch die Weltwirt⸗
ſchaftsherrſchaft, die es errungen, gleichzeitig die politiſche Welt⸗
herrſchaft erzielt habe. (Bezeichnend, daß amerikaniſche Schriftſteller ernſt⸗
lich den Vorſchlag machten zur Befriedung der Welt, daß man, wie im Mit⸗
telalter eine „treuga dei“, einen Gottesfrieden, nun eine „pax americana“
proklamieren ſollte, einen amerikaniſchen Frieden, der Geltung haben ſollte für
die ganze Welt. Im Plan war vorgeſehen, daß Amerika die dazu erforder⸗
lichen Waffen in Referve halte und Friedensſtörern, gleichgültig, wer es iſt,
ſofort das Höschen ſtramm ziehe und gut ausklopfe.) Ein Literatenwunſch!
Aber Literatenwünſche ſind oft Ausdruck für Tatbeſtände oder für Möglichkeiten.
Solange noch Europa zu Boden lag, hatten die USA. auch machtpolitiſch
viel Ausſichten. Jetzt, nachdem die Wirtſchaftslage beiderſeits um den Null⸗
punkt pendelt, entſcheidet natürlich die machtpolitiſche Lage, ausgedrückt durch
die Waffenmacht der einzelnen Staaten. Kellogpakt uſw. waren ja Ausdruck für
dieſe irgendwie ſentimental abgefafte und dennoch verflucht real genommene
pax americana. Zwei, drei gummidehnbare Verträge ſollten genügen, um je
nach Wunſch der USA. einen europäiſchen Staat zur Verantwortung und zur
amerikaniſchen Vernunft ziehen und bringen zu können, d. h. ihn entweder
durch Geld in das Rang- und Abhängigkeitsverhältnis einer Kolonie zu
drücken oder, falls es gelingen ſollte, andere Staaten mit heranzuziehen, dieſen
Staat mit Waffengewalt niederzuwerfen.
Man glaubte, einige Staaten fangen zu können, wie man in Afrika Affen
ſängt:
Man hängt einen ausgehöhlten Flaſchenkürbis auf einen Baum, ſteckt in
den Kürbis eine wohlriechende Nuß oder eine Banane, und nun greift der
Affe mit ſeinen ſchlanken Händen durch den Flaſchenhals und ergreift mit
Wonnezittern die ſüße Banane. Sie iſt fo ſüß, daß er ſich nicht entſchließen
kann, die Fauſt wieder aufzumachen, aber die Fauſt iſt durch die Banane ſo
groß geworden, daß er ſie nicht mehr durch den Flaſchenhals zurückbringt. Eine
hübſche und amüſante Methode, alle Inſtinkte auszunützen, um Affen zu fangen.
Doch ſo affig der eine oder andere europäiſche Staat ſich auch benahm, die
Methode hatte man bald durchſchaut und entweder den Kürbis durchgebiſſen
oder zunächſt auf die Banane verzichtet oder ſie mit dem Kürbis zur Weiter⸗
verwertung in ein Verſteck verſchleppt. (Siehe Kriegsanleihen, Moratorien,
Sonderabkommen uſw.) Mit dieſer Jagd war es alſo nichts, obwohl ſie ſich
anfangs recht gut anließ.
USA. — UdSSR. | 501
And nun zum Wefentlichen der Außenpolitik der USA. Der Hochlapitalis-
mus regiert und entſcheidet: d. h. das Land will Kapital exportieren dahin,
wo es den beſten Ertrag ſich erhofft und mit dem Ertrag aber auch gleichzeitig
größtmögliche Sicherſtellung des Kapitals. Der Inlandsmark iſt nach kapi⸗
taliſtiſcher Meinung ſowohl induſtriell wie agrariſch — alle Nohprodukte mit
eingeſchloſſen — überſättigt. Export allein entweder von Ware oder von Ka⸗
pital kann den Kapitaliſten die erwünſchte Verzinſung ihres Kapitals ge⸗
währen. And all die rückfließenden Zinſen wollen wieder angelegt ſein, ſo daß
zwangsweiſe das USA.-Kapital den Weltmarkt ſucht, aber ſich ſelbſt vom
Weltmarkt abzuriegeln beſtrebt iſt. Am das eigene Territorium errichtet man
eine chineſiſche Mauer der Zollpolitik, wackelt mit dem Zöpfchen und hält fich
für gefichert, erwartet aber, daß die ganze Welt freudeſtrahlend den
Schund, der vom laufenden Band in den Topf der Abzahlungsgeſchäfte fällt,
aufnehmen würde. Nebenbei bemerkt, die Exportquote der Vereinigten Staa-
ten iſt in bezug auf ihren geſamten Handelsumſatz recht klein, aber bei der
Größe des Handelsumſatzes ſpielt dieſe Summe dennoch jene Rolle, um andere
europäifche Staaten vor den Abgrund zu bringen, in den Ruin zu zerren. Aber
es handelt ſich ja weniger um den Export der Ware, als vielmehr um den
Export des Geldes, um die kapitaliſtiſche Anlage, die noch viel mehr dazu
zwingt, immer weiter und weiter Ausbreitung zu ſuchen und zu finden.
Bringen wir es auf eine kurze Formel, ſo lautet ſie: Die Außenpolitik der
USA. gehorcht den Geſetzen des liberaliſtiſchen Kapitalismus und führt
zwangsweiſe zu imperialiſtiſcher Außenpolitik.
„Nanu“, ſagt der eine, „wo doch Kellogpakt und fo ... Die Vereinigten
Staaten unterſtützen doch alle Friedensbeſtrebungen weiteſt gehend ... die
Bemühungen der von Carnegie und Rockefeller geſtifteten Inſtitute zur inter-
nationalen Zuſammenarbeit und zur Erhaltung des Friedens find doch auch
nicht von Pappe!“ ... „Nein, die Inſtitute find reichlich mit Mitteln ver-
ſehen, bearbeiten ſehr intereſſante Doktorfragen, die ſelbſt wieder in hundert
Jahren Gegenſtand von Doktorfragen ſein werden, aber mit dem lebendigen
politiſchen Leben haben ſie nicht das mindeſte zu tun!“ „Ja, aber die unge⸗
heure Friedenspropaganda, die gerade von USA. über die Welt geht?“ „Ge⸗
rade dieſe Propaganda iſt es, die die Welt nervös macht.“
Die Welt ſagt ſich, kein Staat der Erde hat ſo günſtige Möglichkeiten,
ſelbſtgenügſam als Großmacht zu leben, zunächſt jenſeits jeder Gefahr, ange⸗
griffen zu werden, wie eben die Vereinigten Staaten. And das iſt wiederum
der Irrtum der Welt; denn nirgends auf der Welt lebt das Kapital ſelbſt⸗
genügſam, ſondern drängt zur Anlage, zur Ausbreitung, zur Machtentfaltung,
überſetzt alfo wirtſchaftliche Vorgänge in politiſche, und zwar in nackte macht⸗
politiſche.
So iſt es auch. Nur der Fehler der Politik der USA. iſt der Fehler des
2*
502 Leopold Plaichinger
falſchen oder noch nicht gefundenen Anſatzpunktes. Einerſeits beanſpruchen die
Vereinigten Staaten für ſich das Geſetz der Monroedoktrin, was gewiſſer⸗
maßen ein außenpolitiſches Autarkiegeſetz bedeuten würde, und dennoch haben
ſie ihre Finger in allen Fettnäpfchen der Weltpolitik. Die Doktrin beſagt, daß
niemand in amerikaniſche Angelegenheiten ſich einmiſchen dürfe, beſagte aber
auch lange Zeit hindurch, daß Amerika verzichte, in außeramerikaniſche poli⸗
tiſche Angelegenheiten einzugreifen. Die diesbezügliche Auffaſſung ſiehe ſpa⸗
niſch⸗amerikaniſcher Krieg, Weltkrieg, Konflikte mit Mexiko, Eingreifen mit
Waffen in Nicaragua ufw.
Das Kennzeichen der augenblicklichen amerikaniſchen Außenpolitik iſt dieſes,
daß kein Kennzeichen vorhanden iſt. Würde man einen größenwahnſinnig ge⸗
wordenen Babbitt fragen, was Amerika außenpolitiſch tun ſolle, ſo würde er
ungefähr zur Antwort geben, es ſei beruſen, den Frieden der Welt zu erhalten,
und dazu ſei es notwendig, daß es die ſtärkſte politiſche Macht werde. And
dies könne es, indem Europa freiwillig ſich ſeiner Führung unterordne und
damit USA. gleichzeitig der Vorkämpfer der weißen Raffe werde. Unter Europa
meint Gabbitt zunächſt den Kontinent.
Eine andere Frage iſt's mit England, und da glaubt Yabbitt, England
habe nach dem Weltkrieg noch ſo viel zu tun mit der notdürftigen Erhaltung
ſeiner eigenen Weltmacht, ſo daß es jeder Auseinanderſetzung mit USA. aus
dem Wege gehen werde. Dieſen politiſchen Freibrief rein pſychologiſcher Art
benutzten aber die USA., um in Gebieten nicht nur wirtſchaftlich, ſondern auch
politiſch zu wildern, die ſeit Menſchengedenken kapitaliſtiſche Jagdgründe von
John Bull find. (Südamerika, wo England ungefähr vierzig Milliarden Gold-
mark inveſtiert hat im Gegenſatz zu den Vereinigten Staaten mit knapp zehn,
die USA. fi aber aufſpielen, als wenn fie hundert angelegt hätten.) Welch
ſchwerwiegende Motive zu dieſer Politik drängen, wollen wir bei nächſtem
Vulkanausbruch als chemiſche Aſchenanalyſe der Politik darſtellen. Am gleich
richtig verſtanden zu werden: beide Staaten ſuchen und ſuchten in Südamerika
nicht nur günſtige Kapitalanlagen, die heute zwar zu einem großen Teil als
verloren zu betrachten find, ſondern fie ſuchen Rohftoffquellen, die für den
Kriegsfall unentbehrlich find.
Nur ein kleines Beiſpiel: Keine Armee der Welt kann Krieg führen, ohne
ihre Truppen mit Konſerven zu verſorgen. Visher iſt es der Technik noch
nicht gelungen, eine andere Methode zu erfinden als die, die Konſervenbüchſen
mit Zinn zu verlöten. Außerdem iſt Zinn unentbehrlich für die Autoinduſtrie,
vor allem als Lagermetall. And nun das Weſentliche, daß man auf dem Ge⸗
ſamtterritorium der ‚USA. bisher kein Zinn gefunden hat. Das will beſagen,
gelänge es einer Macht, die Vereinigten Staaten vollſtändig zu blockieren, ſo
wären fie militäriſch ſehr geſchwächt, weil fie den erforderlichen Zinnbedarf
nicht aufbringen könnten. Von andern Hauptvorkommen des Zinns (Nieder-
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USA.— UdSSR. Ä 503
ländiſch⸗Indien, England felbft) abgeſehen, ift eines in Bolivien. Neben dem
inländiſchen Kapital, das in dieſer Induſtrie inveſtiert iſt, find über eine
Viertelmilliarde Goldmark an engliſchem und amerikaniſchem Kapital außer⸗
dem beteiligt. Der ſtärkſte Weltverbraucher an Zinn find die USA., weil fie
die größten Automobilfabrikanten der Welt find und außerdem die größte
Konſerveninduſtrie der Welt aufgebaut haben. (Corned Beef, Lachs, kalifor⸗
niſche Früchte uſw., mit denen ſie den Weltmarkt überſchwemmen.)
Seit Monaten leſen wir, daß zwiſchen Bolivien und Paraguay fo
etwas wie Kriegszuſtand herrſcht, und ich machte einmal den Scherz, daß dort
im Gran Chaco Spatzen erſt den Kriegsſchauplatz ausroden, auf dem ſpäter
ſich die Adler meſſen werden. Dort wird entſchieden werden, ob England oder
USA. die Herrſchaft über das Zinn in ihre Hand bekommen werden. Ühnliches
gilt für Kautſchuk und ähnliches für Petroleum. Man nehme eine Landkarte
zur Hand, auf der die Rohſtoffvorkommen der Erde eingezeichnet find und
ziehe gleichzeitig die politiſchen Schnittlinien zwiſchen USA. und England.
Man wird überraſcht ſein, welch unerwartete Gegenſätze ſich da auftun.
Ludwell Denny, ein Amerikaner, ſchreibt in ſeinem Buch „Amerika
ſchlägt England“: „Wir waren einmal Englands Kolonie. England wird
unſere Kolonie fein, bevor feine Tage gezählt find, nicht dem Namen nach,
aber in Wirklichkeit. Maſchinen haben England zum Herrn der Welt gemacht.
Jetzt machen beſſere Maſchinen Amerika zum Herrn der Welt und Englands.
Der Befitz des reichſten Landes der Welt genügt uns nicht.“
So fieht ein Imperialiſt die kommende Entwicklung. Nur, was er überſehen,
iſt vielleicht das Weſentlichſte an der Politik. Es iſt etwas anderes, wenn
ein Bauernſtaat, der für ſeine nachgeborenen Söhne nicht mehr genug Grund
und Boden hat, zur Waffe greift und über die Grenze drängt, als wenn ein
Staat, nur um Kapitalanlagen zu machen, Grenzen zu mißachten anfängt.
Eben das Zielloſe, das Grenzenloſe des Einſetzens ſeiner politiſchen Macht
iſt im Augenblick die politiſche Schwäche von USA.
Der Verſuch, den größten noch offenen Weltmarkt, nämlich den chineſiſchen
Markt, für ſich zu erobern, kann jetzt ſchon als geſcheitert betrachtet werden.
USA. ſchickte Miffionare und Kommis, aber die Chineſen zeigten weniger
Intereſſe ſowohl für die Bibel wie für den Muſterkatalog, als man erwartet
hatte. Panzerkreuzer, Stoßtrupps und Flugzeuge machen auf die Chineſen
letzten Endes dennoch, wenn auch wider Willen, den größeren Eindruck. Mag
China noch immer einen japaniſchen Warenboykott durchführen, er bleibt letz ⸗
ten Endes undurchführbar, weil die Japaner in den eroberten Gebieten ſowieſo
ihre Waren unbehelligt auf den Markt bringen können, und die nicht eroberten
Gebiete zum Teil derart unintereſſiert an dieſer Frage find, daß fie einfach
jene Ware kaufen, die ihnen billigſt angeboten wird.
Würde man Babbitt weiter fragen, ſo hätte er geſagt, Amerikas Aufgabe
504 Leopold Plaichinger
fet die, den chineſiſchen Markt mit nahezu einer halben Milliarde Menſchen zu
erſchließen, und das ſei natürlich eine heilige Kulturaufgabe ſeines Landes.
And ſein Land ſei nicht minder berufen, in der Sowjetunion Schrittmacher der
kulturellen Entwicklung zu ſein, wobei man natürlich zunächſt davon abſehen
müſſe, daß man eigentlich mit den Bolſchewiken nichts zu tun haben wolle,
aber die Bolſchewiki ſich ſicher wandeln werden, wenn fie am verbotenen Apfel
des US A.⸗ Kapitalismus geknabbert haben. Auch hier gut ausgerichtete Rich-
tungslofigkeit nach allen Nichtungen!
Zuſammengefaßt: Die Ausſichten einer politiſchen Wirkſamkeit auf dem
europäiſchen Kontinent werden immer geringer und geringer. Die das letzte⸗
mal gezeichneten pſychologiſchen Vorausſetzungen ſollten nur aufdecken, daß
die Welt zu erkennen beginnt, daß USA. nicht jene Macht darſtellt, die man
ihm unter einem pſychologiſchen Zwang zuzuſchreiben geneigt gewefen.
England, ſein großer Gegenſpieler, hat ſich ſelbſt wiedergefunden. Seit dem
Abgehen vom Goldſtandard und ſeit der Konferenz von Ottawa geht es gewiß
England noch nicht ſo, daß es Grund hätte zum heimlichen Jubilieren, aber
es hat allen Grund zu wiſſen, daß es jeder Machtauseinanderſetzung mit
Nordamerika gewachſen tft, wirtſchaftlich wie militäriſch. Natürlich denkt
England nicht daran, auch nur einen Schuß abzugeben, denn es hat zunächſt
eine Weltmacht zu erhalten, die unter Kriſe ſteht. Es wird jedem Kampf mit
USA. ausweichen, ſolange es irgend möglich iſt, aber wenn nicht mehr mög⸗
lich, dann mit Einſatz jener Kräfte, die wir aus der Geſchichte Englands nach⸗
gerade gelernt haben ſollten. Ein friſch⸗fröhlicher Krieg, Arm in Arm mit
Japan, wenn es notwendig wird, und zwar nur, wenn es notwendig wird,
kann England unter Amſtänden jene Entlaſtung bringen, die es heute ſelbſt
weltpolitiſch braucht.
And in Oftafien iſt die Richtungsloſigkeit Trumpf. Man weiß zwar, daß
man Japan niederwerfen will, weiß aber, daß man es allein nicht kann und
ſucht hilflos ſchnüffelnd nach etwaigen Bundesgenoſſen. Die man findet, ver⸗
dienen höchſtens das Wort: politiſche Zuhälter. And die den Wert hätten,
Bundesgenoſſen zu fein, denken nicht daran, für USA. ihre Knochen zu Markt
zu tragen für eine Sache, die ſie in ihre eigene Scheune einbringen wollen.
Frankreich z. B. würde feine Hilfe in Oſtaſien nur verkaufen gegen Zugeſtänd⸗
niffe in Europa in einem Ausmaß, vor dem ſelbſt Babbitt erſchrecken würde.
Sonſt aber hat Frankreich nur das Intereſſe, daß ſein eigener Oſtaſienbeſitz
wohl erhalten bleibt, damit es machtpolitiſch zwiſchen USA., Japan, England
und Rußland munter Jo⸗Jo ſpielen kann. Es allein ift dazu in der Lage im
Augenblick, denn alle bewerben ſich um ſeine Gunſt, und die europäiſche Lage
brauchte Frankreich nicht zu hindern, eine größere Flotte nach Indochina aus-
laufen zu laſſen.
* *
USA. — UdSSR. 505
Was ift Nußlands Außenpolitik? Der Ideologie nach der „per⸗
manente“ Verſuch, die Weltrevolution durchzuführen. Auch wenn Trotzky
hundermal Stalin den Verrat an der „permanenten Revolution“ vorwirft.
Am es klar zu ſagen, Trotzky ſieht die bolſchewiſtiſche Revolution noch lange
nicht beendet, während Stalin durch den Fünfjahresplan und durch den nach⸗
folgenden Plan die Beendigung der Revolution ſah und zur Sicherſtellung
der Ergebniſſe der Revolution die Evolution, d. h. den inneren Auf⸗ und Aus⸗
bau ſowohl der Wirtſchaft wie der Politik ſetzte.
Will Rußland wirklich die Weltrevolution? Oder die Frage noch ſchärfer
geſtellt: Könnte Rußland politiſch im Augenblick die Weltrevolution über⸗
haupt gebrauchen? Es will die Weltrevolution, weil es weiß, daß ſie undurch⸗
führbar iſt, das will beſagen, man hat jeweils ein ideologiſches Machtmittel
in der Hand gegen den Staat, mit dem man jeweils verhandelt, weiß, daß man
mit dieſem Machtmittel ſich ganz angenehme Zuſicherungen verſchaffen kann,
ift fic) aber vollſtändig darüber im klaren, daß von einer „Weltrevolu⸗
tion“ keine Rede ſein kann.
Geſetzt den Fall, ſie würde von heute auf morgen ausbrechen, die ganze
Erde würde die Regierungsform des VBolſchewismus, die Räteregierung an⸗
nehmen. Kann ſich jemand vorſtellen, daß die bolſchewiſtiſchen Amerikaner
ſich von Moskau aus Wirtſchaftspläne diktieren ließen? Selbſt der begeiſtertſte
engliſche Bolſchewiſt würde es für zweckmäßig erachten, London zur Haupt⸗
ſtadt der Weltrepublik zu machen. Wir brauchen von Deutſchland nicht zu
ſprechen, noch von Frankreich und andern Staaten, ſondern wollen nur eines
ganz kurz feſtlegen: Wo immer in irgendeinem Staat in der
nächſten Zeit die kommuniſtiſche Staatsform ſich durch
ſetzen ſollte, fo wird fie niemals ruſſiſchen Charakter tra-
gen, wohl die eine oder andere Maßnahme Nußlands nachahmen. Aber kein
Staat wird jemals bolſchewiſtiſch, weil er nicht ruſſiſch werden kann, und hier
haben wir die Kernfrage, die wir für die Außenpolitik brauchen. Mag Ruß⸗
land noch ſo ſehr im Innern den Idealſtaat marxiſtiſcher Forderungen erfüllt
haben, fo wenig hat es dieſes als Staat nach außen. Seine Außenpoli⸗
tik trägt rein nationale Prägung, und es muß auch nationale
Außenpolitik betreiben, ſonſt würde dieſer Staat im Handumdrehen in ſich
ſelbſt zerfallen oder von den Nachbarn bei beſter Gelegenheit angegriffen
werden.
In der Tagebuchnotiz über Rußland im Novemberheft dieſer Zeitſchrift
machte ich die Bemerkung, daß man vieles vom Fünfjahresplan als unfinnig
ablehnen müſſe, wenn man nicht den tieferen Sinn durchſchaue, und zwar den
militäriſchen. Stalin hat am 7. Januar in ſeiner achtſtündigen Rede über die
Ergebniſſe des Fünfjahresplanes gleichzeitig den Schleier gelüftet über die
militäriſchen Maßnahmen, die Rußland im Plane vorgeſehen hatte. Voll
506 Leopold Plaichinger
erfüllt ift nur der militäriſche Plan. Unfer Hinweis, daß ſoundſo viele Indu⸗
ſtriemaßnahmen im europäiſchen Sinn des Wortes unfinnig wären, wenn
nicht der tiefere Sinn militäriſcher Bedeutung ihnen unterläge, wurde von
Stalin in nackten, dürren Worten geſagt. Es iſt auffallend, wie ſehr Stalin
betonte, daß Rußland mit den modernſten Waffen und vor allem mit einer
ſtarken Luftflotte ausgerüſtet ſei. Den Zwang zu dieſer Hochrüſtung leitet
Stalin vor allem ab aus den Vorgängen im Fernen Oſten.
Viel intereſſanter wäre jener Teil der außenpolitiſchen Begründung, den
Stalin verſchwiegen oder nicht hat veröffentlichen laſſen. Es iſt auf Jahre
hinaus unwahrſcheinlich, daß Japan eine kriegeriſche Angriffspolitik gegen
Rußland unternehmen wird. Japan hat mit China reichlich genug zu tun und
muß auf der Hut ſein, ſeine militäriſchen Kräfte ſo zuſammenzuhalten, daß ſie
im Notfall ſchlagartig eingeſetzt werden können. Eine Verzettelung der mili⸗
täriſchen Macht kommt für Japan zunächſt nicht in Frage, weil die Etappen
linien im Falle eines Krieges mit Rußland ſich auf drei⸗ bis viertauſend Kilo⸗
meter erſtrecken würden. Bei dem gleichzeitigen Krieg aegen China eine für
Japan ſehr ſchwierige Frage. Aber wir glauben, daß Stalin Japan genannt
hat, weil es zunächſt nicht in Frage kommt. Intereſſanter wäre geweſen, von
ihm zu hören, wie die Beziehungen der Sowjetunion zu England ſtehen.
Dieſes Schweigen beſagt, daß die Sowjetunion nach wie vor in England ihren
gefährlichſten Gegner ſieht. Der Hinweis Stalins auf den Fernen Oſten hat
feine Richtigkeit in bezug auf China, weil Rußland genau fo wie die kapita⸗
liſtiſchen Mächte auf die endgültige Aufteilung Chinas wartet. Die wenigen
roten Provinzen in Innerchina haben nach dem bisherigen Verſagen der
Sowjetpolitik in China zunächſt an unmittelbarer Bedeutung verloren. Dieſe
können aber wieder an Bedeutung gewinnen, wenn Japan zu größeren Schlä⸗
gen ausholt, der Krieg größere Menſchenmaſſen in Bewegung ſetzt und da⸗
durch die an ſich kaum noch vorhandene innere Regierungsgewalt reſtlos be⸗
ſeitigt wird. Dann fallen natürlich die roten Provinzen Chinas wie Paradies:
äpfel in den Schoß Sowjetrußlands.
Im Weſten ijt Rußland abgeriegelt. Die nach Krieg und Revolution neu
entſtandenen Staaten Finnland, die drei baltiſchen Staaten, Polen und —
zwar nicht neu erſtanden, aber zur Großmacht geworden — Rumänien bilden
einen Wall zwiſchen Europa und der Sowjetunion. Gibt ſich Rußland mit
dieſem Zuſtand zufrieden, oder wird es eines Tages Anſprüche erheben auf
die ihm weggenommenen Gebiete? D. h. wird Rußland wieder ſlawiſtiſche
Politik betreiben, dann muß es mit den Nachbarſtaaten in Konflikt geraten
und damit auch mit dem übrigen Europa.
Gibt es überhaupt noch einen Panſlawismus? Denkt man an den Vor⸗
kriegspanſlawismus, an die Pilgerfahrten des Tſchechen Kramaf nach Ruß⸗
land, an die Verbrüderungsfeſte in Serbien mit dem ruſſiſchen Geſandten
USA. — UdSSR. 507
Hartwig, denkt man an Montenegro und an die ſlawiſch⸗irredentiſche Be⸗
wegung im ehemaligen Südöſterreich, dann kann man nur ſagen, der Pan⸗
ſlawismus iſt ausgeſtorben. Die Tſchechoſlowakei will ein ſelbſtändiger Staat
bleiben, nicht minder Sugoflawien, und was vor dem Kriege für fie zweck⸗
mäßig geweſen, um das alte Ofterreich-Ungarn zu zertrümmern, iſt nicht mehr
zweckmäßig, weil es ſie ſelbſt zertrümmern würde.
Aber in einem verfolgt die Sowjetregierung dieſelbe Politik wie das Zaren⸗
reich und muß dieſe Politik um ſeiner eigenen Exiſtenz willen durchſühren. Es
ift der Drang nach dem Meer, der Drang nach offenen Ausfuhrhäfen. Im
Often ift die Entſcheidung gefallen, da hat Rußland verzichtet. Im Weſten
iſt es noch nicht ſtark genug, fühlt ſich aber ſtark genug, die entſcheidende Durch⸗
bruchſtelle Beſſarabien weiterhin für ſich in Anſpruch zu nehmen. Rumänien
wird unweigerlich den Machtkampf um das Schwarze Meer mit Rußland
austragen müſſen, entweder durch ein Nachgeben, ehe es zum Kriege kommt,
wodurch Rußland wieder in die Nangſtellung der Vorkriegszeit einrücken
würde, oder durch kriegeriſche Auseinanderſetzung, die im Augenblick keiner der
beiden Staaten wünſcht, aber auf die ſich beide vorbereiten.
And nun iſt die weltpolitiſch entſcheidende Stoßrichtung einer ruſſiſchen
Außenpolitik zu unterſuchen, die Stoßrichtung nach dem Süden, nach Perſien
und Indien. Dieſe Frage rückt nun immer näher und näher an den Bereich der
unmittelbaren Aktualität. Zunächſt iſt die Aberlegenheit Englands noch immer
fo groß, daß von unmittelbarer Rriegsgefabr keine Rede fein kann, aber
irgendein Zufallsereignis kann Auslöſer ſein eines großen aſiatiſchen Krieges.
USA. wie Ad SSR. find beide als Weltmächte ſtark genug, jeden Angriff
abzuwehren, befinden ſich aber in einem Zuſtand einer auch nicht annähernd
beruhigten Außenpolitik. Iſt's bei den USA. das Ausbreitungsgeſetz des Ka⸗
pitalismus, das die Vereinigten Staaten doch eines Tages zu einer Angriffs-
politik zwingen wird, ſo geſchieht es in Rußland durch den „negativen“
Kapitalismus, der denſelben Geſetzen zu gehorchen hat.
Ragnar Berg:
Die Verwertung des deutfchen Brotgefreides
Eine volkswirtſchaftlich richtige Steuerung der landwirtſchaftlichen
Geſamterzeugung hat auszugehen von zwei hauptſächlichen Gefidts-
punkten: Einmal den natürlichen Vorausſetzungen, wie ſie durch
Bodengüte, Klima uſw. gegeben ſind, zum andern von den geſicherten
Erkenntniſſen der Ernährungsphyſiologie. Wir begrüßen es daher,
daß der bekannte Ernährungsphyſiologe Dr. h. c. Ragnar Berg unſerer
Bitte nachgekommen iſt, ſeine Meinung über die beſtmögliche Verwer⸗
tung der deutſchen Getreideernte vom Standpunkte der er
Ernährung aus zu entwideln.
Die Schriftleitung hatte die Freundlichkeit, mich aufzufordern, hier einmal
meine Gedanken über die Verwertung der deutſchen Getreideernte zu ent⸗
wickeln. Während ich jetzt darangehe, meine Gedanken niederzuſchreiben, merke
ich am beſten ſelbſt, daß ich weder Landwirt noch Volkswirt bin, und muß
dementſprechend um Nachſicht für die einſchlägigen Teile meiner Arbeit bitten.
Ganz um das Land- und Volkswirtſchaftliche komme ich aber nicht herum, denn
die grundlegende Frage iſt ja, ob die deutſche Landwirtſchaft eine überreichliche
oder nur eine knappe Ernährung garantieren kann, oder ob wir gar als über⸗
induſtrialiſiertes Land auf die Zufuhr von außen angewieſen ſind.
Ich gebe zunächſt eine Aberſicht der Erzeugung und Verwertung des deut⸗
ſchen Getreides, wie ſie in dem „Statiſtiſchen Jahrbuch für das Deutſche
Reich“ enthalten iſt (Tabelle 1). Dazu iſt zu bemerken, daß die Angaben ſich
nur auf das jetzige Reichsgebiet ohne das Saargebiet beziehen; die Werte der
Vorkriegsjahre ſind ebenfalls auf dasſelbe Landgebiet und dieſelbe Bevölke⸗
rung bezogen, ſo daß alle Werte vergleichbar ſind.
Wir ſehen, daß die Kriegs- und Inflationszeit durchgängig eine Verminde⸗
rung der Ernte herbeiführte, die am ſtärkſten bei den Hauptgetreidearten be⸗
merkbar iſt: die Roggenernte des Jahres 1924 betrug nur 56,5 % von der im
Jahre 1914, die allerdings eine Rekordernte darſtellt. Für Weizen finden wir
nur 60,1% der 1914er Ernte, während die Anterſchiede bei Gerſte und Hafer
weniger auffällig ſind. Forſchen wir nach den Arſachen dieſes Rückganges, ſo
finden wir — außer bei Gerſte — überall eine Verminderung der Anbaufläche
und durchgängig eine Verſchlechterung des Hektarertrages. Wir können dies
in verſchiedener Weiſe deuten: Mangel an Arbeitskräften, Betriebskapital
und Düngemitteln, teilweiſe wohl auch ſchlechte Witterungsverhältniſſe; die
letzteren können jedoch bei der Verminderung der Anbaufläche nicht mitfprechen.
Im Laufe der folgenden Jahre beſſern ſich die Verhältniſſe in jeder Hinſicht
bis zum Jahre 1928; von da ab finden wir wieder Anzeichen einer Verſchlech⸗
terung, die ſich am Pune beim Hektarertrag bemerkbar macht. Da dieſe Er⸗
tragsminderung z. T. nicht einmal durch vergrößerte Anbaufläche wettgemacht
Die Verwertung des deutschen Brotgetreides 509
werden kann, müffen wir fie in Anbetracht der recht günftigen Wetterlage als
Folge der mangelnden Arbeitskräfte und Düngemittel betrachten.
Daß der Verbrauch an Düngemitteln tatſächlich in demſelben Maße wie
der Ernteertrag pro Hektar zurückgegangen iſt, alſo als Arſache dieſer Ver⸗
ſchlechterung angenommen werden muß, geht aus folgender Aberſicht hervor,
wobei allerdings die Ziffern des Jahres 1932 noch nicht berückſichtigt find:
Düngemittel 1927 1928 1929 1930 1931
Stickſtoff . . 4105 418,4 419,9 394,9 302,2
Kalkk . . 432,9 1587,9 1701,0 1446,6 970,4
Phosphor. . . 3793 516,0 5100 514,1 4245
Kali. 608,1 744,0 754,0 743,0 596,4
Zufammen . . 2905,8 3266,3 3384,9 3098,6 2293, 5
Bis 1928 bzw. 1929 Steigerung des Verbrauches, dann ſtarke Verminde⸗
rung, genau wie bei dem Ernteertrag!
Jetzt hat die Produktion von Roggen bei weitem nicht die alten Ausmaße
erreicht, die von Gerſte und Hafer ſind ungefähr dieſelben wie früher, während
die Weizenproduktion trotz ſchlechteren Hektarertrages erheblich die der Vor⸗
kriegszeit überſteigt. Nebenbei iſt gleichzeitig der Fleiſchkonſum mächtig ge⸗
ſtiegen: 1913 Fleiſchverbrauch pro Kopf 36,06 gegen 44,85 kg pro Kopf im
Jahre 1931. Wir ſehen hier eine Tendenz, die für die Ernährung aller zivi⸗
liſierten Völker kennzeichnend iſt: Rückgang des Noggenverbrauchs, ſtatt deſſen
Zunahme des Verbrauchs an Weizen und Fleiſch. Es braucht gerade hier nicht
näher ausgeführt zu werden, wie ſchädlich dieſe Entwicklung für die deutſche
Landwirtſchaft ſein muß. Sie iſt es aber hauptſächlich, die ins Feld geführt
wird, wenn man die Bedeutung der deutſchen Landwirtſchaft verneinen will:
Deutſchland ſei kein Agrarſtaat mehr, ſondern ein Induſtrieſtaat, weshalb die
Belange der Landwirtſchaft hinter denen der Induſtrie (lies: Stadtbevölke⸗
rung) zurückſtehen müßten.
Wir müſſen auch bedenken, daß hierzulande wie faſt überall in Europa eine
Amſchichtung der Bevölkerung in den letzten 50 Jahren ſtattgefunden hat:
Es lebten 1882 1931
in Städten in Landbezirken in Städten in Landbezirken
Menſchen, Millionen 11,7 35,1 44,9 19,4
oder % der Bevölkerung 25,0 75,0 70,0 30,0
Während die Stadtbevölkerung alſo auf faft das Vierfache anſtieg, ift die
Landbevölkerung auf faft die Hälfte zuſammengeſchmolzen. Gewiß iſt in dieſer
Berechnung ein Fehler enthalten: die Werte für 1882 ſind gültig für das ganze
damalige Reichsgebiet, die von 1931 nur für den verſtümmelten Staat, das
Saargebiet eingeſchloſſen. Irgendwelche weſentliche Anterſchiede in der prozen⸗
tualen Verteilung zwiſchen Stadt und Land ſind aber dadurch kaum entſtanden.
Es könnte nun ſo ſcheinen, als wäre die erwähnte Behauptung richtig: die
heutige deutſche Landwirtſchaft ſei außerſtande, das eigene Volk zu ernähren.
Sie iſt trotzdem und trotz der geſteigerten Ernährungsanſprüche doch nicht zu⸗
treffend. Durch Nationaliſierung iſt es gelungen, die Verſorgung mit Nah⸗
Ragnar Berg
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Die Verwertung des deutschen Brotgetreides
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512 Ragnar Berg
rungsmitteln faſt auf derfelben Höhe wie früher zu halten. Zur Verfügung
ſtanden für alle Zwecke, abzüglich Ausſaat, pro Kopf und Jahr:
1882 1913
kg Kalorien kg Kalorien
Kopf und Jahr: Kalorien
Getreide 352,75 | 1058 250 — 322,64 967 920
Hackfrüchte 773,63 | 502860 sat 836,60 | 543 790
Rind⸗ und Schweinefleisch
(ohne Einfuhr). — = 43,72 | 113672
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Zuſammen Kalorien 1652318 1625 382
(Da ich keine Angaben über die Fleiſchproduktion von 1882 beſitze, habe ich die
von 1913 eingeſetzt; dadurch wird der Stand für 1931 verhältnismäßig ver⸗
ſchlechtert, weil die Produktion vor 50 Jahren mit Sicherheit viel geringer als
zur Zeit der „Fleiſchnot“ war.) Die jetzige Produktion iſt alſo trotzdem um
26 931 Kal. / Kopf und Jahr oder täglich um 74 Kal. / Kopf geringer. Berück-
ſichtigen wir, daß der eingeſetzte Wert für Fleiſch 1913 ſicher zu hoch für 1882
war, fo kommen wir zu dem Refultat, daß wahrſcheinlich die Produktion pro
Kopf und Jahr heute höher als früher iſt.
Wenn man bedenkt, unter welchen Laſten die Landwirtſchaft heute im Ver⸗
gleich mit 1882 ſeufzt und daß die Zahl der Produzenten auf die Hälfte zu⸗
ſammengeſchrumpft iſt, trotzdem aber der Beitrag der deutſchen Landwirtſchaft
zur Ernährung des Volkes pro Kopf der Bevölkerung praktiſch derſelbe ge⸗
blieben iſt (der oben berechnete, ſicher zu große Anterſchied beträgt ungünſtigſten
Falles eine dünne Schnitte Brot täglich), wird der tendenziöſe Anſinn der oben
erwähnten Behauptung erſt recht klar: 1882 haben 35,1 Millionen
in der Landwirtſchaft 46,8 Millionen Menſchen ernährt,
und 1931gewährleiſteten 19,4 Millionen in der Landwirt
ſchaft diefelbe Ernährung für 64,3 Millionen!
Berückſichtigen wir jetzt, daß die Lebensmitteleinfuhr heute das Vielfache
von der im Jahre 1882 beträgt, ſo ſollte eigentlich das deutſche Volk 1932
glänzend verſorgt fein. Das Gegenteil fcheint aber der Fall zu fein; woher
kann das kommen?
Ganz abzuſehen iſt ja von der Tatſache, daß heute Millionen in Deutſch⸗
land mehr oder weniger ausgeſprochen hungern müſſen, weil fie infolge der
Arbeitsloſigkeit einſach nicht die Mittel zu einer ausreichenden Verſorgung
erwerben können. Das iſt nicht die Schuld der Landwirtſchaft und ändert nichts
an der Tatſache, daß genügend Lebensmittel pro Kopf der Bevölkerung her⸗
vorgebracht werden.
Der Lebensſtandard iſt aber heute viel höher als damals: man will nicht
nur leben und eſſen, ſondern man will gut eſſen und leben. Die Leute, die
heute noch etwas verdienen, geben bedeutend mehr aus für ihre Ernährung als
ihre Vorfahren vor 50 Jahren. Sie verlangen vor allem „feinere“ Waren,
wobei die Feinheit mehr in dem Ausſehen als in der Beſchaffenheit der Ware
geſucht wird. Dadurch wird eine große Menge Nährwerte vergeudet, die in
alten Zeiten dem Menſchen zunutze kamen, jetzt aber nur als Viehfutter Ver⸗
wendung finden.
Schuld daran wie auch an dem unmäßig geſteigerten Fleiſchkonſum hat zum
großen Teil die Ernährungswiſſenſchaft. Es iſt ja eine junge Wiſſenſchaft,
Die Verwertung des deutschen Brotgetreides 513
und leider wurden die erften Errungenſchaften derſelben als der Weisheit
letzter Schluß ins Volk getragen, lange bevor die Ergebniſſe wirklich feſtſtanden.
Die Folge wurde zunächſt eine übermäßige Wertſchätzung des Nahrungs-
eiweißes: man müßte viel Eiweiß verzehren, um leben zu können. Deshalb
"wurde Fleiſch als das wichtigſte Nahrungsmittel eingeſchätzt, feines Weizen⸗
brot höher als feines Roggenbrot uſw. Daraus ergab ſich wieder der Aber⸗
laube, daß Weizen überhaupt ein beſſeres Nahrungsmittel als Roggen ſei.
Dieſe Meinung hat ſich aber durch die neueren Anterſuchungen als irrig her⸗
ausgeſtellt: gerade das Gegenteil iſt der Fall.
Ganz beſonders mäkelte man an dem Roggenvollfornbrot herum, dem alten
Hauptnahrungsmittel des größten Teils von Deutſchland. Die Aberſchätzung
von Fett, Kohlehydraten und beſonders Eiweiß hatte dazu geführt, daß man
möglichſt konzentrierte Nahrungsmittel bevorzugte und einen höheren Gehalt
an Füllſtoffen, alſo Zellſtoff, als ſchädlich beurteilte. Beſonders Rubner
hat die Behauptung aufgeſtellt, daß viel Rohfaſer, vor allem in Form von
Kleie, der Ernährung dadurch abträglich ſei, weil der Darm zur vermehrten
Tätigkeit gereizt würde und infolgedeſſen Eiweißverluſte eintreten. Noch 1925
hat Rub ner in einer großangelegten Experimentalarbeit zu beweiſen verſucht,
daß es wirtſchaſtlich vorteilhafter wäre, nur Feinbrot herzuſtellen und die Kleie
auf dem Amwege der Verfütterung ans Vieh in Form von Fleiſch der menſch⸗
lichen Ernährung zuzuführen. Ich habe in mehreren Arbeiten gezeigt, daß nur
ein ganz befangener Beurteiler zu dieſem Schluß kommen kann, denn Rub-
ners eigene Zahlen beweiſen das Gegenteil. Wenn Vollkornbrot an Geſunde
verabreicht wurde, wurde die Kleie ebenſogut von Menſchen als ſelbſt vom
Wiederkäuer ausgenutzt. Durch einen Verſuchsfehler kam Rubner zu dem
Schluß, daß die Kleie in Form von Hammelfleiſch wieder zu 70% der menſch⸗
lichen Ernährung zugeführt werden konnte; tatſächlich bekommt man, wie durch
unzählige Verſuche ſchon ſeit langem ſicher feſtgeſtellt iſt, nur 14 bis höchſtens
20% (beim Schwein) in Form von Fleiſch wieder. Nur das direkte Verzehren
des Vollkornbrotes gewährleiſtet eine größtmögliche Ausnutzung der im Ge⸗
treidekorn ſteckenden Werte.
Es iſt ſchon richtig, daß Magen ⸗ und Darmkranke Vollkornbrot oft nicht ver-
tragen. Die Arſache iſt, daß das Brot häufig viel zu ſauer und die Kleie in dieſem
Brot faſt immer zu grob iſt und darum die empfindlichen Schleimhäute reizen
muß. Aber zunächſt kann man aus Rückſicht auf die wenigen Kranken doch nicht
dem ganzen Volk ein minderwertiges Weißbrot aufzwingen. Weiter aber ver⸗
fügen wir über verſchiedene Verſahren, die eine ſolche Feinmahlung der Kleie
ohne Schädigung der Vackfähigkeit des Mehles geſtatten, daß ſelbſt Kranke ein
fo hergeſtelltes Brot vertragen können. Dabei wird, wie Rub ner ſelbſt durch
Verſuche feſtgeſtellt hat, die Ausnutzung ſo weſentlich verbeſſert, daß kaum noch
ein Anterſchied zwiſchen ſolchem Vollkornbrot und Brot aus feinſtem Weizen-
mehl beſteht: ſtatt 35—45% Verluſt bei gewöhnlichem Vollkornbrot nur noch
21%. Aber auch im gewöhnlichen Vollkornbrot werden die Nährſtoffe doch fo
gut ausgenutzt, daß dadurch ein höchſt wefentlicher Gewinn an z. B. Eiweiß
gegenüber Weißbrot entſteht, ſelbſt bei Leuten, die ſonſt nicht an grobes Brot
gewöhnt ſind.
Alles ſpricht alfo dafür, daß das Hauptbrot ein Vollkornbrot ſein ſoll, gleich⸗
gültig, ob es ſich um Roggen- oder Weizenbrot handelt. Dabei muß aber feſt⸗
geſtellt werden, daß nur ſolches Brot als „Vollkornbrot“ bezeichnet werden
514 Ragnar Berg
darf, wo bei der Vermahlung das ganze Getreidekorn ohne weitere Abzüge,
außer den natürlichen Verluſten durch Reinigung, Verſtauben uſw., zu einem
Mehl verwandelt worden iſt. Insbeſondere müſſen die Keime und die eiweiß-
haltigen Randſchichten des Kornes voll und ganz im Mehl enthalten fein. Oft
hört man Brot aus z. B. 70— 75% Ausmahlung als Vollkornbrot bezeichnen,
aber das iſt falſch: da handelt es ſich um ſogenanntes Graubrot. Bei dieſem
iſt gewöhnlich u. a. gerade der Keim, der wertvollſte Teil des Kornes, heraus-
enommen, weshalb ein ſolches Brot viel geringere Nähreigenſchaften beſitzt.
nalytiſch bezeichnend iſt der Gehalt an ſogen. Zellmembranen (im Vollkorn⸗
brot 3,34, 1%, im Roggenbrot 1. Sorte 2— 30%) und Zellſtoff (1,1% bzw.
0,8%). Beim Weizenbrot ſind die Anterſchiede noch größer: Zellmembranen
im Vollkornbrot 3%, im Weißbrot 0,8%, und Zellſtoff 1,0 bzw. 0,6%.
Der Anterſchied im Gehalt an Eiweiß iſt nicht ſo groß:
— — .
Es enthalten 100 g Kalorien
Weizenbrot, Vollkornn . 234
Weizenbrot, Weiß 266
Roggenbrot, Vollkorn s 231
Moggenbrot, Gran: 257
Moggenbrot, Weif- . . . . . 320
Trotzdem ift die wirtſchaftliche Bedeutung dieſes Anterſchiedes gewaltig.
Ein Kilogramm Getreide ergibt bei 94% Ausmahlung 1288 g Vollkornbrot,
aber bei 60% Ausmahlung nur 822 g Brot und bei 30% ſogar nur 411 g fein-
ſtes Weißbrot. Wir erhalten dann in Form von Nahrungsmitteln
Aus 1 kg Mogger Aus 1 kg Weizen
Bei Ausmahlung a Kohle⸗
von 5 Hydrate | Kalorien
R 8
94% 100,5 14,2 592,5 | 2975 | 114,6 12,9 $92,5 | 3014
60 % 53,4 8,2 419,2 | 2112 — — — —
30 % 24,7 3,3 22:,9 | 1315 27,9 3,7 234,3 | 1093
Der Verluſt beträgt alfo bei jedem Kilogramm verarbeitetes Korn
60% 47,6 6,0 183,3 | — | — | — | — | —
30 % 75,8 10,9 370, 1 660 86,7 9,2 358,2 | 1921
ober in Prozenten der Mengen im Vollkornbrot
60 % 47,3 42,2 30,9 | 29,0 | — | — | — | —
30% 74,7 76,7 62,6 55,7 75,7 71,3 60,5 63,7
Es find alfo gewaltige Mengen von Nährwerten, die hierbei verlorengehen.
Was das für das ganze deutſche Volk bedeutet, können wir mit Hilfe der
Tabelle 1 berechnen. Dort finden wir die Mahlverluſte durch Ausſcheiden von
Kleie und Keimen bei Roggen zu 33,02% und bei Weizen zu 28,25% des
Vermahlenen. Die Ausmahlung war alſo durchſchnittlich 66,98% bei Roggen
und 71,75% bei Weizen. Würde alles Mehl zu Brot verbacken worden ſein,
ſo ergäbe dies aus 1000 t Roggen 917,626 t und aus 1000 t Weizen 982,975 t
Brot. Die vermahlene Getreidemenge hätte alſo 4 281 368 t Roggenbrot und
4 997 936 t Weizenbrot ergeben. Es enthielte dann:
Die Verwertung des deutschen Brotgetreides | 515
Eiweiß Kohlebydrate
t t
der gereinigte Moggen (94°/, des Vers
mablenen) . 2. 2 2 2 2. 381 561 65 786 3 157 746
das Brot darauns 278 289 12811 2 183 489
alfo Verluſt 103 272 22 972 974 248
Millionen
Kalorien
15 130 865
10 489 352
4 641 513
16 680 211
12 194 964
4 485 247
90 809
44 981
3 250012
2 448 989
der gereinigte Weizen (ebenſo 94%) 602 208
das Brot darauns 2. 419 827
alfo Verluſt
oder zuſammen ein Verluſt von 9126760 Millionen Kalorien. Ganz ſtimmt
dieſe Berechnung nicht, denn der Abfall iſt ja nicht weggeworfen, ſondern ver⸗
füttert worden. Nehmen wir an, daß von dem Kraftſutter durchſchnittlich 16%
in Form von Fleiſch der menſchlichen Ernährung wieder augeführt wurden,
bedeutet dies eine Verminderung des Verluſtes auf 7 666478 Kalorien, ent-
ſprechend den ganzen Jahresbedarf von 7 001 350 Menſchen, wenn dieſe nichts
anderes als Brot verzehren würden. Das ſtimmt aber wieder nicht. Der Arbei⸗
ter mit niedrigſtem Einkommen verzehrt durchſchnittlich nur 128 kg Brot, ent«
ſprechend 259 680 Kalorien jährlich. Durch den Mahlverluſt hätte
alſo der jährliche Brotbedarf von noch 25 928 294 Menſchen
mehr gedeckt werden können, mehr als einem Drittel des
ganzen deutſchen Volkes!
Weiter: die vermahlene Roggenmenge betrug 4 665 700 t Roggen, wovon
542 400 t eingeführt wurden. Der Mahlverluſt betrug bei Roggen 1 540 400 t;
berechnen wir den unvermeidlichen Verluſt beim Vermahlen zu Vollmehl zu
279 942 t, fo hätte man damit 1 260 458 t Roggen geſpart, d. h. 2,3mal mehr,
als jetzt eingeführt werden mußte! Beim Weizen hätte die Verarbeitung auf
Vollkornmehl einen unvermeidlichen Verluſt von 305 070 t verurſacht, wodurch
1 131 130 t geſpart wären, d. h. ſtatt 2 642 000 t hätte man nur 1 510 870 t ein-
führen müſſen. Der größte Teil davon hätte wiederum vermie⸗
den werden können, wenn die Deutſchen in den Gegenden,
wo hauptſächlich Roggenböden vorkommen, etwas weniger
Brötchen und mehr Brot eſſen wollten.
Wir kommen alſo auf verſchiedenen Wegen zu demſelben Reſultat: die
deutſche Landwirtſchaft iſt ſehr wohl imſtande, den Bedarf
an Brotgetreide voll zu decken, falls die im Laufe der letz⸗
ten 50 Jahre eingeriſſenen Ernährungsunſitten vermie-
den werden.
Dies um ſo ſicherer, falls wir die Volksernährung auf anderen Gebieten ver-
beſſern könnten. Dieſe Möglichkeit beſteht tatſächlich. Zu zwei Zeiten des
Tages iſt die moderne Ernährung fo dumm und unpraktiſch, daß eine energiſche
Propaganda ſehr wohl imſtande fein wird, da weſentliche Beſſerung herbei⸗
zuführen. Sowohl das Frühſtück als das Abendeſſen ſind in den letzten Jah⸗
zehnten entſchieden verſchlechtert worden. Früher wurde als erſtes Mahl eine
dicke Mehlſuppe, gewöhnlich von Roggen- oder Hafermehl, oder eine Grütze
mit Milch verzehrt, wie es heute noch in Skandinavien, Schottland, übrigens
auch in allen engliſch ſprechenden Ländern geſchieht. Hier in Deutſchland aber
iſt dieſes kräftige und geſunde Eſſen von dünnem Kaffee und Brötchen mit oder
Agrarpolitik Heft 7, Bg. 3
516 Ragnar Berg
ohne Butter verdrängt worden, ſehr zum Nachteil unſerer Leiſtungsfähigkeit.
Die Folge iſt, daß der Deutſche nicht bis zum Mittageſſen durchhalten kann,
ſondern eine Zwiſchenmahlzeit einſchieben muß, die wieder aus Brötchen oder
Weißbrot mit Belag beſteht. Gewiß würde die Rückkehr zur alten Morgen-
fuppe oder Grütze eine Verminderung des Brotkonſums bedeuten. Aber fie
würde in der Hauptſache den Weizenkonſum treffen — und das wäre ja das
Wünſchenswerte. Weiter würde aber auch der Bedarf an Fleiſchbelag vermin⸗
dert werden, was ebenfalls nur in jeder Hinſicht vorteilhaft wäre. Wir brauch⸗
ten weniger Fleiſch einzuführen und könnten eher mit unſeren eigenen Vorräten
auskommen. Nebenbei würde die Grützekoft auch der ausgebreitetſten Volks⸗
krankheit, der chroniſchen Darmträgheit, entgegenarbeiten.
Auch die letzte Mahlzeit des Tages beſtand früher hauptſächlich aus einer
Mehlſuppe oder Grütze oder aus Kartoffeln, früher wohl auch aus Rüben mit
Gurken, Sauerkraut, Käſe oder Milch. Ich würde aus geſundheitlichen Grün⸗
den bei dieſer Mahlzeit lieber Kartoffeln als Getreideſpeiſen empfehlen. Da⸗
durch würde wiederum eine Erſparnis an Fleiſch, aber auch an Brotgetreide
eintreten, während Kartoffel- und Milchkonſum verſtärkt werden würden.
Ganz würde man bei dieſen beiden Mahlzeiten das Brot nicht auszuſchalten
brauchen, aber das Wichtige wäre, daß als Zugabe zu Brei oder Kartoffeln
ein gutes Vollkornbrot beſſer mundet als das geſchmackloſe Weißbrot — ganz
im Sinne des oben Geſagten.
Ich weiß wohl, daß in den weiteſten Volkskreiſen, nicht zuletzt bei den Arz⸗
ten ſeit dem Kriege große Abneigung gegen das Vollkornbrot herrſcht. Das
Kriegsbrot aber war kein reines Getreidebrot, ſondern enthielt Streckungs⸗
mittel der verſchiedenſten Art, von Kartoffeln bis zu Kohlrüben. Die an ſich
ſchon gänzlich degenerierte Backkunſt konnte dieſes Gemiſches nicht Herr werden,
und ſo wurde dieſes Brot klebrig, knatſchig, kurz ungenießbar und für ſchwache
Verdauungsorgane gefährlich. Ein gutes Vollkornbrot läßt ſich mit jenem elen⸗
den Machwerk gar nicht vergleichen, wie jeder ohne weiteres zugeben wird, der
ein wirklich gutes Brot gekoſtet hat.
Aberhaupt wird in der Bäckerei heute viel geſündigt. Dadurch, daß die
Bäckerei eine Großinduſtrie geworden iſt, hat man das Gefühl der Achtung
vor dem Brot verloren und bringt jetzt alles Mögliche und Anmögliche hinein,
was ſicher nicht zum Brot gehört. Da ſoll die Backfähigkeit des durch Speku⸗
lationskäufe überalterten Getreides verbeflert werden, die Gärfähigkeit ver-
mehrt und die Ausbeute erhöht werden. Aberaus häufig finden wir in den
Bäckereizeitungen Angebote von Mitteln, von Chemikalien bis zum Sojamehl
oder Eiweißprodukten, wodurch die Ausbeute verbeſſert werden ſoll, d. h. daß
man mehr Waſſer in dem Brote belaſſen kann, ohne daß das Brot teigig wird.
Es läuft dies alſo direkt auf einen Betrug aus: der Käufer gibt ſein gutes Geld
und glaubt dafür Brot zu erhalten, bekommt aber zu einem nicht geringen Teil
überflüſſiges Waſſer. Früher betrachtete man einen Waſſergehalt von etwa
37% als das Höchſtmaß des Zuläſſigen, während man heute Brot finden kann,
das zu mehr als zur Hälfte des Gewichtes aus Waſſer beſteht.
Auch ſonſt iſt das Brot heutzutage oft ſehr ſchlecht. Gewiß gibt es auch gutes
Brot, es iſt aber tatſächlich, ſobald es aus einer Bäckerei oder einer Brotfabrik
ſtammt, eine Ausnahme. Die Krume iſt oft viel zu ſauer und zu waſſerhaltig,
auch wenn ſie ſich trocken anfühlt. Legt man eine Schnitte von einem ſolchen
Brote einige Stunden an die Luft, wird die obere Schnittfläche hornartig zu⸗
Die Verwertung des deutschen Brotgetreides | 517
fammentrodnen und fic ſchalenförmig nach oben krümmen. Bei einem guten
Brot darf dies nur ſehr wenig bemerkbar ſein, d. h. die Krume hat alles über⸗
flüſſige Waſſer ſchon während des VBackens verloren.
Sehr große Bedeutung hat die Beſchaffenheit der Brotkruſte. Gewöhnlich
iſt fie nur wenige Millimeter ſtark, ſehr glänzend, anfangs glaſig hart und
ſpäter lederartig zähe. Die jetzt epidemieartig zunehmende Paradentoſe, das
Lockerwerden der Zähne ohne ſichtbare Arſache, wird von den Zahnärzten nicht
zuletzt auf die elende Beſchaffenheit unſeres Brotes zurückgeführt, das den
Zähnen nicht genügend Arbeit gibt, das Zahnfleiſch nicht genügend mafftert,
die Speichelſekretion vermindert und an den Zähnen kleben bleibt.
Ein gutes Brot ſoll eine 15—20 Millimeter dicke, harte, aber auch nach
Lagern knuſprige, matte und poröſe Kruſte beſitzen. Dieſe ermöglicht während
des Backens dem Waſſer, aus dem Brote herauszutreten, ſo daß die Krume
gut austrocknet, gewährleiſtet gute Zähne und leiſtungsfähige Speicheldrüſen,
regt die Magenſaſtſekretion und damit den Appetit mächtig an und macht
dadurch das Brot viel leichter verdaulich. Man ſieht dies Letztere ſchon an dem
Anterſchied in der Verdaulichkeit des feinſten Weizenbrotes und der Brötchen:
je dicker die Kruſte, deſto beſſer iſt die Verdaulichkeit.
Die Arſache zur jetzigen Brotverſchlechterung liegt auf rein ökonomiſchem
Gebiete: man will aus einer beſtimmten Mehlmenge ein möglichſt großes
Gewicht Brot in kürzeſter Zeit und mit geringſtem Verbrauch an Heizmaterial
erzielen und doch ein Brot herſtellen, das wenigſtens gut ausſieht. Daher die
dünne, glänzend lackierte, für Waſſerdämpfe undurchdringliche Kruſte und die
ſich trocken anfühlende und doch ſtark waſſerhaltige Krume. Die erzielten Cre
ſparniſſe in der Fabrikation find auch gewaltig: früher wurde das Brot bei
nicht ſtarker Hitze 18, 24 Stunden oder noch länger in dem vorher geheizten
Backofen belaſſen, während jetzt das Brot ſchon nach 20—30 Minuten ver⸗
kaufsfertig den Ofen verläßt.
Es iſt doch aber ſelbſtverſtändlich, daß bei einem ſo wichtigen Volksnah⸗
rungsmittel wie dem Brot die Verbilligung der Herſtellung feine Grenzen hat,
daß fie nicht auf Koſten der wirklichen, inneren Beſchaffenheit der Ware erzielt
werden darf. Mit Rückſicht ſowohl auf die Volksernährung als auf die Volks-
geſundheit müſſen wir gewiſſe Bedingungen an die Beſchaffenheit des Voll-
kornbrotes ftellen, die unbedingt erfüllt werden müſſen:
1. Als Vollkornbrot darf nur Brot aus Mehl von 93— 94% Ausmahlung
bezeichnet werden.
2. Die Kleie in dem Vollkornmehl ſoll möglichſt fein, am liebſten ſtaubfein
zerkleinert fein.
3. Die Brotausbeute aus 100 kg Mehl darf 138 kg Brot nicht überſteigen,
4. d. h. der Waſſergehalt fol 37% nicht überſteigen.
5. Die Krume ſoll ſich trocken anfühlen, darſ nicht am Meſſer kleben, ſoll
fein und möglichſt gleichmäßig porös ſein.
6. Die Kruſte fol mindeſtens 15 Millimeter did fein, außen raub-porög,
zwiebackartig knuſprig, nicht glänzend, ſpröde und ſpäter lederig ſein.
7. Bei der Herſtellung dürfen außer Mehl, Waſſer, Kochſalz, evtl. Gewür⸗
zen, Hefe oder Sauerteig keinerlei Zuſätze ſtattfinden. Beſonders gilt dies für
Chemikalien. Ausnahme für das ſog. Kartoffelbrot, wo Kartoffeln in fein zer⸗
tiebenem Zuſtande zugeſetzt werden dürfen: ſolches Brot muß aber die oben⸗
30
518 Ragnar Berg, Die Verwertung des deutschen Brotgetreides
genannten Bedingungen mit Ausnahme für die Ausbeute erfüllen und deutlich
deklariert werden.
Mit Ausnahme der Punkte 1 und 2 gelten dieſe Forderungen auch für
Weißbrot und Brötchen.
Schließlich möchte ich auf eine Brotform aufmerkſam machen, deren allge⸗
meine Einführung in Deutſchland lebhaft zu begrüßen wäre: das ſchwediſche
Dauerbrot oder Knäckebrot, wie es hier genannt wird. Man hat es als ein
Brot bezeichnet, das nur aus Kruſte beſteht oder, wie in England, es als Zwie⸗
back angeſehen, aber beides iſt falſch. Durch den eigenartigen Zubereitungs⸗ und
Backvorgang wird das Mehl in feiner Geſamtheit in eine trockene (nur 7%
Feuchtigkeit), ſehr harte aber ſpröde, gut kaubare Maſſe von höchſtem Wohl⸗
geſchmack und Verdaulichkeit verwandelt. Dieſes Brot beſitzt alle Vorteile des
Vollkornbrotes, aber darüber hinaus noch andere wichtige Eigenſchaften. Durch
das kurze Erhitzen (nur 6—7 Minuten) bleiben die Vitamine des Korns erhal⸗
ten; es ijt reich an Geſchmackſtoffen, lockt deshalb 4—5mal mehr Speichel und
Magenſaft hervor und wird dadurch leichter verdaulich als gewöhnliches Voll-
kornbrot. Die Kleiezellen ſind auseinandergeſprengt und in einem quellbaren
Zuſtande überführt, weshalb die Nährſtoffe beſſer ausgenutzt werden können
und der Stuhlgang ohne Reizung doch befördert wird. Es klebt nicht an den
Zähnen, ſondern ſcheuert und reinigt dieſe und maſſiert das Zahnfleiſch. Es
ſchimmelt nie, iſt vielmehr bei trockener Aufbewahrung unbegrenzt haltbar.
Es wäre ein ſchwerer Fehler, zu glauben, daß die oben geſchilderten Miß⸗
55 für Deutſchland eigentümlich wären. Landflucht, Aberſchätzung der
nduſtrie, Anterſchätzung der bodenſtändigen Landwirtſchaft, Aberbeſteuerung
des Bodens, eine falſche, das „Feine“ und Eiweißreiche überſchätzende Ernäh⸗
rungsweiſe ſind alles Merkmale unſerer ſog. Ziviliſation und demgemäß über⸗
all zu finden. Schon ſeit langem haben einſichtige Männer hierauf und auf
die daraus entſtehenden Gefahren für Volkswirtſchaft und Geſundheit aufmerk⸗
jam gemacht, aber bislang haben fic) die Regierungen dieſer Erkenntnis ver-
ſchloſſen. Nur in einem Lande finden wir eine leuchtende Ausnahme: in Sta-
lien. Muſſolini hat die Wahrheit voll erkannt und iſt auch beſtrebt, dem⸗
entſprechend Abhilfe zu ſchaffen. „Hebung der Landwirtſchaft“ bedeutet aber
bei dieſer Perſönlichkeit nicht ein Schlagwort, ſondern eine wahre Aufgabe,
für die er ſich mit ganzer Kraft einſetzt. Dabei iſt es nicht genug, neues Kul⸗
turland zu ſchaffen, um die überſchüſſige Landbevölkerung dort anſiedeln zu
können, nein, vor allem muß das im Lande Hervorgebrachte auch voll und ganz
ausgenutzt werden. So hat der Duce eine ſtärkere Ausmahlung des Getreides
befohlen. Anfangs hat man wohl an ein Vollkornbrot auch hier gedacht, aber
ganz ließ fic) dieſer Gedanke nicht verwirklichen. Italien iſt ja ein Touriſten⸗
land, und die Touriſten wollen nur feines weißes Brot. Deshalb wurde die
Ausmahlung nur auf wenigſtens 70 % feſtgeſetzt, was aber doch einen gewal⸗
tigen Fortſchritt bedeutet. Dazu kommt, daß das italieniſche Brot an ſich viel
beſſer als das deutſche ausgebacken und auch nicht ſo mißhandelt wird wie in
Deutſchland. Selbſt in Rom kann man überall ein noch ganz gut zu nennendes
Mundbrot bekommen, das gut ausgebacken und kaum glaſiert iſt. Mit beſon⸗
derem Vergnügen gedenke ich des Brotes in Bozen, das zwar ein feines Wei⸗
enbrot war, aber eine dicke, poröſe und knuſperige Kruſte beſaß. And in der
internationalen Brotausſtellung, die Muſſolini Ende Juni vergangenen
Jahres in Rom ins Leben gerufen hatte, ſah man zwar entſprechend der Eigen⸗
Walter Bohm, Richtlinien zur Schöpfung deutschen Bodenrechts 519
art der italieniſchen Landwirtſchaft faft nur Weizengebäck, aber es war im
allgemeinen ſehr gut gebacken. Da ſah man auch mehrfach aus entlegeneren
Landesteilen wirkliches Vollkornbrot in prächtiger Beſchaffenheit. Man
brauchte übrigens nicht weit zu gehen, um ſolches Brot zu finden; ich erinnere
mich, daß wir nach einer Wanderung über die Campagna und in den Aus-
läufern der Apenninen in den Dörfern erhielten: ein ausgezeichnet ausgebackenes
Vollkornbrot mit mehr als zentimeterdicker ſchöner Kruſte, das zuſammen mit
einem Glas Zitronenwaſſer und etwas Olivenöl (die guten Leute entſchuldigten
1 oat fie kein hochrafſiniertes Ol hatten!) eine ausgezeichnete Mahlzeit
abgab.
Auch auf dem gleichzeitig tagenden Internationalen Kongreß für Brotſabri⸗
kati on und NV] zeigten die Italiener ein wohltuendes Verſtänd⸗
nis, das ſcharf gegen die Vorſchläge der Franzoſen abſtach. Beſonders ein
franzöfifcher Profeſſor tat fic) hervor mit einem Vortrag über ein Konſer⸗
vierungsverfahren für Brot, einem zweiten über ein Mittel zur Verbeſſerung
der Backfähigkeit von Mehl und einem dritten über ein Verfahren zur Ver⸗
größerung der Brotausbeute, alles Geheimverfahren. Als er jedesmal auf An⸗
frage verſchmitzt antwortete: „Ja, das iſt eben das Geheime“, ſtand ſchließlich
ein italieniſcher Profeſſor auf und erklärte unter jubelnder Zuſtimmung feiner
Landsleute: „Wir lehnen alle folche Verfahren reſtlos ab. Wir wollen Brot
nur aus Getreide, Hefe, Salz und Waſſer und wollen nichts hören weder von
Geheimverfahren noch von Chemikalien noch von Streckungsmitteln.“ Ich
habe mich mächtig darüber gefreut, aber ich ſchämte mich, als ich dann an das
Verhalten des Reichsgeſundheitsamtes in ſolchen Fragen dachte. Ich brauche
ja nur an die Auslaſſungen über das Goloverfahren zur Bleichung von Mehl
zu denken, um zu empfinden, wie weit wir hier in Deutſchland von einem wirt.
lichen Verſtändnis für alle dieſe Fragen entfernt ſind. Wird es wohl einmal
beſſer werden?
Walter Bohm:
Richtlinien zur Schöpfung deutfchen Bodenredts
(Gleichzeitig eine Beſprechung des Buches von Pest: „Das Anerbenredht”)
Von verſchiedenen Seiten ift in der letzten Zeit zur Frage des An-
erbenrechts Stellung genommen worden, deſſen Notwendigkeit ins-
beſondere R. Walther Darré ſeit Jahren verfochten hat. Wir haben
daher unſeren Mitarbeiter Walter Bohm gebeten, ſeine perſönlichen
Gedanken zu dieſem Thema als Grundlage zu einer Ausſprache zu⸗
ſammenzufaſſen und bitten um dieſe. H. R.
Im Adelsbuch *) ſtellt R. Walther Darré für ein deutſches Bodenrecht
Mindeſtforderungen auf mit den Worten: „Jedes Bauernrecht iſt im Grunde
) N. Walther Darré: „Neuadel aus Blut und Boden“, J. F. Lehmanns Ver-
lag, München.
520 Walter Bohm
gut, welches die hypothekariſche Belaſtung des Hofes begrenzt, die Anteilbar⸗
keit des Hofes ausſpricht, das Anerbenrecht geſetzlich feſtlegt und dafür ſorgt,
daß die Auszahlung der weichenden Erben nur im Nahmen der wirtſchaftlichen
Tragfähigkeit des Hofes erfolgt“. Darüber hinaus aber geht ſeine Maximal ⸗
forderung: Der Hegehofl Der Hegehof fol ein Landgut fein, entſprechend
etwa der altgermaniſchen Großhufe, einem Großhofe, auf dem der edelfrete
(ſchöffenbare) Bauer ſeinem landwirtſchaftlichen Beruf nachging, einem Groß-
bofe, der aber neben dem landwirtſchaftlichen Berufe dem Hofbeftter (Hovet⸗
ling, Hövedmann) die Möglichkeit verſchaffte, auf feine eigenen Koften und
auf eigene Gefahr hin am Kriegsdienſt des Reiches teilzunehmen, im Ehren⸗
amt den Gerichtsdienft und die Selbſtverwaltung des Landes zu beſtreiten
und an den Reichs⸗ und Landesverſammlungen, am Königsthing und am
Gauthing, teilzunehmen. Solch eine Großhufe umfaßte im altdeutſchen Gebiet
etwa 75 ha nebft der entſprechenden Allmendeberechtigung (3. B. Hutungs⸗
gerechtſame, Holzgerechtigkeit, Jagd⸗ und Fiſchereirecht) in der gemeinem Mark.
Heute müßten wir unter Geriidfidtigung aller Veränderungen, die die Zeiten
mit ſich brachten, wohl ſagen, daß der der alten Großhufe entſprechende Hof
je nach feiner Lage und der Güte des Bodens etwa 75 bis 750 ha umfaſſen
müßte, allerdings einſchließlich Wald, Wieſe und Weide. Ein ſolcher Hof gibt
ſeinen Herren die Möglichkeit zur perſönlichen Ausübung des großbäuerlichen
Berufes, zur Wahrnehmung der ehrenamtlichen Selbſtverwaltung und zum
freiwilligen Heeresdienſt. Das letztere iſt beſonders wichtig; denn wenn wir
wohl auch an dem Berufsheer, unſerer Reichswehr, dem Heere der Zukunft,
werden feſthalten müſſen, ſo bleibt doch darüber hinaus unſere unverrückbare
Forderung, neben den Berufskrieger wieder das Volksheer zu ftellen, dem
freien deutſchen Manne die Waffenehre wiederzugeben; und niemand iſt
berufener, dem Volksheer die Führerſchaft zu ſtellen, als der Freibauer.
R. Walther Darré fordert nun, daß am Hegehof dem Hofbefiger kein
gemeinrechtliches Eigentum (proprietas) zuſtehen ſoll, ſondern nur ein deutſch⸗
rechtliches erbliches Nutzungsrecht (die Gewere), wohingegen das eben
deriſche Eigentum der Standesgenoſſenſchaft zuſtehen fol. Auf dem Hegehofe,
der nicht verkauft oder belaſtet werden kann, ſoll nur geſetzliche Erbfolge mög⸗
lich ſein, doch ſoll der Vater zu ſeinen Lebzeiten oder teſtamentariſch aus der
Zahl ſeiner Söhne, wenn kein Sohn vorhanden, der Töchter, ſeinen Nach⸗
folger, den Tüchtigſten, ſelbſt beſtimmen, und er foll — falls er das ſechzigſte
Lebensjahr erreicht — mit Vollendung dieſes Jahres ſeinem Nachfolger den
Hof übergeben und ſelber aufs Altenteil ziehen. Der Erbe übernimmt den Hege⸗
hof wie ein öffentliches Amt, genau ſo wie ſein Vater gewiſſermaßen als
Amtswalter auf dem Hofe geſeſſen hat. Eine gemeinrechtliche Erbſchaft
tritt hier ebenſowenig ein, wie wenn etwa nach Emeritierung eines Profeſſors
oder Pfarrers deſſen verdienter Sohn nun zum Lehrſtuhl, zur Kanzel des
Vaters berufen wird. And daraus folgt, daß der neue Hofbeſitzer auf dem
Hegehofe ſeinen Geſchwiſtern ebenſowenig eine Abfindung zu zahlen hat, wie
etwa der neue Profeſſor oder Pfarrer nun ſeinen nicht zu Lehrſtuhl oder
Predigtamt berufenen Geſchwiſtern zur Abfindung verpflichtet wäre. Alle
Söhne ſollen eine ordentliche Berufsausbildung, alle Töchter eine anſtändige
Ausſteuer erhalten; aber ein gemeinrechtliches Erbrecht am Hegehof ſoll nicht
beſtehen. Stirbt der Hofbeſitzer ohne Kinder, Enkel, Arenkel, oder will kein
Kind den Hof übernehmen, ſo ſällt er an die Standesgenoſſenſchaft zurück, die
Richtlinien zur Schöpfung deutschen Bodenrechts _ 521
ihn dem erſten Hofbefiger anvertraut hatte. Der Staat vergibt in Abereinſtim⸗
mung mit der Standesgenoſſenſchaft den Hof wieder nach dem geſchilderten
Recht einem Volksgenoſſen, der als der Beſte und Tüchtigſte durch feine Gee
währung im N gegen den Feind, im Lebenskampfe, im Führerberuf,
erkannt worden ift. Und fo ſoll auf den Hegehöfen die Pflege bewährten deut⸗
ſchen Blutes gewährleiſtet, gehegt werden, ſollen die GVeften des Volkes, die
Edelinge, mit Haus und Hof belehnt werden, ſo ſoll ſich aus gutem deutſchem
Blute durch immer wieder im Leben bewährte Tüchtigkeit, erprobt auf den
Hegehöfen, ein neuer Bauernadel bilden, befähigt, dem deutſchen Volke den
Führernachwuchs fiderguftellen, ein Bauernadel, der durch die immer wieder
ins Volk zurücktretenden nichterbenden Geſchwiſter aufs engſte mit dem Volke
in Verbindung bleibt, ein deutſcher Adel, in den jeder tüchtige und im Führer⸗
beruf bewährte Volksgenoſſe aufſteigen kann. In welcher Weiſe die Standes⸗
enoſſenſchaft die Aufficht führen, wie die Pflicht zur Eheſchließung, zur
Familiengeiindung, zur treuen Erfüllung aller Hegepflichten überwacht werden
ſoll, insbeſondere auch woher das Land kommen wird, welche alten Geſchlechter
mit ihren Höfen in den Verband aufgenommen werden können, welche neuen
Leute dazukommen ſollen, das alles auseinanderzuſetzen, verbietet uns hier der
Raum. Wir empfehlen aber jedem Agrarpolitiker, jedem Gelehrten und über⸗
haupt jedem Volksgenoſſen, der um ein deutſches Bodenrecht, um deutſches
Bauernrecht ringt, ſich eingehend mit R. Walther Darrés Adelsbuch „Neu-
adel aus Blut und Boden“ bekannt zu machen. Für den Laien bemerken wir,
daß das Buch große Richtlinien gibt und Fernziele zeigt, ſeiner Zeit alſo
voraneilt. Was davon ſchon jetzt durchgeführt werden kann, das iſt eine Frage
der praktiſchen Politik. Hervorgehoben muß aber werden, daß Ungarns Reids-
verweſer Horthy uns bereits mit der ungariſchen Heldenſiedlung vorangegan⸗
gen iſt; und unſere Politiker ſollen zuſehen, daß Deutſchland nicht auch in
der Siedlungsfrage, in der radikalen Abkehr von römiſch⸗- rechtlichen Anſchau⸗
ungen und in der Neuſchöpfung eines nordiſchen Vodenrechtes hinter anderen
Völkern zurückbleibt. Die Zeit eilt; und der Morgen beginnt zu grauen. Die
Frage nach Leben oder Sterben des deutſchen Volkes muß beantwortet werden,
wenn der Tag anbricht.
And noch etwas muß hervorgehoben werden, und das iſt für Darré etwas
Selbſtverſtändliches: Im nordiſchen Männerſtaat ſteht immer das Weib als
Herrin im Mittelpunkt von Haus und Hof, findet das Weib als Frau und
Mutter ſeinen Beruf, und es iſt die verdammte Pflicht und Schuldigkeit des
Mannes, das Weib dieſem Beruf 5 ihm diefen Beruf zu ermög⸗
lichen. Ein König ohne Königin, ein Bauer ohne Bäuerin ſind dem deutſchen
Volke undenkbar. Eine Freiheit zu heiraten oder nicht zu heiraten, gibt es
nicht. And fo ift denn auch auf dem Darréſchen Hegehof ein unverheirateter
Hofbeſitzer undenkbar. Freilich ſoll der Hofbeſitzer (wie jeder andere deutſche
Mann) anftändig heiraten, d. h. ein Mädchen, das feiner wert iſt. And die
Eheſchließung des Erben auf dem Hegehofe fol der Genehmigung der Standes-
genoſſenſchaft unterliegen, ſo wie ehedem für den preußiſchen Offizier zur Ehe⸗
ſchließung die durch die Hand des Kommandeurs zu erbittende königliche
Genehmigung notwendig war. And damit hier kein Irrtum entſteht: Ein
„Kommißvermögen“ wird nicht gefordert, im Gegenteil, es iſt unerwünſcht.
Der Hegehof gewährt die Ackernahrung für die Familie. Nur die perſönliche
Tüchtigkeit und Fähigkeit der Braut zur Erfüllung ihrer fraulichen und mütter-
522 Walter Bohm
lichen — aber auch herrſchaftlichen — Pflichten wird maßgebend fein. Und
damit iſt auch das Zweikinderſyſtem auf dem Hegehof undenkbar. And ein
Hofbefitzer, der böswillig die Kinderzahl beſchränkt, den fein Weib nicht von
ſolcher Miſſetat, ſolchem Verbrechen am Volke fernhält, ein ſolcher Böſewicht
wird von der Standesgenoſſenſchaft nicht auf dem Hofe geduldet werden, und
er muß zugunften eines tüchtigeren Geſchwiſters oder Geſchwiſterkindes vom
Hofe weichen, ohne Entſchädigung natürlich!
Doch nun wollen wir uns wieder den von Darré übermittelten Mindeft-
„ für ein deutſches Bodenrecht zuwenden: „Jedes Bauernrecht ift
m Grunde gut, welches die hypothekariſche Belaſtung des Hofes begrenzt, die
Anteilbarkeit des Hofes ausſpricht, das Anerbenrecht geſetzlich feſtlegt und
dafür ſorgt, daß die Auszahlung der weichenden Erben nur im Rahmen der
wirtſchaftlichen Tragfähigkeit des Hofes erfolgt.“ Dieſer klar wie ein Kanon
des Kirchenrechtes formulierte Satz muß jedem Agrarpolitiker als Richtſchnur
dienen, der ſich mit der Frage des Bodenrechtes beſchäftigt, den Weg zu einem
deutſchen Bodenrecht bahnen will. And viele deutſche Volksgenoſſen ringen
heute mit dieſem Gedanken. Iſt es doch ein ſchönes Ziel für den deutſchen
Juriſten, mitzuhelfen an der Abſtellung der Schäden, die römiſches Recht dem
deutſchen Bauern zugefügt hat, mitzuarbeiten an der Wiederherſtellung deut⸗
{hen Bodenrechtes.
So liegt auch uns eine Arbeit von Ludwig D. Pest vor, betitelt „Das
Anerbenrecht“, erſchienen in Friedrich Manns Pädagogiſchem Magazin in
den Schriften zur politiſchen Bildung bei Hermann Beyer und Söhne (Beyer
und Mann), Langenſalza, 1932. Der Verfaſſer, Doktor der Rechte und der
Staatswiſſenſchaften und Profeſſor der Nationalökonomie an der Aniverſität
Würzburg, gibt zunächſt eine geſchichtliche Aberſicht über Anerben⸗ und Alten-
teilsrecht in älterer und neuerer Zeit, ſtellt dann den Inhalt des geltenden
Anerbenrechtes dar und macht Vorſchläge zur Neuregelung, faßt das Ergebnis
ſeiner Arbeit zuſammen und ſtellt dann Leitſätze de lege ferenda (für Neu-
ſchöpfungen) auf, mit denen wir uns an Hand der Darréſchen Richtſchnur
auseinanderſetzen wollen. Ludwig D. Pesl gedenkt in der genannten Arbeit
auch der Stellungnahme des Nationalſozialismus zum Anerbenrecht — er
zitiert Darrés „Bauerntum als Lebensquell der nordiſchen Raſſe“ und das
von uns oben ſchon mehrfach erwähnte Darreihe Adelsbuch „Neuadel aus
Blut und Boden“ und ſchließt feine Arbeit mit den Worten: „Die Landwirt⸗
chaft iſt die Grundlage unſerer nationalen Wirtſchaft. Wir müſſen unter allen
mſtänden unſere Landwirtſchaft retten aus wirtſchaftlichen, ſozialen und
politiſchen Gründen. Der Landwirt klebt an der Scholle, heißt es mit Recht;
ſorgen wir dafür, daß er es auch weiterhin kann und nicht zugrunde geht. Auch
die Neuregelung des Anerbenrechtes iſt eines der Mittel zur Erhaltung unſeres
Bauernſtandes. Nicht privatwirtſchaftliche Intereſſen verlangen die allgemeine
Einführung des Anerbenrechtes, ſondern die Intereſſen unſerer ganzen Volks⸗
wirtſchaft. Der Bauer ſoll noch mehr als in der Vergangenheit auf feiner
Scholle geſichert ſitzen, zum Segen unſeres Volkes.“
Wir wollen zunächſt dankbar anerkennen, daß Pesls Arbeit durchaus
bauernfreundlich gehalten iſt, wenngleich er doch das Weſen des Bauern nicht
ganz erkannt hat. Zunächſt etwas Außerliches: Wir leſen immer wieder das
Wort „Gutseigentümer“, wenn es nach unferem Gefühl „Bauer“ hätte heißen
milffen. Vielleicht hat Pesl das Wort „Gutseigentümer“, das in der Am⸗
Richtlinien zur Schöpfung deutschen Bodenrechts 523
gangsſprache bisher glücklicherweiſe unbekannt geblieben ift, gewählt, um fich
juriſtiſch korrekt auszudrücken, weil ja dem Juriſten „Bauer“ heute kein Begriff
iſt; dann hätte es aber doch beſſer „Gutsherr“ geheißen; denn dieſes Wort iſt
juriſtiſch korrekt und auch in der Amgangsſprache bekannt. Beſſer wäre es aber
eweſen, Bauer zu ſagen und in einer Anmerkung oder in Klammern dem
uriſten mitzuteilen, daß unter dem Bauern hier immer der Herr (dominus)
des fraglichen kleinen oder großen Gutes (Acker⸗, Forſt⸗ oder Weinbergs⸗
nahrung) gemeint ſei. Wer ein neues Bauernrecht ſchaffen will, muß auch den
Mut haben, den Bauern beim rechten Namen zu nennen. And in dem genann⸗
ten juriſtiſchen Sinne wollen wir nun weiter das Wort Bauer, den Ehren⸗
namen unferes Standes, gebrauchen. Dann aber ſetzt Pest die Worte Land-
wirt und Bauer noch gleich; und das ſollte kein Gelehrter mehr tun, ſeitdem
an bot: Anterſchiede zwiſchen Landwirt und Bauer ſo ſcharf herausgear⸗
eitet hat:
„Bauer iſt, wer in erblicher Verwurzelung ſeines Ge⸗
ſchlechts mit Grund und Boden fein Land beſtellt und feine
Tätigkeitals eine Aufgabe an feinem Geſchlecht und an fei-
nem Volke betrachtet.“
„Landwirt iſt, wer ohne erbliche Verwurzelung ſeines
Geſchlechts mit Grund und Boden fein Land beſtellt und in
dieſer Tätigkeit nur eine Aufgabe des Geldverdienens
erblickt.“
Wir verweiſen des weiteren auf die Aufſätze Darrés „Das Ziel“ und
„Bauer und Landwirt“ im Suli- bzw. Auguſt⸗Heft der Deutſchen Agrarpolitik,
Jahrgang 1932.
And Pesl meint ja auch den Bauern, wenn er ſchreibt: „Der Landwirt
klebt an der Scholle... Er wollte ſagen: „Der Bauer klebt an der Scholle“.
Denn für den Landwirt, der nicht zugleich Bauer iſt, iſt die Wirtſchaft ja
nur ein beliebiger „Betrieb“, eine beliebige Unternehmung, der Hof eine Vee
triebsſtätte, die man beliebig verkaufen kann, die man vom Standpunkte des
Geldverdienens aus verkaufen muß, wenn man vom Erlös anderswo einen
vorteilhafteren „Betrieb“ kaufen kann, den man auch verkauft, ſobald man ſich
mit dem erlöſten Gelde vorteilhafterweiſe ins Privatleben zurückziehen kann.
Der Bauer aber iſt nie Privatmann, ſo wenig wie ein König je Privatmann
ſein kann. And wenn der Bauer ſeinen Hof verkauft, ſo hört er eben auf,
Bauer zu ſein. „Den Hof hat der Bauer von ſeinen Vorfahren erhalten und
betrachtet ihn als von Gott zu treuen Händen verliehen. Er fühlt ſich verant-
wortlich für die rechte Bewirtſchaftung. Er lebt und wirtſchaftet auf dem Hofe,
ſeinem Hofe, in guten und ſchlechten Tagen. Er arbeitet, ſpart und darbt und
kämpft um die Erhaltung ſeines Hofes, um ihn dereinſt wieder weiterzugeben
an ſeinen Sohn.“ Dieſe Sätze Pesls müſſen wir durchaus bejahen; wenn er
dann aber für dieſen ſelben Bauern das römiſch⸗-rechtliche Eigentum (proprie-
tas) an ſeinem Hofe fordert, das Recht, den Hof beliebig verpfänden, ja ſogar
verkaufen zu dürfen, dann fehlt uns jedes Verſtändnis für ſo widerſprechende
Ausführungen. Entweder iſt der Bauer Gottes Lehnsmann, ſein Hof ihm
„von Gott zu treuen Händen verliehen“, oder er iſt es nicht; wenn nicht, dann
iſt aber der Hofbeſitzer ein beliebiger Privatmann, kein Bauer, der mit ſeinem
gemeinrechtlichen Privateigentum tun und laſſen kann, was er will. Bauer
524 Walter Bohm
und König aber find nie Privatleute. So bleibt dem Verfaſſer mit Bezug auf
dieſe Dinge nur übrig, an Ludwig D. Pesl Goethes Natſchlag zu richten:
„Mein guter Freund, ich rat Euch drum,
Zuerſt Collegium Logicum.“
Schließlich wäre dazu auch noch zu bemerken, daß es in Deutſchland in
gemeinrechtlicher Zeit kaum noch wirkliche Freibauern gegeben hat, daß aber
ur Zeit des echten Freibauerntums die proprietas, das römiſch⸗ rechtliche
Bede gen en unbekannt war, und daß anſtatt deſſen dem Freibauern nur
ein erbliches Nutzungsrecht (die Gewere) an ſeinem Hof, an ſeiner Hufe, zu⸗
geftanden hat. Mit Bezug auf die römiſch⸗ rechtliche (gemeinrechtliche) Eigen-
tumsforderung alſo können wir Pesl nicht zuſtimmen. Dagegen iſt ſeine For⸗
derung, jede ſelbſtändige Ackernahrung und die entſprechenden Forſt⸗ und
Weinbergs⸗Güter von Geſetzes wegen zu Anerbengütern zu machen und auf
dieſen Anerbengütern nur geſetzliche Erbfolge zuzulaſſen, bereits nach unſerem
Sinne. Ebenſo können wir ſeinem Vorſchlage, wonach die Miterben keinen
Rechtsanſpruch auf Barauszahlung ihrer Abfindung haben, vielmehr mit
Rente und Amortiſation abgefunden werden ſollen, zuſtimmen. And gleichfalls
müſſen wir zuſtimmen Pesls Forderung, daß dieſe Rente bei kataſtrophal
finfender Vermögensrente des Bauern dieſer bäuerlichen Vermögensrente
angepaßt werden müßte, ſo daß alſo der Bauer nur ſoviel anteilig den Mit⸗
erben auszuzahlen hat, wie er ſelbſt bet ordentlicher Bewirtſchaftung an Rente
aus dem Hofe erzielen kann. Eine entſprechende Forderung hat mit Bezug
auf die auf unſeren Landgütern laſtenden Hypothekenzinſen in Abereinſtim⸗
mung mit Claus Heim bereits Walter zur Ang nad in feinen „Deutſchen
Freibauern, Kölmern und Koloniſten“ erhoben. Aber dieſe Forderung hat
trotz mancher diesbezüglichen Notverordnung noch keinen rechten Erfolg gehabt.
Während die bäuerliche Vermögensrente heute vielleicht 2% beträgt, muß die
deutſche Landwirtſchaft nach einer Mitteilung in der Nationalſozialiſtiſchen
Landpoſt vom 23. 10. 32 immer noch durchſchnittlich 7,2% Zinſen zahlen, fo
daß wir auch an dieſer Stelle wie immer und überall die Brechung der Zins⸗
knechtſchaft zu fordern gezwungen ſind; und in dieſer Sache hat es allerdings
längſt zwölf Ahr geſchlagen.
Doch um nun zu der Peslſchen Arbeit zurückzukehren, ſo wollen wir allen
Intereſſenten angelegentlichſt empfehlen, ſie ſelber zu leſen, um Pesls Gedan⸗
ken kennenzulernen und ſich das umfangreiche Material anzueignen. Wir
können hier nicht alles einzeln vortragen, weil der in einer Monatsſchrift zur
Verfügung ſtehende Raum das verbietet.
Zum Schluß unſerer Arbeit wollen wir nun aber kurz zuſammenfaſſend
mitteilen, welche Maßnahmen wir denn zur Erreichung der Mindeſterforder⸗
niſſe eines deutſchen Bodenrechtes, das heißt Bauernrechtes, gutheißen wür⸗
den, und wir wollen folgende Theſen aufftellen:
1. Alle in den Landkreiſen gelegenen Ackernahrungen einſchl. der entſprechen⸗
den Forſt⸗ und Weinbergs⸗Güter können auf Grund eines entſprechenden
Geſetzes auf Antrag des Eigentümers dem Anerbenrecht unterſtellt werden.
Wir ſchlagen für ſolche Anerbengüter den Namen „Erbhof“ vor; ihr Beſitzer
heißt „Bauer“. —
2. Für alle dieſe Güter (Erbhöfe und Hegehöfe) iſt Verkauf, Verpfändung
und Verfügung von Todes wegen ausgeſchloſſen.
Richtlinien zur Schöpfung deutschen Bodenrechts 525
3. Dem Bauern ſteht es frei, unter feinen Söhnen, find keine vorhanden,
unter feinen Töchtern, beim Fehlen von Kindern unter den ſonſtigen geſetz⸗
lichen Erben den Anerben zu beſtimmen; es iſt ihm unbenommen, ſchon zu
Lebzeiten gegen Gewährung eines Altenteils den Hof dem Anerben zu über⸗
geben. Auch die Witwe des Bauern iſt altenteilsberechtigt. Den nicht zu Hof⸗
erben berufenen Geſchwiſtern hat der Vater eine angemeſſene Berufsausbil-
dung bzw. Ausſteuer zu gewähren.
4. Schlägt der Anerbe das Anerbenrecht aus, fo geht es auf den näͤchſtberech⸗
tigten Anerben über, wofern nicht der Bauer für dieſen Fall einen anderen
Anerben beſtimmt hat. Schlagen alle Erben das Anerbenrecht aus oder iſt außer
dem Staat kein geſetzlicher Erbe vorhanden, ſo fällt das Gut dem Staate zu,
der es als Anerbengut neu auszugeben hat.
5. Dem Anerben ſteht als erbſchaftsſteuerfreies „Voraus“ die Hälfte des
Nutzungswertes des Anerbengutes zu.
6. Die Geſchwiſter des Anerben teilen ſich in die andere Hälfte. Kein Mit⸗
erbe kann die Barauszahlung feines Anteils verlangen, vielmehr muß er ſich
mit Rente und Amortiſation zufrieden geben. Der Anerbe kann aber jederzeit
die Miterben voll auszahlen.
7. Die den Miterben zuſtehende Rente wird entſprechend der Vermögens-
rente des Bauern feſtgeſetzt. Fällt die bäuerliche Vermögensrente nachhaltig
oder kataſtrophal, ſo kann der Anerbe die entſprechende Herabſetzung der von
ihm den Miterben zu zahlenden Rente verlangen.
8. Das Anerbengut darf nur ſoweit geteilt werden, als die Teilſtücke ſelb⸗
ſtändige Nahrungen bleiben; im Falle ſolcher Teilungen ernennt der Bauer
unter den geſetzlichen Erben die Anerben.
9. Sofern der Miterbe dem Anerben gegenüber auf Amortiſation ſeines
Erbteils verzichtet, alſo ſein Kapital im Anerbengute ſtehen läßt, ſoll er außer
dem Wohnrecht auf dem Hofe ein Recht auf ſtandesangemeſſene Arbeit im
Haus- und Wirtſchaftsbetrieb haben, fo wie fie Bruder oder Schweſter, Onkel
oder Tante, Mutter oder Großmutter des Herrn und Bauern zukommt, und
zwar gegen ortsübliche Vergütung. And neben dieſer Vergütung ſollen ihm
die auf ihn entfallenden 1 ſeines Erbteils regelmäßig ausgezahlt werden.
Iſt zwiſchen dieſem Miterben und dem Bauern nichts anderes vereinbart
worden, ſo ſällt nach dem Tode des Miterben ſein im Anerbengute ſteckendes
Miterbe dem Bauern oder Anerben oder, ſoſern kein Anerbe vorhanden, dem
Staate zu; es tritt dann alſo das alte deutſche Heimfallsrecht in Kraft.
Nach dieſen Richtlinien müßte das Reichsgeſetz betr. die Anerbengüter aus-
gearbeitet werden. Und nach Erlaß eines ſolchen Geſetzes und des von R. Wal-
ther Darré gedachten Hegehofgeſetzes würden wir dann folgende Landgüter in
Deutſchland kennen: 1. Domänen, 2. Hegehöfe, 3. Erbhöfe, 4. Büdnereien
und Häuslerſtellen. And nur die letzteren, die Büdnereien und Häuslerſtellen,
blieben im freien Markt als gemeinrechtliches Eigentum ihrer Inhaber. And
dagegen ließe ſich auch vom Standpunkt des anzuſtrebenden deutſchen Boden-
rechtes nichts ſagen, weil dieſe Kleinſtellen ja nur das Sprungbrett ſein ſollen,
von dem aus der kleine Mann, wenn vielleicht auch erſt in Generationen, ins
Bauerntum, den eigentlichen deutſchen Landſtand, aufſteigen fol; der Prüf.
ſtein aber darf nicht geſetzlich gebunden fein, ſondern muß jedem, der die Prü⸗
fung wagen will, zugänglich ſein, wie ja auch in deutſchrechtlichen Zeiten immer
526 Fritz Zweigelt
genügend freies Land zur Anlage von Büdnereien und Häuslerftellen zur Vere
fügung geſtanden hat.
And wenn es vielleicht auch noch lange dauert, bis die von R. Walther
Darré im Hegehofgedanken geſteckten Fernziele erreicht werden, wenn manches
vielleicht auch ein unerreichbares Ideal bleibt, unter allen Amſtänden wird es
bei gutem Willen möglich ſein, die Mindeſtforderung Darrés durchzuſetzen,
die Forderung nach dem deutſchen Bodenrecht, deren Leitſatz wir hier als
Schluß unſeres Aufſatzes, damit er ſich allen recht feſt einprägt, nochmals wie⸗
derholen wollen:
„Jedes Bauernrecht iſt im Grunde gut, welches die hypo⸗
thekariſche Belaſtung des Hofes begrenzt, die Unteilbar-
keit des Hofes ausſpricht, das Anerbenrecht geſetzlich feſt⸗
legt und daſür ſorgt, daß die Auszahlung der weichenden
Erben nur im Rahmen der wirtſchaftlichen Tragfähigkeit
des Hofes erfolgt.“
Fritz Fweigelt:
Die Zukunft der Direktträgerfrage im mitteleuropäiſchen
Weinbau
Es gibt kaum eine zweite Frage im Weinbau, die ſeit einer Reihe von
Jahren mit ſolcher Wucht aufgetreten iſt und zugleich ſo große Schwierig⸗
keiten wie Gegenſätze der Meinungen gebracht hat, wie die Direktträger⸗ oder
Hybridenfrage: Wollen wir den Hybridenbau reſtlos und für alle Zukunft ver⸗
bieten, ſollen oder dürfen wir ihn jetzt oder ſpäter unter beſtimmten Bedin⸗
gungen zulaſſen, was iſt die Folge, wenn andere Länder ganz oder teilweiſe
zum Hybridenbau übergegangen fein werden, Oſterreich und Deutſchland
aber nicht.
Vorerſt einige Worte der Aufklärung für diejenigen Leſer, die der Sache
etwas ferner ſtehen: Was find Hybriden? Hybriden find ganz allgemein
Kreuzungen zwiſchen verſchiedenen Sorten oder eventuell Arten. Nachdem es
außer der ſortenreichen europäiſchen Edelrebe zahlreiche amerikaniſche Wild⸗
reben gibt, aber auch amerikaniſche Rebſorten, die zum Genuß Verwendung
finden, ſind hier ſchon dreierlei Kreuzungen möglich. Woher und ſeit wann
aber haben wir im Weinbau Hybriden? Ihr Erſcheinen hängt auf
das engſte mit dem Hereinbrechen größerer Schädlingskataſtrophen zuſammen.
Das verheerende Auftreten der Reblaus in Europa in den ſechziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts und die in ihrem Gefolge reißende Vernichtung von
hunderttauſenden Hektar Weinlands erheiſchte durchgreifende Maßnahmen. Der
Franzoſe Planchon hat 1873 von feiner Studienreiſe durch Nordamerika zahl⸗
reiche Rebſorten mitgebracht, darunter auch Hybriden zwiſchen amerikaniſchen
Die Zukunft der Direktträgerfrage im mitteleuropäischen Weinbau 527
Wildreben und Edelreben, von deren unmittelbarer Verwendung infolge von
Nichtanfälligkeit er ſich die Aberwindung der Neblauskataſtrophe verſprach,
während die Wildreben als Anterlagsreben gedacht geweſen waren, auf denen
die bisherigen Edelſorten veredelt werden ſollten. Dieſe amerikaniſchen Hybri⸗
den würden ſonach, ohne veredelt werden zu müſſen, brauchbare Trauben geben,
ſie würden direkttragend verwendet werden können. Von den Hybriden
unter den Rebſorten würden alſo bloß die Direktträger für unſere beſon⸗
dere Frage in Betracht kommen: Sie vereinigen in ſich die Widerſtandsfähig⸗
keit gegen die Reblaus von der Wildrebe her mit der Güte des Erzeugniſſes
von der Edelrebe her.
In den ſiebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ſind alſo zahlreiche ameri⸗
kaniſche Hybriden nach Frankreich und damit auch in das übrige Europa ge⸗
kommen. Ihre Beſprechung würde den Rahmen dieſes Themas weit über⸗
ſchreiten. Im großen und ganzen haben ſie außerordentlich enttäuſcht. Die Reb⸗
lausfeſtigkeit war nur eine bedingte, in wenigen Jahren ſind viele Pflanzun⸗
gen zugrunde gegangen, dazu vertrugen ſie viele Böden überhaupt nicht und,
was das entſcheidende war, die Güte der Trauben und des Weines war ſo
minderwertig, daß der Verbraucher ſie wegen des widerlichen Fremdgeſchmackes
(Himbeer Wanzengeſchmach) ablehnte.
Dieſe Mißerfolge riefen franzöſiſche Züchter auf den Plan, einheitliche
und beharrliche Züchtungsarbeit ſollte auf dem Wege wiederholter und ſchwie⸗
riger Kreuzungen die verſchiedenen Mängel überwinden. Anter den zahlreichen
Züchtern leuchten beſonders zwei Namen hervor: Couderc und Seybel.
Kaum waren einige Jahre vergangen und ſchon begründete Ausſicht vorhan⸗
den, auf dieſem Wege die Reblausfrage zu löſen, als eine neue Geißel den
Weinbau heimſuchte: Die Peronoſpora oder der falſche Meltau. Was
die Reblaus übriggelaſſen hatte, fiel der Peronoſpora zum Opfer. Die Chemie
trat auf den Plan, und ſchließlich find in den Kupferkalkpräparaten Subſtanzen
gefunden worden, die Ausſicht boten, den Pilz wirkſam zu bekämpfen. Aber
auch hier gab es viele Enttäuſchungen, und die Tatſache, daß gewiſſe amerika⸗
niſche Reben peronoſporafeſt ſind, haben frühzeitig die Züchter, dieſelben, die
fih eben die Reblausſeſtigkeit zum Ziel geſetzt hatten, veranlaßt, ſich auch mit
der Peronoſpora zu befaſſen. So ſind die bisherigen Arbeitserfolge über den
Haufen geworfen worden, das Hauptzuchtziel wurde die Pero-
noſporafeſtigkeit, das Intereſſe für die Neblausfeſtigkeit trat zurück,
weil man inzwiſchen im Veredlungs verfahren ein brauchbares Mittel zur
Aberwindung der Reblausfrage gefunden hat. Anders liegen die Dinge in
Deutſchland ſelbſt, wo das Vernichtungsverfahren ſolange in Geltung
bleibt, bis eine allgemeine Amſtellung der Weinberge ohne Gefahr möglich ſein
wird. Daß in dieſem ſchwierigen Zeitabſchnitt nur Anterlagen und Direktträger
Verwendung finden können, die ſich als praktiſch immun gegen die ſchon be-
kannten oder noch zu entdeckenden Reblausraſſen erweiſen, iſt ſelbſtverſtändlich.
Der Name „Hybriden“ iſt nach der ganzen Sachlage zu allgemein, der Name
„Direktträger“ hat bei der Betonung der Peronoſporawiderſtandsfähigkeit
ſeinen eigentlichen Sinn verloren, er hat ſich indeſſen ſo eingebürgert, daß wir
ihn wohl beibehalten können; eine zutreffende Bezeichnung für dieſe Gruppe
von Sorten haben wir heute noch nicht.
528 Fritz Zweigelt
Wie fieht es nun um alle die Direktträger aus?
Wir werden nicht fehlgehen, wenn wir die Zahl der bisher geſchaffenen
Züchtungen auf etwa 20 000 ſchätzen. Viele haben ein unbeachtetes Daſein ge⸗
führt und ſind von der Bildfläche wieder verſchwunden, andere haben eine ver⸗
hältnismäßig gute Verbreitung gefunden, in Frankreich ſelbſt, aber auch in
anderen ſüdlichen Weinbauländern. Neben einer Verbreitung dieſer verſchie⸗
denen franzöſiſchen Hybriden hat aber auch eine ſolche der alten amerifa-
niſchen Direktträger wie Noah, Iſabella, Othello und anderer ſtattgefunden,
und beſonders die Nachkriegszeit hat das Weinbaubild ganzer Länder um⸗
gewandelt. Die Bodenreform, die in Jugoſlawien und Rumänien den Groß-
grundbeſitz zum großen Teile zerſchlagen und die Gründe Kleinbefitzern zu⸗
ewieſen hatte, hat bei dem Mangel an geſetzlichen Veſtimmungen gegen die
ybriden auf dieſen neuen Beſitzungen Direktträgerweingärten wie die Pilze
aus dem Boden ſchießen laſſen, was eine unheimliche Abererzeugung an
Hybridenwein zur Folge hatte, zum ungeheuren Schaden für die Edelweine, die
einem ſchweren Wettbewerb durch billige Hybridenweine ausgeſetzt, nicht nur
ſelbſt im Preiſe gedrückt waren, ſondern auch unlauteren Machenſchaften mit
ſolchen zum Opfer fielen. In dieſen Fällen handelt es fic faft ausſchließlich um
die alten, minderen, amerikaniſchen Hybriden. Aber auch die ſtarke Zunahme
an Direktträgern in gewiſſen Gebieten von Steiermark nach dem Kriege geht
ebenſo auf alte Amerikanerhybriden zurück (Noah, Othellom Clinton), wie
jene in der Rheinpfalz und in Baden (Kiliansrebe und Taylor). Neuere Züch-
tungen ſpielen daneben eine mindere Rolle: In Deutſchland die Oberlin 595
von dem deutſchen Züchter Oberlin im Elſaß. |
Bevor wir die Frage nach dem Werte der heutigen franzöſiſchen Züchtungen
anſchneiden, find die Gründe zu prüfen für die mächtige Hybriden⸗
werbung, die, wie auf ein gemeinſames Signal, in allen Kulturländern
Europas eingeſetzt und die ihrerſeits die Behörden und Fachleute auf den Plan
gerufen hat, geeignete Maßregeln zu ergreiſen, den heimiſchen Edelweinbau zu
ſchützen und zu unterſtützen. Der Ruf nach dem Direktträger iſt eine
unmittelbare Folge der durch den Krieg geſchaffenen allgemeinen Lage: Die
zunehmende Reblausverſeuchung in Gemarkungen, welche bisher unverſeucht
geweſen waren, oder durch geeignete Maßnahmen wie das Schwefelkohlenſtoff⸗
verfahren in Niederöſterreich zu halten geweſen waren, der Mangel an geeig⸗
neten Bekämpfungsmitteln, ganz beſonders aber der Mangel an Setzreben
und Veredlungen zum Wiederaufbau der durch den Krieg verwahrloſten Wein⸗
gärten, in Rumänien ſpeziell jener, die durch die Kriegsführung ſelbſt zerſtört
worden waren. Dazu kam ein immer kritiſcher werdendes Mißverhältnis zwi⸗
ſchen Geſtehungskoſten und Weinpreis in Verbindung mit einer immer ſchärfer
zutage tretenden Weltweinübererzeugung, ganz beſonders unter dem Drucke
des reißend zunehmenden Weinexportes aus Nordafrika. So ſind die Weltwein⸗
preiſe geſunken, und auch die Inlandspreiſe mußten, da keine hinreichenden Zoll⸗
ſätze einen Ausgleich ſchaffen konnten, nachgeben: Die Weiner zeugung
wurde verhältnismäßig zu teuer. Der Weinbau, einſt die Quelle
des Wohlſtandes, der Wein, einſt die Sparkaſſe des Bauern, wurde un-
rentabel, der Staat mußte und muß mit Beihilfen, mit Winzerkrediten,
mit Stundung von Steuern zu Hilfe kommen, die Exiſtenz des Bauern zu
fihern. Die Rebkultur ift mit einem Schlage zu teuer geworden: Das notwen⸗
dige Veredeln der Reben bedeutete Koſtenauſwand, anteilmäßig großen Ma⸗
Die Zukunft der Direktträgerfrage im mitteleuropäischen Weinbau 529
terialverluft, die Verwendung von Edelreben macht zahlreiches Beſpritzen bzw.
Geftduben gegen die Peronoſpora, gegen das Didium, gegen den Heu⸗ und
Sauerwurm notwendig und vieles mehr.
All das macht das lebhafte Intereſſe für Sorten verſtändlich, die
nicht veredelt, nicht geſpritzt und nicht geſchwefelt zu werden brauchen, und die
doch ein weinähnliches Getränk ergeben: Die Direktträger wurden
als Retter des Weinbaues geprieſen! In Ermangelung anderen
Materials haben die früher erwähnten Gebiete zu den alten amerikaniſchen
Direktträgern gegriffen, geſchäftstüchtige Händler taten das ihrige und kamen
den Intereſſenten auf halbem Wege entgegen. Ein gewiſſer Teil des Wein⸗
handels trat gleichermaßen fördernd auf den Plan und kaufte das an und für
ſich unbrauchbare oder bloß für Haustrunk verwendbare Getränk zuſammen
und braute in feinen Kellereien, zuſammen mit ſtarkem Importwein, jenes
Getränk, welches der weinunkundige Stadtverbraucher in feinen Gaſtwirtſchaf⸗
ten als Tiſchwein vorgeſetzt erhalten hat. Mit dem Gleichmachen des Typus ging
der Geſchmack und das Verſtändnis für den Wein immer mehr verloren. Große
Weinpantſcher, die Obftmoft und Hybridenwein zuſammen zu Wein ver⸗
arbeitet haben, bildeten in Steiermark das Rückgrat der Direktträgerbauern,
ſo daß ſich das groteske Bild ergab, daß die Hybridenbauern beim Eingreifen
des Staatsanwaltes für die Pantſcher leidenſchaftlich Partei ergriffen und der
Juſtitia in den Arm fielen.
Der Betriebſamkeit der Direktträgerbauern der meiſten Länder ftand und
ſteht eine gewiſſe Gleichgültigkeit oder doch mangelnde Schlagkraft der Edel-
weinbauern gegenüber, wozu kommt, daß politiſche Dinge ein entſcheidendes
Wort bekommen und Parteien, bloß um der Stimmen im Direktträgergebiet
willen, ſich der Forderungen der Direktträgerbauern annehmen, dieſe ohne
Rückſicht auf das Geſamtintereſſe des Weinbaues gutheißen und Maßnahmen
zum Schutze des Edelweinbaues geradezu aufheben. Ja, es iſt ſogar vor⸗
l daß aus denſelben Gründen mehrere Parteien gleichzeitig ſich als
nwälte der finnloſen Forderungen der Hybridenbauern aufgeſpielt haben.
Bevor wir von den neueren franzöſiſchen Sorten ſprechen wollen, ſcheint es
notwendig, noch das Bild vorbeiziehen zu laſſen, das die einzelnen
Länder in ihrer Einſtellung zur Hybridenfrage in der Nachkriegszeit dar⸗
ſtellen, aber auch internationaler Vereinbarungen zu gedenken, welche die Ver⸗
treter des Edelweinbaues Europas geſchaffen haben.
In Deutſchland hat die Hybridenfrage ihr beſonderes Geſicht. Neben,
die nicht als vollſtändig reblausfeſt gelten, dürfen ſchon der Reblausgefahr
wegen nicht gepflanzt werden, bzw. ſolche Anlagen müſſen verſchwinden und
umgeſtellt werden. Die ſehr ſtrengen Beſtimmungen des Reblausgeſetzes ſor⸗
gen dafür, daß von ſeiten der Direktträger dem Geſamtweinbau keine Gefahr
erwächſt. Das Weingeſetz hat zunächſt Deklarationszwang und ein Verſchnitt⸗
verbot geſchaffen, ſchließlich ein völliges Verkaufsverbot, um dieſe ſo ganz aus
dem Markte zu verdrängen.
In Oſterreich hat bloß das Burgenland ein teilweiſes Anbauverbot er⸗
laſſen, durch welches beſonders die Noah zum Verſchwinden gebracht wird;
das neue Weingeſetz hat den Deklarationszwang für Hybridenwein und Hybri⸗
denweinverſchnitt eingeführt, um ſo ein Antertauchen dieſer in der Maſſe der
Edelweine zu verhindern. Irgendwelche Sondermaßnahmen in Steiermark ſind
bis jetzt geſcheitert.
530 Fritz Zweigelt
In Sugoflawien befteht ein Anbauverbot, das allmählich gum Were
ſchwinden der Direktträgerpflanzungen führt, was überdies durch beſondere
Banalſteuern beſchleunigt wird. Ferner find die Direktträgerweine einem
Deklarationszwang unterworfen, ihr Handel ſchließlich gänzlich verboten.
Italien hat ſeinerſeits ebenfalls ein Anbau⸗ und Handelsverbot für
Direktträger erlaſſen und für den Ankauf des Weines zunächſt den Deklara⸗
tionszwang eingeführt. Nach dem Jahre 1936 wird ein völliges Verkaufs⸗
verbot erfolgen.
Rumänien hat in einer Reihe von Beſtimmungen den Anbau von Direkt-
trägern verboten, ebenſo iſt ein ſcharfer Deklarationszwang eingeführt worden.
Leider hat Rumänien in jüngſter Zeit aus politiſchen Gründen das Geſetz
weſentlich gelockert und ſo jenem Teil der Weinbauern nachgegeben, die über
die ſchon beſtehenden 109 000 ha, das find 31,7% der Geſamtfläche, hinaus
dieſe Sorten weiter anpflanzen wollen.
Die zwiſchenſtaatliche Zuſammenarbeit hat aber noch weiteren
Ausdruck gefunden: Am Weinbaukongreß in Conegliano 1927 hat die Hybri-
denfrage einen breiten Raum eingenommen. Im gleichen Jahre hat der Ver⸗
ſaſſer dieſer Zeilen zum Hauptreferat über dasfelbe Thema eine Einladung
zum deutſchen Weinbaukongreß nach Dürckheim erhalten. 1929 hat die Hybri-
denfrage am internationalen Landwirtſchaſtskongreß die Verhandlungen der
Sektion Weinbau in Bukareſt beherrſcht. Dort iſt es gelungen, den Vorſtoß
der Hybridenanhänger zum Stehen zu bringen und gemeinſame Richtlinien
auszuarbeiten. Der Verfaſſer dieſer Zeilen hat gleichzeitig ein von ihm zuſam⸗
men mit Profeſſor Stummer verfaßtes grundlegendes Werk über die Direkt-
träger, in dem zum erſtenmal kritiſch das ganze Material verarbeitet worden
war, vorgelegt. In Paris hat der Verfaſſer ſchließlich im Rahmen des inter⸗
nationalen Weinamtes in der Sommerſitzung 1930 über die Hybridenfrage
berichtet und die Zuſtimmung der dort verſammelten zwiſchenſtaatlichen Ver⸗
treter gefunden.
Dieſe Maßnahmen betrafen zum großen Teile auch ſchon die neueren Direkt⸗
träger franzöſiſcher Herkunft, deren Prüfung bereits weit gediehen iſt, wenn
wir uns auch vor Augen halten müſſen, daß bei der Fülle der alljährlichen neu⸗
geſchaffenen Formen ein wirklicher Abſchluß nie erreicht werden kann. In
Frankreich ſelbſt ſpielen die alten Amerikanerhybriden tatſächlich eine viel
geringere Rolle als die neueren Züchtungen, insbeſondere jene von Seibel, die
in Mittelfrankreich, aber auch in etlichen Gebieten von Südfrankreich, wo die
Maſſenweinerzeugung zu Hauſe iſt, Verbreitung gefunden haben. Hat nun
ſchon der maſſenweinbautreibende Süden gegen ein zu ſtarkes Auftauchen ſol⸗
cher Stellung genommen, ſo noch viel energiſcher die Qualitätsgebiete von
Frankreich, welche durch den Schutz der Herkunftsbezeichnung und der Vee
ſchränkung dieſer auf beſtimmte Sorten ein Einſchmuggeln der Direktträger⸗
weine unter die Qualitätsweine auch für den Fall ausgeſchaltet haben, wenn
erſtere innerhalb der gleichen Gemarkung gewachſen ſind. Wir ſehen alſo den
franzöſiſchen Weinbau, insbeſondere den Edelweinbau, in Abwehrſtellung
gegen die Hybriden. Am ſo heftiger tobt auf der anderen Seite die Propaganda
der Hybridenerzeuger, insbeſondere der Rebhändler, die am Verkauf derſelben
unmittelbar intereſſiert ſind.
Ein Arteil über die Brauchbarkeit franzöſiſcher Züchtun⸗
gen für den nördlichen Weinbau iſt nur möglich bei Prüfung von
Die Zukunft der Direktträgerfrage im mitteleuropäischen Weinbau 531
zus in den nördlichen Weinbauländern felbft. Infolgedeſſen haben
ſterreich und die Tſchechoflowakei bereits vor einer Reihe von
Jahren Verſuchspflanzungen errichtet, die allmählich weinbautechniſch geprüft
und deren Erzeugniſſe in gemeinſamen Weinkoſten fachlich beurteilt werden. In
Deutſchland haben Württemberg und insbeſondere Baden im Laufe der
letzten Jahre viel zur Klärung der Frage beigetragen. Daß bei der Schwierig⸗
keit, das komplexe Zuchtziel zu erreichen, eine raſche Löſung nicht erwartet
werden darf und kann, iſt wohl ſelbſtverſtändlich, und lauten auch die meiſten
Gutachten mehr oder weniger hoffnungslos und in der großen Linie ablehnend.
Aber eine Tatſache aber kommen wir nicht hinweg, daß bei allen dieſen
Schwankungen und Rückſchlägen die franzöſiſche Hpbridenzucht dem
noch vorwärts ſchreitet, das heißt, daß heute ſchon Erzeugniſſe vor⸗
handen find, die man, von anderen Mängeln der Pflanze zunächſt abgefehen,
für gewöhnliche Verbrauchszwecke verwenden kann. Einzelheiten über die ge⸗
wonnenen Bilder gehören nicht in den Rahmen dieſes Aufſatzes.
Das urſprünglich verfolgte Ziel der Neblausfeſtigkeit verliert immer mehr
an Intereſſe, wenigſtens für Oſterreich. Und in dem Augenblicke, wo man
zielbewußt auch in Deutſchland zur Veredlung auf amerikaniſcher Anterlage
übergegangen ſein wird, wird auch dort nach völliger Amſtellung des Wein⸗
baues auf Anterlagsreben die Reblausfrage aufgehört haben, eine Rolle zu
ſpielen. Ganz unabhängig von der Reblaus aber hat das Veredeln bei den
meiſten Direktträgern eine weitere Bedeutung: Sehr viele Sorten vermögen
auf eigenem Fuß bloß im Getreideland zu wachſen, auf den Berghängen jedoch
nicht, und aus volkswirtſchaftlichen Gründen müſſen wir es ablehnen, den
Getreidebau vom Weinbau verdrängen zu laſſen.
Es bleibt ſonach unſer Intereſſe auf folgende Fragen vereint: Güte,
Peronoſporafeſtigkeit, Ertrag.
Die Güte gehört zu den ſchwierigſten Fragen im ganzen Bereich
der um den Direktträgerbau gruppierten Probleme, die wenigſten Weine find
wirklich neutral, die meiſten haben fremdartiges ſtörendes Bukett, wieder
andere machen mit zunehmendem Alter des Weins eigentümliche Geſchmacks⸗
veränderungen durch. Alle dieſe Fragen müſſen im einzelnen ſtudiert werden.
Die Güte ſelbſt muß mindeſtens jene der heimiſchen Maſſenträger erreichen,
ſoll Ausſicht auf Verwendungsmöglichkeit ſolcher Sorten beſtehen.
Die Peronoſporafeſtigkeit iſt einer unſerer wichtigſten Programm⸗
kte geworden. Sie iſt bei vielen Sorten bereits weitgehend erreicht, die
eſtändigkeit aber bleibt noch zu prüfen.
Jede Steigerung der Feſtigkeit bedeutet eine Verminderung der Zahl der
notwendigen Beſpritzungen bzw. Beſtäubungen, mithin eine Verbeſſerung
der Rentabilität des Betriebes.
Der Ertrag der Direktträger iſt viel umſtritten. Tatſache iſt, daß wir die
Mehrzahl der Sorten zu den Maſſenträgern zählen dürfen, ohne daß ſie jedoch
den Ertrag der heimiſchen Maſſenträger erreichen oder gar übertreffen. Die
Güte ſollte gewiſſermaßen durch die Menge erſetzt oder ausgeglichen werden.
Sicher iſt, daß bei einem Aberhandnehmen der Direktträger im Vergleiche mit
den ſtets geringen Erträgen der Edelweinbaugebiete die Geſamtproduktion
eines Landes zunimmt.
Die Produktionszunahme aber ift einer der Geſichtspunkte, welche
die Weltweinkriſe heraufbeſchworen haben; die Welt erzeugt im Vergleich zum
Agrarpolitik Seft 7, By. 4
532 Fritz Zweigelt
Weinverbrauch zuviel Weine, namentlich zuviel Weine mittlerer oder gerin-
gerer Güte. Aus dieſer Erkenntnis hat Frankreich, in welchem feit einem Jahre
ein Weinbauſtatut in Kraft iſt, die Folgerungen gezogen und eine ſo
gewaltige fortſchreitende Beſteuerung des Weinertrages eingeführt, daß jede
Maſſenerzeugung von Wein ihren Anreiz verloren hat. War nun dieſe Maß⸗
nahme ficher auch als Schlag gegenüber den Direktträgern gedacht, die ja an
einem Weinüberfluß mitſchuld find, fo muß das Weinbauſtatut vom Stand-
punkte der Direktträger doch als ein Fehlſchlag bezeichnet werden. Denn unter
den vielen Tauſenden von Sorten mit brauchbaren Trauben gibt es und gab es
recht viele, ja vielleicht mehr, die hinter den Maſſenſorten zurückblieben, und
die eben durch das Schlagwort vom Rieſenertrag ſeinerzeit ihre Bedeutung
verloren hatten.
Auf dieſe, gütemäßig teilweiſe beſſeren Sorten greifen die franzöſiſchen Hy⸗
bridenbauern zurück, als eines der Hauptbeweismittel der Hybridengegner: Die
Hybriden ſeien am Weinüberfluß ſchuld, wird ausgeſchaltet, ohne daß des⸗
wegen die Hybriden zu beſtehen aufgehört haben. Ja, wenn wir die Hybriden⸗
geſchmacksſtoffe zunächſt ausſchalten, fo iſt das Weinbauſtatut dem Hybridenbau
geradezu förderlich geweſen, denn nach dem Güte⸗Mengegeſetz iſt die Güte
bei geringerer Menge im allgemeinen meiſt weſentlich höher.
Ein gewaltſames Niederringen der Hybriden zunächſt in Frankreich iſt aus⸗
ſichtslos und bei voller Objektivität der Sache gegenüber nicht einmal wün⸗
ſchenswert. Frankreich hat ja tatſächlich Gebiete, in denen der Weinbau infolge
der koloſſalen Niederſchläge und der völligen Unmöglichkeit, in manchen Jah⸗
ten der Peronoſpora Herr zu werden, ohne Hybriden für die Dauer nicht zu
halten fein wird. Wir müſſen darum damit rechnen, daß in gewiſſen Hundert⸗
ſatzverhältniſſen die Hybriden das Feld behaupten, ja nach Maßgabe der Güte⸗
ſteigerung bei neuen zu erwartenden Züchtungen vielleicht ſogar ihre An⸗
lagen vergrößert werden, wir müſſen damit rechnen, daß der Weinhandel des
Südens in Zukunft zum Teile auch mit Hybridenwein arbeiten wird, mit Wei⸗
nen, die infolge der geringeren Geſtehungskoſten eine Preisſenkung ermög⸗
lichen und eine ſolche im zwiſchenſtaatlichen Verkehr auch anderwärts hervor⸗
rufen können.
Trotz aller ſcharfen Beſtimmungen haben aber auch die anderen Länder das
Hybridenproblem nicht zur Gänze ausgeſchaltet, ſondern gewiſſermaßen bloß
aufs Eis gelegt, und ſich in den ſtaatlichen Verſuchsanlagen ein Ventil ge⸗
Idaffen, um fpdter rechtzeitig die Freigabe beſtimmter Züchtungen zu er-
möglichen.
Wenn wir nun im nördlichen Weinbau zunächſt für Oſterreich in unferen
ſtaatlichen Verſuchsanlagen auf Sorten ſtoßen werden, welche die heute in
Steiermark noch immer geduldete Noah weſentlich übertreffen, dann gibt es
bei der Tatſache, daß die beſondere Lage in Steiermark ein Eingreifen der Vee
hörden unmöglich gemacht hat, bloß den einen Weg, den Bauern an Stelle der
Noah eben beſſere Sorten zu geben, die ebenfalls ohne Bekämpfung durch⸗
kommen, deren Erzeugnis jedoch dem Noahwein weit überlegen iſt und einerſeits
dem Bauern ſelbſt eine wirtſchaftliche Beſſerſtellung ermöglicht, andererſeits
aber nicht die Gefahr in ſich birgt, durch Verſchnitte mit Edelwein dieſen zu
entwerten. And haben wir dann entweder durch Erprobung und Anerkennung
ausländiſcher Züchtungen oder im Wege eigener Züchtungen eine oder mehrere
Sorten, welche billigen Anſprüchen an den Begriff Wein genügen und die
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Die Zukunft der Direktträgerfrage im mitteleuropäischen Weinbau 533
Rentabilität des Weinbaues eines Gebietes fichern, dann liegt fein Anftand
vor, ihnen in der gemifchten Wirtſchaft oder aber an der vertikalen Grenze des
Weinbaues, wo andere Rebkulturen oder Kulturen überhaupt verſagen, einen
beſcheidenen Platz einzuräumen.
In Deutſchland geht man einen etwas anderen Weg. Die ganze Frage
der Direktträgerzüchtung iſt in Müncheberg zuſammengefaßt, wo am Kaiſer⸗
Wilhelms ⸗Inſtitut Sämlingsprüſungen ſolcher Kreuzungen mit ungeheuer
großer Individuenzahl zunächſt auf Peronoſporafeſtigkeit durchgeführt werden.
Das Material, das dort ſelbſtverſtändlich bloß in geringen Hundertſätzen den
Anforderungen genügen wird, kommt ſodann nach Naumburg zur Prüfung
auf Reblausfeftigkeit und erſt das, was ſich in beiden Belangen bewährt hat
und die Gewähr in ſich birgt, weder veredelt noch geſpritzt werden zu müſſen,
bzw. wenn wir die Adaptierung hier ausſchalten — von der Reblaus nicht an⸗
gegriffen werden kann, kommt zur weingartenmäßigen Prüfung des Wertes
des Erzeugniſſes ins Weingebiet. Dieſer ſchwierige Weg iſt das Ergebnis der
beſonderen Verhältniſſe in Deutſchland. Es iſt darin allerdings einem Faktor
zu wenig Rechnung getragen worden: Dem Zeitfaktor. Viele Jahre, ja
vielleicht Jahrzehnte werden vergehen, ehe man greifbare Reſultate gewonnen
haben wird, und eine zweite Gefahr vielleicht liegt darin, daß die Pflanzen
oder ihre vegetativen Nachkommen ihr Verhalten den natürlichen Feinden
egenüber verändern können. Es iſt ſehr leicht möglich, daß Sämlinge in der
ugend peronoſporafeſt waren, diefe Feſtigkeit ſpäter einbüßen. Solche Ver⸗
ſchiebungen bei beſtimmten Sorten find uns bekannt. Inzwiſchen wird ſich
jedoch der Ambau des deutſchen Weinbaues auf amerikaniſche Reben voll⸗
zogen haben und das Schreckgeſpenſt der Reblaus fein wildes Geſicht aber
auch für den deutſchen Weinbau für immer verloren haben, ſo daß auch dort
die Peronoſporafeſtigkeit das wichtigſte Ziel der Immunzüchtung bleibt. Eines
darf darum dem deutſchen Weinbau empfohlen werden: auf den Erfolgen
anderer weiterzubauen. Es ſcheint ausſichtsreicher, die durch mindeſtens fünf
Jahrzehnte gewonnenen franzöſiſchen Züchtungen mitzuverwerten, als von der
Pike auf neu zu beginnen und den dornenvollen Weg der Züchtungsarbeit
von der erſten Phaſe an zu gehen. Belege für die Schwierigkeiten haben wir
in Oſterreich wie in Deutſchland. Wir find darum daran, in Bſterreich vor
allem die franzöſiſchen Züchtungen kritiſch zu prüfen, um mit ihnen oder aber
mit Kreuzungen, in denen ſie mitverwendet werden, auf dem Wege nach
brauchbaren Direktträgern fortzuſchreiten.
And noch ein Faktor, der die Arbeiten der Zukunft erſchweren wird: Die
örtlich beſchränkte Verwendbarkeit der einzelnen Sorten. Noch
viel weniger wie bei Edelreben wird hier an Aniverſalreben zu denken ſein.
Gebietsweiſe werden andere Hybriden in ihre Rechte treten, um den Bedarf
an Haustrunk bzw. Tiſchwein, ſpäter vielleicht auch beſſerem Wein zu decken.
Ein neuer und erfolgreicher Vorſtoß der Direktträger beſonders in den ſüd⸗
lichen Ländern iſt eine Frage der Zeit. Wir müſſen mit ihm rechnen, wir
müſſen darauf vorbereitet fein, daß unſere ſüdlichen Weinbaunachbarn in viel⸗
leicht größerem Maße als bisher ihre Weinberge auf Direktträgerſorten um⸗
ſtellen werden.
Können wir dieſem Vorgang ſchon aus Gründen der Zuſammenhänge zwi⸗
ſchen Weinproduktion und Weinpreiſen aller Länder nicht untätig zuſehen,
ſo noch aus einem ganz anderem Grunde, der vor allem zunächſt rein wiſſen⸗
4°
534 Fritz Zweigelt
ging ae Natur iſt, fich aber ſpäter — Wiſſenſchaft und Wirtſchaft läßt fich
in der Hybridenfrage überhaupt nicht trennen — auch wirtſchaftlich auswirken
wird: Die Peronoſporabekämpfung trägt alle Anzeichen dafür, da
ſie von Jahrzehnt zu Jahrzehnt ſchwieriger und weniger erfolgrei
wird. Hier herrſchen die ewigen Geſetze von Anpaſſung und Raſſenſpeziali⸗
ſierung, in Verbindung mit dem Eingreifen der paſſiven Immuniſierung, ge⸗
ſteigerter Hinſälligkeit andererſeits. Wer weiß, wieviele Peronoſporaraſſen
es heute ſchon gibt? Die Peronoſpora als lebender Organismus führt ſeit
Jahrzehnten einen verzweifelten Daſeinskampf gegen die Kupferkalkmittel;
daß fie ſich bis heute trotz intenfiver und allgemeiner Behandlung der Reben
gepalten hat, ift zum Teil darauf zurückzuführen, daß fie gelernt hat, dieſe
ifte zu überwinden. Ihre Virulenz hat zugenommen. Gleichzeitig
damit hat die Pflanze, durch die ſtändige Behandlung verwöhnt, es verlernt,
mit dem Pilz fertig zu werden, ihre Reaktivität hat abgenommen.
And wer weiß, wie nahe der Zeitpunkt iſt — nahe im Sinne immerhin von
Jahrzehnten — daß wir den Kampf gegen die Peronoſpora nicht mehr wer⸗
den führen können. Dann werden einzig und allein Direktträger es ſein, die
den Weinbau weiter werden ermöglichen laſſen. Aber auch dieſe neuen Züch⸗
tungen werden vom Standpunkte der Feſtigkeit und anderen Momenten keine
Dauererzeugniſſe fein und bleiben, auch fie werden ſpäter von weiteren Züch⸗
tungen abgelöſt werden müſſen.
So ſteht dann die Direktträgerfrage — weit entfernt, durch geſetzliche Be⸗
timmungen aus der Welt geſchafft werden zu können — nach wie vor im
ittelpunkte der Intereſſen des Weinbaues im allgemeinen, des nördlichen,
des deutſchen und öſterreichiſchen Weinbaues ganz beſonders. Aufgabe unferer
Fachanſtalten muß es ſein, alles daranzuſetzen, um im gegebenen Augenblick
wiſſenſchaftlich gewappnet zu ſein, der Wirtſchaſt zu helfen.
Karl Motz:
Blut und Boden
In Anweſenheit des Führers der NSDAP. hat unſer Mitarbeiter Karl
Motz auf der Tagung des agrarpolitiſchen Apparates am 3. Januar 1933
einen ausgezeichneten Vortrag gehalten, deſſen Zweck die Vorführung einer
neuen Methode der Werbung für den nationalſozialiſtiſchen Grundgedanken
von Blut und Boden mittels Wort und Bild war. Anter Hinweis auf die
Arbeit von Motz im Auguſtheft 1932 unſerer Monatsſchrift „Aufgaben der
Agrarpolitik im Rahmen der Oſtraumidee“ bringen wir nachſtehend einen
Auszug aus dem ſehr wirkſamen Material zum Abdruck. H. R.
Wachstum des deutschen
Volkes in einem halben
Jahrtausend: 5
K
* |
900 1913 1928
* 1500 * 1800 1850
Während des Wachstums des deutſchen Volkes wuchs fein Lebensraum nur un-
genügend. Deshalb find wir ein Volk ohne Raum.
536 Karl Motz
Bevölkerundsdichte
bei uns und im Auslande
Auf 4 akm enHallen Einwohner in:
902 Bi coca ta acl
von der deutschen Bevölkerung. om:
oa —
in Landgemeinden
1875
1900
Der Liberalismus verſuchte durch Aberinduſtrialiſierung und Exportpolitik trotz
des Zuſtandes „Volk ohne Raum“ eine Ernährungsgrundlage zu ſchaffen. Der
Verſuch mißlang, wie die geſchichtliche Entwicklung zeigt. Aus dem überwiegend
bodenſtändigen deutſchen Volke war aber infolge dieſes Verſuches mit der Mber-
induftrialifierung ein überwiegend bodenentwurzeltes Volk geworden.
Blut und Boden 537
Die Verſtädterung bedeutet den Volkstod! Dieſe Zahlen Burg-
dörffers vom Statiſtiſchen Reichsamt Berlin beweiſen die Unmöglichkeit, auf dem
Wege des Liberalismus die Zukunft des deutſchen Volkes zu ſichern.
Die Vermehrungs-Kraft des
Bauerntums:
Vermehrung in der Siid-Ost+Kolonigation
: im Jahre 1900:
70 000 Schwaben 500 000!
iim Banat/
Jn 100 Jahren versiebenfacht !
Ein Beifpiel für die bevölkerungspolitiſche Bedeutung des Bauerntums zur Ver-
anſchaulichung der Burgdörfferſchen Zahlen. Das Bauerntum iſt der
Lebensquell des deutſchen Volkes.
338 Karl Motz
Bevolkerungsentwicklung
des Deutschen Reiches
Deutschland hat nach Clemenceau
20 Millionen Menschen zu viel:
1930
In OO Jahren wird
die Volkszalhl um
65 20. Millionen
* gesunken sein!
Die „Verſtädterung“ hat aus dem deutſchen Volk ein ſterbendes
Volk gemacht. Nur der Staatsgedanke von „Blut und Boden“ bildet eine
Zukunftsmöglichkeit!
Ost:West-Umschichtang d. Bevölkerung
.........
eee eee a ee
„5 „„ „ „aussen Herren sc
...
|...
,
.
N] Bevö
ichte
auf 1 qkm
Der Liberalismus ſaugte die Menſchen in die Stadt. Da der deutſche Often faft
ausſchließlich bäuerlich iſt, war die geopolitiſche Linie dieſer ſozialen Amſchichtung
von Oſten nach Weſten gerichtet. Daher die dünnbeſiedelten Oftgebiete und
die wahnfinnige Abervölkerung des Weſtens.
3 . 3 —
Blut und Boden 539
Wegen der ftändigen Abwanderung des bodenſtändigen Menſchen von Often nach
Weſten ſtagniert die Bevölkerungsdichte des Oſtens ſchon ſeit Jahrzehnten oder
ſinkt gar. Der Exiſtenzkampf des deutſchen Volkes wird alſo ftändig an der am
meiſten gefährdeten Front geſchwächt.
Kindersegen im Osten!
Auf 1000 Einwohner entfallen: |
53,3
Auf der anderen Seite der Grenzpfähle wählt das fremde Volkstum ungeheuer.
Eine gewaltige Slawenflutbrandet gegen den durch den Liberalis-
mus immer ſchwächer werdenden deutſchen Oſten heran. Es ſei beſonders
hingewieſen auf die ebenfalls dargeſtellte Tatſache, daß der deutſche Oſten an ſich
noch eine Geburtenzahl hat, die weit über der des übrigen Reiches liegt. Es
handelt ſich eben um Bauernland — den Lebensquell des deutſchen Volkes.
540 Karl Motz
Rückgang des
Germanentums:
65
Germanen
Slaven
Romanen
Der Liberalismus hat auch bei allen anderen nordiſchen Völkern das Ergebnis,
Totengräber des Bevölkerungswachstums zu fein. Der Erfolg iſt ein reißendes
Abfinken des Prozentſatzes der Nordiſchen Menſchen gegenüber der ſonſtigen euro;
päifhen Bevölkerung. Die Bedeutung des Staatsgedankens von „Blut und
Boden“ iſt alſo nicht auf das deutſche Volk beſchränkt, ſondern die Lebens
frage des Nordiſchen Menſchen überhaupt.
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Aber auch wirtſchaftlich verſagt der Liberalismus. Am politiſch frei zu werden,
bauen alle fremden Staaten und Völker ihre eigenen Induſtrien. Nicht nur
Kanada, auch Indien, China, Sowjetrußland, ganz Europa, Amerika, kurz: die
ganze Welt. Damit verliert auch die deutſche Exportinduſtrie
ein für allemal die Möglichkeit, eine ſichere Grundlage
der Volksernährung zu fein. Die „Weltwirtſchaft“ ging zugrunde.
Weil man auf ihr die Lebensgrundlage des deutſchen Volkes aufbauen wollte,
haben wir die wahnfinnige Arbeitsloſigkeit und das daraus ſich ergebende Elend.
Wer aber glaubt, daß die fremden Völker einſt ihre Maſchinen in die Luft ſpren⸗
gen werden, um uns Arbeit und Brot zu geben?
Blut und Boden 541
Mit der wirtſchaftlichen Vernichtung des deutſchen Arbeiters, der Zerjtörung der
Kaufkraft der Stadt verband ſich nun eine geradezu irrſinnige Agrarpolitik: Aber⸗
ſteigerung der Inlandspreiſe für Induftriewaren und Schleuder aus fuhr,
um den zuſammengebrochenen Export wenigſtens noch eine Zeitlang künſtlich am
Leben zu halten. Das bedeutet: Vernichtung der Lebensfähigkeit
der Landwirtſchaft, weitere Entwurzelung, doppelte Arbeits-
lofigkeit auch der Induſtrie, denn der Binnenmarkt wird ebenfalls ſyſte⸗
matiſch vernichtet.
Auch hier hilft nur die Amkehr: Binnenmarkt oder „autarkiſche
Politik“ ftatt Weltwirtſchaft und Erportillufion.
Der nationalſozialiſtiſche Weg von Blut und Boden allein ſichert das
Deutſchtum
1. bevölkerungspolitiſch vor dem Ausſterben,
2. allgemein nationalpolitiſch vor der anbrandenden Slawenflut,
3. wirtſchaftlich durch Sicherung ſeiner Ernährungsgrundlage aus dem
eigenen Grund und Boden und damit ſeiner politiſchen Handlungsfähigkeit.
Das Ardiv
In der vergangenen Berichtszeit hat
die Preſſe wieder reichlich Gelegenheit
gehabt, ſich mit der Agrarpolitik zu be-
ſchäftigen. Die Landwirtſchaft iſt zum
Angelpunkt der geſamten deutſchen In⸗
nenpolitik geworden. Die Not dieſes
wichtigſten Wirtſchaftszweiges des deut-
ſchen Volkes hat in den letzten Wochen
eine ſolche Steigerung erfahren, und
unter den deutſchen Bauern iſt über
die Antätigkeit und Anfähigkeit des
Reichskabinetts von Schleicher auf
agrarpolitiſchem Gebiet eine ſolche Er⸗
bitterung entſtanden, daß man in man⸗
chen Teilen Deutſchlands direkt von
einer beginnenden Bauernrevolution
ſprechen kann. Anter dem Druck dieſer
verzweifelten Lage ſeiner Mitglieder
hat der Reichslandbund ſich entſchloſſen,
einen energiſchen Vorſtoß gegen die
Reichsregierung zu unternehmen, der
natürlich in den politiſchen Kreiſen ein
allgemeines Aufſehen hervorgerufen hat.
Am 11. 1. veröffentlichte der Zei
tungsdienſt des Reichsland⸗
bundes folgenden Kampfappell:
„Der Bundesvorſtand des Reichs-
landbundes hat am 11. Januar 1933
zur Lage folgende Entſchließung ange⸗
nommen:
Die Verelendung der deutſchen Land⸗
wirtſchaft, insbeſondere der bäuerlichen
Veredlungswirtſchaft, hat unter Dul-
dung der derzeitigen Regierung ein
ſelbſt unter einer rein marxiſtiſchen Re -
gierung nicht für möglich gehaltenes
Ausmaß angenommen. Die Ausplün⸗
derung der Landwirtſchaft zugunſten der
allmächtigen Geldbeutelintereſſen der
international eingeſtellten Erportindu-
ſtrie und ihrer Trabanten dauert an.
Seitens der Reichsregierung hört die
Landwirtſchaft im weſentlichen nur
Rundfunfreden und inhaltloſe Formu-
lierungen, denen trotz längſt vorhan⸗
dener ſachlicher Möglichkeiten entſchei⸗
dende Taten nicht gefolgt ſind.
Obwohl mit Ende des Jahres 1932
die Holland gegenüber beſtehenden
Zollverbindungen abgelaufen find, iſt
bis heute dieſe Erleichterung der zoll⸗
politiſchen Lage nicht durch Inkraftſetzen
von Zollerhöhungen, fiber deren Aus.
maß eine auf nationale Wirtſchaft ein⸗
geſtellte Reichsregierung nicht mehr im
Zweifel ſein kann, ausgenutzt worden.
Die daneben notwendigen Kontin⸗
gentierungsmaßnahmen zum Schutze ge-
gen ausländiſche Aberſchwemmung find
auch von der jetzigen Reichsregierung
nicht ergriffen worden. Eine Regierung,
die den Willen zur Erhaltung deutſchen
Bauerntums hat, mußte wenigſtens
durch ſofortige Erklärung eines voll.
ſtändigen und generellen Zahlungs-
moratoriums die Vertreibung des
Bauern von Haus und Hof verhüten.
Nichts dergleichen iſt geſchehen.
Durch das Verſagen der Reichsregie-
rung in den lebenswichtigſten Fragen
der Agrarpolitik werden auch die vom
Herrn Reichskanzler aufgeſtellten Ziele
der Arbeitsbeſchaffung und Siedlung zu
reinen Illuſionen. Die bisherige Be⸗
tätigung der Reichsregierung wird da⸗
her auch den wiederholten Aufträgen,
die der Herr Reichspräſident erteilt
hat, nicht gerecht.
Die Notgemeinſchaft des deutſchen
Landvolks ſteht zum Außerſten bereit.
Die Führung des Reichs- Landbundes
fordert von jedem einzelnen den letzten
Einſatz in dem dem geſamten Berufs-
ſtand aufgezwungenen Kampf um die
nackte Exiſtenz!“
Es iſt natürlich, daß dieſe Erklärung
bei der Reichsregierung ſowie
bei der Export ⸗Induſtrie ungeheuer ver-
ſtimmend gewirkt hat, um ſo mehr, als
dieſe Kreiſe ſich bewußt find, daß ſie die
Schuld an der Verelendung der Land-
wirtſchaft tragen. Die Reichsregierung
hat nun eine Erklärung gegen den
Reichs landbund veröffentlicht, aus der
Das Archiv
folgende Stelle als beſonders bezeich⸗
nend hervorgehoben werden muß. „Die
Reichsregierung wird ſich durch dieſe
ovale Handlungsweiſe des Vorſitzen⸗
den des Reidslandbundes nicht davon
abbringen laſſen, alles ſachlich Mögliche
für die Landwirtſchaft zu tun. Sie ſieht
ſich jedoch gezwungen, von jetzt an die
Verhandlungen mit den Mitgliedern
des Vorſtandes des Reichs landbundes
abzulehnen.“ Weiter hat ſich die Reichs
regierung gezwungen geſehen, durch den
Druck des Vorgehens des Reidsland-
bundes „weitere Maßnahmen für die
Landwirtſchaft“ bekanntzugeben. Dieſe
follen ſich vor allem auf eine Ausdeh⸗
nung des Vollſtreckungsſchutzes über
das ganze Reichsgebiet erſtrecken, es
wird aber ausdrücklich folgende Ein⸗
ſchränkung gemacht: „Betriebe, bei
denen alsdann eine Defatierung zu ge ⸗
wärtigen wäre, würden dieſen Schutz
nicht erfahren“. Befonders bemerkens⸗
wert iſt, daß außerdem noch darauf bin-
gewieſen wird, daß bezüglich der Soll-
politik man keineswegs beabſichtige,
autarkiſchen Tendenzen breiten Raum
zu geben. Der Reichsland bund
hat daraufhin eine Gegenerfldrung ver⸗
Hffentlidt, die zum Schluß folgender.
maßen lautet: „Wenn jetzt die Neichs⸗
regierung die Tatſache der Veröffent⸗
lichung des Bundesvorſtandes glaubt
dazu benutzen zu ſollen, die Beziehun⸗
gen zum Reichslandbund abzubrechen,
ſo erſcheint das lediglich als ein Ver⸗
ſuch, ſich der Verantwortung, die die
Reichsregierung gegenüber dem land-
wirtſchaftlichen Berufsſtande hat, zu
entziehen, um im Dunkel der Regie-
rungskonklaven ihren bisherigen ver-
hängnisvollen wirtſchaftlichen Weg fort.
zuſetzen. Vertrauen zu dieſer Politik ließe
ſich nur rechtfertigen, wenn fle Taten auf-
weiſen könnte, die eine erfolgreiche Ab-
kehr von der bisherigen verhängnis-
vollen Wirtſchaftspolitik bringen. Daß
dieſe bisher völlig fehlen, iſt der Grund
der Verzweiflungsſtimmung im Lande.
Der Abbruch der Beziehungen zum
Reichslandbund iſt ein Beweis dafür,
daß die Reichsregierung den Notruf
des Landvolkes nicht hören will oder
543
völlig die wahre Sachlage verkennt. Der
Reichs landbund wird ſich dadurch nicht
beirren laſſen, ſeinen Kampf für die
Geſundung der Landwirtſchaft mit allen
gebotenen Mitteln fortzuſetzen.“
Wie ſchon oben erwähnt, hat auch die
Export- Induſtrie ſich gegen den Reichs.
landbund gewandt und zwar durch Erflä-
rungen des Reichsverbandes der deut-
ſchen Induſtrie, ſowie des Reichsverban⸗
des des deutſchen Aberſeehandels. Die
Erklärung des Reichsverbandes der
deutſchen Induſtrie ſpricht von „größter
Empörung“ und „ſchwerſter gefährden-
der Beſchimpfung eines unentbehrlichen
Teiles der deutſchen Wirtſchaft“. Es iſt
ſelbſtverſtändlich, daß dieſer Kampf,
Reichsregierung gegen deutſche Land.
wirtſchaft, in der geſamten Preſſe den
ſtärkſten Widerhall gefunden hat.
So veröffentlicht die NS K. (Na-
tionalſozialiſtiſche Partei ⸗
Korreſpondenz) in ihrer Folge
295 vom 12. 1. 33 einen Artikel von
Dr. H. Reiſchle „Die Abſage der
Landwirtſchaft“. Dieſer Artikel kann als
offizielle Stellungnahme der NSDAP.
in dem Kampf „Reichsregierung gegen
Landwirtſchaft“ angeſehen werden. Be⸗
achtenswert find folgende Stellen aus
dem Artikel: „Anſtatt nun die Pofition
des Reichslandbundes, der mühevoll die
Empörung in den Reihen des Land-
volkes in ruhigem Nahmen zu halten
verſucht, regierungsſeitig zu ſtärken, iſt
der Herr Reichspräfident von ſeinen
Beratern veranlaßt worden, ſozuſagen
das Tafeltuch zwiſchen ſich und dem im
Reichs landbund vertretenen Landvolf
entzweizuſchneiden.“ — „Die Fronten
klären ſich alſo mit der für eine baldige
Entſcheidung erforderlichen Deutlichkeit.
Man möge fid an amtlicher Stelle kei⸗
nerlei Illufionen hingeben: Der Reichs-
landbund hat das öffentlich zu bekennen
gewagt, was das geſamte deutſche Bau-
erntum von Nord bis Süd und Oſt bis
Weſt denkt.“
An dieſer Stelle ſei auch auf den
offenen Brief des verantwortlichen
Leiters der nationalſozialiſtiſchen Agrar.
politik, R. Walther Darré an den
Reichskanzler von Schleicher (am 13.
Januar veröffentlicht) hingewieſen. Die⸗
544
fer Brief nimmt die Ereigniffe während
des Empfanges des Prdfidiums des
Reichslandbundes beim Reichspräſiden⸗
ten zum Anlaß, um eine vernichtende
Kritik an der geſamten liberaliſtiſchen
und landwirtſchaftsfeindlichen Politik
zu üben und ſtellt in kurzen Amriſſen
die ganze wirtſchaftspolitiſche Entwick⸗
lung Deutſchlands nach 1871 dar. Der
dadurch entſtandene wirtſchaftspolitiſche
Wirrwarr in Deutſchland könne nur
dadurch behoben werden, daß ein neuer
Abſatzmarkt vom Binnenmarkt her auf⸗
gebaut würde. Ein Binnenmarkt baue
fich jedoch nur von der Landwirtſchaft
her auf und deshalb fei ein entichlof-
ſenes Herumwerſen des Staatsruders
notwendig. Dazu gehöre aber eine Tat,
ein klares Wiſſen vom Notwendigen
und eine willensſtarke Zielſtrebigkeit.
Solche Politik könne nur von Män-
nern, aber niemals von einer Regie-
rung vollbracht werden, die vor lauter
Zweifel nicht weiß, wohin fie ſich drehen
und wenden ſoll. Die Verantwortung
für den bedauerlichen Vorfall bei dem
Empfang des Reichslandbundes beim
Reichspräfidenten trage weder das
Präfidium des Reichslandbundes noch
der Herr Reichspräfident, ſondern der
Reichskanzler ganz allein. Es fei die
Aufgabe des Reichskanzlers, den Herrn
Reichspräſidenten über die wahre Lage
in der Landwirtſchaft zu unterrichten
und dieſen zu warnen. Beim ehrwür⸗
digen Alter des Herrn Reidsprafiden-
ten könne niemand von ihm verlangen,
daß er von ſich aus die ihm geläufigen
Anſchauungen des 19. Jahrhunderts ab-
ſtreife und die völlig neuen Grundlagen
des 20. Jahrhunderts richtig ſieht und
einſchätzt. Hierfür hat er eben Reichs-
miniſter, die ihm zu raten hätten. We⸗
nigſtens ſei dies die Auffaſſung des
deutſchen Volkes von den Pflichten und
Aufgaben der Reichsminiſter, insbefon-
dere des Reichskanzlers. Mit dem Ge.
neral von Caprivi hätte die Leidenszeit
der deutſchen Landwirtſchaft angefan-
gen. Es wäre zu wünſchen, daß die un-
glückſelige und landwirtſchaftsfeindliche
Zeit und Wirtſchaftsepoche mit dem
General von Schleicher beendet würde.
Die „Deutſche Tageszeitung“
vom 12. 1. überſchreibt ihren Leitartikel
Das Archiv
mit „Ein unmöglicher Konflikt“. Ich
möchte aus dieſem Artikel nachfolgende
Stellen anführen: „Unter den gegen-
wärtigen Amſtänden bedeutet es für
jede Reichsregierung Lebensgefahr,
wenn ſie die Landwirtſchaft in offene
Feindſchaft gegen ſich zwingt. — Das
Pronunciamento der Reichsregierung
iſt, wohlwollend geſprochen, ein Tem⸗
peramentsausbruch, der überdies an der
einen oder anderen ſachlichen Angenauig⸗
keit leidet.“ — „Einen Kriegszuſtand
dieſer Art zwiſchen der Regierung, ob
ſie von Schleicher oder anders heißt,
und einer führenden landwirtſchaftlichen
Organiſation darf es einfach nicht geben.
Erſt recht nicht, wenn er aus Mißver⸗
ſtändniſſen entſtammt, deren Beſei⸗
tigung doch wahrlich keine Herfules-
arbeit vorausſetzt.“
Auch die „Landwirtſchaftliche
Wochenſchau“ (T. A.) nimmt in
einem Artikel „Nervöſe Agrarpolitik“
Stellung gegen die Reichsregierung.
Beachtenswert iſt vor allem folgende
Stelle: „Auch im Jahre 1903 hat der
Landwirtſchaftsminiſter von Podbielſki
mit ſeiner nervöſen Antwort an Dietrich
Hahn (Bund der Landwirte) letzten
Endes nur den fpäteren Sturz der Re-
gierung vorbereitet. Der Vergleich mit
1903 drängt ſich auch dadurch auf, daß
damals Dietrich Hahn ſeine ſcharfe Kri-
tik ausgeſprochen hatte, weil die Regie;
rung im Zuſammenhange mit der Han-
delspolitik auf die nötige Förderung
der Landwirtſchaft verzichtet hatte und
daß damals wie heute die Regierung
dem Landbund das Recht der Vertre⸗
tung der Landwirtſchaft abſprach, und
nur noch mit den amtlichen Gerufsver-
tretungen zu arbeiten gewillt war. Daß
Reichskanzler von Schleicher dieſe hiſto⸗
riſche Erinnerung ſich nicht eine Lehre
hat fein laſſen, wird beſonders auch des
halb bedauert, weil Anlaß zu der Er⸗
wartung beſteht, daß die aus formellen
Irrtümern entſtandene Verſtimmung
des Reichspräſidenten zerſtreut wird,
zumal es auch auf ein Verſagen der
Preſſeabteilung der Reichsregierung,
die dem Reichskanzler unterſteht, zurück⸗
zuführen iſt, daß die zuſtändigen Stel⸗
len erſt verjpätet von der Landbund⸗
Entſcheidung Kenntnis erhielten. Man
Das Archiv
verweift auch darauf, daß noch keine
Reichsregierung und auch nicht der
Reichskanzler von Schleicher gegenüber
der Vertretung eines anderen Berufes
oder gegenüber politiſchen Parteien
ſelbſt bei ſehr viel maffiveren und ſach ·
lich völlig unberechtigten Angriffen
ähnliche Schlußfolgerungen gezogen
hat.“ An einer anderen Stelle heißt es:
„Da auf der anderen Seite die vielfäl-
tigen und in dem heutigen Amfang frü⸗
her unbekannten Schutzmaßnahmen für
die Induſtrie zu einer Hochhaltung der
Produktionsmittelpreiſe für die Land-
wirtſchaft weit über den Vorkriegs⸗
ftand geführt haben, iſt es ſchon ver⸗
ſtändlich, daß die weitere Verzögerung
der Agrarpolitik zu einer jeder Be⸗
ſchreibung ſpottenden Verzweiflung des
Landvolks geführt hat. Daß dieſe Ver⸗
zweiflung in der Entſchließung einer
freien wirtſchaftspolitiſchen Organiſa⸗
tion noch deutlicher zum Ausdruck kom⸗
men mußte als beim Landwirtſchafts⸗
rat, ift ebenſo verſtändlich wie die ent-
ſprechende ſcharfe Sprache anderer freier
Berufsvertretungen des Landvolks.“
Eine weniger klare Haltung nimmt
die Deutſchnationale Preſſe ein. So
ſchreibt „Der Tag“ in feiner Aus⸗
gabe vom 13. 1. in einem Kommentar
zu der Nachricht über den Bruch der
Regierung mit dem Reidhslandbund
u. a.: „So gehört eine Reichsregierung,
die ſich zu dieſen Grundſätzen bekennt,
und das Landvolk zuſammen. Am fo ge⸗
fährlicher iſt dann ein folder Konflikt,
wie der jetzt entbrannte, bei deſſen Zu⸗
ſpitzung der Mangel an geſundem Maß
halten und an Geſchick eine wichtige
Rolle ſpielt.“
Eine ebenfalls eigenartige Einſtellung
nimmt das Schleicher⸗Blatt „Tägliche
Rundſchau“ ein. And zwar verſucht
dieſe Zeitung die ganze Schuld des Zu⸗
ſammenbruchs der Agrarpolitik dem
Reichsernährungsminiſter Frhr. von
Braun in die Schuhe zu ſchieben. Da⸗
durch ſoll gewiſſermaßen der Reids-
kanzler Schleicher gedeckt werden.
An einer Stelle ſchreibt ſie: „Der
Reichskanzler von Schleicher wird ein⸗
geſehen haben, daß es mit den kleinen
unzulänglichen Maßnahmen des heu-
tigen Reichsernährungsminiſters nicht
545
weitergeht. Man wird ihm den guten
Glauben nicht abſprechen können, wenn
man die ganze Verbindung zwiſchen
Braun und Kalckreuth bedenkt. Aber
dieſe ſcharfe Stellung des Landbund-
Vorſtandes wird auch ihm klar gemacht
haben, daß nur eine ganz einheitliche
binnenwirtſchaftliche Linie das Agrar-
problem endgültig löſen kann.“ Ganz
offenſichtlich geht auch aus dieſem Ar⸗
tikel hervor, daß man von dieſer Seite
auch den Rücktritt des Grafen Kalck⸗
reuth als Landbundvorfigenden wünſcht.
Man geht ficherlich nicht fehl, wenn
man annimmt, daß dieſer Artikel von
der „Pommern -Gruppe“ der „Täglichen
Rundſchau“ zur Verfügung geſtellt wor-
den iſt.
Das Blatt der Schleicher freundlichen
Induſtrie „Deutſſche Allgemeine
Zeitung“ wittert natürlich Morgen-
luft und glaubt eine endgültige land-
wirtſchaftsfreundliche Politik verhin-
dern zu können. So ſchreibt fie: „Sach-
lich wird die Reichsregierung gezwun⸗
gen ſein, jetzt die Zweckmäßigkeit des
bisherigen Kurſes zu überprüfen. Vor
allem an dem Beiſpiel der Margarine-
verordnung, die einen wichtigen Gegen-
ſtand der Ausſprache bildete, hat ſich
gezeigt, daß mit der bisherigen Methode
nicht weiterzukommen iff. Der Reichs⸗
kanzler hat offenbar die Erkenntnis ge⸗
wonnen, daß in der Wirtſchaftspolitik
mit dem mannigfachen Gegeneinander
der letzten Monate Schluß gemacht wer⸗
den muß. Die Ausſprache beim Reichs-
präfidenten wird daher als Einleitung
zu einer neuen wirtſchaftlichen Entwick⸗
lung betrachtet.“
Die Linkspreſſe jubiliert natürlich
über dieſe Entwicklung. Die „Ber
liner Morgenpoſt“ vom 12. 1.
ſchreibt: „Seit Jahr und Tag iſt es
ſtets die Gepflogenheit der Landbund⸗
herren geweſen, im Miniſterzimmer
bittend und fordernd eine offene Hand
zu machen und gleichzeitig draußen im
Land die Fauſt gegen den Miniſter, mit
dem verhandelt wird, kräftig zu ballen.
Diesmal iſt dieſes Spiel mißglückt. Es
wäre ſehr unvorſichtig vom Landbund,
eine Schimpfkanonade ins Land hinaus-
zuſchicken und unmittelbar darauf unter
Verſchweigung dieſer Tatſache mit de⸗
546
mütig gekrümmten Rüden vom Reichs⸗
präfidenten weitere Forderungen der
Landwirtſchaft zu erbitten. Das ver⸗
ſtößt gegen die guten Sitten und war
ſelbſt dieſer Regierung zuviel. In ihrer
Agrarpolitik wird die Negierung, wie
ſie ſelbſt erklärt, nichts ändern. Sie
wird alſo weiterhin eine Agrarpolitik
treiben, mit der der Landbund ſehr zu⸗
frieden ſein könnte, wenn er nicht ſtets
mehr fordern würde als er wirklich
haben will. Trotzdem bleibt dieſe
Kampfanſage vom Reidsprdfidenten
und Reichsregierung an dieſe allmächtige
Grofgrundbefigergruppe ein Ereignis
von großer Bedeutung, das möglicher⸗
weiſe auch die Gefamtpolitik der Regie-
rung nachhaltig beeinfluſſen kann.“
Dieſes hochpolitiſche Ereignis,
Reichsregierung gegen Reids-
land bund, deſſen Arſachen auf tief-
liegende grundſätzliche Gegenſätze zurück⸗
gehen, hat ſeine Auslöſung durch den
vollkommenen Zuſammenbruch des
Butterpreiſes und damit der
Grundlage der Veredlungswirtſchaft ge-
funden. Der Verſuch der Reichsregie⸗
rung, durch einen Butterbeimiſchungs⸗
zwang zur Margarine im letzten Augen⸗
blick die Lage zu retten, mißlang voll ⸗
kommen. Es iſt ſehr bemerkenswert, daß
der „Völkiſche Beobachter“ vom
7. 1. in einem Artikel „Warum lehnt
die NSDAP. den Butterbeimiſchungs⸗
zwang ab?“ dieſe Entwicklung voraus-
ſieht. So heißt es u. a.: „Es iſt eine
Atopie, mit dieſen Maßnahmen eine
Preiserhöhung bei den Milch. und
Fleiſchprodukten erreichen zu wollen,
die Praxis hat bereits gezeigt, daß
dieſe Maßnahmen das Gegenteil be⸗
wirkt haben.“ Weiter wird in dieſem
Artikel anſtatt eines Butterbei⸗
miſchungszwanges ein Verwendungs-
zwang von tieriſchen Fetten bei der
Margarineherſtellung gefordert und da⸗
bei auf folgende Tatſache hingewieſen:
„Hätte die Regierung ſchon immer ein
wachſames Auge auf die Verwendung
tieriſcher Fette gehabt, und durch einen
feſten Preis deren Erzeugung geſichert,
dann wäre ſie nicht auf den Plan der
Butterbeimiſchung gekommen.“ — Der
Margarine - Verband e. V.
veröffentlichte in der geſamten Preſſe
Das Archiu
eine Erklärung: „Margarine-Induftrie
gegen Butterbeimiſchung“. Aus dieſer
Erklärung möchten wir folgenden Abſatz
anführen: „Die Hintergründe der Ver⸗
ordnung find uns unbekannt. Die bäuer-
liche Landwirtſchaft, der jeder gute
Deutſche helfen will, ſträubt fid, wie
aus zahlreichen Außerungen dieſer
Kreiſe hervorgeht, gegen das Geſetz.
Paradox erſcheint es, die Butterbei⸗
miſchung anzuordnen und gleichzeitig
bei hoher Gefängnisſtrafe zu verbieten,
davon zu ſprechen. Ab 1. April ſoll ſo⸗
gar nicht mehr geſagt werden dürfen,
Margarine enthalte Milch und ſei ein
Buttererſatz!“
Zuſtimmend zur Butterbeimiſchung
hat ſich eigentlich nur der Deut ſche
Landwirtſchaftsrat geäußert.
In der „Berliner Börſenzei⸗
tung“ Nr. 8 vom 5. Januar 1933 ver-
öffentlicht der Deutſche Landwirtſchafts⸗
rat einen Aufſatz „Warum Butterbei⸗
miſchung?“ In dieſem Artikel wird vor
allem gegen die Margarine-Induftrie
polemiſiert und wird behauptet, daß die
15 000 Tonnen Butter, die der Mar-
garine beigemiſcht werden ſollen, zur
Zeit die überſchüſſige Buttermenge in
Deutſchland darſtellen. Der
miſchungszwang würde alſo unbedingt
den Butterpreis ſtützen. Am Schluß des
Artikels wird dann noch für eine Ver⸗
wendung deutſcher tieriſcher Fette ein-
getreten. — Außerſt beachtlich iſt, daß
auch die Deutſchnationalen gegen die
Butterbeimiſchung find. So hat lt. Be⸗
richt der „Deutſchen Tageszei
tung“ vom 9. Januar der Vorſitzende
der Deutſchnationalen Reichstagsfrak⸗
tion, Dr. Oberfohren, in einer
Rede in Kiel ausgeführt, daß die
Deutſchnationalen den Butterbei⸗
miſchungszwang als eine der Landwirt⸗
ſchaft ſchädliche Maßnahme ablehnen. —
Daß die geſamte liberale und marxi⸗
ſtiſche Preſſe ebenfalls den Butterbei⸗
miſchungszwang ablehnt, iſt natürlich,
hier find aber die Gründe ganz andere
wie bei den Nationalſozialiſten.
Zum Schluß möchte ich noch auf einige
beachtenswerte Artikel hinweiſen. In
der „Berliner Börſenzeitung“
vom 4. Januar von Dr. Karl Fried-
rich „Finanzierungs⸗Inſtitut und Lil
Das Buch
gungskaſſe“. — In dem Sonderheft der
Sterteljabrsbefte für Ron-
„ von Dr. Rolf
Wageführ „Die Bnduftrie-Wirt-
ſchaft, Entwicklungstendenzen der deut
ſchen und internationalen Snduftrie-
Produktion“. — „Berliner Tage
blatt“ Nr. 6 „Export- Propaganda,
aber wie?" — „Landwirtſchaft⸗
Das
Adolf Meſchendörfer: Die
Stadt im Oſten. Albert Langen (Gg.
Müller, ).
Eines voraus: Nie habe ich ein Buch
geleſen, das in einem ebenſo kräftigen,
männlichen Stil geſchrieben war. Man
könnte das Buch erfdiltternd nennen,
wenn nicht die Gefahr beſtünde, daß
dieſes Wort ins Sentimentale ausge-
legt werden könnte.
Adolf Meſchendörfer, jetzt 55 Jahre
alt, iſt ſeit 1927 Direktor des berühm-
ten Honterus⸗Gymnaſiums in Kron⸗
ſtadt, der „Stadt im Often”. Um dieſe
Schule, um dieſe Stadt herum rankt
eine großartige geſchichtliche Zu⸗
* des Lebens und Da⸗
ſeinskampfes der Siebenbürger Sach⸗
ſen, geſchildert an der Entwicklung
einiger markanter Perſönlichkeiten.
Es ſteckt mehr Wirklichkeit in dieſer
dichteriſchen Geſtaltung, als ee flüch⸗
tige Leſer vielleicht glaubt. Es darf
wohl verraten werden, daß die Haupt;
geſtalten ſtark gezeichnete Parallelen zu
Ben allerneueften politiſchen Wusein-
anderſetzungen dieſes auslanddeutſchen
Bruderſtammes in ſich tragen. 3.
halb wurde das Werk im Heimatlande
des Dichters vielfach natürlich nach der
politiſchen Färbung des Leſers beur-
teilt. r aber 1 Diſtanz hat, die in
dieſem Falle alle anderen Deutſchen
beſitzen dürften, für den wird das Buch
ein ganz ſtarkes künſtleriſches Erlebnis
werden. Die Kämpfe des 55
gegen Magpariſierung und Romani-
Agrarpolitik Heft 7. Bg. 5
547
liche Wochenſchau“ vom a 1.
von Dr. von Grandes-Saupern „Der
letzte Anker“. („Nückkehr zur agrariſchen
Grundlage“.) — In der „Landwirt
ſchaftlichen Wochenſchau“ vom
5. 1. von Freiherrnuvon Lünind
„Der Struktur⸗Fehler der deutſchen
Wirtſchaft“
Dipl. Landwirt Roland Schulze.
Buch
flerung werden ihm lebendig, die inne⸗
ren Auseinanderſetzungen im Menſch⸗
lichen fo nahe gebracht, als ftände er
ſelbſt mitten darinnen.
Seine beſondere Note trägt das
Werk für uns noch deshalb, weil den
Mittelpunkt der fpannenden Handlung
eine Auseinanderſetzung von verftädter-
tem Aberintellektualismus und ſchollen ·
nn Denken bildet. Nach dem
Suren dee Verfaſſers trägt das ge⸗
rade erliche Leben des Bauern.
ſohnes den Sieg davon.
Die Siebenbürger Sachſen, von denen
die Deutſchen im Reiche ja leider im
allgemeinen nur zu wenig wiſſen, wer⸗
den einem vertraut. Damit iſt das Buch
eine Brücke von Stamm zu Stamm un⸗
ſeres Geſamtvolkes. In dieſer Tatſache
liegt ſeine politiſche Bedeutung.
Karl C. v. Loeſch: Das Antlitz
der Grenzlande. Verlag F. Bruckmann
A. G., München. Geb. RM. 5.50.
Anter dieſem Titel erſchien der erſte
Band eines Werkes des ehemaligen
Präfidenten des Schutzbundes, das in
Bild und erklärendem Text uns allen
das deutſche Grenzland nahebringen
ſoll. Der erſte Band befaßt fid mit dem
deutſchen Nordoſten. Typiſche Land-
ſchaftsbilder, die den Eindruck des öſt⸗
lichen Deutſchlands lebendig vermit-
teln, Bilder von Kultur und Geiſt des
deutſchen Oſtens, ſchließlich Kriegsbil⸗
der von feiner Serftörung und vor
548
allem Darſtellungen der irrfinnigen
Grenzlandzerreißung von Verſailles
zeichnen eine große Geſamtlinie: eben
das Antlitz des oſtdeutſchen Grenz⸗
lands. Alles iſt getragen von einer gro⸗
ßen Liebe für die bedrohten Oſtgebiete,
von dem Gefühl der zukünftigen Bedeu⸗
tung gerade dieſes deutſchen Oſtrau⸗
mes, in dem uns der Rhythmus der
großen geſchichtlichen Aufwärtsentwick⸗
lungen unſeres Volkes heute noch
lebensnah entgegenſchlägt. Es gilt nur
anzuknüpfen an tatſächlich Vorhan⸗
denes.
Wer den deutſchen Oſten, ſeine Ge⸗
ſchichte und ſeinen Charakter liebt, dem
wird dieſes Buch Freude und Erholung
bedeuten. Ein zweiter Band wird den
Norden und Weiten, ein weiterer ſpä⸗
ter den Süden und Südoſten erfaſſen.
Wenn die weiteren Bilder des erſten
würdig ſein werden, fo find fie geeig-
net, einen umfaſſenden Ein- und Aber.
blick über das Antlitz aller deutſchen
Grenzlande und die Deutung ihrer
Züge zu geben. M.
Wer kann ſiedeln? „Berufskreiſe und
Bauernſiedlung“, mit einer Einführung
von G. R. Sering unter Mitarbeit von
Dr. Goyens, Dipl.-Landwirt Kann, Dr.
Koch⸗Weſer, von Machui und N. R.
Maßmann, herausgegeben von Dr. Joh.
Schauff. Deutſcher Siedlungsverlag,
Berlin W 9, Leipziger Platz 17. 1932
Preis RM. 0.90.
Im Gegenſatz zu der gleichfalls beſpro⸗
chenen Schrift von Dr. Flörke, der nur
Kleinfiedlung behandelt, iſt die vorlie⸗
gende Schrift ausſchließlich für Gauern-
fiedler geſchrieben. Der Bauernſiedlung
wird auch allein das Recht, ſich Sied⸗
lung zu nennen, vorbehalten (S. 11
und 20). Wie weit die Meinungen aus-
einandergehen, zeigt ſich darin, daß Dr.
Flörke die Kleinſiedlung als Exiſtenz⸗
möglichkeit ſpeziell für die Intelligenz
empfiehlt, während hier feſtgeſtellt
wird, daß alle Verſuche im Rahmen der
Stadtrandfiedlung, auf kleinen und
kleinſten Stellen volle Lebensmöglich⸗
a zu ſchaffen, ſcheitern müſſen (S.
).
Das Buch
Das Buch ift gut. Doch iſt es kein
praktiſcher Wegweiſer für bäuerliche
Siedler, ſondern mehr eine akademiſche
Auseinanderſetzung für intelligente und
ideale Siedlungsintereſſenten. Die Aus⸗
führungen über Siedlung beruhen auf
reichen Erfahrungen und können, mit
mancherlei Ausnahmen, ohne weiteres
angenommen werden. Es iſt für den
Nationalſozialiſten geradezu erfreulich,
in der Schrift auf ſo viel Erkenntnis
zu ſtoßen, die auch ihm aus feinen
Ideen heraus geläufig iſt. So z. B.
die ſchwere, aber nicht länger hinaus⸗
ſchiebbare Aufgabe, das Siedlungswerk
von einer kraftvollen und zielſicheren
Bewegung her zu erneuern (S. 58).
Freiheit und Anabhängigkeit, geſundes
Familienleben, Gemeinſchaft von Are
beitsſtätten und Wohnung, Heimat-
bewußtſein find Werte, die das Bau ⸗
erntum ſozuſagen (dieſes Wort würden
wir ſtreichen A. N.) aus dem kapitali⸗
ſtiſchen Wirtſchaftsprozeß herausheben
(S. 24). „Der Siedler muß für ſeine
Kinder Opfer bringen“ (S. 25). Beſon⸗
ders gefallen haben aber die Satze von
den „geſchäftstüchtigen Nutznießern der
Siedlung“ (S. 21). Die Kulturpolitik,
die „dem Bauerntum die ſeeliſchen und
geiſtigen Kräfte erhalten und fort ⸗
vererben hilft“ (S. 29). And ganz
beſonders „an die Stelle einer Sozial⸗
politik, die allzu überwiegend auf
Schutz der hoffnungslos Armen und
Schwachen und Kranken abgeſtellt iſt,
müßte eine treten, die auch auf För-
derung der ſtarken geſunden Volkskräfte
bedacht iſt“ (S. 26). — Aber, Aber!
Wo bleibt da die Weltan-
ſchauung? Das iſt ja direkt heid⸗
niſch, wie es uns zugeſchrieben wird!
Die poſitiven Ergebniſſe der Schrift
werden nun hineingeſtellt in das beu-
tige kapitaliſtiſche Syſtem. Wo immer
fie einen Ausweg ſuchen aus den in-
neren Schwierigkeiten der Aufgabe,
ſtoßen ſie an die Wände dieſes Syſtems.
Zwar iſt der Tiefpunkt der Weltkriſe
erreicht (S. 6), doch wird vorſichtige
Kapitalverwendung verlangt (S. 7),
ſelbſt eine Währungsreform wird
(S. 6) erhofft. Aber in allen Aufſätzen
wird betont, daß natürlich Siedlung
Das Buch
ohne Barkapital unmöglich iſt (S. 12,
34, 38, 42, 53). Ja, daß der Kapital-
bedarf möglichſt eingeſchränkt werden
muß, beſonders im Gebdudebau (S. 3,
27, 79). Der Siedler ſoll zu einer Be⸗
dürfnisloſigkeit herangezogen werden,
wie die Polen über der Grenze (S. 27),
um den Kampf mit ihnen aufnehmen
zu können. Aber die Rente muß her⸗
ausgearbeitet werden. An anderen
Stellen und in anderem Sufammen-
hang ſteht der furchtbare Satz: „Die
Siedlungsbewegung, auf fid allein ge-
ſtellt, wird an den praktiſchen Schwie⸗
rigkeiten und den unerbittlichen Ge⸗
ſetzen eines von ſchwerſten Kriſen er-
ſchütterten Wirtſchaftslebens ſcheitern
und in zahlreichen mißglückten Experi⸗
menten verſanden“ (S. 72). Scheitern
und verſanden nicht ſeit der Nevolution
alle Verſuche zu einer Wirtſchaftsan⸗
kurbelung in zahlloſen Experimenten,
denen allen die geſunden Grundlagen
fehlen, weil ſie in das unerbittliche
. Syſtem hineingebaut wer⸗
d
en
Wir fangen es anders an. Wir be⸗
handeln nicht den Menſchen in der
Siedlung (S. 3, 21), ſondern wir neh-
men den Menſchen und bilden nach fei-
nen Bedürfniſſen die Siedlung. And
wenn wir dabei an die Wände des
Syſtems ftoßen, dann ſchlagen wir die
Wände hinaus, um freie Luft zu fchaf-
fen. Wie eine ſolche Einſchränkung den
Blick verdunkeln kann, erſehen wir aus
der merkwürdigen Feſtſtellung (S. 31):
„Es kam (von ſeiten der aus dem
Kriege zurückgekehrten Landarbeiter⸗
ſchaft in Oſtpreußen) zu offener Aufleh⸗
nung, zu Gewalttätigkeiten, zu Brand⸗
ſtiftungen“ (gegen den Großgrundbeſitz).
And weiter: „Es liegt etwas Merk.
würdiges darin, daß es gerade die
Freikorps ſein mußten, deren Führer
heute vielfach Anhänger der Agrar⸗
Revolution geworden find, welche in
den erſten Jahren nach dem Kriege da⸗
für geſorgt haben, daß die beſtehende
Ugrar-Verfaffung Oſtdeutſchlands nicht
gewaltſam durch die Landarbeiter ab-
geändert wurde.“ Es liegt etwas
Merkwürdiges darin, was hier alles
durcheinandergeworfen wird. Marxi⸗
ſtiſch verhetzte Landarbeiter wollen den
3
549
Grundbeſitz nach ihrer Art teilen. Die
Freikorps unterdrücken den Aufruhr,
der großen Schaden zu ſtiften drohte,
um dieſen Schaden und ungeſetzlichen
Zuſtand zu verhüten, nicht um die be⸗
ſtehende Agrarverfaſſung Oſtdeutſch⸗
lands zu retten. Später ſchließen fi
die Führer dieſer Freikorps grofen-
teils der Bewegung an, die eine legale
Revolution gegen das beſtehende Sy-
ſtem auf ihre Fahne ſchreibt, nicht bloß
eine Agrar- Revolution. Iſt das nicht
ganz konſequent? And tft es nicht merk.
würdig, daß der Verfaſſer, wenn er
ſchon dieſe Dinge berührt, nicht er⸗
wähnt, wo die Siedlung heute ſtände,
wenn nicht damals die Freikorps jene
Bewegung unterdrückt hätten, und wenn
nicht heute dieſe revolutionäre Bewe⸗
gung inzwiſchen jene aufrühreriſchen
Elemente zum großen Teile zu Dilzi-
plin und Ordnung gebändigt hätte?
Mit ſolcher nachdenklichen Objektivität
kommt man heute nicht weit. Heute
heißt es ja oder nein ſagen, was da⸗
zwiſchen iſt, iſt von höchſtem Abel. Nur
mit ja oder nein kann auch der Schluß⸗
ſatz der Schrift gelöſt werden. „Alle
Kreiſe des Volkes müſſen nämlich
irgendeine Beziehung zur Siedlung
finden, damit die Siedlung zur Volks⸗
ſache wird. Sie muß Volksſache werden,
wenn ſie die Aufgabe erfüllen ſoll, den
Often national zu ſichern und der ge⸗
ſamten Volkswirtſchaft eine geſunde
Ausgeglichenheit zwiſchen Landwirt ⸗
ſchaft und Induſtrie zu bringen, wenn
ſie beitragen ſoll zur Geſundung
Deutſchlands.“
Nun wohlan, dieſe deutſche Volks.
bewegung iſt da und marſchiert. Sie
wird auch die Siedlung zur Volksbe⸗
wegung machen, zur großen, alles mit-
reißenden Bewegung.
Sie, alle Herren Mitarbeiter an der
Schrift, können nach den poſitiven Er-
gebniſſen Ihrer Aufſätze mitarbeiten
an dieſem Ziel, ſobald Sie ſich frei⸗
machen von den Gebundenheiten Ihrer
Arbeit, allein das Ziel ins Auge faſſen
und die Hinderniſſe beiſeite räumen, die
ſich Ihnen in den Weg ſtellen. Es be⸗
darf nur eines Entſchluſſes, allerdings
eines ſtarken, männlichen Entſchluſſes.
850
Wie iſt es, meine Herren, wollen Sie
nicht auch den Rubifon überfchreiten?
Wir haben's ſchon getan, ſtehen ſchon
vor den Toren Noms. Wer mit dabei
ſein will, muß mit marſchieren und mit
kämpfen, fo wie Sie ſagen, daß der
Siedler um ſeine Exiſtenz kämpfen und
opfern muß. A. R.
Dr.-Ing F. Flörke: Wege
und Grundfragen für Siedler und
Siedlung.
Der Titel der Schrift muß etwas
eingeengt werden. Die ländliche Gied-
lung, die der Landarbeiter eingeſchloſ⸗
ſen, kommt gar nicht zur Behandlung.
Der Verfaſſer beſchäftigt ſich aus⸗
ſchließlich mit der Kleinſiedlung, die
ihm Schrebergärten, Gartenſiedlung
und kleinſte landwirtſchaftliche Sied⸗
lung mit Kleintierzucht, höchſtenfalls
mit 1—2 Kühen umfaßt. Auch von die⸗
ſen behandelt er nur die Ergänzungs⸗
fledlungen, nicht die Erwerbsfiedlun⸗
gen. In dieſer Einſchränkung iſt die
Schrift eine Anweiſung eines Mannes,
der alles ſelbſt ausprobiert und prak⸗
tiſch verſucht hat, wie ein Arbeitsloſer
oder Kurzarbeiter ſich eine Kleinſied⸗
lung einrichten kann und ſoll. Der
Wert der Schrift wird etwas beein-
trddtigt durch den vegetariſchen Stand.
punkt des Verfaſſers, den er den Sied⸗
lern ſogar als Zwang auferlegt ſehen
möchte. Ausgangs und Nidtpuntt find
die heutigen wirtſchaftlichen und ſozial⸗
politiſchen Verhältniſſe und die per⸗
fonlide Nutzbarmachung der Siedlung.
Höhere Geſichtspunkte find da und dort
angeſchlagen. Wer heute ſiedeln will,
wer einen praktiſchen Wegweiſer für
Kleinſiedlung haben will, dem wird die
Schrift gute Dienſte leiſten.
„Bebaut die Erde“, Zeitſchrift für
bodenſtändige Neugeſtaltung in Dorf
und Stadt, für neuzeitlichen biolo-
giſchen Land- und Gartenbau, Obſtbau,
Obſtverwertung, ländliche Hauswirt⸗
ſchaft und Siedlungsweſen. Erſcheint
ſeit 1925 monatlich zweimal, reich be⸗
bildert. Monatlich 70 Pfg. im gleichen
Verlag wie oben, Herausgeber Ewald
Könemann. Die Inhaltsangabe für
1931, die uns vorliegt, zeigt eine um-
Das Buch
faffende und äußerſt reichhaltige Ar.
tikelreihe, wie uns ſcheint, Hauptfählich
für Garten ⸗ und Kleinbauern. Für die
praktiſche Bedeutung der Zeitſchrift
garantiert der Name des Heraus-
gebers, der ſeinerzeit einen Preis er-
hielt für die Beantwortung des Preis.
ausſchreibens des deutſchen Studenten
werkes: „Wo findet Deutſchlands Ju⸗
gend neuen Lebensraum?“ Kleinſiedler
ſinden viel praktiſche Belehrung und
Anregung in der Zeitſchrift.
Als dritte im Bunde erſcheint „Der
Hochwart“, Monatsſchrift für geiſtigen
Austauſch und ſchöpferiſchen Aufbau,
für ſachliche Verſtändigung und ſeeliſche
Vertiefung. Herausgegeben von Karl
Auguſt Walther. Landſchule Schloß
Oberellen bei Eiſenach. Jährlich 10 Mk.,
Einzelheft 1 Mk. Ang liegt ein Aus.
ſchnitt aus dem Auguſtheft 1932 vor,
der die Bedingungen und Ziele der
Landſchule Schloß Oberellen behandelt,
einer 1932 gegründeten „Volkshoch⸗
ſchule für bodenſtändige Land. und
Lebenserneuerung“. Die Schüler bei-
derlei Geſchlechts im Alter von 18—25
Jahren, allen möglichen hauptſächlich
ſtädtiſchen Berufskreiſen entſtammend,
ſollen in gründlicher Belehrung und
harter Arbeit der Siedlung zugeführt
werden. Ein zeitgemäßes und nützliches
Ziel. Die jungen Menſchen, die es zum
Lande drängt, nicht die Anbrauchbar⸗
ften der heutigen Jugend, mögen nähere
Nachrichten dort ſelbſt N
Karl Aloys Schenzinger,
Der Hitlerjunge Quer. Zeitgeſchichte⸗
Verlag, Berlin.
Quer! Sein Spitzname, weil er in
Temperament und Tat ſo quedfilberig
ift. Er ift ſtolz auf den Spitznamen, und
hunderte Kameraden beneiden ihn
darum. Aber was beſagt dem Leſer die-
ſer Name? Daß es einem Dichter ge-
lungen iſt, den Typus des Hitlerjungen
zu zeichnen. Dieſer Hitlerjunge, deſſen
Vater Kommuniſt iſt, der in der Pro-
letarierwohnung ein kümmerlich muffe⸗
liges Daſein erlebt, der miterleben
muß, daß feine Mutter bis zum Selbſt⸗
Das Buch
mord arbeiten muß, da der Vater ar-
beitslos iſt, dieſer Junge kommt zur
Hitlerjungend wie von ſelbſt. Es iſt
Drang aus ſeinem Blut, der ihn dahin
treibt. Er ſieht die Jungens in ihrer
Diſziplin, in ihrer freien, offnen, fröh⸗
lichen, kampfluſtigen Art und vergleicht
damit im Inſtinkt die „Jugendeliquen“
der Kommuniſten. Seine eigene blitz⸗
blanke Jungenſeele entſcheidet gegen alle
Widerſtände von zu Hauſe, gegen alle
Widerſtände der Amgebung, und der
Junge kommt zur Hitlerjugend, nachdem
er fie gewarnt vor einem fommu-
niſtiſchen Aberfall, und damit aber das
Wagnis eingegangen iſt, von ſeinen
ehemaligen kommuniſtiſchen Kameraden
ermordet zu werden, ein Schickſal, dem
er auch zuletzt nicht entgeht.
Will man wiffen, wie der deutſche
Junge im Alter von 15 bis 20 heute
fühlt und denkt, will man wiſſen, welche
Jugend das kommende Deutſchland ge-
ſtalten und tragen wird, dann leſe man
dieſes Buch und ſehe ſich das Titelbild
des Amſchlages an. Gerade dies iſt das
Erſchütternde am Buch, daß die Sun-
gens Jungens find und nicht fo tun, als
wären fie Erwachſene, die politiſches
Bierbankgeſchwätz von ſich geben, daß
fie heiter find und fröhlich, wie eben
Jugend von Natur aus iſt (gerade die
humoriſtiſchen Stellen ſind dem Ver⸗
faſſer glänzend gelungen), und dieſe
Jugend aber viel tiefer als Erwachſene
erfaßt hat, worauf es ankommt für ihre
eigene und für Deutſchlands Zukunft.
Glänzend dargeſtellt iff das Ehr ⸗
gefühl, das in den Jungens lebt,
und wenn man einen Antertitel für das
Buch ſchreiben wollte, fo müßte er lau⸗
ten: Das deutſche Ehrgeſühl in der
Jugend. Sie handeln um der Ehre
willen, ohne es ſelbſt zu wiſſen, daß
eine Erneuerung eines Volkes nur
möglich iſt, wenn eine Gruppe von
Menſchen nur um der Ehre willen lebt
und handelt. Für ſie iſt Ehre eben
ſelbſtverſtändlich.
Ich gab meinem Jungen zu Weih⸗
nachten das Buch und ſagte ihm nichts
über den Inhalt. Nachdem er es ge⸗
leſen, fragte ich ihn, wie es ihm gefallen.
Zur Antwort gab er mir: „Vati, das
351
ift das feinſte Buch, wo es auf der
Welt gibt.“ Der Jüngere ſtand daneben
mit glühenden Augen und ſagte nur:
„Pfundig, ſchneidig!“ Ich glaube, auch
Ihre Söhne werden fo urteilen. (pl.
Thor Goote: Die Fahne hoch!
Zeitgeſchichte⸗Verlag, Berlin.
Fünfzehn Jahre Nachkriegsgeſchichte
Deutſchlands find in dieſem Roman gue
ſammengepreßt. All das Grauenhafte
vom Zuſammenbruch bis zu den Zrie-
densverträgen, all das Erſchütternde der
innerpolitiſchen Kämpfe, dann das Nin-
gen um Oberſchleſien und um Rhein
und Ruhr, während ein Großteil
Deutſchlands in Wehr. und Chrlofig-
keit verſunken war, all dies erſteht plöß-
lich wieder lebendig vor einem auf.
Man glaubt es eben geſtern erlebt zu
haben. So wie in dem andern Roman
„Quex“ als Typus der kommenden
Jugend angeſehen werden kann, ſo iſt
Lingen, die Hauptfigur des Ro-
mans, ebenfalls ein Typus, und
zwar jener Männer, die den Krieg bis
zur Neige durchkämpft, aber ſofort, als
Not an der Grenze war, ſich wieder
einſetzten, ohne zu fragen, ob man es
ihnen danken wird oder nicht, ja, fid
einſetzten, als ſie genau wußten, daß
man es ihnen nicht danken wird, fon-
dern daß ſie Gefahr laufen würden,
vom eigenen Vaterlande verraten zu
werden. (Schlageter l)
Lingen, der den Krieg hinter ſich hat,
muß auf die techniſche Hochſchule, er ſoll
und muß ja einen bürgerlichen Beruf
finden. Dieſer Abſchnitt des Nomans,
wie er und feine Kameraden ſich durch-
pauken, ihr Diplom machen, fpäter den
Doktor, Stellung finden, wieder ver⸗
lieren, inzwiſchen heiraten, arbeitslos
werden, all dieſes gibt uns die Zeit von
23 bis 31 mit einer unglaublichen Pla-
ſtik wieder. Das Spießertum Deutſch⸗
lands, die feigen Konjunkturwürmer,
das Pack, das in Ewigkeit Pack bleibt,
weil es innerlich hohl iſt und darum
geſinnungslos bleiben muß, iſt meifter-
haft gezeichnet.
Lingen wird Nationalſozialiſt, und
auch da wiederum dieſelbe Einſtellung
552
wie im Kriege, wie in Oberſchleſien und
im Ruhrkampf. Das ſelbſtverſtänd liche
Sicheinfügen, das Sicheinſetzen, frei von
Sentimentalität, fern jeder Phraſe. Da
wird einem klar, dieſer Typus und nur
dieſer konnte Schöpfer und Träger der
Millionenbewegung werden; denn er
wollte nichts für ſich, er wollte nur alles
für ein reines, reinliches, ehrliches, an-
ſtändiges Deutſchland. Haben wir in
dieſem Roman den Schöpfertypus des
kommenden Deutſchland, ſo haben wir,
wie geſagt, im Quex den Typus des
kommenden Erfüllers. Ipl.
Karl Franz Jurda: Der
Kampf um den deutſchen Often. „Zeit⸗
eſchichte Verlag und Vertriebs ⸗Geſell ·
chaft m. b. H. Berlin W 15 und Leip-
zig. Preis RM. 3.60.
Von allen anderen Bildwerken, die
über den Oſten bisher erſchienen ſind,
unterſcheidet fic) dieſes Werk des Su-
detendeutſchen Karl Franz Jurda grund-
legend dadurch, daß die Betonung ganz
unverkennbar auf dem Textteil des
Buches liegt, den die „100 Bilddoku⸗
mente deutſcher Not und deutſcher Hoff-
nung“ lediglich untermalen. Dem Gan-
zen liegt eine heute beſonders intereſ⸗
ſante politiſche Aufgabenſtellung zu⸗
grunde: die Klärung des deutſchen Oſt⸗
raumgedankens gehört in das Gebiet der
Außenpolitik hinein. Dabei wird manches
ausgeſprochen, was klar zu faſſen, man
bisher vermieden hat. Anter dem großen
Geſichtswinkel der Naumgeſetze zeichnet
der Verfaſſer die geſchichtliche Pro-
blematik im Oſten und ſtellt die Frage
nach zukünftigen Aufgaben des Deutfd-
tums im Oſtraum. Dabei ergibt ſich die
Auseinanderſetzung mit allen Cingel-
fragen in diefem Rahmen von ſelbſt.
Das Grundübel für den
ganzen europdifden Often
liegt in der Tatſache, Daf der
Liberalismus des Weſtens
zu einer weltanſchaulichen
Grundlage geworden iſt. Po-
litiſch hieß der Weg des Li-
beralismus
mungsred
Das Buch
deutet die wirkliche Durchführung dieſer
Forderung Auffplitterung und Vernich⸗
tung jeglicher auch kurzbefriſteter Le⸗
bensmöglichkeit. Es iſt ein offenes Ge-
heimnis, daß praktiſch von einer Durd-
führung dieſes Schlagwortes nicht die
Rede ſein kann, wie an dem Beiſpiel
des Auslandsdeutſchtums nachgewieſen
wird. Vielmehr war dieſe Formel ledig;
lich ein bequemes Mittel zur
Serreifung des Deutſch⸗
tums. Allerdings hat ſich auch die tat-
ſächlich durchgeführte Aufſpaltung des
geopolitiſch geſchloſſenen Oſtraumes
als Kataſtrophe für die einzelnen foge-
nannten „Nationalſtaaten“ ausgewirkt
— fie mußte es, weil das Raumgeſetz
anders lautet, als dem franzöſiſchen
Chauvinismus angenehm iſt.
Der zerſetzende und im großen ge-
ſehen widernatürliche Gedanke vom
„Selbſtbeſtimmungsrecht“ der Völker
führte alſo auf der einen Seite zur Auf⸗
löſung eines lebensgeſetzlich einheit.
lichen Raumes in „Nationalſtaaten“.
Andererſeits wurde er durch die Auf⸗
ſtellung der dogmatiſchen Min ⸗
derheitsfrage weiterhin über-
ſpitzt und iſt in dieſer Form heute noch
am Werk. Hier meint der Verfaſſer
wörtlich: „Aus der Pflege der Minder.
heit einen Kult zu machen und auf Min-
derheitenkonferenzen und tagungen faſt
eine Philoſophie der Minderheit zu
entwickeln, heißt aber Minderwertig⸗
keitskomplexe über einen theoretiſchen
Anterbau abgureagieren. Das Weſent⸗
lichſte geht nicht in der feinfühlig bis
ins kleinſte gehenden Beſonderung,
fondern im Wiederbewußtwerden des
Gemeinſamen, das aus der ſchickſals.
mäßigen Verbundenheit im Raume
reſultiert.“
Damit hat im Grundſatz der Ver⸗
faſſer zweifellos recht. Es heißt tatfad-
lich Minderwertigkeitskomplexe züchten,
wenn man einen Volksteil ſtändig als
„Minderheit“ bezeichnet und ihn damit
mehr oder minder in den Gedanken-
gang zwingt, als ſei die Zahl als ſolche
»das die Lage beſtimmende Element. Da
„Selbftbeftim- liegt dann der Aufbau einer allgemei-
t“ der Völker. Bei nen „Moral“ zu dem angedeuteten
dem gegebenen Aufbau des Oſtens be⸗ wech (nicht nur aus praktiſcher Not-
Das Buch
wendigfeit heraus) fehr nahe. Dod ein
Mißverſtändnis muß hier von vorn-
herein ausgeſchaltet werden: Wird vom
Verſaſſer der Minderheitentheſe gegen-
übergeſtellt, es genüge „nationale, fon-
feſſionelle und territoriale Autonomie“,
ſo darf man nicht überſehen, daß ja
dieſe Ziele gerade durch die Praxis der
Minderheitenpolitik erreicht werden
ſollen — wenn ſie auch vermutlich auf
dieſem Wege allein kaum erreichbar
find. Die grundſätzliche Werbung iſt
alſo unſeres Erachtens anzuerkennen.
Das Dogma als ſolches wirkt zerſplit⸗
ternd auf geopolitiſche Einheiten und
wird überdies nur zu gewiſſen Teilen,
nicht aber in der großen Linie den
ical Lebensnotwendigkeiten ge-
recht. —
In ähnlich grundſätzlicher Weiſe wird
die Frage „Nordoſtlinie oder
Südweſtentwicklung“ zugunſten
des Nordoſtens entſchieden, behandelt
weiterhin der Vf. die grundſätzliche
Frage der Kolonialpolitik. Was wün⸗
ſchenswert, doch nicht lebensnotwendig
iſt, muß hinter dem Lebensnotwendigen
zurücktreten in Zeiten, wo es um Sein
oder Nichtſein geht. Das iſt der Ge⸗
ſichtswinkel, unter dem die heute wie ;
der moderne Frage geſehen wird.
Dieſes ſeien kurze Ei die wir
mit einem Satz der Sufammenfaffung
Jurdas beſchließen: „Die notwendige
Neugeſtaltung und einheitliche Aus-
richtung des oſteuropäiſchen Gefamt-
raumes erfolgt durch Deutſchland fried-
lich mit den kleinen Völkern oder ge-
waltſam gegen ſie — die dritte Mög⸗
lichkeit iſt nur der Zuſammenbruch der
geſamten Oſtgebiete, ihr Verſinken in
rettungsloſes Chaos und damit Ver⸗
nichtung aller fie bewohnenden Vöͤlker⸗
ſchaften.“
So tft dieſes Buch in feiner Grund-
ſätzlichkeit ganz hervorragend geeignet,
in die Fragen und Aufgabenſtellung der
Oſtpolitik einzuführen. Bei der grund ⸗
legenden Bedeutung der geopolitiſchen
Weft—Oftlinie wird dieſes Werk ſicher
die Beachtung der Offentlichkeit finden,
die ſeinen Problemen zukommt.
553
Neues Schrifttum
1. Allgemeines, Geſchichte, Statiſtik,
Grund beſitzverhältniſſe; Vereinsweſen,
Abſchätzungslehre; Mechaniſierung der
Landwirtſchaft.
Kaliſcher, Hellmuth: Die Pro-
bleme d. dt. Agrarpolitik in d. Nahe
kriegszeit u. die ſtaatl. Verſuche ihrer
Löſung (unter Ausſchl. d. Zollprobl.)
83 S. Gießen. Diff. 1931.
2. Ländliche Siedlung, Bevölkerungs⸗
lehre, Landarbeiterfragen und Vauern⸗
tum.
Eigenmann, Alb.: Neues Bau-
erntum. „Rerum Novarum” u. d. Bau ·
ernftand. Eine Abh. üb. das Rundſchr.
Leo XIII. üb. die Arbeiterfrage u. das
N. Pius XI. üb. die geſellſch. Ordnung
in ldw. Betrachtung. Azwill: Fiſcher
1932. IV., 59 S. Fr. 1.—.
Hauſer, Heinr.: Wetter im Oſten.
Jena: Diederichs 1932. 234 S. 3.60.
(Stand d. oſtpr. Siedlung) — Archiv
f. inn. Kol., Berlin. 24. 1932, H. 10/11.
521 —525.
Preuß, Evalotte: Die oſtpr. Land-
arbeiterſchaft. Ihre Entw. v. d. Gründ.
d. Ordensſtaates b. z. Gegenw. 128 S.
Königsberg. Diſſ. 1932.
Zur Angnad, Walter: Deutſche
Freibauern, Kölmer u. Koloniſten. M.
51 Abb. 212 S. Hamburg: Hanfeat.
Verl.⸗Anſtalt 1932. 6.50.
3. Das landw. Anterrichts⸗ und Bil-
dungsweſen, Wirtſchaftsberatung.
4. Ernährungspolitik.
Schäffer, Otto, Dr.⸗Ing.: Der
Milchtransport. 1. Die techniſch. Hilfs⸗
mittel d. Milchtransp. M. 64 Abb.,
12 Tab., 62 S. Hildesheim: Molkerei⸗
ztg. 1932. = RRIL. Schr. d. Neichs⸗
kurat. f. Technik in d. Landw. (Anter⸗
ausſch. f. Molkereiweſen) H. 31a. 2.50.
Schmitt, Ludw., Dr. med.: Deut-
{he Ernährung. München: Dorn ⸗Verl.
(1932). 39 S. 1.—.
5. Marktwirtſchaft (Abſatzkunde);
Handels und Preispolitit).
Althoff, K.-H., Dipl.⸗Ldw.: Der
Handel mit Molkereiprodukten im rhei⸗
554
niſch⸗weſtf. re atte 109 Seit.
Bonn -⸗Po. Lag. Diff. 1932.
Dietrich, Wilh.: Die Erzeug.- u.
Abſatzverh. d. Obſtbaues im Koblenzer
Anbaugebiet a. 81 0 aA Mofel. 119
S. Gonn-Po. Diff. 1931.
Jasny, Ni: Die Standardifierung
von Getreide. Berlin N 4: Inſt. f. [dw.
Marktſorſchung. 1932. 151 S. 5.80.
= ee d. J. f. ldw. M. H. 4.
Zeitſchr. f. d. geſamte Getreideweſen,
Bln., 19, 1932, H. 5, 110 (Seidel). —
Fortſchritte d. Ldw., Bln. u. Wien, 7,
1932, H, 20. 521 (Kobligk).
Morgen, Herb.: Die Obſterz. u.
d. Obſtabſatz im Rheingaukr. u. in d.
Stadt Wiesbaden. E. Beitrag z. Dw.
Marktlehre. VII, 93 S., 3 Tab. Gött.
Diſſ. 1931.
Stalter, Karl: Erzeug.- u. Abſatz⸗
verh. im pfälz. Obſtbau. 89 S., 1 Rte.
Bonn-Po. Diff. 1931.
Wilbrand, W.: Erz. u. Abſatz
v. Obſt u. Gemüſe in Helfen u. Gr.-
Frankf. 1926—1929. 112 1 Darmſtadt
1931. 1.50. = Arb. d. LK. f. Heſſen
H. 48. — Gießen. Diff.
6. Kredit, Zins, Zölle, Steuern,
Monopole.
Hog, Denn: Min.Dir., Dr.: Be
lebung d. Wirtſchaft. Verordn. des
Reichspräſ. v. 4. 9. 1932. Steuergut-
ſcheinverordn. f. Steuerzahl. u. Mehr-
beſch., V. z. Berm. u. Erh. d. Arbeits-
Durchſch (Tariflockerungsverordn.) m.
Burgh run me erl. a Mitt-
ler 193 VII. 4.50.
Riefom, Wilh., 1 Min.
Rat: (dw. Vermittlungsverfahren
ae d. 5 d. Reichspräſ. v.
27. 9. 1932 (RG Bl. I, S. 473) nebſt
eee ee v. 17. Nov.
Das Buch
1932. Erl. Berlin: Vahlen 1932. 105
S. 3.75.
Rögind, Sven, Lektor: Die Mo-
nopolbetriebe a. d. Gebiet d. Spiritus.
induſtrie. E. Stud. üb. die Organiſ. u.
d. Ergebniſſe d. Staatsmonopole u. d.
monopl. Betriebe. a. u. Leipzig:
de Gruyter 1932. 88 ©.
Wirkungen u. Aſachen d. hohen
Zinsfußes in Deutſchland. A. Mitarb.
von ... Hrsg. von Karl Diehl u. a.
M. 12 Abb. im Text, = 928 ©. Sena:
Fiſcher 1932. 44.—, Lw. 46.—.
7. Privat- und Sozialverſicherung;
ö
8. Verſchiedenes.
Reiners, Ludwig, Dr.: Die a
felt Wirtſchaft. Mit 75 .
a 4. Aufl., München: C. H. Bed
193 XI, 304 S. 4.20; Lw. 5.80.
Salin, Edgar: Wirtſchaft und
Staat. 3 5 zur dt. Weltl e.
Berlin: en 1932. 206 ©.
4.20; Lw. 5.40. — Die 1. Schrift if
erw. aus „Weltwirtſch. Archiv“, 1932,
die 2. ein Abdr. aus „Deutſche Agrar ⸗
politik“. Ebd. 1932.
Schloz, Wilh.: Wirtſchafts⸗Will⸗
für od. Wirtſchafts⸗Ordnung. E. Aus⸗
einanderſ. mit d. Wirtſchaftsfragen d.
Gegenwart. V 1):
8 Verl. 1933 (Ausg. 1932).
Schomerus, Joh., Ldw.-Rat:
Die biologiſch⸗dynam. Wirtſchaftsweiſe
im Obſt- u. Gartenbau. Düſſeldorf:
Pflugſchar⸗ Verl. 1932. 120 S. 1.85.
Wörterbuch d. Volkswirtſchaft,
in 3 Bdn. Bearb. von ... Hrsg. von
Prof. Dr. Ludw. Elſter. 4. Aufl.
Bd. 2. Jena: Fiſcher 1932. 1214 S.,
8 Abb. 49.50; Hldr. 56.50.
Druckfehlerberichtigung.
Im Dezemberheft im Artikel „Amerika, Kriegsſchulden, Bauerntum“ iſt ein
finnentſtellender Druckfehler unterlaufen. Auf Seite 432, poe 12, muß es
beißen: Das Böſeſte war, daß der Europäer anfing
uptſchriftleitung und verantwortlich für den geſamten textlichen Inhalt: Dr. ann Netfdle,
2 1 5 a og - Wilhelm Straße 59. a eas age Verlag un git b eumlebg.
§., Berlin W 15. Druck der Meperſchen Bofbuchdru py fn Detmold.
Anſchriftenverzeichnis der Mitarbeiter der Monatsſchrift
„Deutſche Agrarpolitik“, Heft Januar 1933
R. Walther Darré, M. d. R., Solln b. München, Hofbrunnſtraße 50
Karl Scheda, Syndikus, Berlin⸗Charlottenburg, Gieſebrechtſtraße 14
Leopold Plaichinger, München, Von⸗der⸗Tann⸗Straße 22.
Dr. h. c. Ragnar Berg, Dresden, Weißer Hirſch
Walter Bohm, Altona⸗Bahrenfeld, Gieſeſtraße 23
Dr. Fritz Zweigelt, Regierungsrat, Leiter der Bundesrebenzüchtungs—
ſtation in Kloſterneuburg (Oſterreich)
Dipl.⸗Landwirt Roland Schulze, München, Herzog-⸗Wilhelm⸗Straße 32
Dipl.⸗Inl. Karl Motz, München, Hollandſtraße 7, I
Wirtſchaftlicher Beobachter
Nationalſozialiſtiſche Wirtſchaftszeitung für die Schaffenden
aller Stände und Berufe
Herausgeber Fritz Reinhardt
Vorſitzender des Haushaltsausſchuſſes des Reichstags und e des
Reichswirtſchaftsrats der NSDAP.
Laufende Behandlung aller Wirtſchaftsfragen. Außer den
Leitaufſätzen und ſonſtigen Aufſätzen die folgenden Abteilungen: Reichsregie⸗
rung, Reichstag, Parteien — Länder, Gemeinden, Gemeindeverbände —
Schulden und Zinſen — Banken — Induſtrie — Handel, Handwerk, Gewerbe
Hausbeſitz — Warenhäuſer und Konſumvereine — Landwirtſchaft — GForft-
wirtſchaft — Außenhandel — Arbeit, Löhne, Soziales — Stand der Arbeits-
loſigkeit — Börſe — Börſenbericht — Außenpolitiſche Wochenüberſicht —
Statiſtiſche Aberſichten, insbeſondere: Einnahmen des Reiches an
Steuern, Zöllen und Abgaben — Einnahmen und Ausgaben des Reichs —
Reichsbank — Bilanzüberſichten deutſcher Kreditbanken und Girozentralen —
Sparkaſſen des Deutſchen Reichs — Pfandbriefe, Kommunalobligationen,
Hypotheken, Kommunaldarlehen — Geld und Kreditbewegung — Konkurſe
und Vergleichsverfahren — Meßziffern der Großhandelspreiſe in Deutſchland
und im Ausland — Ernährungs- und Lebenshaltungskoſten — Deutſchlands
Außenhandel in Gruppen — Marktverkehr mit Vieh — Deutſche Seefiſcherei
und Bodenſeefiſcherei ufw. — Jegliche Anträge der National:
ſozialiſten im Reichstag und im Preußiſchen Landtag, ge
ordnet nach Landwirtſchaftspolitik, Siedlungspolitik, Mittelſtandspolitik,
Sozialpolitik, Arbeitsmarktpolitik ufw. — Ausführliches Sachregiſter,
das vierteljährlich erneuert wird. — Mit Wirkung ab Januar 1933 Beilage
„Steuerpraxis“, die den Leſer in das Gebiet des geſamten Steuerrechts
einführt und ihm in allen Steuerfragen auf dem laufenden hält.
Der Wirtſchaftliche Beobachter befindet ſich im zehnten Jahrgang, erſcheint
wöchentlich und koſtet vierteljährlich 3,60 RM. und 18 Rpf. Zuftellgebühr.
Zu beſtellen am Schalter jedes Poſtamtes.
Verlag Fritz Reinhardt, Herrſching am Ammerſee
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Inhaltsverzeichnis
Seite
DOOM. 2 4 Kh fa eee oe oa owe Se we ee 555
Herbert Backe / Der Zuſammenbruch der unvölkiſchen Wirtſchafts⸗
err ðͤ SS ee 556
Walter Granzow / Siedlung in Medlenburg. Schwerin . . . . 575
Barriſter / Weltwirtſchaftskriſe — eine Raflenfrage . . . . . . 578
G. v. M. / Oftfeeraum und Oftraumpolitit . . . . 2 22... 586
Kurt Fachmann / 1933, das Schickſalsjahr des deutfchen
Gartenbaunininingasddsssnnnsssnssse. 590
Magermilchverwertung durch Kaſeinherſtellunn g.. 604
Wie können Ergebniſſe der Landarbeitsringe bevölkerungspolitiſch
ausgewertet werdeedn)))ds. 609
Feldgemüſebau und Flurbereinigunnlnn sass 613
Das Ar cht) 615
Neues Schrifttunnnnnn0ʒmʒnʒum Un 619
Anſchriſtenverzeichn iiii s 621
—
Jedes Heft RM. 150 . DPierteljährlih 3 Hefte RM. 3.60
zuzüglich Beſtellgeld. Beſtellungen durch den Verlag oder bei jeder Poſtanſtalt.
Poſtvertrieb ab Detmold
arpolitif
Monatelchriſt für Deutſches Bauerntum
Hauptlchriſtleitung Dr. Hermann keilchle
—ů zen a IE ͤ—ͤ—! .' KK POF ES EE SS ee SS Pe ea So
„Zeitgeſchichte“ Verlag und Vertriebs⸗Geſellſchaft m. b. h., Berlin 1015
Meinekeſtraße 20
Deullche. Agr
Heft 8 Februar 1933
Bauer iſt, wer in erblicher Verwurzelung
feines Geſchlechts mit Grund und Boden
fein Zand beſtellt und feine Tätigkeit als
eine Aufgabe an feinem Geſchlecht und feis
nem Volk betrachtet. Zandwirt ijt, wer ohne
erbliche Verwurzelung ſeines Geſchlechts
mit Grund und Boden fein Land beftellt
und in diefer Tätigkeit nur eine Aufgabe
des Geldverdienens erblickt.
R. Walther Darré
Herbert Bade:
Der Zuſammenbruch der unvölkiſchen Wirtſchaſtsſtruktur
Vorbemerkung der Schriftleitung: Vom 11.
bis 14. Februar fand in Bad Oeynhauſen die agrarpolitiſche
Konferenz der Friedrich-⸗Liſt⸗Geſellſchaft unter Leitung von
Bernhard Harms⸗Kiel ſtatt. Der Verfaſſer des vorliegenden
Aufſatzes nahm gemeinſam mit dem Anterzeichneten als Beob-
achter an der Konferenz teil, über deren Ergebnis zu gegebener
Zeit an dieſer Stelle noch Näheres zu ſagen ſein wird. Wie
erwartet werden mußte, vermochte die Konſerenz nicht zu den
grundlegenden Problemen vorzuftoßen, die nach unſerer Mei ⸗
nung in die Zeitenwende der Wirtſchaftswirtſchaft geſtellt ſind.
Die vorliegende Arbeit Herbert Backes, die bereits 14 Tage
vor der Konferenz geſchrieben wurde, bringen wir unver-
ändert zum Abdruck, weil durch fie u. E. am ſchärfſten unter-
ſtrichen wird, was auf der Konferenz zur Erörterung ſtehen
mußte, aber nicht erörtert wurde. Nach dem Verlauf der Kon-
ferenz geben wir uns noch weniger als vorher der Hoffnung
hin, die Vertreter der deutſchen Wirtſchaftswiſſenſchaften und
noch viel weniger die mit der Wahrung unterſchiedlicher In⸗
tereſſen beauftragten Vertreter der Wirtſchaft für die völ⸗
kiſche Auffaſſung aufſchließen zu können.
Hermann Reiſchle.
Der Reichskanzler von Schleicher ſtürzte, weil er die Lage, in der ſich das
deutſche Volk befindet, und damit auch die Aufgabe einer deutſchen Regierung
völlig verkannte. Wenn der Reichskanzler von Papen immerhin ahnte, daß es
ſich in Deutſchland um einen Kampf der Weltanſchauung handelte, und wenn
er daher — in der Abſicht, den ſterbenden Liberalismus nochmals zu retten —
bewußt und mit Nachdruck auf die „letzte Chance“ des Anternehmertums hin-
wies, ſo zeigte bereits die Rundfunkrede des Reichskanzlers von Schleicher,
daß er dieſen Kampf der Weltanſchauungen überhaupt nicht ſah. Er verſtand
deshalb auch nicht, daß ein Kampf wie dieſer ausgetragen werden muß, daß
die Aufgabe einer jeden Regierung ſein mußte: für die aufbrechende völkiſche
Idee ſich einzuſetzen, oder — wenn man ſie ablehnte — gegen dieſe und für den
ſterbenden Liberalismus mitſamt allen ſeinen marxiſtiſchen Zerſtörungspro⸗
dukten. Reichskanzler von Schleicher mußte in dieſem Kampf Stellung neh⸗
men, wenn überhaupt ſeine Regierung einen Sinn haben ſollte. Das verkannte
a — — $8 ——
— 63. rZ . — — . — —
Der Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur 557
er völlig und kam deshalb — ftatt den weltanſchaulichen Gegenſatz anzuerkennen
und ihn auszutragen — zu der Parole des „Ausgleichs“, „der mittleren Linie“,
die „frei von Dogmen“ ſein ſollte. Während die in Deutſchland ringenden
Kräfte Entſcheidung forderten und erzwangen, machte der Reichskanzler Sau-
berkunſtſtücke mit „Konklave“ und „Schäferhund“, glaubte — unter tatkräftiger
Anregung des „Tatkreiſes“ — ſich unter der Hand eine Mehrheit zu ſchaffen
mit Volksteilen, die mitten im Austrag des Gegenſatzes ihrer Weltanſchau⸗
ungen ſtehen. Nicht Ausgleich, ſondern Entſcheidung — das
hatte eine Regierung dem Volke in dieſer Lage zu bringen.
Weil Herr von Schleicher das verkannte, deshalb war ſeine Regierung von
vornherein ein totgeborenes Kind.
Die Anerkennung deſſen, daß es ſich um einen Kampf zweier Weltanſchau⸗
ungen — der ſterbenden liberalen und der aufbrechenden völkiſchen — handelt,
iſt Vorausſetzung dafür, daß man überhaupt die Nöte des deutſchen Volkes
begreift und den Weg findet, fie zu meiſtern. Da Weltanſchauung nicht „ent
wickelt“ wird, ſondern als Sehnſucht oder Geſtaltungswille aus der Erbmaſſe
wächſt, iſt dieſer Kampf der Weltanſchauungen zutiefſt ein Kampf des Blutes,
ein Kampf der Raffe. Es liegt auf der Hand, daß es ſich bei einem ſolchen
Kampf nicht um Ausgleich handeln kann. Wir ſtehen nicht in einer organiſchen
„Fortentwicklung“ des Liberalismus, ſondern im Zeichen einer völkiſchen Ne⸗
volution. Das Kennzeichen der Revolution iſt aber die Amwertung der bis⸗
herigen Werte, das Aufſtellen „neuer Tafeln“, ein neues Wertmaß. Des⸗
halb iſt der Nationalſozialismus eine revolutionäre Be-
wegung, denn er ſetzt aus einem dem herrſchenden Libera⸗
lismus entgengengeſetzten und abgewandten Wertmaß
einen neuen Anfang, der nicht auf der vergangenen liberalen Entwick⸗
lung aufbaut oder ſie zur Vorausſetzung hat, ſondern einen mit den Lebens⸗
geſetzen in Einklang ſtehenden neuen Wachstumskern bildet. Deshalb ſind
aber auch die marxiſtiſchen Sprößlinge des Liberalismus trotz revolutionärer
Taktik evolutionär, denn ſie bejahen die liberale Entwicklung, ſehen darin eine
Entwicklungsphaſe, eine notwendige Vorausſetzung der marxiſtiſchen Entwick⸗
lung. Der Marxismus iſt fomit als evolutionäre Bewegung
nicht Anfang mit einem neuen Wertgefühl, ſondern Ende
einer — vom Marxismus aus gefehen — notwendigen libe⸗
ralen Entwicklung; das letzte Zerſetzungsprodukt einer
ſterbenden Idee der Gleichheit und Freiheit der Menfſchen.
Indem der Marxismus die materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung zu ſeiner
Grundlage machte, bewies er nur feine Abſtammung vom Liberalismus (Mi-
lieutheorie) und muß zwangsläufig deſſen Schickſal auch teilen. Die liberale
Front von den „Nationalen“ bis zur KPD. unterſcheidet ſich nur in der
Wahl des Nutznießers, nicht aber in der Idee; ihr Schickſal iſt beſiegelt durch
558 Herbert Backe
das Sterben des Liberalismus. Sie würde fterben auch dann, wenn feine völ-
kiſche Gegenfront da wäre, nur würde dann das ganze Volk in den Untergang
hineingezogen; ſo brennt heute Nußland aus, wo die weſenloſe Apparatur —
die Sache — über das Blut — den Menſchen — geſiegt hat. Daß dieſes Aus-
brennen ſich ſolange hinzieht, liegt an der, infolge völkiſcher Anfruchtbarkeit der
Ruffen — fehlenden Gegenfront, deren Aufgabe das wäre, was Nietzſche in
den Worten ausdrückt: „Was fällt, das ſoll man auch noch ſtoßen!“
Es entſteht nun die Frage: Hat denn dieſer Weltanſchauungskampf, der
ſich doch nur auf das Gebiet der Politik und der Kultur bezieht, etwas mit
Wirtſchaft zu tun? Die Wirtſchaft — fo halten uns die Liberaliſten vor —
iſt doch ein in Jahrzehnten natürlich entſtandener, komplizierter und gegen alle
politiſchen Störungen empfindlicher Mechanismus. Gerade die politiſchen Ein⸗
griffe — Krieg, Revolution, Reparationen uſw. — hätten ja dieſen Mecha⸗
nismus ſo geſchädigt, daß nun die große Wirtſchaftsnot entſtanden wäre, die
nur behoben werden kann, wenn wieder „wirtſchaftliche Vernunft“ einkehre,
wenn „Sachkenntnis“ und ſachliche Arbeit — die ſogenannte ,,pofitive Mit.
arbeit“ — zu ihrem Rechte kämen, wozu alle, die guten Willens find, freund-
lichſt eingeladen werden.
Man kann nicht ſcharf genug dieſem Irrtum entgegentreten. Die Wirt⸗
ſchaft, ihre Struktur und Formen ſind durchaus nicht ein Ding an ſich, ein
„Rührmichnichtan“, das ſich unter eigenen unabänderlichen Geſetzen entwickelt
bat, ſondern auch die Wirtſchaft iſt raſſebedingt; fie iſt nur eine unter den ver⸗
ſchiedenen Geſtaltungsformen des Volkes, und zwar diejenige, welche es mit
der materiellen Bedürfnisbefriedigung eines Volkes zu tun hat. Wirtſchaft
iſt nicht losgelöſt von völkiſcher Bedingtheit, ſondern Geſtaltungsform der
weltanſchaulichen Idee, die im Volke herrſcht oder — in völkiſchen Verfalls⸗
zeiten — über das Volk herrſcht (Judentum). And ſoweit eine Wirtſchafts⸗
ſtruktur ſich losgelöſt von völkiſcher Bindung „entwickelt“, folgt zwangsläufig
zu irgendeiner Zeit ihr Zuſammenbruch, da ihre Formen und ihr Zweck infolge
dieſer „Entwicklung“ ſich gegen das Volk ſelbſt richten müſſen, gegen deſſen
Lebensgeſetz, überhaupt gegen jedes organiſche Wachstum. Es iſt der große
Irrtum unſerer Gegner zu glauben: die Wirtſchaftsnot hätte erſt den Welt⸗
anſchauungskampf hervorgerufen, die politiſche Kriſe nach ſich gezogen; der
Nationalſozialismus wäre aus einer wirtſchaftlich bedingten Verzweiflungs⸗
ſtimmung heraus geboren und gewachſen. Sicher war die Wirtſchaftskataſtrophe
mit ein Anlaß des Anwachſens der Bewegung, weil Teile des Volkes erſt
durch dieſe Kataſtrophe aus jahrzehntelangem Trott aufgerüttelt wurden. Je⸗
doch iſt es nicht ſo, daß die weltanſchauliche Ausrichtung des Volkes im Natio⸗
nalſozialismus eine Folge des Wirtſchaftszuſammenbruchs und der daraus
geborenen Verzweiflungsſtimmung iſt, ſondern der Wirtſchaftszu⸗
ſammenbruch iſt eine konſequente Folge deſſen, daß man
Der Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur 559
die Wirtſchaft außerhalb der völkiſchen Bedingtheit „ent-
wickelte“, daß ſie aufgebaut wurde durch einen Geiſt, der
dem deutſchen Volke artfremd war, daß fich in ihr eine
Weltanſchauung ſpiegelte, die ſich bewußt von „engen und
engſtirnigen“ völkiſchen Belangen abſetzte. Die Verkennung
der völkiſchen Bedingtheit auch des Wirtſchaftslebens ſeitens der Geſtalter
und Führer der Wirtſchaft führte zu der wirtſchaftlichen Kataſtrophe. Der
Liberalismus jedoch erſtarb in Ehrfurcht vor feinem grandioſen Wirtſchafts⸗
aufbau; heute zeigt ſich, daß dieſer Aufbau in bezug auf das Volk und damit
in bezug auf jedes einzelne Glied des Volkes eine „Fehlinveſtierung“ war.
Nun ſteht dieſe wunderbare, ach jo komplizierte Apparatur da und .. . läuft
nicht, weil ſie ja dem Volke gar nicht zu dienen vermag, mit einer ſolchen
Zielſetzung gar nicht erbaut wurde. Was liegt näher für dieſe Führer als der
Gedanke des „Ankurbelns“; denn nur wenn dieſe Apparatur läuft, hat ja das
Daſein dieſer „Führer“ überhaupt einen Sinn, der ſich ſachlich in klingendem
Profit und Tantieme äußert. Dabei verkennen fie, daß dieſe Maſchine ſtill
liegt, weil ſie nicht für das Volk, ſondern gegen deſſen Lebenswillen und
Lebensgeſetz errichtet iſt. Erſt wenn die Wirtſchaft ſich dem neuen Geiſt beugt
und wieder erkennt, daß ſie für das Volk da iſt, wird ſie auch vom Volk den
Impuls — die „Ankurbelung“ — erfahren. Nicht früher. Daß das eine ge⸗
waltige Amformung der heutigen Wirtſchaftsſtruktur, ihrer Formen und des
Geiſtes, der in ihr herrſcht, bedeutet, braucht wohl kaum erwähnt zu werden.
Gerade „nationale Kreiſe“ müßten ſich über die raſſiſche oder völkiſche Be⸗
dingtheit der Wirtſchaft klar werden. „National“ und „liberal“ find unüber⸗
brückbare Gegenſätze; einem inſtinktloſen deutſchen Weltbürgertum nebſt wiſſen⸗
ſchaſtlichem Anbau iſt es vorbehalten geblieben, dieſe Gegenſätze zu einem
Begriff — „Nationalliberal“ — zuſammenzukoppeln, der noch heute als gei⸗
ſtiger Nähr⸗ und Mutterboden den „Nationalen“ bis zu ihren Ausläufern
in der Wirtſchaftspartei dient. Ein abſurder Begriff: denn „national“ ſetzt
voraus: Bindung in Blut und Boden; „liberal“ aber heißt: Löſung von Blut
und Boden, Emanzipation, Freizügigkeit, Weltbürgertum; „national“ ſetzt
voraus: Anerkennung der Angleichheit auf blutsmäßiger Grundlage und damit
Anerkennung der Raſſe, Anerkennung des Volkes als gegliederter Blutsgemein⸗
ſchaft, Anerkennung geborenen Führertums; „liberal“ aber heißt: Gleichheit
aller Menſchen und damit Nichtanerkennung des Raſſeprinzips, Zerſtörung
und Auflöſung des Volkes, Führertum durch Wahlarithmetik. In der Be⸗
jahung der heutigen Wirtſchaftsformen, in der Warnung vor „Experimenten“
zeigt ſich nur, wie ſehr die „nationalen Kreiſe“ dem Liberalismus verhaftet
find, zeigt ſich, daß fie glauben, ſich von Natur ausſchließende Gegenſätze durch
eine Formel „Halb und Halb“ zu überbrücken. And in dem Maße, als man ſich
den „ſachlichen Notwendigkeiten“ der Wirtſchaft beugt, wird das „Nationale“
560 Herbert Backe
zur Phraſe, zum Deckmantel. Aus der Inkonſequenz dieſer Schorle⸗Morle
heraus entſtand die ſogenannte „pofitive Mitarbeit“ der „nationalen“ Par⸗
teien mit Zentrum und SPD., die fic erwies als eine pofitive Mitarbeit am
Zuſammenbruch des Staates, an der Pleite der Wirtſchaft. And jeder, der die
weltanſchauliche Bedingtheit der Wirtſchaft auch heute noch verkennt, arbeitet
weiter pofitiv am Zuſammenbruch.
Der Irrtum des Liberalismus auf dem Gebiete der Wirtſchaft war der
Glaube, daß aus der Summe von Millionen von Eigennutzen — Gemeinnutz
entſtehen könnte. Hier verkannte man die völkiſche Gebundenheit der Wirt⸗
ſchaft; man glaubte, es entſtünde ſchon automatiſch eine Harmonie, wenn nur
die Wirtſchaft ſich „frei“ — d. h. losgelöſt von den Belangen des Volkes —
entwickele. Man glaubte, daß Dienſt am Geſamten durch Verdienen der Ein⸗
zelglieder entſtehen könne und forderte deshalb den „Nachtwächterſtaat“, dem
man nur die Sorge um diejenigen aufbürdete, die bei dieſem Verdienen auf der
Strecke blieben. Dieſer Irrtum blieb äußerlich während des ganzen vorigen
und Anfang des jetzigen Jahrhunderts verborgen. Man beraufchte ſich an der
Wirtſchaftsblüte, am ſteigenden Volkswohlftand und nahm die Symptome der
Krankheit — die Kriſen — als in der Natur der Wirtſchaſt liegende Reini-
gungsvorgänge auf die leichte Schulter. Tatſächlich überſtand die Wirtſchaft
auch die Kriſen, und jeder Kriſe folgte eine um ſo größere „Blüte“. So wurde
die Richtigkeit der privatkapitaliſtiſchen Erwerbswirtſchaft zum Dogma er-
hoben. Zukunftsſinn wurde erſetzt durch obligatoriſchen Optimismus. And
heute? Auch heute find dieſe Menſchen geblieben, was ſie waren: Liberaliſten.
Deshalb wird ſeit Jahr und Tag von der nun bald eintretenden Wirtſchafts⸗
belebung geſprochen, von dem tiefſten Punkt der Kriſe, der nun überwunden
iſt, von der Beendigung des Konjunkturabſchwungs und der Erreichung „jener
Talſohle, nach deren Durchquerung ein neuer Anſtieg, der Konjunkturauf⸗
ſchwung beginnen kann“. (Bericht des Konjunkturinſtituts zum Jahresende.)
Der ganze „Papenplan“ beruht auf dieſem Optimismus, auf dem uns ſo
wohlbekannten „Silberſtreifen“. Wie man durch jahrelange Pumpwirtſchaft
zukünftige Kaufkraft vorweggenommen hat (um — und das iſt die Tragik des
Arbeiters — mit dieſer Kaufkraft über die Rationalifierung die Väter derer,
denen man die Kaufkraft vorwegnahm, die man mit Schulden belaſtete, die ſie
einſt abzahlen müſſen, ſchon jetzt auf die Straße zu werfen), genau ſo werden
nun im Papenplan zukünftige Steuerermäßigungen vorweggenommen, um als
„Kaufkraft“ die Wirtſchaft zu beleben, „anzukurbeln“. Wie all die Jahre und
Jahrzehnte: Optimismus! Optimismus um jeden Preis. Man iſt ſich ſo
wenig klar über dieſen Optimismus, daß man verkennt, daß er nur eine not⸗
wendige Begleiterſcheinung tatſächlicher Vorgänge in der „Wirtſchaftsent⸗
wicklung“ war, der Erſchließung immer neuer Kaufkraft durch Erſchließung der
Der Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur 561
Welt. Jetzt wird diefer Optimismus zum Fetiſch, aus Begleiterſcheinung
macht man Arſache der prosperity und warb nun ſogar regierungsfeitig um
Vertrauen: habt Vertrauen, dann iſt der liebe und für uns fo notwendige Opti-
mismus da, und dann läuft die Karre wieder. Man könnte an Hänschen denken,
der mit dem Finger auf die Quedfilberfäule des Barometers drückt, weil er
gutes Wetter haben will.
Der Liberalismus und damit die ſeinem Geiſte entſprungene Wirtſchaft
konnten dieſem uferloſen Optimismus anheimfallen, weil die, durch aufein-
anderfolgende techniſche Erfindungen erfolgte Erſchließung der Welt, d. h. die
Mobilmachung aller ruhenden Kaufkraft ſowohl der im Großmutterſtrumpf in
Europa als derjenigen in den Weltverkehr einbezogenen Kolonialländer, der
Produktionsſteigerung einen dauernden Auftrieb gaben. So raſend die Pro-
duktionsſteigerung auf induſtriellem Gebiet auch ſtattfand, die Waren fanden
Kaufkraft und damit Abſatz. Der Fluß des Geldes nach dem induſtriellen
Europa hob hier wieder den Wohlſtand und die Kaufkraſt. Dabei iſt von aus⸗
ſchlaggebender Bedeutung, daß ein erheblicher Teil der Induſtrie⸗Produktion
der Erzeugung von Inveſtitionsgütern (Eiſenbahnen, Fabrikanlagen, Flotten,
ſtädtiſcher Wohnungsbau, Fabrikausrüſtungen) diente und nur ein Teil der
Erzeugung von Verbrauchsgütern. Gerade dieſe Zuſammendrängung der
Schaffung von Gebrauchsgütern (Inveſtitionsgütern) auf einige Jahrzehnte
ſpannte den Rahmen der induſtriellen Erzeugung über das Maß weit hinaus,
das ihr nach Abſchluß dieſer Inveſtierungsperiode zukommen konnte. Nachdem
aber der Bedarf an Inveſtitionsgütern im induſtriellen Europa zu erlahmen
begann, kam der letzte große Auftrieb durch den Ausbau nationaler Induſtrien
in den Agrar- und Kolonialländern, der bis in die Nachkriegszeit hineinreichte.
Hier ſchaufelte Induſtrie⸗Europa bereits ſchon das Grab feiner eigenen Indu⸗
ſtrie. Praktiſch äußerte ſich dieſe Kolonialinduſtrialiſierung — was ſehr wich⸗
tig iſt — wiederum als eine auf kurze Zeitſpanne zufammengedrängte Erzeu⸗
gung von Inveſtitionsgütern, die in dem Maße des Anwachſens nationaler
Induſtrien an Stoßkraft verlieren mußte. Es liegt auf der Hand, daß einmal
infolge Mangels neu zu erſchließender Länder und damit Kaufkraft und in-
ſolge der nationalen Dezentraliſation der zunächſt in Weſteuropa, dann auch
in USA. entſtandenen Hochinduſtrie der Zeitpunkt kommen mußte, wo der
Bedarf an Gebrauchsgütern ſich theoretiſch dem Nullpunkt näherte. War alſo
bis in die Jahre nach dem Kriege ein dauernder Auftrieb der induſtriellen Er-
zeugung gegeben, der über zeitweilige Aberproduktionskriſen hinweghalf, ſo
trat der Moment der Aberſättigung, der induſtriellen Aberſetzung wenige
Jahre nach dem Kriege ein.
Nur andeutungsweiſe und durchaus nicht Anſpruch auf Vollſtändigkeit er⸗
hebend iſt hier der Anterſchied zwiſchen dem induſtriellen Dauerauftrieb des
562 Herbert Backe
letzten Jahrhunderts bis nach dem Kriege und der nun einſetzenden Schrump-
fung gekennzeichnet. Am Rande ſei noch erwähnt, daß jener Auftrieb und die
jetzt einſetzende Schrumpfung nicht nur die Induſtrie erfaßte, ſondern von
dieſer ausgehend auch Handel, Beamtenſchaft, freie Berufe uſw.
Die Verkennung der Arſachen des induſtriellen Auftriebs im letzten Jahr⸗
hundert und damit das Aberſehen, daß dieſer Auftrieb nur für die Zeit des
Aufbaus der Induſtrie mit allen damit verknüpften Begleiterſcheinungen in
dem bisherigen Maßſtab aufrechterhalten bleiben konnte, erzeugte die opti⸗
miſtiſche Geiſtesſtruktur der Wirtſchaftsführer. Statt klarer Erkenntnis der
Arſachen der prosperity — gefühlsmäßig bedingter kindlicher Glaube an eine
Zukunftsentwicklung. Man unterſchätze dieſe bei den Wirtſchaftskapitänen
herrſchende Geiſtesrichtung nicht: ſie iſt es, die noch heute die Grundlage der
falſchen Handels- und Wirtſchaftspolitik ausmacht und gerade bei den „ſach⸗
lichen Wirtſchaftsköpfen“ noch heute ein krampfhaftes Feſthalten an einer
längſt überholten Entwicklungsrichtung erlaubt. Es ift für die Zuſpitzung der
Lage bezeichnend, daß nun auch von wiſſenſchaftlicher Seite das Problem einer
Durchleuchtung unterzogen wird. Im „Weltwirtſchaftlichen Archiv“ (Januar
1933) ſchreibt Profeſſor Monoilesco )):
„Es ſei jedoch feſtgeſtellt, daß wir die naive und vereinfachende Theorie aufs
entſchiedenſte ablehnen, die in dem Aufgeben liberaler Methoden die vor⸗
herrſchende, wenn nicht fogar die alleinige Arſache der Weltkriſis erblickt und
von der Rückkehr zu dieſen Methoden erwartet, ſie werde automatiſch das alte
Gleichgewicht wiederherſtellen. Eine ſo oberflächliche Auffaſſung verſäumt es,
die tiefgreifende und weſentliche Wandlung in Betracht zu ziehen, die ſich in
der nachkriegszeitlichen Weltwirtſchaſt vollzogen hat. Vor dem Kriege erheiſch⸗
ten die gewaltige Ausdehnung der Abſatzgebiete und die unbegrenzte Entwick⸗
lungsmöglichkeit der Induſtrieländer eine individualiſtiſche Organiſation, weil
ſie dieſen Ländern eine raſche Bedürfnisbefriedigung und erweiterung gewähr⸗
leiſtete. Für jenes intenfive, ſchier grenzenloſe wirtſchaftliche Vorwärtsſtürmen
erwies ſich das Syſtem des Individualismus und der freien Konkurrenz als
mögliche, ja als unerläßliche Wirtſchaftsform. Nun erhebt ſich die Frage: Iſt
dieſe Wirtſchaftsform auch der nachkriegszeitlichen Weltwirtſchaft in gleicher
Weiſe adäquat? Es ſei ein Schlußergebnis bereits vorweggenommen: Die
vorkriegszeitliche individualiſtiſche Methode war Folge, nicht Arſache der
weltwirtſchaftlichen Lage. Sie bildete gleichſam den Schatten der damaligen
Weltwirtſchaft. Eine Amformung des Schattens aber vermag nicht die Am⸗
formung des ihn werfenden Gegenſtandes zu bewirken.“
1) Die Zerſplitterung und Wiederergänzung der Weltwirtſchaft, „Weltwirt-
ſchaftliches Archiv“, Januar 1933.
Der Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur 563
Prof. Monoilesco ftellt weiter feft, „daß das Syſtem der induftriellen Sen-
tralifation mit einem ſtetigen Aufſchwung der Induſtrieländer verbunden, die
auf Koſten anderer noch nicht induftrialifierter Länder ihren Reichtum mehren,
während letztere auf unbegrenzte Zeit hinaus weiterhin einen niedrigen Lebens⸗
ſtandard behalten. Diefe Behauptung wird ſicherlich Widerſpruch finden, da
ja die klaſſiſche Außenhandelstheorie (Smith und Ricardo) gerade das Gegen⸗
teil zu beweiſen ſucht, daß ſich nämlich im internationalen Güteraustauſch die
Vorteile gleichmäßig auf die induſtriellen und die primitiven Länder ver⸗
teilen und ſogar eher noch für letztere überwiegen.“
„Solange die Wirtſchaftswiſſenſchaft den internationalen Tauſch zwiſchen
Induſtrie- und Agrarprodukten durch die Vorteile rechtfertigen zu können
glaubte, die den beiden tauſchenden Parteien in gleichem Maße zuteil wür⸗
den, konnte man noch die Auffaſſung teilen, daß die primitiven Länder ihre
Induſtrialiſierungsbeſtrebungen wieder aufgeben würden, ſobald man aber
erkennt, daß der weitaus größere Vorteil bei dieſem Tauſch dem Exporteur der
Induſtrieprodukte zufällt, muß man zugeben, daß es vom Standpunkt der primi⸗
tiven und Agrarländer durchaus nur verftändlich iſt, die Induſtrialiſierung wei⸗
terzutreiben. ... Die der Induſtrie innewohnende Aberlegenheit iſt von den
Völkern in der Regel bald erkannt worden und — merkwürdigerweiſe — auch
inſtinktiv von den führenden Staatsmännern, die entgegen den Geſetzen der
Wirtſchaftstheorie ſtets dahin ſtrebten, den in ihrer wirtſchaftlichen Entwick⸗
lung zurückgebliebenen Völkern durch Errichtung von Induſtrien die Bedin⸗
gungen für einen Aufſchwung zu ſchaffen. Die induſtrielle Dezentraliſation
nahm dann während des Weltkrieges erheblich zu.“
„Die Arbeitsteilung in einem Betrieb übt die folgenden günſtigen Wirkungen
aus: ſie bewirkt eine Steigerung der Produktivität der Arbeit und ermöglicht
eine außerordentliche Verbilligung der Erzeugniſſe. Dieſer aus der Arbeits-
teilung innerhalb einer Produktionseinheit entſpringende Vorteil drückt fid
aber in der Steigerung der geſamten Produktivität des Betriebes aus und in
der Verbilligung ſeiner Geſamtproduktion. Die Entgelte der Arbeiter dagegen
weiſen untereinander eine ſtarke Differenz auf. Diejenigen Arbeiter, die einen
einfachen elementaren Teilprozeß verrichten müſſen, etwa die Träger, erhalten
einen niedrigen Lohn, während die qualifizierten Arbeiter, etwa die mit der
Aberwachung komplizierter Maſchinen betrauten Perſonen, einen hohen Lohn
beziehen. Ein großer Anterſchied hinſichtlich der Einkommen beſteht alſo im
Vergleich zu den Zeiten, als noch jede Arbeit in ihrer Geſamtheit von ein und
demſelben Arbeiter ausgeführt wurde. Damals konnten alle Arbeiter für ihre
gleiche Arbeitsleiſtung in gleicher Höhe entlohnt werden. Heute bekommen die
innerhalb desſelben Produktionsprozeſſes tätigen Arbeiter der verſchiedenen
Qualität der Arbeit entſprechend verſchiedene Löhne. Die Spezialiſierung be⸗
deutet ſomit nicht bloß eine Qualitätsdifferenzierung der Arbeit,
564 Herbert Backe
ſondern auch eine Arbeitspreisdifferenzierung. ... Bei der inter⸗
nationalen Kooperation in einem Kontinent oder in der geſamten Welt wird
ſich auf Grund der unter den verſchiedenen Ländern herrſchenden Arbeitsteilung
der gleiche Vorgang abſpielen wie in einem arbeitsteiligen Produktions-
prozeß und in einer arbeitsteiligen Volkswirtſchaft. Wie dort die Spezialifie-
rung zu einer Differenzierung der Einkommen und Erträge führt, ſo wird bei
internationaler Kooperation eine Differenzierung der Volkseinkommen ein⸗
treten, die um ſo ſtärker ſein wird, je größer die Produktivität von Land zu
Land variiert. Welches Land wäre aber nun geneigt, ſich für den Gedanken
der internationalen Kooperation aufzuopfern, und die Erzielung eines inter⸗
nationalen Maximalertrages im Weltkonzern dadurch zu fördern, daß es ſelbſt
auf einer niederen, unrentablen Wirtſchaftsſtufe ſtehen bleibt? Jedes Land
wünſcht gewiß für die Menſchheit einen Maximalwirtſchaftsertrag — jedoch
nur unter der Bedingung, daß er ſich mit ſeinem eigenen Maximalwirtſchafts⸗
ertrag identifiziert. Dieſer Einſtellung zufolge hat die induſtrielle Dezentrali-
ſierung eingefetzt und zu dem Ergebnis geführt, daß die weſtlichen Staaten
ihrer induſtriellen Monopolſtellung verluſtig gegangen find. Angeſichts dieſer
Sachlage hätte folgerichtig ein großer Anpaſſungsprozeß ſtattfinden müſſen.
Die Induſtrieländer hätten die Preiſe ihrer Erzeugniſſe erheblich herabſetzen
müſſen, um das ungleiche Austauſchverhältnis zu mildern, ſtatt deſſen aber
leiſteten ſie einer entgegengeſetzten Entwicklung Vorſchub und ſchufen dadurch
die folgenſchwerſte und entſcheidende Vorausſetzung der gegenwärtigen Welt⸗
wirtſchaftskriſis. Die durch den Verluſt der Monopolſtellung geſchaffene wirt⸗
ſchaftliche Lage hätte eine Senkung der Induſtriepreiſe auf ein bedeutend nie⸗
drigeres Niveau als dasjenige der Agrarpreiſe erfordert. Doch die vereinigten
Anſtrengungen des Kapitalismus und des Arbeitsſyndikalismus arbeiteten
dieſer Tendenz entgegen, ſtatt ſie zu begünſtigen.“
Mit voller Abſicht find hier die Ausführungen von Prof. Manoilesco aus-
führlicher wiedergegeben als es bei Zitaten üblich iſt, denn es kam darauf an,
den Standpunkt eines, wenn auch noch vereinzelt daſtehenden Gelehrten mög⸗
lichſt vollſtändig wiederzugeben. Wir unterſtreichen auch die Folgerung: „Die
induſtrielle Dezentraliſierung ſchreitet, innerlich notwendig, ſtändig und unauf⸗
haltbar fort. Auch wenn der Krieg nicht den Welthandel lahmgelegt hätte, wäre
fie angewachſen, allerdings wohl ohne jenen Rhythmus, den ihr der Krieg und
die Nachkriegsperiode aufgeprägt haben.“ Die Auflöſung der Weltwirtſchaft,
die „Weltwirtſchaftskriſe“, kennzeichnet ſich nun als das, was ſie iſt: nicht ein
Naturereignis, aus dem man durch Silberſtreiſenoptimismus in die Zukunft
flüchten kann, ſondern als logiſches und konſequentes Endreſultat einer unvöl⸗
kiſchen Entwicklung der Wirtſchaft. And die Kräfte, die über die „Dezentrali⸗
ſierung der Induſtrie“ die Kriſe bewirkten, liegen auf völkiſchem Gebiet:
Gegenwehr der einzelnen Völker gegen induſtrielle und damit wirtichafts- und
Der Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur 565
machtpolitiſche Vergewaltigung ſeitens einiger Induſtrieſtaaten. Das Ent⸗
ſtehen autarker Volkswirtſchaften bildet den Schlußſtein dieſer „Entwicklung“.
Die völkiſche Bedingtheit der Einzelvolkswirtſchaften erweiſt ſich eben ſtärker
als ſogenannte „Wirtſchaftsgeſetze“, ja ſie ſpannt die Wirtſchaftsführer, die
dieſen „Geſetzen“ verhaftet ſind, ohne daß ſie es ahnen, als Werkzeug für völ⸗
kiſche Volkswirtſchaft und gegen eine weſenloſe Weltwirtſchaft ein.
Grob gekennzeichnet entſteht alſo zunächſt durch die liberale Wirtſchafts⸗
auffaſſung eine induſtrielle Monopolſtellung in einigen Staaten Weſteuropas.
Die Vormachtſtellung dieſer Staaten baut ſich auf auf der Ausbeutung der
Agrarländer bzw. Kolonien. Dieſer Ausbeutung ſtellen ſich die Völker inſtinkt⸗
mäßig entgegen, bauen trotz „Anrentabilität“ unter dem Schutze von Zöllen
und unter Mithilfe ihrer liberal orientierten Induſtriegegner, deren ganze
Weisheit ſich im privatwirtſchaftlichen Geldverdienen erſchöpft, eigene Indu⸗
ſtrien auf. Mit Fertigſtellung dieſer induſtriellen Aufrüſtung verliert die In⸗
duſtrie den jahrzehntelang dauernden Produktionsauftrieb. Neben der Induſtrie
in Weſteuropa und USA., deren Erzeugung bisher den größten Teil des Welt⸗
bedarfs deckte, treten die von dieſer großgezogenen nationalen Induſtrien in der
ganzen Welt als Erzeuger auf. Damit ſchon iſt der Rahmen der Induſtrie viel
größer geſpannt, als der Bedarf das erfordert. Hinzu kommt als weſentlichſtes
Moment der Wegfall des Bedarfs nach Gebrauchsgütern (Inveſtitionsgütern),
da ja die induſtrielle Aufrüſtung beendet iſt. Die geſamte Produktionskraft der
an ſich ſchon zu großen Induſtrie wird damit mehr und mehr auf das Gebiet
der Verbrauchsgüter geſchoben. Damit find die Vorausſetzungen einer dauern⸗
den Aberproduktionskriſe gegeben. Der ſcharfe Wettbewerb um den Abſatz führt
nun im letzten Jahrzehnt zu der induſtriellen Konkurrenz, die ſich ſür die In⸗
duſtrieſtaaten in einer Förderung des Exports um jeden Preis äußert. Dieſer
Wettbewerb führt zum Verfall der Preiſe auf dem Weltmarkt, der ausgeglichen
wird durch Preiszuſchläge auf den Inlandsmärkten. Der Kampf um den Welt⸗
marktabſatz bei fallenden Preiſen führt ſchließlich zur Rationalifierung der
Induſtrie, die in den dichtbevölkerten weſteuropäiſchen Induſtrieſtaaten ein
Ausſparen von Arbeitskraft bedeutet. Damit wird der Innenmarkt noch mehr
zertrümmert, als er bereits durch Preisgabe der Hauptſtütze des Binnenmarktes
— der Landwirtſchaft — in dieſen Staaten zertrümmert wurde; eine Preis-
gabe, die mit der ſcheinbaren Notwendigkeit begründet wurde, durch billige
Nahrungsmittel die Selbſtkoſten der Induſtrie ſoweit herabzuſetzen, daß einmal
die Erzeugniſſe der Exportinduſtrie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig blieben
oder wurden, zum zweiten damit der infolge der Exportverſchleuderung not-
wendige Aufſchlag auf die Induſtriepreiſe des Binnenmarktes durch einen
Abſchlag an den Selbſtkoſten eingeſpart werden konnte, um die Kaufkraft für
Induſtrieerzeugniſſe auf dem Binnenmarkt nicht zu ſchmälern, und damit den
Binnenmarkt für den Induſtrieabſatz zu erhalten. Man überſah nur, daß die
566 Herbert Backe
Kaufkraft der Landwirtſchaft der entſcheidende Faktor eines gefunden Binnen⸗
marktes war und der Ausfall dieſer Kaufkraft, hervorgerufen durch die Indu⸗
ftrieerportpolitif, den Binnenmarkt zertrümmern mußte. Dieſe Veränderungen
zeigt die Entwicklung des Eiſen⸗ und Stahlabſatzes der deutſchen Eiſen⸗
induſtrie ):
Geſamt⸗ 0 Inlands⸗ 0 0
i 0 en agun in 1 00 in : fo 75 . in 5 iy
1927 1555 100 1025 100 530 100
1928 1392 90 803 78 588 111
1929 1544 99 863 84 681 130
1930 1097 71 513 50 584 110
1931 758 49 240 23 518 98
Während die Ausfuhr künſtlich hochgehalten wurde und in den Jahren 1928
bis 1930 zum Teil erheblich gegenüber der Ausfuhr 1927 geſteigert wurde —
der zwangsläufige Rückſchlag deutet ſich erſt 1931 an —, iſt die Geſamterzeu⸗
gung ſeit 1927 ſtetig geſunken und erreichte 1931 noch nicht die Hälfte der-
jenigen 1927. Dieſes kataſtrophale Abgleiten der Erzeugung findet ſeine Er⸗
klärung in dem völligen Zuſammenbruch des Inlandmarktes, deſſen Aufnahme
unter der falſchen Wirtſchaftspolitik im Jahre 1930 auf die Hälfte des Jahres
1927 abſackt, im Jahre 1931 ſogar auf nicht einmal ein Viertel.
Die Sinnloſigkeit dieſer Politik ergibt ſich erſt, wenn man die Inlandspreiſe
mit den Ausfuhrpreiſen vergleicht ?):
Entwicklung der deutſchen Eiſenpreiſe (in RM. je Tonne) im In⸗ und
Ausland, in 1000 t.
Stabeiſen Knüppel Grobbleche
inländ. ausländ. inland. ausländ. inländ. ausländ.
1926 (Mon.⸗Durch.) 133,6 104,0 116,4 — 148,8 111,8
1927 5 er 134,0 96,8 112,5 898 149,9 121,6
1928 1 1 139,5 114,5 117,5 98,1 157,3 127,2
1929 3 5 141,0 115,8 119,0 102,7 160,0 126,4
1930 ra 1 138,7 97,2 116,9 859 1571 1165
1931 2 r 126,5 694 109,3 628 147,3 81,4
1932 (Januar) 110,0 54,3 96,5 48,8 129,1 65,3
1932 (Juli) 110,0 42,9 96,5 387 129,1 52,3
110,0 52,5 96,5 40,7 129,1 61,3
1932 (Oktober)
1) „Hannoverſcher Landbund“ Nr. 51 vom 17. 12. 32.
2) „Hannoverſcher Landbund“ Nr. 51 vom 17. 12. 32.
Der Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur 567
Die Steigerung oder Behauptung der Ausfuhr von Eiſen und Stahl erſcheint
jetzt als das, was ſie iſt: ein Verluſtabſatz, der ausgeglichen werden mußte
durch überhöhte Inlandspreiſe, die wiederum den Inlandsabſatz ſyſtematiſch
zerrütteten und ſo — um den Verluſt der gleichbleibenden Ausfuhr auszu⸗
gleichen — in dem Maße des Fallens des Inlandsabſatzes zu immer größeren
Aufſchlägen auf den Inlandspreis (im Vergleich zum Auslandspreis) führen
mußten. Die Folge: weiterer Rückgang des Inlandsabſatzes und weitere Er⸗
höhung des Preisaufſchlages.
Bemerkenswert — weil folgerichtig — iſt die analoge Entwicklung auf dem
agrarwirtſchaftlichen Gebiet mit der Amkehrung, daß hier die Agrarländer —
ſoweit dieſe extenſiv wirtſchafteten, hatten ſie an ſich ein natürliches Aber⸗
gewicht über die intenfive deutſche Landwirtſchaft, in bezug auf die Preis-
geſtaltung — die Rolle der Ausfuhr um jeden Preis übernehmen. Obwohl
dieſe Länder durch eigene induſtrielle Aufrüſtung, entgegen den „wirtſchaft⸗
lichen Geſetzen“, der Autarkie zuſtreben, wollen ſie trotzdem den überſpannten
Rahmen ihrer Agrarwirtſchaft beibehalten, der nur folange Sinn und Berech⸗
tigung hatte, als dieſe Staaten Induſtrieeinfuhrländer waren und mit ihrem
Agrarexport das Leben und die Arbeit der Induſtriemonopolſtaaten bezahlten.
Dieſe unnatürlichen Spannungen kennzeichnen eben die erſte — noch nicht klar
ins Bewußtſein getretene — Phaſe der Auflöſung der Weltwirtſchaft; wie
die Agrarſtaaten verkennen, daß ihre induſtrielle Aufrüſtung — aus dem natür⸗
lichen völkiſchen Autarkieſtreben heraus — zwangsläufig zu einer Schrumpfung
ihrer überſetzten Agrarausfuhrſtruktur führen muß und führen wird, genau ſo
verkennen unſere „Wirtſchaftsköpfe“, daß jenes völkiſche Autarkieſtreben
zwangsläufig zu einer Schrumpfung der induſtriellen Struktur und gleichzeitig
einer Aufrüſtung unſerer Agrarſtruktur führen muß und führen wird, wobei —
ſelbſt bei einem Nichtvorhandenſein völkiſcher Treibkräfte in Deutſchland —
die von den Agrarländern ausgelöſte Autarkiebeſtrebung zwangsläufig die
Wirtſchaftsſtruktur auch Deutſchlands im Sinne der Autarkie umformen
müßte. Nebenbei ſei nur darauf hingewieſen, wie die induſtrielle Preisdifferenz
zwiſchen Auslands- und Inlandspreis in Deutſchland dazu dient, der aus⸗
ländiſchen Landwirtſchaſt Sondervorteile gegenüber der eigenen Landwirt-
ſchaft zu verſchaffen (auf dem Gebiete des künſtlichen Düngers erleben wir das
womöglich in noch ſchärferer Weiſe) und damit den kommenden Ausgleich auf
Koſten des Geſamtvolkes erſchwert. Es liegt auf der Hand, daß genau fo wie
jene Agrarländer ihre völkiſchen Belange durch ein Streben nach (induſtrieller)
Autarkie über den Weg von Induſtrieſchutzzöllen erreichen, auf der anderen
Seite die völkiſchen Belange der Induſtrieländer nur durch Agrarſchutzmaß⸗
nahmen gewahrt werden können; hier wie dort iſt der Feind dieſer völkiſchen
Entwicklung das Ausfuhrſtreben bisher durch den Weltwirtſchaſtsverkehr über-
ſetzter Wirtſchaftszweige: dort die Agrarausfuhr — hier die Induſtrieausfuhr,
568 Herbert Backe
die in beiden Fällen ihren privatwirtſchaftlichen Schleuder⸗Export erzwingen,
indem ſie den Inlandspreis und damit ihr Volk belaſten. Der einzige Anter⸗
ſchied (der ſeine Arſache in der induſtriellen Ausbeutung von Agrarländern hat)
iſt, daß dort eine Erhöhung der Inlandsagrarpreiſe möglich iſt, da der Binnen⸗
markt durch die Induſtriealiſierung nach Menge und Güte wächſt; hier aber
die überhöhten Induſtrie⸗Inlandspreiſe auf einen zuſammengebrochenen und
ſich abbauenden Binnenmarkt ſtoßen und deſſen Verfall weiter beſchleunigen.
Welche Schlüffe find für Deutſchland aus dieſem Zerfall der Wirtſchaft und
ihrer Auflöſung in echte Volkswirtſchaft zu ziehen?
Das Hineinwachſen in die Weltwirtſchaft machte Deutſchland zu einem In⸗
duſtrieſtaat. Die Induſtrie und damit zuſammen der Handel und alle arbeits⸗
teiligen Berufe, die ihre Exiſtenzgrundlage aus der gewachſenen Stadtwirt⸗
ſchaft erhielten, waren ſomit aufgebaut nicht auf der ſchmalen Baſis des deut⸗
ſchen Raumes, der deutſchen Landwirtſchaft, ſondern ein erheblicher Teil ihrer
Baſis — ſowohl als RNohſtoffverſorger als auch als Fertigwarenabnehmer —
lag außerhalb des deutſchen Raumes. In dem Moment, wo dieſe außerdeutſche
Baſis nun der Stadtwirtſchaft entzogen, zwangsläufig entzogen wird, iſt das
bisher unter den Spielregeln der Weltwirtſchaft vorhanden geweſene Gleich-
gewicht der innerdeutſchen Berufsſchichtung zuſammengebrochen: einer zu
großen und überſetzten Stadtwirtſchaft ſteht eine zu ſchmale Landwirtſchaft
gegenüber. Das Verhältnis 70% Landvolk zu 30% Städtern um die Mitte
des vorigen Jahrhunderts hat ſich inzwiſchen umgekehrt und nur 23% der
Geſamtbevölkerung entfielen 1925 auf die Land- und Forſtwirtſchaft. Es ift
klar, daß ein Gleichgewicht — deſſen Vorausſetzungen gefallen ſind — nicht
künſtlich konſerviert werden kann; daß vielmehr das Leben eine neue ſtabile
Gleichgewichtslage erzwingen wird. And dieſe Gleichgewichtslage läuft in der
Richtung entweder einer Schrumpfung der Stadtwirtſchaft auf das für die
Landwirtſchaft tragbare Maß, oder einer Erweiterung der Landwirtſchafts⸗
baſis in einem ſolchen Maße, daß der bisherige ſtädtiſche Aufbau für ſie trag⸗
bar wird; oder — der wahrſcheinlichſte Fall — beide Tendenzen wirken gleich⸗
zeitig in der Richtung der Erzielung einer neuen tragbaren und ſtabilen
Gleichgewichtslage.
Nur wenn man ſich über dieſe Konſequenzen im klaren iſt, verſteht man den
Wirtſchaftszuſammenbruch in Deutſchland und erkennt, daß es ſich hierbei um
eine innerdeutſche Angelegenheit handelt, die zu ordnen Sache der eigenen
Kraft iſt und nicht Sache einer Weltwirtſchaftsankurbelung. Man begreift
dann erſt, nicht nur wie nutzlos die ganze Exportankurbelung, ſondern wie
verbrecheriſch eine ſolche Wirtſchaftspolitik in bezug auf die deutſche Zukunft
iſt. Die Zukunft des deutſchen Volkes wurde jahrelang in die Hände einer
Geldſackklique geſpielt, die ohne Inſtinkt für völkiſche Belange, aber mit deſto
größerem Inſtinkt für eigenes Geldverdienen es fertigbrachte, ſelbſt die boden⸗
Der Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur 569
ſtändige deutſche Induſtrie, den bodenſtändigen Handel gegen deren ureigenſtes
Lebensgeſetz in feine Gefolgſchaft zu zwingen, um im Namen der Geſamt⸗
induſtrie und des Geſamtvolkes „von hoher Warte“ in die deutſche Wirt⸗
ſchaftspolitik beſtimmend einzugreifen.
Erſt unter dem Kennwort: Schrumpfung der Stadtwirtſchaft, wird man die
Arſachen der Arbeitsloſigkeit, die Stillegung von Betrieben richtig verſtehen.
Dabei ſei hervorgehoben, daß das ſtarre Feſthalten an einer falſchen Wirt⸗
ſchaftspolitik den Binnenmarkt ſo zerrüttete, daß die bodenſtändige Induſtrie
auf Koſten der Erhaltung eines nicht tragfähigen Exportes mehr und mehr zum
Erliegen gebracht wurde. Es ſeien hier einige Auszüge einer Denkſchrift des
Abwehrausſchuſſes gegen die Stillegung der Zeche Sachfen in Heeſſen i. W.
angeführt, die ſchlaglichtartig dieſe Lage beleuchten:
Entwicklung der Kohlenförderung und Leiſtung auf der Gewerkſchaft Sachſen:
Jahr ä Borderung ae A gl
1915 600 50 000 —
1920 2332 379 000 —
1923 3670 590 000 0,634 t
1925 2063 540 000 1,009 t
1930 2001 608 000 1,274 t
1932 vorausſichtl. 1616 590 000 1,557 t
Hierzu ſchreibt der Abwehrausſchuß: „Der bisher vor der Offentlichkeit
gebrauchte Vorwand der Unrentabilität ift nicht haltbar. Die obige Aufftellung
zeigt, daß die Kurve der Belegſchaft bedeutend gefallen, während die Leiſtungs⸗
kurve erheblich geſtiegen iſt. Eine weitere Beſſerung kann ſicher erwartet wer⸗
den, da erft in jüngſter Zeit nach modernen Abbaumethoden gearbeitet wird...
Die Rentabilität der Betriebe wird ſich bei einer geringen Steigerung des
Amſatzes beſſern ... die Leiſtung befindet ſich in ſteter Aufwärtsentwicklung
und wird im Monat Dezember 1,6 t betragen.“
Die Tabelle zeigt die unter der Rationalifierung fallende Belegſchaftszahl,
die 1932 auf 44% derjenigen von 1923 abfſinkt; die Geſamtſörderung aber
bleibt in beiden Jahren genau dieſelbe, weil der rationaliſierte Betrieb die
Leiſtung je Mann und Schicht faſt verdreifachte. Hier kennzeichnet ſich der
Widerfinn der privatkapitaliſtiſchen Rationalifierung, die Leute ausſpart, ohne
volkswirtſchaftliche Verwendung für die ausgeſparten Kräfte zu haben; ein
Widerfinn, den ich bereits vor 1144 Jahren in den Worten zuſammenfaßte:
„Man braucht Millionen von Verbrauchern, aber nur Tauſende von Erzeu⸗
gern.“) And es iſt eine beſondere Tragik, daß dem Abwehrausſchuß, für den
3) Deutſcher Bauer erwache, Die Agrarkriſe, ihre Arſachen und Folgerungen,
Deutſcher Volksverlag, München.
570 Herbert Backe
u. a. der Vorſitzende des Betriebs⸗ bzw. Angeſtelltenrats zeichnet, wie die
Ausführungen zeigen, ſelbſt heute nicht bewußt iſt, daß gerade die geſtiegene
Leiſtungskurve den Abſatz abdroſſeln mußte, wenn den durch die Umitellung
eingeſparten Arbeitern kein neues Arbeitsfeld erſchloſſen würde; daß dieſe
Rationalifierung gar keinen Sinn hatte, wenn ihr Erfolg in der Minderung
der Kaufkraft, der Verengung des Abſatzes um die entlaſſenen Arbeiter ſich
ausdrückte. Welche Rolle ſpielte wohl hierbei die jahrelange Nationaliſierungs⸗
Parole der Gewerkſchaften?! Der Abwehrausſchuß glaubt umgekehrt gerade
in der Leiſtungsſteigerung den Grund zur Erhaltung der Zeche ſehen zu dürfen
und begibt ſich damit auf das Feld der Konkurrenz gegen verwandte deutſche
Betriebe: Arbeitsſtelle wird gegen Arbeitsſtelle ausgeſpielt, die Exiſtenz eines
Arbeiters gegen ſeinen deutſchen Kameraden im Nachbarbetrieb. Wir begeg⸗
nen hier den gleichen Parolen unter dem Stichwort „Selbſthilfe“, die uns
Bauern ein Jahrzehnt von unſeren liberalen Führern vorgeſchwatzt wurden:
„Dienſt am Kunden“, „Markenware“, „beſſere Aufmachung und Verpackung“;
als wenn mit Markenkartoffeln, Markenbutter uſw. das Abſatzproblem der
deutſchen Landwirtſchaft volkswirtſchaftlich gelöſt werden konnte; gelöſt wird
nur das privatkapitaliſtiſche Abſatzproblem für einige Wenige, die Marken⸗
artikel verkaufen auf Koſten des Abſatzes all derjenigen, die hierzu nicht oder
noch nicht in der Lage find.
Das Ausſparen von Arbeitskräften aber in Verfolg der Rationaliſierung
mußte und wurde begleitet von einer ſtarken Kapitalinveſtierung zur Her⸗
ſtellung der arbeitsſparenden Anlagen, Maſchinen uſw. Das im Ausland
hierzu gepumpte Geld erzeugte eine Konjunktur inſofern, als es die Gebrauchs⸗
güterinduſtrie „ankurbelte“, in der ein Teil der entlaſſenen Arbeiter zunächſt
und nur ſolange neue Beſchäftigung fand, als der Umbau dauerte und das
Geld reichte. Der Abwehrausſchuß der Gewerkſchaft Sachſen beſchreibt dieſen
Vorgang — wiederum ohne den Sinn zu erkennen — wie folgt: „Die An⸗
lagen der Zeche Sachſen ſind von vielen Fachſchulen beſucht, in eng⸗
liſchen Fachblättern und in einer Syndikatswerbeſchrift als Mufter-
anlagen abgebildet und beſchrieben worden. Die ausländiſchen Gee
ſucher des Ruhrgebietes werden ſehr gerne zur Zeche Sachſen geführt. Der
amerikaniſche Journaliſt Knickerbocker bewundert die deutſchen Induſtrie⸗
anlagen und ſagt, daß wir durch ſie einen gewaltigen Vorſprung gegenüber
der Induſtrie anderer Länder hätten ... Die Kohlenwäſche der Zeche, die
größte Europas, wurde 1924 in Betrieb genommen und iſt auf eine Stunden-
leiſtung von 2mal 220 t eingerichtet. Die moderne Kokerei (70 Groß⸗Kammer⸗
öfen), die Nebengewinnungsanlagen für Ammoniak, Benzol und Teer wurden
im Jahre 1925 erbaut. Im Anſchluß daran errichtete man noch die Werkſtätten⸗
gebäude, muſtergültige Waſchkauen, das Magazin und Betriebsbüros (1929).
Der Kokslöſchturm wurde immer als beſonderes Wunderwerk
Der Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur 571
gezeigt. Der ganze Betrieb ift fo großzügig angelegt, daß er
für eine Belegſchaft von 5000 Mann ausreicht.“
Welche Welt von Optimismus und Inſtinktloſigkeit gegenüber wirtſchaft⸗
lichen Vorgängen liegt in den Inveſtierungen von 1924 bis 1929, in der An⸗
lage eines großzügigen Wunderwerks, das für 5000 Mann Belegſchaft erbaut
wurde, 1932 nur noch 1600 Mann beſchäftigte und 1933 ſeine Pforten aus
Abſatzmangel ſchließen ſollte. In der amtlichen Sprache heißt es dann: eine
Scheinkonjunktur hat zu Fehlinveſtierungen geführt.
Was will es beſagen, daß der preußiſche Landtag dem Stillegungsantrag
der Zeche Sachſen nicht ſtattgegeben hat, wenn der Konzern nunmehr ſtatt⸗
deſſen die Zeche Neumühl ſtillegen will, womit der Stadtteil Neumühl von
Duisburg ⸗Hamborn feine Erwerbsloſenzahl von 48% der Geſamtbevölkerung
auf 73% ſteigern würde. Es dreht ſich ja darum, daß die liberale Wirtſchafts⸗
theorie am Ende iſt und Millionen von Arbeitern, die ſich durch ihre liberalen
Marxiſtenführer dem Glauben an „Internationale“, an „Weltwirtſchaft“ und
„Weltſolidarität“, an die „Rückſtändigkeit“ völkiſcher Weltanſchauung hin⸗
gaben, heute die Opfer dieſer „internationalen Entwicklung“ geworden ſind.
Nur ein völkiſcher Staat, der das Schwergewicht nicht auf
Sachen, ſondern auf den deutſchen Menſchen, die deutſche Fa⸗
milie legt, beſitzt die Vorausſetzung und den Willen, die⸗
ſer Tragik des deutſchen Arbeiters zu ſteuern, indem er aus
Erkenntnis der Gleichgewichtslage, zu der wir ſtreben müſſen, die praktiſchen
Maßnahmen ſchöpft, um die Spannungen der Abergangszeit aufzufangen, ſie
in das richtige Bett zu leiten.
Der Liberalismus hat die einzelnen Wirtſchaftszweige der deutſchen Volks⸗
wirtſchaft aus ihrer gegenſeitigen Bindung herausgelöſt, die Stadtwirtſchaft
überſchätzt und aus dieſer Aberſchätzung fie über das ihr zukommende Maß
hinaus unter Einbeziehung des Weltmarktes ausgedehnt; die Landwirtſchaft,
als Grundlage der Volkswirtſchaft, aber verkümmern laſſen. Die Notwendig⸗
keit eines harmoniſchen Gleichgewichts zwiſchen den einzelnen Wirtſchafts⸗
zweigen einer Volkswirtſchaft fordert den Vergleich mit einer Bauernwirt⸗
ſchaft heraus:
Auch hier beſteht der Betrieb aus einer Reihe verſchiedener Wirtſchafts⸗
zweige: Milchwirtſchaft, Schweinehaltung, Getreidebau, Hackfruchtbau uſw.,
die in einem organiſchen Verhältnis zueinanderſtehen müſſen, um den Erſolg
des Geſamtbetriebes zu gewährleiſten. Wie hier Dienſt am Bauerngeſchlecht
in Gegenwart und Zukunft der Zweck der Wirtſchaft iſt, ſo dort Dienſt an der
Geſamtheit des Volkes, Gewährleiſtung ſeiner materiellen Grundlage in
Gegenwart und Zukunft. Wenn ich nun als Bauer in meinem Betrieb eine
doppelte Buchführung einführen würde, um jeden Wirtſchaftszweig geſondert
als Selbſtzweck unter Gut⸗ und Laſtſchrift aller, auch der nichtmarktfähigen
Agrarpolitik Heft 8, Bg. 2
572 Herbert Backe
Erzeugniſſe zu behandeln, fo wäre es ein leichtes — ſelbſt im heutigen Augen⸗
blick der Agrarkriſe — einen der Wirtſchaftszweige durch entſprechende Ver⸗
buchung auf Koſten der anderen „rentabel“ zu geſtalten. So könnte ich bei⸗
ſpielsweiſe meine Milchwirtſchaft ſofort zu einem privatkapitaliſtiſch lukrativen
Betrieb geftalten, wenn ich die „Nahrungsmittel“ (in dieſem Falle: Runfeln,
Heu, Stroh, Getreideſchrot) zugunſten des Kuhſtalls und zuungunſten der
Ackerbauzweige ganz niedrig bewerte, die „Fertigwaren“ (in dieſem Falle die
an die anderen Viehhaltungen abzugebende Milch und Molklereiabfälle, der
für den Acker anfallende Stalldung) aber ſehr hoch zugunſten des Kuhſtalles
und zu Laſten jener Zweige einſetze. Es dürfte dann „buchmäßig“ nicht ſchwer⸗
fallen, eine hohe Rente der Milchwirtſchaft auf Koſten der anderen verküm⸗
merten Betriebszweige zu erreichen. And der Herr Generaldirektor meines
Kuhſtalles (mein Oberſchweizer) und ſein Aufſichtsrat (meine Antermelker)
würden im Bruſtton der Aberzeugung mir die Wichtigkeit der Milchwirtſchaft
vorhalten. Sie würden mir vortragen, daß nur die Aberſchüſſe, die der Kuhſtall
dank ihrer Tüchtigkeit abwirft, überhaupt den ganzen Laden noch lebensfähig
erhalten. Sie werden tief beklagen, daß die Zuſchüſſe der anderen Betriebs⸗
zweige, infolge ihrer „Rückſtändigkeit“ und „Unfähigkeit“ leider die Where
ſchüſſe des Kuhſtalls zu Stützungsaktionen verſchwenden; ja, daß dieſe „Agrar⸗
hilfe“ ſogar mehr verſchlingt als die „Veredlungswirtſchaft“ herauswirtſchaf⸗
ten kann. Sie werden mich daher zu beeinfluſſen fuchen, den unrentablen Acker⸗
betrieb uſw. völlig aufzugeben, da ja die Nahrungsmittel viel billiger beim
Nachbarn, der gerade zwangsverſteigert wird (Weltmarkt), gekauft werden
können. Sie werden weiterhin darauf hinweiſen, daß der rückſtändige Ackerbau
auch ſteuerlich nichts leiſtet, da er ja keinen Amſatz und Einkommen hat und
folglich nur zu den lumpigen Realſteuern herangezogen wird, während der
zum Hauptzweig gewordene Kuhſtall am meiſten Fertigwaren auf den Markt
brächte (Export), ein großes Einkommen aufweiſe und daher faſt die geſamte
Steuerlaſt aus Amſatz und Einkommen zu tragen habe. Der Generaldirektor
und Aufſichtsrat (mit welcher Bezeichnung dem ehrbaren Beruf der Schweizer
nicht zunahegetreten werden ſoll) werden weiter geltend machen, daß eine
prosperity des Geſamtbetriebes (der Geſamtvolkswirtſchaft) — wie buchmäßig
und ſteuermäßig nachweisbar — nur durch eine weitere Vergrößerung der
Milchwirtſchaft gewährleiſtet ſei und daher eine dringende Notwendigkeit
weiteren Ausbaues und weiterer Inveſtierungen für den Kuhſtall, auf dem
Wege des Kredits ſelbſtverſtändlich, beſtehe. And wenn ich dann, unter dem
Einfluß dieſer durch beſte „Sachkenntnis“ und „exakten ſtatiſtiſchen Nachweis“
geſtützten Ausführungen, mich entſchließen würde, die Milchwirtſchaft noch
weiter auszubauen, ſo daß ihr gegenüber die anderen Zweige nur noch als
unweſentliche und läſtige Anhängſel erſcheinen; wenn dann in Verſolg einer
ſolchen Steigerung der Milcherzeugung die Molkerei (der Außenmarkt) wegen
Der Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur 573
Abſatzſchwierigkeiten den Preis herabſetzt, fo wird mein Generaldirektor mir
den Rat geben, bei der Verbuchung den Preisausfall aus der Molkereimilch
durch weitere Aufſchläge auf Magermilch, Molke, Stalldünger uſw. und durch
noch niedrigere Bewertung der Nahrungsmittel des Ackerbaus auszugleichen.
And wenn dann zum Schluß die Molkerei nur noch die Hälfte Milch abneh⸗
men kann, weil der Abſatz fehlt, und nun zwangsweiſe eine Schrumpfung
meines Kuhſtalls erfolgen muß, dann werden Generaldirektor und Aufſichtsrat
an mein Sozialgefühl appellieren, auf die zu entlaſſenden Anterſchweizer hin⸗
weifen (die früher einmal in meinen Ackerbaubetriebszweigen ihr Brot vere
dienten und Käufer meiner Milch waren) und nun im Intereſſe der „breiten
Maſſen der Bevölkerung“ eine Ankurbelung des Kuhſtalls fordern. And am
Schluß ſteht die Pleite des Betriebes, trotz „Blüte der Milchwirtſchaft“. Der
Treuhänder aber (Konjunkturinſtitut) ſtellt ſalomoniſch feſt: es war nur eine
Scheinblüte, von der ſich der Inhaber hat täuſchen laſſen; ſeine Inveſtierungen
waren Fehlinveſtierungen.
Meine Herren Generaldirektoren der Banken, Induftrie und des Handels
nebft Syndici und fonftigen ſachverſtändigen Trabanten, find Sie ſich denn
wirklich nicht bewußt, welch ein Schindluder Sie mit dem deutſchen Volke
treiben?
Dieſen liberalen Verdienſtintereſſenten reiht ſich würdig und ebenbürtig der
national-fein-wollende „liberale Landwirt“ an und leiſtet die nötigen Sekun⸗
dantendienſte. So ſchreibt Reichsminifter a. D. Schlange ⸗Schöningen in ſei⸗
nem neuſten Werk „Acker und Arbeit“: „Es gibt überhaupt keinen Berufsſtand
in Deutſchland, der die Autarkie ſo ſcharf ablehnen müßte und der ein ſolches
Intereſſe an einem gefunden Induſtrieexport hat, wie die Landwirtſchaft .. In
dem Augenblick, wo die Agrarproduktion Deutſchlands den Inlandsbedarf
deckt, wird die Frage einfach eine Abfatzfrage und damit das Problem der
ſechs Millionen Arbeitsloſen. Die wieder zum großen Teil in den Produk⸗
tionsprozeß einzuſchalten, die wieder kaufkräftig für höher qualifizierte Lebens⸗
mittel, für Fleiſch und Brot und Butter zu machen, das iſt das Problem des
Bauern geworden, und zur Löſung dieſes Problems wird ein ſtarker Wieder⸗
aufbau des Exports ſehr viel mehr beitragen als eine Autarkie, die den Indu⸗
ſtrieexport ſo gut wie gänzlich unterbinden müßte.“
Wenn man ſich daran erinnert, daß Schlange⸗Schöningen noch vor kurzem
die Parole gegen Einſeitigkeit der Betriebsorganiſation und für breite La⸗
gerung des Betriebes ausgab — nicht weil dieſes eine organiſche Notwendig⸗
keit einer jeden Wirtſchaft iſt, ſondern mit dem Ziele „konjunkturbereit“ zu
ſein, dann iſt es klar, warum er hier für Exportinduſtrie eintritt: er erwartet
hiervon den Konjunkturauftrieb, der ſeiner „konjunkturbereiten“ Wirtſchaft die
liberale Verdienſtchance geben ſoll. Es iſt kennzeichnend, daß Schlange⸗
Schöningen einſt dem rechten Flügel der Deutſchnationalen Partei angehörte;
2
574 H. Backe, Zusammenbruch der unvölkischen Wirtschaftsstruktur
folange eben ein „nationaler Landwirt“ fic) zur völkiſchen Weltanſchauung
nicht durchringt, anerkennt er den Liberalismus und bleibt verhaftet den libe⸗
ralen Spielregeln, die die Exiſtenzfähigkeit eines Betriebes nur in der Waren⸗
erzeugung für den Markt ſehen können. And weil der Marktabſatz das Weſent⸗
lichſte für den Liberaliſten iſt, deshalb ſtrebt er folgerichtig danach, dieſen
Markt zu erhalten und zu erweitern. And da dieſe Erhaltung der Stadtwirt⸗
ſchaft im bisherigen liberalen Amfang nur möglich iſt, wenn die Weltwirtſchaft
beſtehen bleibt, ſo verlangt Schlange⸗Schöningen dieſe Weltwirtſchaft, ver⸗
langt den Induſtrieexport. Schlange⸗Schöningen ſteht auf gegen das Autarfie-
ſtreben der Völker. Man kann beruhigt dieſem Kampf zuſehen.
Das Sterben des Libetalismus mußte auch ſeine Lebensformen, hier ins⸗
beſondere die Weltwirtſchaft, in dieſes Sterben hineinziehen. Die Zertrüm⸗
merung der Weltwirtſchaft ijt ein organiſcher Prozeß, zutiefft aus völkiſchem
Inſtinkt und Empfinden heraus geboren. In Deutſchland entſteht hierdurch
die Kriſe der Berufsſchichtung, da letztere auf den nicht mehr vorhandenen
Vorausſetzungen des Weltmarktes und der Weltwirtſchaft beruht. Hier liegt
der weſentlichſte Grund unſeres Wirtſchaftszuſammenbruchs, insbeſondere
derjenige der Landwirtſchaft.
Wird die bereits angedeutete Löſung — die Schaffung des organiſchen
Gleichgewichts zwiſchen Stadt⸗ und Landwirtſchaft — nicht in Angriff ge⸗
nommen, fo bedeutet das die Verſchärfung der Spannung, es bedeutet, daß
man künſtliche Dämme innerhalb der Berufsſchichtung immer höher aufwirft,
ohne jedoch die drohenden Fluten bannen zu können. Man denke doch einmal
an die Zehntauſende von Akademikern und Studenten, die heute zurückblickend
auf die Koſten ihrer Berufsausbildung, ihres Studiums, feſtſtellen müſſen: es
war eine Fehlinveſtierung. Wieviel Millionen Menſchen ſtehen heute unter
dieſem Gefühl! Nur die grundſätzliche Erkenntnis dieſer Wurzeln unſerer Not
kann die Nöte des deutſchen Volkes beheben. Dieſe Erkenntnis ſetzt die An⸗
erkennung der völkiſchen Weltanſchauung voraus. Hier liegt der Sinn des
Kampfes der NSDAP um die Seele des deutſchen Menſchen. Eine ſpätere
Zeit wird das beſſer erkennen als die heutigen Liberaliſten, die nur in Zahlen
denken können und daher das Weſen unſerer „Wahlkämpfe“ gar nicht erſaſſen
können.
Die Totallöſung des Problems iſt eine außenpoltiſche Aufgabe: Schaffung
von neuem Raum im Oſten. Seit dem Tode Friedrichs des Großen glaubten
Die deutſchen Führer fic) um dieſe Frage herumdrücken zu können; der Liberalis⸗
mus mit feiner falſchen Parole der „friedlichen Durchdringung“ hat ſchließlich
das Geſühl für die eiſerne Notwendigkeit der Löſung dieſer Aufgabe im Volke
völlig ertötet. Heute ſteht ſie wieder rieſengroß auf. And ſie muß gelöſt wer⸗
den, wenn das deutſche Volk beſtehen bleiben will.
Walter Granzow, Siedlung in Mecklenburg-Schwerin 575
Daß die Löfung der Oſtraumfrage nicht von heute auf morgen erfolgt, ijt
ſicher. Ebenſo ſicher aber iſt, daß ſie nur erfolgen kann, wenn eine völkiſche
Regierung ſie als Ziel aufſtellt und die Kräfte frei macht, die zur Löſung not⸗
wendig find. Ferner iſt ebenſo ſicher, daß nur eine ſolche Zielſetzung einer Ree
gierung die Möglichkeit gibt, jene Wege einer ſchrittweiſen Geſundung des
Volkes zu gehen, die in der Nichtung dieſes Zieles liegen. Es ſei hier nur auf
die Bedeutung der Siedlung hingewieſen. Sicher iſt ſchließlich, daß, ganz
gleich, wie ſchwer auch die Wirtſchaftsnöte des Volkes ſein mögen, dieſe Nöte
nur durch eine Regierung überwunden werden können, die das Geſamtvolk zu
einer Aufgabe zuſammenfaßt, mit dem liberalen Intereſſenausſpielen eines
Standes gegen den anderen, eines Menſchen gegen den andern radikal bricht
und damit auch das ſittliche Recht erwirbt, Opfer — und wenn fie noch fo
ſchwer ſind — vom Einzelnen für die Geſamtheit und für die Zukunft der Ge⸗
ſamtheit zu verlangen.
Walter Granzow:
Siedlung in Mecklenburg⸗Schwerin
Zur Begründung der von mir alsbald nach der Abernahme der Regierung
eingeleiteten und geförderten Maßnahmen auf dem Gebiete der Siedlung muß
vorausgeſchickt werden, daß der 13 162 qkm große Freiſtaat Mecklenburg⸗
Schwerin nur rd. 700 000 Menſchen beherbergt. Zum Vergleich ſei erwähnt,
daß der nur 2000 qkm größere Freiſtaat Sachſen die fiebenfache Einwohner⸗
zahl aufweiſt.
Seit dem Beſtehen des Freiſtaates find zwar 57 000 ha Land nach den bis⸗
herigen Methoden des Reichsſiedlungsgefetzes durch Siedlungsgeſellſchaften,
Genoſſenſchaften und private Unternehmer aufgeteilt werden. Trotzdem nimmt
der Großgrundbeſitz noch mehr als die Hälfte der Geſamtfläche des Landes ein.
Der Staat allein verſügt noch über 89 000 ha Domänen und 150 000 ha mehr
oder minder erſtklaſſiger Gorften.
Durch eine ſinnvolle Siedlungspolitik der Landesfürſten wurden in dem
ihnen früher eigentümlich gehörigen Domanium (rund 5600 qkm groß) ſeit
Jahrhunderten Bauern angeſetzt. In dem etwa 6000 qkm großen früheren
ritterſchaftlichen Gebiet iſt dieſe Siedlungspolitik ohne Erfolg geblieben, da
es den Landesherrn nicht möglich war, die Widerſtände der Ritterſchaft zu
überwinden. Die Beſiedlung des Landes hat daher mit der Bevölkerungs⸗
zunahme nicht Schritt halten können. In der Vorkriegszeit mußten jährlich
3000 Mecklenburger außerhalb des Landes ihr Fortkommen ſuchen.
576 Walter Granzow
So haben wir das Bild, daß in der an Großbetrieben armen fog. Heide-
gegend im Süden und Südweſten des Landes ein Bauerndorf an das andere
fic reiht, während im Often des Landes wir faſt einen ganzen Tag ununter-
brochen wandern können, ohne ein einziges Dorf zu finden. Hier ſehen wir nur
landwirtſchaftliche Großbetriebe.
Auffallend iſt beſonders die große Zahl der landwirtſchaftlichen Klein⸗
betriebe im Süden und Südweſten des Landes. Viele dieſer kleinen landwirt⸗
ſchaftlichen Beſitzungen erreichen nicht die Größe von einem Hektar. Die
Eigentümer ſolcher Landſtellen heißen Häusler. Sie waren bis zum Nieder⸗
ang der Wirtſchaft im Straßenbau, in der Schiffahrt, bei der Eiſenbahn, in
Fabriken oder anderen Gewerbebetrieben in den außerhalb des Landes gele⸗
genen Großſtädten tätig.
Infolge des beſtehenden Bodenrechtes und des darauf begründeten Ober-
eigentums des Staates wurde bei der Vergrößerung ſolcher Stellen ein Zukauf
kleiner Parzellen nicht geſtattet, ſondern vielmehr die Erweiterung der Häus⸗
lerei zu einem ſelbſtändigen landwirtſchaftlichen Betrieb in Größe von etwa
8 ha (Büdnerei) gefordert. Für einen ſolchen Zukauf von 7 ha bot ſich aber
ſelten die Gelegenheit, weil etwa freiwerdende Ackerſtücke im Wege des Meift-
gebotes ſehr teuer verkauft wurden. Dieſe Verhältniſſe waren auch die Arſache,
daß manche Inhaber von Bauernhöfen des müheloſen geldlichen Gewinnes
wegen ihre Stellen aufteilten oder ihre Ländereien verpachteten. Dabei find
ſelbſt auf Sandböden Pachtpreiſe von 70 RM. für den 4 ha noch in den letz⸗
ten Jahren gezahlt worden.
Dieſen völlig unbegründeten Preisſteigerungen durch künſtliche Verknappung
des Ackerlandes mußte die Regierung ſofort durch Bereitſtellung von Acker und
Grünland entgegenwirken. Es wurde daher angeordnet, daß in ſämtlichen Ge⸗
meinden des Landes der Bedarf der Häusler und Siedler an Acker und Grün⸗
land feſtgeſtellt wurde. Dabei wurde als Norm eines ſelbſtändigen Betriebes
für guten Boden etwa 12,5 ha, für geringeren Boden etwa 15 ha feſtgelegt.
Der Verkauf der vom Staat bereitzuſtellenden Ländereien geſchieht unter
günſtigen Zahlungsbedingungen, damit es dem Käufer möglich iſt, den für den
vergrößerten Betrieb notwendigen Mehrbedarf an totem und lebendem In⸗
ventar gegen Barzahlung anzuſchaffen. In den weitaus meiſten Fällen wird
auch der Anbau einer Scheune oder die Vergrößerung eines Stalles durch die
Landzuteilung erſorderlich. Somit werden durch dieſe Anliegerſiedlung mittel-
bar dem Baugewerbe Aufträge zugeführt. Wenn ein Häusler oder Büdner
nicht in der Lage iſt, die geforderte Anzahlung von etwa 25% des Kaufpreiſes
zu leiſten, wird ihm die zur Vergrößerung ſeiner Stelle benötigte Fläche mit
Kaufanwartſchaft verpachtet. Dieſe Pacht mit Kaufanwartſchaft iſt nur ein
Notbehelf. Sie ſoll dazu dienen, dem Kleinbetrieb das notwendige Land zu
ſichern und ihm die Möglichkeit geben, die für die ſpäter zu leiſtende Anzahlung
benötigten Geldbeträge anzuſparen.
In allen beteiligten Behörden hat ſich eine emfige Arbeit für die Abtrennung
von Zuwachsflächen aus Staatsbeſitz entwickelt. Soweit beſtehende Pacht⸗
verträge über Staatsdomänen der Abnahme von Flächen entgegenſtehen, ſind
Verhandlungen mit dem Pächter zuerſt zu erledigen. Nachdem dieſe Schwierig-
keiten behoben ſind, entwickelt ſich zunächſt ein reger Meinungsaustauſch
zwiſchen den verſchiedenen Wünſchen der Landbewerber. Oft iſt es dem Re-
gierungsvertreter nur unter ſchweren Mühen möglich, alle Wünſche auf einer
Siedlung in Mecklenburg-Schwerin | 577
Linie zu einigen und die Aufteilungspläne für die in ſehr großer Zahl interef-
ſierten Wirtſchaften feſtzulegen.
Die Einſchaltung der Fachberater des agrarpolitiſchen Apparates der
NSDAP brachte bei dieſen Verhandlungen große Erleichterung. Die Mit
wirkung geſchah in der Weiſe, daß der Staatskommiſſar für Siedlung die
Fachberater mit ſeiner Vertretung bei den Verhandlungen beauftragte.
So konnten bei dieſer für die Allgemeinheit ſo überaus wichtigen Maß⸗
nahme die oberſten Grundſätze des Nationalſozialismus praktiſch zur Geltung
kommen. Während der Fachberater ſeine Kenntniſſe und ſeine Arbeit unent⸗
geltlich zur Verfügung ſtellte, konnte er unzufriedene ſelbſtſüchtige Antragſteller
darauf hinweiſen, daß Gemeinnutz vor Eigennutz ſteht. Er erleichterte auf dieſe
Weiſe den Behörden den Abſchluß der Verhandlungen.
In einzelnen Gallen iſt ausreichender Staatsbeſitz für den Landbedarf der
Dörfer nicht vorhanden. In richtiger Erkenntnis nationalſozialiſtiſcher Pflich⸗
ten fanden ſich bereits hier und da Hofbeſitzer, die bereit waren, in dem weniger
bevölkerten öſtlichen Teil des Landes ein Reſtgut oder eine größere Siedler⸗
ſtelle zu übernehmen, um ihren Hof für das Landbedürfnis der Gemeinde zur
Verfügung zu ſtellen.
Ich habe in dieſen wenigen Monaten bereits feſtſtellen müſſen, daß ohne den
agrarpolitiſchen Apparat und ſeine Arbeit im Dorfe die Durchführung dieſer
ſo dringend nötigen und ſtaatspolitiſch wertvollen Aufgabe nicht möglich ge⸗
weſen wäre.
Die widerſtrebenden ſelbſtſüchtigen Anſchauungen bei einigen Großgrund⸗
befitzern ſteigerten ſich guerft durch eine von der Preſſe der gegneriſchen Par⸗
teien mit großem Eifer geführte Propaganda ſoweit, daß man dieſe Maß⸗
nahme als völlig unwirtſchaftlich und bolſchewiſtiſch bezeichnete. Durch ſach⸗
liche Aufklärung der Regierung und unter Mitwirkung der Befürworter dieſer
Entſchlüſſe iſt die Gegnerſchaſt nahezu überwunden, und die Verhandlungen
wickeln ſich bereits leichter ab.
Somit iſt die Möglichkeit geboten, daß im Laufe der nächſten Monate eine
Fläche von etwa 13 000 ha nach den Beſtimmungen des Reichsſiedlungs⸗
geſetzes auf dem Wege der Anliegerſiedlung zur Vervollſtändigung der
Zwergbetriebe und zur Befriedigung der bereits vorliegenden 5000 Anträge
verteilt werden.
Durch dieſe WAnliegerfiedlung finden auch die in der Fremde arbeitslos ge⸗
wordenen erwachſenen Kinder in der väterlichen Wirtſchaft volle Beſchäf⸗
tigung. Die Familie kann in gemeinſamer Arbeit das neu erworbene Land zur
höchſten Ertragsfähigkeit bringen.
Hand in Hand mit dieſer Anliegerſiedlung geht die Neuſiedlung. Geplant
iſt die Schaffung von etwa 2000 Neuſiedlerſtellen im Laufe dieſes Jahres.
Es erſcheint mir dazu ſelbſtverſtändlich, daß die Reichsregierung die Lage
der geſamten Landwirtſchaft durch Kontingentierung der überflüſſigen Einfuhr
beſſert. Gleichzeitig muß der Siedlungsunternehmer die Möglichkeit finden,
die Abgabekoſten einer Siedlerſtelle weiter zu ſenken. Manches iſt in dieſer
Hinſicht ſchon erreicht worden. Eine 15 ha große Büdnerei, die 1928 durch
einen zu großen Aufwand für Haus und Stall noch 34000 RM. koſtete, iſt
heute bei gleichen Bodenverhältniſſen für etwa 17 000 RM. verkäuflich.
28 Barrister
Durch energiſche Förderung der Anliegerſiedlung und rege Verſtärkung der
Neuſiedlung verſucht der mecklenburgiſche Staat, die wirtſchaftliche Lage der
landwirtſchaftlichen Kleinbetriebe zu beſſern und Heim und Raum zu ſchaffen
für weitere Menſchen, um ſo zu ſeinem Teile dazu beizutragen, die Not im
Vaterland zu mildern.
Barriſter:
Weltwirtſchaftskriſe — eine Raffenfrage
Der „britiſche“ Staatsmann Disraeli hat das Wort geprägt: die
ae i iſt der Schlüſſel zur Weltgeſchichte. Leider iſt der nordiſchen
Raſſe das Verſtändnis für die Richtigkeit des Disraeliſchen Wortes erſt
aufgegangen, als es ſchon faſt zu ſpät war.
Es iſt das Verdienſt Hans F. K. Günthers, den Begriff der Naſſe
einem großen Kreiſe Deutſcher nahegebracht zu haben. Weiter iſt es das Ver⸗
dienſt R. Walther Darré' s, zum erſten Male in unanfechtbarer Weiſe
gezeigt zu haben, welchen Einfluß die raſſenmäßige Bedingtheit auf die Ent⸗
wicklung der Völker gehabt hat. Die Darréſche Herausarbeitung und Gegen-
überſtellung zweier eee ee angelegter Raſſentypen
iſt tatjächlich für das Verſtändnis des menſchlichen Handelns und der menſch⸗
aa: Entwidlung entſcheidend.
Darré ſtellt dem nomadiſch veranlagten Menſchen den bäuer⸗
lich veranlagten gegenüber. Der bäuerlich beſtimmte Menſch iſt der
Werte ſchaffende, welcher dem Stoff in irgendeiner Gorm ſchöpferiſch
ſeinen Anterhalt abringt. Am ſichtbarſten als der den Boden beſtellende
Bauer, aber innerlich in gleicher Weiſe beſtimmt als Handwerker, als Unter-
nehmer (aber im richtigen Sinne), als Ingenieur und in höchſter Form als
Erfinder. Daraus in Jahrtauſende alter Kultur der Charakter dieſer Menſchen
gebildet: harte Kämpſer, hingegeben an die Sache, die ſie erfaßt hat, opfer⸗
bereit in der Erkämpfung und Verteidigung ihrer Arbeit, geſchlechtsverbunden
durch ſtarke Aberlieferung, weit in die Zukunft des Geſchlechts denkend, mit
klarem Sinn für das Natürliche und Richtige, aber auch mit lebhaft geſtalten⸗
der Einbildungskraft; in reinſter Form uns geläufig als Nordiſche Raſſe.
Der Nomade dagegen abgeſtellt auf Ausbeutung, auf das Ernten, wo er
nicht geſät hat). Daher ſtets die Luft am Raub, am möglichſt müheloſen
Gewinn, ohne das Wagnis des entſprechenden perſönlichen Einſatzes. Daher
geneigt, wo offener Raub nicht möglich, mit Lift und Betrug fein Ziel zu
erreichen. Keine oder andersgeartete 1 keine geſchlechtsverbundene
Sorge für die Zukunft. Am kennzeichnendſten kommt der Anterſchied dieſer
1) Gal. Schickedanz, Sozialparaſitismus im Völkerleben. Lotosverlag.
Weltwirtschaftskrise — eine Rassenfrage __ 579
Raffentypen in ihrer Einſtellung dem Wald gegenüber zum Ausdruck.
Der Nordiſche Menſch nutzt den Wald, aber er hegt ihn zugleich. Der
nomadiſche Menſch raubt ihn aus und denkt nicht an die Wiederaufforſtung.
Den Erfolg dieſer mühevollen Arbeit würde er ja nicht mehr ernten. Die von
nomadiſch beſtimmten Völkern bewohnten Länder haben heute noch keinen
Wald wieder; und wo nomadiſch angelegte Naſſen die Herrſchaft in die Hand
nehmen, wie in Sowjet⸗ Rußland, da wird der Wald in rückſichtsloſeſter
und roheſter Form ausgeraubt.
Die deutſche Volkswirtſchaft iſt wie das fie tragende Volk zunächſt
nordiſch beſtimmt geweſen. Sie hat dieſen Charakter auch Jahrhunderte
hindurch bis in die neuere Zeit gehabt. Erſt die auf die franzöſiſche
Revolution und ihr Gedankengut folgende Zeit, die wir als zunehmend
liberal und demokratiſch bezeichnen müſſen, hat langſam und ſtändig den Cha⸗
rakter des Deutſchen Volkes und damit auch ſeiner Volkswirtſchaft geändert.
Die entſetzlich ſeichte Lebensbeobachtung und auffaſſung, die in dem bekannten
demokratiſchen Glaubensſatz von der Gleichheit all defſen, was
Menſchenantlitz trägt, zum Ausdruck kommt, iſt der Grund für eine
wachſende Raſſenverſchlechterung geweſen. Nicht nur, daß raſſenfremde Be⸗
ſtandteile im Deutſchen Volk ſich heimiſch einrichten konnten, ſondern darüber
hinausgehend und viel ſchlimmer in der Wirkung ſetzte eine geiſtige und körper⸗
liche Verbaſtardierung ein, die allmählich zu einem erſchreckenden Nie⸗
dergang auf allen Gebieten geführt hat. Die nomadiſch eingeſtellten Eindring⸗
linge verfubren wie auf allen Gebieten, jo ganz beſonders auf dem der Volks-
wirtſchaft ihrer Veranlagung gemäß: Sie ſuchten immer wieder den die Werte
erzeugenden Nordiſchen Menſchen auszubeuten. Mit offenem Raub war
das anfänglich nicht möglich. Begreiflich daher, daß der dem Nomaden
auch von Geburt her im Blute liegende Weg des Betruges, der heim⸗
lichen, liſtigen Abervorteilung gewählt wurde. Erleichternd wirkte dieſem Vor⸗
gehen gegenüber die ſeeliſche Veranlagung des Nordiſchen Menſchen. Er, der
den Betrug als Verletzung von Treu und Glauben blutmäßig ablehnt,
dem betrügeriſches Weſen in keiner Weiſe liegt, er iſt dem verſteckten, ſchwer
erkennbaren Betrug gegenüber ziemlich hilflos. Die nomadiſchen Bevölkerungs⸗
beſtandteile nutzen dieſen Charakterzug ihrer Nordiſchen Wirte in entſcheiden⸗
der, geſchickter Weiſe: nach und nach, in dem Maße wie ihre Zahl und diejenige
der Baſtarde zunimmt, alſo der Boden für ihre Auffaſſung ſich zunehmend gün⸗
ſtiger geſtaltet — in dieſem Maße gelingt es ihnen, die Geſetzgebung des
Staates zu beeinfluſſen, ſich die rechtliche Plattform zu verſchaffen,
von der aus die Führung der Volkswirtſchaft im nomadiſchen Sinne mehr und
mehr möglich wird: ein gigantiſches Aus räuberungsſyſtem, durch
das „Recht“ getarnt, wird aufgebaut und nach allen nur möglichen Richtun⸗
gen durch wiſſenſchaftliche Lehre und ſtaatliche Einrichtungen untermauert.
Der Nordiſche Menſch aber kann von feiner Veranlagung und Lebensauf-
faſſung her die heutige moderne Volkswirtſchaft nur als Betrugsſyſtem ver-
ſtehen, vor deſſen Klugheit und Verſchlagenheit er allerdings erſchüttert ſteht.
An der Gegenüberſtellung des Wirkens zweier Großinduſtrieller
ſei beſſer als durch noch ſo viele Worte klar gemacht, daß es zwiſchen
Bauer und Nomaden niemals einen Ausgleich geben kann,
daß friedliches Nebeneinander beiden unmöglich iſt.
580 Barrister
Rudolf Sad
„Rudolf Sack) war Bauernſohn und mit vier Jahren vaterlos. Von
der Dorfſchule kommt er hinter den Pflug. Aber er geht nicht gedankenlos mit
dieſem Gerät um, wie Tauſende vor und mit ihm. In ihm wird der Gedanke
lebendig, den Pflug zu verbeſſern. Von einem Feldmeſſer lernt er die
Anfangsgründe der Mathematik und Mechanik. Achtzehnjährig treibt es ihn
in die Fremde, um an andern Orten andere Landwirtſchaftsmethoden kennen⸗
zulernen. Nach fünf Jahren unermüdlicher Arbeit hat er ſich zu einem leitenden
Poſten als Gutsangeſtellter herauſgearbeitet. Aber ſein Leitziel, zur Ver⸗
beſſerung der Landwirtſchaft auf dem Wege der Technik beizutragen, läßt ihn
nicht mehr los. Sack läßt feine geficherte gute Stellung im Stich, um mit
23 Jahren zunächſt zurück zum väterlichen Acker zu gehen. Dort probiert er im
kleinen Maßſtab, was ihm vorſchwebt. Bei einem Dorfſchmied legt er ſelbſt
Hand mit an, um dem Pflug eine zweckmäßigere Form zu geben. Drei Jahre
unermüdlicher Verſuche führen zum Bau der erſten modernen Pflüge. Zuerſt
von den Nachbarn in ihrem Wert langſam erkannt, werden fie durch Aus⸗
ſtellungen und Prüfungen einem weiteren Kreis bekannt gemacht. Ein nach
Südrußland verſchlagener Pflug erregt das Intereſſe eines fortſchrittlichen
ruſſiſchen Grafen und Großlandwirts. Er beſtellt 120 Stück. Das bedeutet den
Wendepunkt im Leben Sads... 39jährig reißt er fic) von der ihm ans Herz
gewachſenen heimatlichen Scholle los und wagt den endgültigen Sprung in die
neue Laufbahn des induſtriellen Unternehmers. Er fängt klein an, mit
eigenen Erſparniſſen. Er iſt ſein eigener Konſtrukteur, Betriebsleiter,
Kaufmann und Reiſender ... Als in der Gründerzeit nach dem Krieg von 1870
alle Preiſe, vor allem die des Eiſens, gewaltig ſtiegen, bildete er ſämtliche
Maſchinen und Geräte völlig um, um Werkftoff zu ſparen. Während die große
Maſſe der Wirtſchaftenden von dem allgemeinen Spekulationsfieber der Grün⸗
derzeit erfaßt war, verhinderte Sack, daß für ſeine Kunden fic der Preis allgue
ſehr erhöhte. Das brachte vollends die entſcheidende Wendung zuſtande. Nach
vier Jahren hatte Sad den hunderttauſendſten Pflug ver-
kauft. 1884 konnte er in ſeiner Fabrik ſchon 650 Arbeiter beſchäftigen, eine
damals ſeltene Zahl für deutſche Maſchinenfabriken. Sack blieb unermüdlich,
auch nachdem der volle Erfolg eingetreten war. Für alle Böden, Klimate und
Betriebsgrößen wollte er den beſtgeeigneten Pflug finden. Zugleich entſtand
für den Kleinbauern ein billiger, in großen Sätzen hergeſtellter Aniverſalpflug;
zwecks rafcheren Pflügens großer Flächen baut Sack ſchon 1880 Dreiſchar⸗
pflüge. Kaum iſt der Exploſions motor erfunden, hat die Elektro⸗
technik ſich zu entwickeln begonnen, da macht Sack Verſuche mit Motor-
pflügen und über den Einfluß der Elektrizität auf das Pflanzenwachstum.
74jährig nimmt Sack nach jahrelangen Vorverſuchen noch den Dampfpflugbau
auf und errichtet dazu einen Fabrikneubau. Die Haupturſache des erfolgreichen
Aufſtiegs Sacks zum Großinduſtriellen war zweifellos, daß er ſich voll für
einen Gedanken einſetzte, den er ſelbſt als ſeine heilige Lebensaufgabe
bezeichnete: nämlich durch Verbeſſerung der landwirtſchaftlichen Maſchinen
und Geräte, durch Sorge für deren preiswerte Erzeugung und richtigen
Gebrauch zum Gedeihen der deutſchen Landwirtſchaft beizutragen. Anter die⸗
1) Vgl.: Die Sendung des Unternehmers v. Mehmke, J. J. Lehmanns Ver⸗
lag, München.
Weltwirtschaftskrise — eine Rassenfrage | 581
fem Gedanken ftand fein ganzes Leben, das gewiſſermaßen nicht mehr ihm
allein gehörte.“
Otto Wolff
Stellen wir nun das Lebensbild des erfolgreichften „Induſtriellen“ der Neue
zeit, Wolff, dagegen. Otto Wolfſ iſt der Name, vor dem der Großteil der
Induſtriellen aus der Eifen- und Stahlinduſtrie vor Bewunderung ob ſeiner
Fähigkeiten glatt auf dem Bauche liegt. Aus dem „Induſtrie⸗Kurier“ Nr. 52,
1931, erfahren wir über Otto Wolff folgendes: er kommt vom Schrott-
handel her. Sein Sozius iſt Othmar Strauß. Sein erſtes großes Ge⸗
ſchäft iſt die Verſchrottung von Rote Erde. Bei dem Kauf dieſes Werkes
waren für 150 000 M. in der Erde liegende eiſerne Fundamentplatten nicht
mit eingerechnet worden, weil ſie den vertragſchließenden Parteien unbekannt
waren. Ganz fo hatte übrigens Deut ſch von der A. E. G. als junger Kauf⸗
mann ſeine „Fähigkeiten“ bewieſen; bei der Verſchrottung einer ſtillgelegten
Zuckerfabrik hatte er das Glück, beträchtliche, nicht bekannte Kupfermengen zu
finden und als Sondereinnahme verbuchen zu können. Doch laſſen wir den
„Induſtrie⸗Kurier“ min ſelbſt reden, der mit feinen Ausführungen Otto Wolff
nicht etwa an den Pranger ſtellen will, ſondern im Gegenteil bemüht iſt, für
dieſen großen „Induſtrie⸗Führer“ eine Lanze zu brechen:
„Der Krieg mit ſeinem Rieſenverbrauch an Heeres⸗ und Rüſtungsmaterial
brachte natürlich (!) auch der Girma Wolff große Gewinne, die in den
erſten Nachkriegsjahren dazu verwandt wurden, die Machtpoſition der
Girma Wolff in der Montan-Induftrie auszudehnen und zu befeftigen. In die
Reihen der führenden Montan-Induftriellen aber rückte Otto Wolff während
der Inflation — und in der erſten Nachinflationszeit, in der es ihm
gelang, nach und nach in die großen und größten Montanunternehmen ein-
zubrechen (II) ... Den größeren Teil dieſer Aktienpakete hat er, ſobald ihm
die Gelegenheit günftig erſchien — oft erſt nach Jahren (111) — wieder ab-
geſtoßen. Er gibt nie eine Poſition auf, auch wenn er Aktienpakete
abgibt... Dieſer Vorſtoß in die Induſtrie, die Zuſammenballung eines ſo
rieſigen Aktienbeſitzes in ſeiner Hand, die auf feine Initiative hin vorgenom-
menen Amgruppierungen innerhalb der von ihm kontrollierten Geſellſchaften
und Konzerne, und die dann erfolgte Abſtoßung dieſes oder jenes Beſitzes an
außer der übrigen Großaktionärgruppen ſtehende Intereſſenten hat bisher
in der Öffentlichkeit meiſt eine für ihn nicht gerade günſtige Beurteilung gefun-
den. Es wird von dieſen Kritikern eben durchweg überſehen, daß den Trans⸗
aktionen und Geſchäften Otto Wolffs Intereſſen und Motive zugrunde liegen,
die von denen der induſtriellen Großaktionäre ſtark abweichen, ja ihnen häufig
diametral entgegengeſetzt ſind, denn Otto Wolff iſt in erſter Linie Händler.
And dann kommt noch hinzu, daß bei ihm alles Handeln von einem ſtark aus⸗
geprägten Gewinnſtreben diktiert wird. An die Ausführung und Durchführung
eines Geſchäftes wird ohne jede Sentimentalität herangegangen, nüchtern wer⸗
den die Gewinnmöglichkeiten geprüft — und erſcheinen dieſe günſtig, fo wird
ſchnell und kräftig zugepackt.“
Glaubt jemand, wenn er ſich dieſe beiden Wirtſchafts⸗
führer in ihrer Weſensart klargemacht hat, daß es ſich bei
der Abwendung der „Weltwirtſchaftskriſe“ um die richtige
konſtruktive Löſung einer Wirtſchaftsaufgabe handelt,
daß es ſich darum handelt, das gerechte Wirtſchaftsſyſtem
582 Barrister
theoretiſch zu ergründen und wiſſenſchaftlich feſtzulegen?
Das Wirtſchaftsleben iſt keine dem menſchlichen Verſtand geftellte wiſſen⸗
ſchaftliche Aufgabe wie 55 B. die Erkenntnis der Elektrizität und ihre Beherr⸗
ſchung in der Technik; bei der Volkswirtſchaft handelt es ſich nicht um Vor⸗
gänge, die unabhängig vom Menſchen verlaufen und die man nur richtig
erkennen muß, um ihren Reaktionsverlauf nach Belieben zu beeinfluſſen. Auch
das gerechteſte Lehrgebäude und der gerechteſte Gewinnverteilungsplan werden
nicht das Tor zum Wirtſchaftsparadies aufſtoßen — ebenſowenig wie die
fataliſtiſche Ergebung in den „konjunkturellen Ablauf der Kriſe“, nach deren
Tiefpunkt wieder ein Höhepunkt ſolgen muß, für den die Notverordnungen nur
die unvermeidlichen Durchgangsmaßnahmen find.
„Es wird ſchnell und kräftig . (ſiehe oben) — der
Gewinnmöglichkeiten des Händlers wegen! bei nicht zu vergeſſen: Der
Staat von heute ſteht in den Dienſten dieſes Händlers. Er ſchützt dieſe
geſchäftlichen „Transaktionen“ in ſeiner Rechtſprechung. Wenn dabei der
Händler erſt dem Bürger, dann dem Arbeiter und jetzt dem Bauern die Kehle
zudrückt, ſo iſt es eben das perſönliche Pech der Einzelnen, die nicht ſo begabt
und nicht ſo tüchtig ſind wie er. Man braucht aber nur die Geſchichte der
Truſts, der Banken in den letzten Jahrzehnten zu verfolgen, um die Richtigkeit
der Behauptung zu erkennen: der heutige Staat wird vom noma-
diſchen Menſchen beherrſcht!
Die übermäßige Preisbildung aller Waren, deren Herſtellung und
Vertrieb ſich in den Händen der Truſts befinden, auf der einen Seite, die
Lohn⸗ und Gehaltsdrückerei der Arbeiter und Angeſtellten auf der
andern Seite ſind Amſtände, die ſich jedem Einzelnen, der ſehen will, klar auf⸗
drängen. Diejenige Gütererzeugung dagegen, die noch nicht durch einen Truſt
beaufſichtigt iſt und mit einem Monopolpreis den Markt für ſich aus⸗
beuten kann, lohnt heute nicht mehr. Viel gefährlicher, weil viel ſchwieriger
durchſchaubar als dieſe Dinge, für die die Weltwirtſchaftskriſe als Arſache
hingeſtellt wird, ſind aber jene Seiten des volkswirtſchaftlichen Lebens, die die
Grundlagen der Wirtſchaftsmacht des Nomaden bilden. Es handelt ſich im
weſentlichen um drei von der Allgemeinheit faſt immer verkannte Rechtsein⸗
richtungen, die ineinander verarbeitet ſind und ſich gegenſeitig ergänzen:
1. die Währungsfrage,
2. das Kreditweſen und
3. das Aktienrecht.
Dieſe drei Dinge können in ihren weitreichenden Folgen und Auswirkungen
im Rahmen dieſes Aufſatzes, der nur die Kampffront aufzeigen will,
nicht auseinandergeſetzt werden. An dieſer Stelle ſoll nur ſoviel geſagt werden,
wie zur Gewinnung der Erkenntnis nötig iſt, daß wir heute tatſächlich ſchon
in einem vollſtändig ausgebauten nomadiſchen Wirtſchaftsſyſtem
leben.
Die Währung iſt heute trotz des ſchönen Wortes „Goldkernwährung“
gekennzeichnet durch den Mangel an umlaufendem Gold. Wir alle
find daran gewöhnt worden, im Geld nicht mehr die Zwiſchentauſch⸗
ware „geprägtes Edelmetall“ mit Eigenwert zu ſehen, ſondern vielmehr den
Begriff „Geld“ in Beziehung zu bringen mit einem bedruckten Stück Papier.
Ans iſt trotz der ſchmerzlichen Erſahrungen der Inflation das Gefühl dafür
verlorengegangen, daß unſere Papierſcheine dem Eigenwerte nach ein Nichts
Weltwirtschaftskrise — eine Rassenfrage 583
find — und daß ihre Wertung naturgemäß von den Inhabern des Goldes
abhängt. Dieſe ſind aber — überwiegend Nomaden — jene Bankiers,
denen die Inflation ſo „ſchlecht“ bekam, daß die Vermögen ihrer Banken ins
Aferloſe ſtiegen und daß fie Mühe hatten, bei den Goldmark⸗Eröffnungs⸗
bilanzen nach der Inflation die Höhe des gemachten Raubes der allgemeinen
Kenntnis wenigſtens teilweiſe zu entziehen. Wie ungeheuerlich die Raubgier
des Nomaden ſich auf dieſem Wege der goldloſen Papiergeldwirtſchaft aus⸗
wirken kann, haben wir in der Inflation erlebt — und erleben es erneut in der
heutigen Zeit. Verſchob die Inflation den Wert der Zwifchentauſch⸗
ware „Geld“ zu den Waren, ſo haben wir heute die Entwertung
der Waren an der ſtabil gehaltenen Währung.
Die Inflation hat eine ungeheuere Verarmung weiter Schichten des deut⸗
ſchen Volkes herbeigeführt. Wer leben und das Haus neu aufbauen wollte,
war meiſtens auf „geldliche Hilfe“ der Begüterten angewieſen, alſo auf das
Kreditnehmen. Wer waren die Kreditgeber nach der Inflation? Wie⸗
derum die Nomaden, denn ſie waren ja die Gewinner in der Inflation ge⸗
weſen. And ſie gaben denn auch Kredit. Aber zu Bedingungen, die eben
nur Schmarotzer ſtellen können und die der Tod jeder Volkswirtſchaft ſein
müſſen. Ihrer Art gemäß nutzten ſie auch dieſe neue Gewinnmöglichkeit zu
einem großzügigen Betruge aus. Früher fand jeder Kredit ſeine naturgegebene
Grenze an der Menge des vorhandenen, umlaufenden Edelmetallgeldes. Der
Kreditgeber mußte wirkliches Geld herleihen. Die Zahlen im Konto-
korrent, die im Großhandel die getauſchten Warenmengen wertmäßig verrech⸗
neten, dürfen den Blick nicht trüben — wenn fie es auch bei faft allen Wäh⸗
rungstheoretikern getan haben.
Heute hat man ein ſich immer weiter aufblähendes Kreditſyſtem ge⸗
ſchaffen, ausgehend von der Goldkernwährung und einem ſich ins Nebelgraue
verlierenden „Deckungsbegriff“. Die Deckung des unter der Herrſchaft der
Goldkernwährung umlaufenden Papiergeldes beſteht nicht nur aus Gold, ſon⸗
dern auch aus goldgedeckten Deviſen. Letztere ſind aber auch nur Papiergeld
mit etwa ein Drittel Golddeckung. Nimmt man ſolche Deviſen alſo, wie es bei
den deutſchen Notenbanken geſchieht, als Deckung für in deutſchem Gelde zu
gewährende Kredite, fo iſt die tatſächliche Golddeckung für dieſes neue Geld
nur noch ſehr gering. Aber man hat nun wieder Papiergeld, das man aus⸗
leihen kann.
Dieſe Möglichkeit eines auf Papierdeckung aufgebauten Kre⸗
dites iſt zielbewußt vom Nomaden benutzt worden, um allen Menſchen ein⸗
zureden, daß das Schulden machen, das Kreditnehmen, die Grundlage
für jedes wirtſchaftliche Anternehmen ſei, nicht aber die Arbeit und die mit
der Arbeit erzeugte Ware. Dieſe Ambiegung des geſunden Denkens
hat zu einer ungeheuren Stärkung der nomadiſchen „Geldſchöpfer“ geführt und
zu der troſtloſen Lage der meiſten großen und kleinen Anternehmen. Man
mache ſich doch nur einmal klar, in welch falſche Bahnen durch das vom No-
maden weiteſt gehend beeinflußte Schrifttum unſer ganzes Denken gelenkt
worden iſt. Hätten die nordiſchen Deichbauern oder die Wallbauern
der mittelalterlichen Städte vor Inangriffnahme ihrer „unproduktiven“ Rieſen⸗
bauten dieſe fic) erſt Eapitalifiert gedacht, um dann fic) dieſe errechneten Zahlen
als „Kredit zur Verfügung ſtellen zu laſſen“ — ſie hätten wohl niemals an⸗
584 Barrister
gefangen zu arbeiten. Es hätte ſich ja doch nicht „gelohnt“, weder für fie
noch für ihre Kinder und Kindeskinder.
Natürlich ſind die uns heute obliegenden Arbeiten nicht ohne weiteres in
der Art in Angriff zu nehmen, wie es uns die Vorfahren vorgemacht haben.
Derjenige Teil der Bevölkerung, der als Bauer das Land beſtellt und
für ſich und die andern die Nahrung ſchafft, iſt zahlenmäßig zu ſchwach, und
auch im Handwerk und im Anternehmertum beſtimmt nicht mehr der „
die Warenerzeugung, den Warenumſatz und verbrauch. Aber grundſätzlich
laſſen ſich ſolche Nieſenarbeiten auch heute noch ohne das Dazwiſchenſchieben
von Geldgebern ausführen; auch ohne öffentliche Kredite und Anleihen und
dem „Staate“ als Geldgeber.
Der dritte, den meiſten nicht ſichtbare Pfeiler des nomadiſchen Wirt⸗
ſchaftsgebäudes iſt das Aktienrecht. Es iſt heute völlig auf die Art des
nomadiſchen Menſchen abgeſtellt und zu ſeinem Nutzen umgebogen worden.
Mit der auch von „nationaler“ Seite geforderten Kleinaktie in den Hän⸗
den des Arbeiters und kleinen Sparers ändert man die Dinge nicht, wie denn
dieſe „Nationalen“ trotz aller Geſten im Grunde eben doch nomadiſch
beſtimmte Händler find. Das Aktienrecht iſt heute das Machtinſtru⸗
ment, mit dem fic der Nomade zum Herrn aller Großunter-
nehmen gemacht hat, wie er ſich mit dem Papiergeld zum Herrn des
Staates machte und mit dem Kredit zum Herrn des Grund und Bodens.
Bereits v. Ihering äußerte ſich über das Aktienrecht etwa
dahin, daß es mehr Anglück, Not und Verzweiflung über
die Menſchen gebracht habe als Kriege, Hungersnöte und
Seuchen. Dabei ftand dem großen Rechtslehrer nur die Erfahrung der
„Gründerjahre“ nach dem Kriege 1870/71 zur Verfügung. Wie hätte er wohl
heute geurteilt? Denn die Möglichkeiten eines richtig „ausgelegten“ Aktien⸗
rechtes zur Erlangung der Wirtſchaftsmacht ohne die geringſte geldliche, eigene
Verluſtgefahr ſind erſt in der Inflation voll entwickelt worden. Aktien mit
hundertfachem Stimmrecht, Vorratsaktien, Dadgefell-
ſchaften!
Heute ſteht der Nomade im Endkampf um die dauernde
Verankerung ſeiner Macht. Es gilt, auch den Bauernſtand endgültig
zu erledigen. Am den Ausgang dieſes Kampfes muß jeder weiterblickende
deutſche Menſch bangen, denn bis jetzt hat der Nomade die Geſetze des Han⸗
delns in dieſem Kampfe diktiert. Der Bauer führt heute noch den Kampf unter
dem Geſichtspunkte der Preisbildung für ſeine Waren, damit er beſtehen
kann. Hitler hat anläßlich des paſſiven Widerſtandes an der
Ruhr das Wort geprägt: „Durch Faulenzen macht man ſich
nicht frei!“ Für den heutigen Kampf der Landwirtſchaft gilt: Dadurch,
daß man ſich mit den Machthabern, deren Erhaltungsinſtinkte denjenigen der
Beherrſchten ganz entgegengeſetzt gerichtete ſind, um die Pfennige ſtreitet und
fie um beſſere Bezahlung bittet, erlangt man feine wirtfchaftlihen Lebens⸗
bedingungen nicht wieder. Daß wir heute als ganzes Volk da ſtehen, wo
wir ſtehen, liegt eben daran, daß bis zum heutigen Tage die feindliche
Kampffront und das Kampfziel nicht erkannt worden find. Der auf
Grund ſeiner wirtſchaftlichen Lage wenigſtens teilweiſe zum Führertum ver⸗
pflichtete Adel hat ſchon ſeit Jahrzehnten verſagt. Schon zu Bismarcks Zeiten
war der deutſche Adel des Oſtens weitgehend „neutraliſiert“ worden, wie
Weltwirtschaftskrise — eine Nassenfrage 585
der techniſche Ausdruck der jüdiſchen Hochfinanz lautete. Ein mitteldeutſches
Mitglied des Herrenhauſes hat deshalb ſchon damals mit einem
großen Teil ſeiner Standesgenoſſen in Fehde gelebt. Wenn er in Berlin
weilte, wurden ihm wiederholt von der jüdiſchen Finanz glänzende Ge⸗
ſchäfte angeboten. Auf ſeine Bemerkung, er habe kein Geld, wurde ihm
dann meiſtens erwidert: „Herr Baron brauchen kein Geld; wir
ſtrecken Ihnen die Summe vor, und Sie werden trotzdem gut
dabei verdienen.“ Der betreffende Adelige verzichtete trotzdem auf das
gute Geſchäft (er hätte tatſächlich gut verdienen dürfen), genau ſo wie er auch
auf Einladungen zu Schlemmerfrühſtücken verzichtete — um ſtets ohne jede
„Bindung“ gegen den „Liberalismus“ kämpfen zu können. Von kurzſichtigeren
Standesgenoſſen wurde ihm dann vorgehalten: „Was du nur immer gegen
die Juden haft; fie verwalten unſere Gelder, wir bekommen 9— 10 % Zinſen,
und es wird immer mehr!“
Wenn heute von allen Seiten Telegramme an den Reichspräſidenten und
Reichskanzler geſchickt werden und um Hilfe für die Landwirtſchaft ge⸗
beten wird, ſo muß deutlich geſagt werden, daß die Volksgenoſſen in den
Städten für ſie keine Hilfs gelder mehr aufbringen können. Die troſtloſe
Lage der Allgemeinheit in den Städten geht nicht zuletzt darauf zurück, daß die
berufsſtändiſche Körperſchaft des Landbundes dank der „Neutralität“ ſeiner
Führer ruhig zuſah, als die Inflation Arbeiter und Bürger zugrunde richtete.
Jede Preiserhöhung für Lebensmittel zu Laſten der verbrauchenden Volks⸗
genoſſen, die heute die Machthaber zubilligen würden, müßte die Verzweiflung
der hungernden Maſſen in den Städten gegen die Landwirtſchaft als Ganzes
kehren: der Bolſchewis mus hätte ſeine Schlacht gewonnen!
Wenn heute der Bauer ſich und damit das deutſche Volk in letzter Stunde
retten will, fo kann er es nicht im eigenſüchtig gebundenen Wirtſchafts⸗
kampf eines Berufsſtandes. Der gewerkſchaftlich organiſierte Arbeiter iſt an
eben dieſer eigenſüchtigen Gebundenheit geſcheitert, trotzdem er für dieſen
Kampf ganz anders geſchult und zuſammengefaßt war als heute der Bauer.
Nicht „Margarinekontingente“, ſondern „Macht“ heißt die
Loſung. Am die Macht kämpft aber heute gegen den Nomaden allein Adolf
Hitler mit ſeinen Getreuen. Nach Erlangung der Macht aber darf
es ſich nicht darum handeln, für die eigenen Waren den beſtmöglichen Preis
zu erlangen, den der Markt noch tragen kann, ſondern dann muß die noma⸗
diſche Wirtſchaftsform und jedes nomadiſche Wirtſchafts⸗
denken mitallen Machtmitteln des Staates bekämpft wer-
den. Es muß unmöglich gemacht werden, Reichtum durch „gefchäftliche Trans⸗
aktionen“ zu erwerben, oder anders ausgedrückt, wie es in einem leider auch
in den Kreiſen des Kampfbundes geſchätzten Buche zu leſen iſt, „aus Ver⸗
zweiflung darüber, weil ſie (die Juden) nicht artgerecht leben können, erſinnen
ſie Finanzſyſteme und werden dadurch ungeheuer erfolgreich.“
Zum Beweis deſſen, wie weit das nomadiſche Wirtſchaftsſyſtem heute in
der ganzen Welt aufgebaut iſt, ſei ein Wort angeführt aus Kreifen, die es
wohl wiſſen müſſen. Alfons Paquet — anſcheinend konnte der Verein
deutſcher Chemiker wohl keinen geeigneteren Feſtartikelſchreiber finden als
dieſen Juden — ſchreibt in der Zeitſchrift für angewandte Chemie, Heft 13,
Jahrgang 1930, folgendes:
586 G. v. M.
„Darüber gelagert und in fie (die Bevölkerung Frank-
furts a. M. D. Verf.) hineinverwoben iſt der neue Adel (II) . .
der über die Fernbeziehungen (ö) Beſcheid weiß und deſſen
Aufmerkſamkeit auf die Dinge des Geldes unerſchütterlich
iſt. Er iſt genau ſo bereit, heute in Berlin wie morgen in
Paris, London oder New ann Es gibt wohl keine
herrſchende (1!) Familie in der Welt, die nicht noch ihr Ma-
machen in Frankfurt a. M. ſitzen hat.“
Es iſt ſchon ſo, auch die Weltwirtſchaftskriſe iſteine Naf-
ſenfrage, nicht nur die Weltgeſchichte, wie Disraeli meinte!
G. v. M.:
Oſtſeeraum und Oftraumpolitit
Man kennt das alte Lied „Nach Oſtland woll'n wir reiten“ und denkt dabei
an die weiten Räume, die der deutſche Menſch mit dem Kreuz, dem
Schwert und dem Pflug erwarb. Das waren Zeiten, wo man noch um
des Glaubens willen zu leiden, um des Deutſchtums willen zu kämpfen, um
der Scholle willen zu hungern verſtand. Es mag ſein, daß die Not der Zeit
uns wieder unſeren Vorſahren ähnlicher machen wird. Falſch aber iſt es zu
glauben, daß die Oſtfrage eine rein kontinentale Frage und daß daher
das deutſche Schickſal im Oſten zu ſehen einen Verzicht auf Seefahrt bedeuten
müßte. Weder im Mittelalter war dies, noch iſt es heute der Fall. Das oben⸗
erwähnte Lied entſtand im Flamland, dem Lande der Seefahrer im äußerften
Nordweſten des alten Deutſchen Reiches. Von Welten nach Often, zur See
und zu Lande ſetzte die früheſte Oſtbewegung ein. Der ſüdliche, kleinere Teil
des Ordensſtaates, O ſtpreußen, iſt über Land erobert und kolo⸗
niſiert worden. Daher wanderten ſpäter vorzugsweiſe Deutſche aus
Mitteldeutſchland dahin. Ganz anders aber ſteht es um den nördlicheren,
größeren Teil, das fog. Baltikum. Dieſes Gebiet, fo groß wie Süddeutſchland,
iſt „auf geſegelt“ worden, und zwar von Lübeck, der urſprünglich führenden
Hanſeſtadt aus. Brügge im Weſten und das ruffiſche Groß⸗Nowgorod im
Oſten, jenſeits des Peipusſees, waren die äußerſten Pole der deutſchen Span⸗
nung. Wisby auf Gotland war der Stapelplatz für die Roberzeugniffe aus
dem flawifden Often und dem getreideausführenden Ordensſtaate nach dem
Weſten, der ſeinerſeits Fertigwaren in dieſe Länder ausführte. Riga und
Re val ſind nicht nur die öſtlichſten, ſondern auch die älteſten deutſchen
Einfallstore nach dem Oſten geweſen. Die Beherrſchung der Oſtſee
war notwendig, wenn man im Oſtraum ſich halten und vordringen wollte.
Daher iſt das ſog. „Dominium maris Baltici“ ein ſtetes Streben aller derer
geweſen, die im Nordoſten Machtwirtſchafts⸗ oder Volkspolitik treiben woll⸗
Ostseeraum und Ostraumpolitik | 587
ten. Aber nur für die Deutſchen fielen dieſe Fragen zuſammen, fie bedurften
dieſes Meeres in höherem Maße als die anderen Anliegerſtaaten. Jahr-
hundertelang hatte man dieſe Tatſachen vergeſſen; heute ſteht das Problem
wieder vor uns.
Oſtſee und Mittelmeer haben gewiſſe Uhnlichkeiten. Den Seeſtädten
Italiens ging es wie der Hanſa: Die Entdeckung Amerikas entkleidete ſie ihrer
Bedeutung, und auch das politiſche Schwergewicht verlagerte ſich nach dem
Weſten (Spanien, Frankreich, die Niederlande, England). Dann entſtand im
Norden die Großmacht Schweden. Die Beherrſchung des Valtiſchen Meeres
war die Vorausſetzung für deren Machtpolitik. Am Eſtland und Livland auf
Grund des Antrages der Stände den Polen zu entreißen, mußte Guſtav Adolf
Herr der See ſein. Dieſelbe Vorausſetzung galt, um während des Dreißig⸗
jährigen Krieges ſein Schwert in die Waagſchale zu werfen. Sein geiſtiger Erbe
wurde der Große Kurfürſt, der die Grundlagen für den preußiſchen Staat
legte. Er trieb Oſtpolitik, indem er Oſtpreußen endgültig aus dem polniſchen
Machtbereich löſte. Fortan baute ſich die Kraft ſeines Staates zwar auf den
Oſtprovinzen auf, aber für das deutſche Geſamtſchickſal waren ſeine und ſeiner
Nachfolger Auseinanderſetzungen mit dem Weſten entſcheidend. Der eigent⸗
liche Erbe Schwedens und auch Polens im Nordoſtraum wurde Rußland,
u grat zunächſt weniger aus madt- als aus kultur- und wirtſchaftspolitiſchen
ründen.
Peter der Große hat urſprünglich nicht die Abſicht gehabt, ſich an der Oſtſee
feitzufegen. Eine ſeltſame Verkettung von Amſtänden führte ihn aber doch
dazu. Er erkannte zwar ſehr wohl, daß das Schwarze Meer für Rußland eine
viel größere Bedeutung hatte als das Baltiſche. Zweimal belagerte er deshalb
das im Beſitz der Türken befindliche Aſow vergeblich. Dann aber lenkte er
ſeinen Blick nach dem Nordweſten. Die Amſtände kamen ihm inſofern ent⸗
gegen, als König Karl XI. von Schweden die „Güterreduktion“ auch auf Liv-
land ausdehnte, was einer Vernichtung des Deutſchtums gleichkam. Da war
es der livländiſche Edelmann Reinhold von Patkull, der — obwohl Private
mann — die große Koalition der nordiſchen Mächte, Rußland, Preußen,
Polen, Dänemark, gegen Schweden zuſammenbrachte, der Schweden unterlag.
Aber vorher lieferte Auguſt der Starke, König von Polen und Kurfürſt von
Sachſen, Patkull an Karl XII aus, der ihn grauſam hinrichten ließ. Seltſame
Vorgange: Zunächſt Schwedens falſche Agrarpolitik (fie ſollte übrigens Letten
und Eſten nachdenklich machen), dann die politiſchen Fähigkeiten eines Balten
— d. h. des Angehörigen eines Stammes, der zur Selbſtverteidigung und
Selbſtverantwortung erzogen war — und ſchließlich der Mißerfolg eines im
Süden an die See drängenden genialen Herrſchers; dieſe Amſtände alle fielen
zuſammen, um das ruſſiſche „Dominium maris Baltici“ für zweihundert Jahre
entſtehen zu laſſen. Die Teilungen Polens ſtärkten die rufſiſche Stellung im
Nordoſten, denn durch ſie kam Kurland 1795 an Rußland, obgleich es bei
einer beſſeren preußiſchen Politik auch an Preußen hätte fallen können, was
dem Wunſche ſeiner Bewohner entſprochen hätte. Der Friede von Breſt⸗
Litowſk 1917 machte dieſem 200 jährigen Herrſchaftszuſtande wieder ein Ende.
Die Oſtſee hatte jedoch für Rußland bereits vorher eine abnehmende politiſche
Bedeutung. Nachdem es in den Beſitz des Schwarzen Meeres gelangt war,
zeigte es ſich, daß dieſes wirtſchaftlich für Rußland einen viel höheren Wert
hatte. Hinzu kam der Wettbewerb der Eiſenbahnen u. a. mehr. Trotzdem ſpielt
Agrarpolitik Heft 8, Bg. 3
588 G.v.M.
die Vorftellung „Rußland kann die Oſtſee nicht entbehren“ in dem politiſch
noch oft paſſiv denkenden deutſchen Volke eine große Rolle. Von einer ſolchen,
überdies unzutreffenden Denkungsweiſe ausgehend, kommt man zu dem fal-
ſchen Schluß, auch der Tſchechei und Polen Seeküſten zubilligen zu müſſen.
Beide Meere — Oſtſee und Schwarzes Meer — waren ſog. Binnenmeere,
und durch beide kam die ruſſiſche Politik mit der engliſchen in Berührung. Aus
vielfochen Gründen war Rußlands Beſtreben auf die Beherrſchung der Dar⸗
danellen und Konſtantinopels gerichtet, dasjenige Englands darauf, Rußland
daran zu hindern. In geringerem Maße galt dies für den Sund und die Belte,
die aus der Oſtſee in die offene Nordſee führen. Der engliſch⸗ruſſiſche Gegen⸗
ſatz in bezug auf das „Dominium maris Baltici“ ließ Preußen, da es über
keine nennenswerte Seemacht verfügte, trotz ſeiner langen Küſte vollſtändig
zurücktreten.
Wenn aber Rußland mehr oder weniger die Oſtſee beherrſchte, ſo hat es
feinen neuerworbenen Gebieten, den fog. „deutſchen Oſtſeeprovinzen Ruß-
land“ und Finnland, bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine völlige innere
Freiheit gelaſſen. Die Verbindung mit Finnland trug den Charakter einer
Realunion, die mit dem Baltikum baute ſich auf Verträgen mit den Ritter⸗
ſchaften auf, wonach die ruſſiſchen Kaiſer die evangeliſche Kirche, die deutſche
Sprache und das geltende Recht als die Landeskirche, die Landesſprache und
das Landesrecht anerkannten. Die Demokratiſierung Rußlands und der Pan-
ſlawismus („ein Zar, ein Glaube, eine Sprache“) ſtellten den Verſuch dar,
das Slawentum an die Küſte der Oſtſee nicht nur im ſtaatlichen, ſondern auch
im volklichen Sinne heranzutragen. Der Weltkrieg wurde zum Kampfe um die
Beherrſchung des Nordoſtraumes, wobei Deutfchland ohne Ziele, Rußland
mit ſolchen in den Kampf zog. Rußland wußte, daß Oſtpreußen nichts anderes
als das verlängerte Baltikum darſtellte, das im Siebenjährigen Kriege und
nach dem Tiſiter Frieden bereits ruſſiſches Kriegsziel geweſen war. Rußland
war bereit, zwar kein unabhängiges, aber ein autonom mit Rußland verbun⸗
denes Polen etwa in ſeinen heutigen Grenzen zu ſchaffen. Ein ſiegreiches
Rußland wäre für Deutſchland noch ſchlimmer geweſen als der Friede von
Verſailles, der die Randſtaaten ſchuf und damit — ungewollt — Deutſchland
vor die Aufgabe ſtellte, den Nordoſtraum neu zu ordnen. Wenn Deutſchland
ſich dieſer Aufgabe entzieht, werden Polen und Rußland dieſe übernehmen und
ſich vielleicht mit der gemeinſamen Spitze gegen Deutſchland verſtändigen.
Ohne Ziele, ohne etwas anderes zu wollen als ſeine Grenzen zu verteidigen,
zog der deutſche Soldat in den Krieg, was ſicher kein Zeichen der Stärke, ſon⸗
dern der Schwäche war. Die Ziele entſtanden erſt, als die ſiegreichen deutſchen
Truppen in das Baltikum einrückten und dort ein Land faben, das ihrer Hei⸗
mat ähnelte, deſſen Aufbau, Verwaltung und Führung trotz der undeutſchen
Mehrheitsbevölkerung doch deutſch war. Der Friede von Breſt⸗Litowſk be⸗
deutete die Löſung des Nordoſtraumes von Rußland, eines Raumes, der Ruß-
land nur äußerlich angehört hatte. Nach Sprache, Geſchichte, Konfeſſion und
Wirtſchaft gehörte er zu Mitteleuropa oder war ein Abergangsgebiet nach dem
Oſten. Auch nach dem Zuſammenbruch boten ſich noch Möglichkeiten, denn die
Balten griffen zu den Waffen, um ihre Heimat gegen die anrückenden Bol⸗
ſchewiki zu verteidigen. Ihnen ſchloſſen ſich deutſche Freiwillige an, und die
Vernichtung der Noten gelang. Hierbei zeigte es ſich, daß Städte und Länder
Ostseeraum und Ostraumpolitik | 589
wiederum eine Bedeutung erhielten, die fie verloren zu haben ſchienen, ſeitdem
Rußland die Oſtſee beherrſchte, und wie Preußen (Deutſchland) und die
Habsburger Monarchie infolge der Teilung Polens an einem ſtatiſchen Zu⸗
ftande im Nordoſtraum intereffiert war. Aber der Friede von Breſt⸗Litowſk
und der Zuſammenbruch der drei Kaiſerreiche rollten alle dieſe Fragen wieder
auf. Als die Volſchewiki das Baltikum angriffen, verſperrte ihnen die Entente
den Seeweg. Lloyd George verbot der engliſchen Flotte, deren Stützpunkt
Kopenhagen war, ſich an der Befreiung Rigas von der roten Herrſchaſt am
22. Mai 1919 zu beteiligen. So waren die baltiſche Landeswehr und die Frei⸗
korps ausſchließlich auf den Landweg durch Litauen angewieſen. Dieſes aber
nahm eine unfreundliche Haltung an, die zuletzt in offene Feindſeligkeiten über-
ging, von dem Verhalten der damaligen deutſchen Regierung, die die Volks⸗
genoſſen yay Not fallen ließ (Erzbergerabkommen mit den Bolſchewikil) nicht
zu reden. Memel iſt urſprünglich eine baltiſche Gründung, d. h. der baltiſche
Teil des Oſtens drang von Norden nach Süden vor und ſchuf fic) dieſen Stüß-
punkt, um die Landverbindung zwiſchen den beiden Ordensgebieten aufrecht⸗
zuerhalten. Litauen an ſich iſt ja die eigentliche Schlüſſel⸗
ſtellung im Nordoſten. Dieſer Staat wird ſich endlich entſcheiden
müſſen, ob er für Deutſchland oder für Polen optieren oder zwiſchen beiden
einmal zerrieben werden will.
Als im Sommer 1915 die deutſchen Truppen in Kurland einrückten, ſtellte
die kurländiſche Ritterſchaft ein Drittel des Großgrundbeſitzes für die Sied⸗
lung zur Verfügung. 1918, nach dem Zuſammenbruch, verſprach dann die
lettiſche Regierung jedem deutſchen freiwilligen Kämpfer Land zu Siedelungs⸗
zwecken. Die Balten konnten ihr Angebot nicht aufrechterhalten, weil ſie ſelbſt
von der Scholle vertrieben wurden. Die lettiſche Regierung brach ihr Ver⸗
ſprechen. Hier offenbart ſich aber wiederum die enge Verbundenheit von Scholle
und Politik im baltiſchen Raum. Die Erörterung der Beſitzgrößen liegt nicht
im Rahmen dieſes Artikels. Es ſei daher hier nur darauf hingewieſen, daß ein
Bauerntum ohne Großgrundbefitz, d. h. ohne eine politiſch zur Führung wirk⸗
lich geeignete Oberſchicht, von einer höheren Warte aus geſehen, bereits eine
bedenkliche Erſcheinung iſt. Im Nordoſten wäre das Bauerntum allein ver⸗
loren. Dieſe Feſtſtellung mag wie jede politiſche Wahrheit den Wunſch⸗
träumen vieler nicht entſprechen, aber ſie entſpricht den Tatſachen. Anbedingt
notwendig jedoch iſt die Schaffung eines neuen weder kapitaliſtiſchen noch
kollektiven Bodenrechts. Ohne ein ſolches kann auf die Dauer kein Bauerntum
und kein Volkstum beſtehen. Eine der Arſachen der deutſchen Erfolge im Often
war die Verbreitung des lübiſchen Rechtes in den See⸗ und des magde⸗
burgiſchen in den Binnenftädten, weit über die Grenzen des alten Reiches
hinaus. Die Deutſchen brachten eben ein beſſeres Recht, das einem jeden zu⸗
gute kommen konnte. Heute läßt ſich dies nicht mehr behaupten.
Am das Deutſchtum im baltiſchen Raume zu vernichten, mußte man es
feiner Bodenſtändigkeit berauben. Man machte damit die Befitzer und deren
Angeſtellte zu Bettlern, zerſchlug alles, was mittel⸗ oder unmittelbar in Stadt
und Land von der deutſchen Landwirtſchaft abhing und beraubte das Balten⸗
tum der Schicht, die ihm die beſten und weitblickendſten Führer geſtellt hatte,
die zum Wohle aller durch Jahrhunderte das Land regiert hatten. Ob dies
letztere tatſächlich gelungen iſt, wird die Zukunſt lehren.
3
590 Kurt Fachmann
Das Nordoſtproblem iſt kein rein kontinentales und kein maritimes, es ift
die Verbindung beider. Vom deutſchen Standpunkt aber iſt es ein Problem
der Führung, der Leiſtung. Regieren, nicht verwalten, fiedeln, nicht koloniſie⸗
ten, Führung und nicht Maſſe (die kommt dann von ſelbſt), Kunſt und nicht
Technik — das machte einſt das Weſen jener aus, die dem deutſchen Volk den
Weg nach Oſten wieſen. So wie es einſt war, ſo iſt es heute noch.
Kurt Fachmann:
1933, das Schickſalsjahr des oͤeutſchen Gartenbaues
Eine handelspolitiſche Betrachtung
Die Frage, ob der deutſche Gartenbau einer ausſichts⸗
reichen Entwicklung entgegengehen kann oder aber in den
Kümmerzuſtand der Vorkriegszeit zurückfallen muß, hängt
in erfter Linie von der zukünftigen Geſtaltung der deut
ſchen Handelspolitik ab. Seit Jahren fordern die deutſchen Gärtner
deshalb mit aller Eindringlichkeit Maßnahmen gegen die Aberflutung der deut⸗
ſchen Märkte mit Erzeugniſſen des ausländiſchen Gartenbaues, nachdem fie
zuvor dafür Sorge getragen haben, daß alle Maßnahmen zur Verſorgung des
deutſchen Marktes aus Eigenerzeugung in Angriff genommen wurden. Seit
Jahren warten ſie nunmehr auf die Gegenleiſtung, auf den ſtaatlichen Schutz
dieſer geſteigerten Eigenerzeugung, damit die Leiſtungsfähigkeit ihrer Betriebe
wiederhergeſtellt wird und der Erfolg ihrer Arbeit nun auch ihnen zugute⸗
kommt.
Wiederholt wurde ihnen auch ſeitens der maßgebenden Stellen Hilfe auf
handelspolitiſchem Gebiete in Ausſicht geſtellt, aber ebenſooft mußten fie es
erleben, daß ſtärkere Kräfte im Hintergrunde ſtanden, die über den Willen des
zuſtändigen Fachminiſteriums den Sieg davontrugen, ſo daß die Fahrt in den
ausgefahrenen Geleiſen liberaliſtiſcher Handelspolitik weiterging. Der weniger
kampfbereite Teil des deutſchen Gartenbaues hatte ſich demzufolge ſchon an den
Gedanken gewöhnt, für andere Zweige der Wirtſchaft jeweils geopfert zu
werden.
Die deutſchen Gärtner horchten deshalb auf, als Herr von Papen als
Reichskanzler am 10. Juni 1932 vor dem Deutſchen Landwirtſchaftsrate davon
ſprach, daß „eine ſtarke, zielbewußte Agrarpolitik das Fundament jeder geſun⸗
den Entwicklung ſei“; mancher von ihnen ſah ſchon die endliche Erfüllung lang⸗
— U ————̃ . — — — —— — —ͤ—ö— — — — —— 1 —— — AEs c —— ree ae ae ees na
1933, das Schicksalsjahr des deutschen Gartenbaues 591
gehegter Wünſche, als dieſes Kabinetts Reichsminifter für Ernährung und
Landwirtſchaft, Frhr. von Braun vor der bayeriſchen Landwirtſchaft am
26. September 1932 in München glaubte, die Rontingentierung
gartenbaulicher Erzeugniſſe zuſagen zu können; das Prä-
ſidium des Reichsverbandes des deutſchen Gartenbaues e. V. war ſogar fo
hoffnungsvoll, daraufhin ſogleich in der „Gartenbauwirtſchaft“ (Nr. 40/1932)
eine Mitgliederwerbung unter dem Stichwort: Die Einfuhr wird kontin⸗
gentiert! — anzuſetzen. Aber — die Kontingentierung ließ doch noch auf ſich
warten!
Dem ftugig gewordenen Beruſsſtande wurde zwar in einer Tagung, die die
Fachabteilung für Gartenbau der Preußiſchen Hauptlandwirtſchaftskammer
mit großem Aufgebot flugs einberufen hatte, ſeitens desſelben Herrn Reichs⸗
miniſters für Ernährung und Landwirtſchaft am 13. Oktober 1932 erneut ver⸗
fichert, daß „er ſich für den deutſchen Gartenbau einſetze, weil es ein ungeheuer
wichtiger Zweig der deutſchen Volkswirtſchaft ſei“ und — bezüglich der han⸗
delspolitiſchen Seite — daß er „den Weg, den er eingeſchlagen habe, ſelbſt⸗
verftändlich weitergehen werde“. Aber — es kamen nur die Reichtstagswahlen
vom 6. November 1932. Manchem Gärtner ging jetzt ein Licht auf, denn die
vor den Wahlen verſprochene Kontingentierung, die der deutſche Gartenbau
zur Beſſerung der troſtloſen wirtſchaftlichen Verhältniſſe ſehnlichſt erwartete,
kam nicht!
Der Herr Reichskanzler von Schleicher beftätigte in feiner Rundfunk-
rede vom 15. Dezember 1932 dem Gartenbau wohl erneut, daß „es unerläßlich
ſei, dem vom Weltmarkte ausgehenden Druck auf die Preiſe der landwirtſchaft⸗
lichen Erzeugniſſe, insbeſondere der Vieh⸗ und Milchwirtſchaft, des Garten⸗
baues und der Forſtwirtſchaft, möglichſt ſchnell und wirkſam entgegenzutreten.“
Das wäre fraglos am ſicherſten erreicht worden, wenn dem Gartenbau die vom
Herrn Reichsminiſter für Ernährung und Landwirtſchaft gegebene Zuſage um⸗
gehend erfüllt wurde. Das jedoch tat Herr von Schleicher nicht; er
ſchaltete vielmehr die Frage der Kontingentierung aus
dem Programm des Reichskabinetts überhaupt aus und ſtellte
dafür als völlig unzureichenden Erſatz in Ausſicht, daß „die Reichsregierung
von ihrer Zollautonomie im Intereſſe der Landwirtſchaft in dem erforderlichen
Ausmaße Gebrauch machen würde, ſobald die handelspolitiſchen Schwierig⸗
keiten fortfallen und weſentliche Erleichterungen eintreten“.
Die Gärtner, die im Laufe des letzten Jahrzehnts in ſteigendem Maße
gelernt haben, neben den Notwendigkeiten für ihren Betrieb auch die Zuſam⸗
menhänge ihres Berufsſtandes mit Politik und Wirtſchaft zu ſehen, werden
auf dieſen Köder nicht anbeißen, ſondern ſie werden den richtigen Schluß aus
dieſer Ambiegung ihrer Forderungen dahingehend gezogen haben, daß ein fol-
592 Kurt Fachmann
ches Reichskabinett überhaupt nicht gewillt war, dem Gartenbau einen wirklich
wirkſamen Schutz zuteil werden zu laſſen. Die deutſchen Gärtner ſehen
deutlich das Verhängnis, das in dieſem Schickſalsjahre
drohend über ihrem Berufeſteht undüber ihn hereinbrechen
wird, wenn nicht noch in letzter Minute der richtige Kurs-
wechſel ſtattfindet.
Am den für den Gartenbau richtigen Kurs der Handelspolitik zu erkennen,
wollen wir deshalb nun — fern von jeder Tagespolitik — prüfen, ob und
inwieweit dem deutſchen Gartenbau auf dem von Herrn
von Schleicher anempfohlenen Wege überhaupt „ſchnell
und wirkſam“ geholfen werden kann. Dazu bedarf es einer Vee
trachtung der Entwicklung, die der deutſche Gartenbau auf Grund der jeweils
gegebenen handelspolitiſchen Vorausſetzungen genommen hat. —
In einem knappen Jahrhundert hat ſich Deutſchland von einem Agrarſtaat
zu einem Induſtrieſtaat entwickelt. Dieſe Wandlung der wirtſchaftlichen Struk⸗
tur hatte zwar zur Folge, daß ſich der Handelsverkehr mit den europäiſchen und
überſeeiſchen Ländern gewaltig ausdehnte, aber Deutſchland wurde damit mehr
und mehr von ausländiſchen Zufuhren an Nohſtoffen und Lebensmitteln ab⸗
hängig; feine einſtige Selbſtgenügſamkeit ging in entſprechendem Ausmaße
verloren. —
Wie ſah es zu jener Zeit im deutſchen Gartenbau aus? —
Noch bis zum Jahre 1885 war Deutſchland ein ausgeſprochenes Gemüſe⸗
Aus fuhrland, denn die Ausfuhr an friſchen Gemüſen überſtieg deren Einfuhr
um ein Mehrfaches; an Erzeugniſſen der Ziergärtnerei blieb die Einfuhr bis
zu jener Zeit in ſehr beſcheidenen Grenzen; ſelbſt an friſchem Obſt hielten ſich
— je nach dem Ernteausfall — Einfuhr und Ausfuhr bis in die 1880er Jahre
hinein ungefähr die Waage, während an getrocknetem Obſt im gleichen Zeit⸗
raum bis zu 20 000 t jährlich hereingenommen wurden; ſchließlich erſcheint es
uns heute kaum glaubhaft, daß die Jahreseinfuhr an friſchen Südfrüchten bis
zum Jahre 1885 noch unter 10 000 t geblieben iſt, denn wir ſind ja ſeit 1924
an Südfrucht⸗Jahreseinfuhren von 400 000 t bis 600 000 t gewöhnt worden.
Wir können auf Grund dieſer Zahlenergebniſſe alſo feft-
ſtellen, daß et wa bis zum Jahre 1885 der Bedarf an Garten-
bauerzeugniſſen insgeſamt aus Eigenerzeugung gedeckt
werden konnte.
Die oben gekennzeichnete ſtrukturelle Wandlung der deutſchen Wirtſchaft
mußte ſich nun aber auf die einzelnen Zweige des Gartenbaues in ganz beſon⸗
derem Grade auswirken, weil die im Zeichen des wachſenden Weltverkehrs
ſich vollziehende Verbilligung, Verbeſſerung und Beſchleunigung der Ver⸗
kehrsmöglichkeiten den leichtverderblichen Erzeugniſſen des Gartenbaues beſon⸗
1933, das Schicksalsjahr des deutschen Gartenbaues 593
ders zugute kamen und die klimatiſch bevorzugten ausländiſchen Gartenbau-
zentren damit gewiſſermaßen näher an den deutſchen Markt herangebracht wur⸗
den. Es kam hinzu, daß aus anderen Gründen — auf die hier nicht näher ein⸗
gegangen werden kann — ein erheblicher Mehrverbrauch an Gartenbauerzeug⸗
niſſen aller Art einſetzte, ſo daß die Einfuhrziffern rieſenhaft anſchwollen.
So ſtieg die Einfuhr an friſchem Gemüſe im Jahre 1889 erſtmals auf mehr
als 50 000 t, im Jahre 1898 auf mehr als 100 000 t und im Jahre 1911 auf
mehr als 300 000 t an; die Ziergärtnerei zeigte eine gleiche Tendenz in der
Entwicklung, fo daß hier ſchließlich im Jahre 1913 eine Einfuhr von 32 173 t
im Werte von 27,9 Mill. M. erreicht wurde; die Einfuhr von Obſt und Süd-
früchten überſchritt 1891 erſtmals 200 000 t, um dann im Jahre 1897 auf über
300 000 t, im Jahre 1903 auf über 500 000 t und im Jahre 1913 ſchließlich
auf über 1 000 000 t zu ſteigen.
In der kurzen Zeitſpanne von 1880 bis 1913 waren wir
damit von einer nahezu ausgeglichenen gartenbaulichen
Handelsbilanz zueiner Einfuhr von 13471964 dz im Werte
von 320,911 Mill. M. und einem Einfuhrüberſchuß von
12486109 dz im Werte von 294,087 Mill. M. gekommen.
Die Eigenverſorgung mit gartenbaulichen Erzeugniſſen
war verlorengegangen, während das deutſche Volk in die⸗
fer Zeitſpanne Milliardenwerte dem ausländiſchen Gar-
tenbau zugeführt und damit die Widerſtands fähigkeit des
deutſchen Gartenbaues in ungeheuerem Maße geſchwächt
hatte. —
Wer trägt die Verantwortung für dieſe Entwicklung? —
In gewiſſem Maße zunächſt der deutſche Gärtner ſelbſt! Wohl iſt er
bemüht geweſen, dem wachſenden Bedarf durch Steigerung und Verbeſſerung
ſeiner Erzeugung zu folgen; aber er hat dabei ſeinen Blick nicht über den
eigenen Gartenzaun erhoben, er hat im Kollegen eher den Widerſacher, nicht
aber den von gleichem Geſchick betroffenen Volksgenoſſen geſehen und dem⸗
zufolge auch nicht den Weg zum berufsftändifchen Zuſammenſchluß auf
genügend breiter Grundlage gefunden, der allein ausfichtsreichen Widerſtand
ermöglicht hätte. Alleinſtehend dagegen war er der Entwicklung der Vor⸗
kriegszeit hoffnungslos preisgegeben.
Am ſo mehr hätten Staat und Reich die Verpflichtung gehabt, den
intenfivften Zweig der Bodenbewirtſchaftung in eigene Obhut zu nehmen und
ihm in dem ungleichen Kampfe zur Seite zu ſtehen. Eine vorausſchauende
Regierung hätte an den in jedem Jahre anwachſenden Einfuhrziffern bei ſtei⸗
gender Eigenerzeugung ſchon zu Beginn des Jahrhunderts erkennen müſſen,
daß die Entwicklung zu einem völligen Preiszuſammenbruch führen mußte,
594 Kurt Fachmann
denn allein in den Jahren von 1890 bis 1902 ift — nach einer Denkſchrift des
Deutſchen Landwirtſchaftsrates) — ein Preisrückgang bei Topfpflanzen von
50 v. H., bei Baumſchulartikeln von 40 v. H., bei Schnittblumen und Gemüfe
jedoch noch weit ſtärker, ja bei vielen Arten, beſonders bei Treibgemüſe und
Gurken bis zu 90 v. H. eingetreten, weil dem deutſchen Gartenbau der not-
wendige handelspolitiſche Schuß verſagt blieb.
Dieſe kataſtrophale Entwicklung des deutſchen Garten
baues mußte kommen, weil die deutſche Handelspolitik von
1871 bis 1914 jeden angemeſſenen Schutz gartenbaulicher
Erzeugniſſe vermiſſen ließ. Die verſchiedenen Zolltarifreformen der
Bismarckſchen autonomen Handelspolitik von 1879, 1885 und 1887 brachten
wohl Zollerhöhungen für Getreide und andere landwirtſchaftliche Erzeugniſſe,
fie gingen aber an denen des Gartenbaues vorüber. Auch in der Nach⸗Bis⸗
marckſchen Zeit war keine Anderung zu erwarten; die Handelsverträge Capri-
vis, die in den Jahren von 1890 bis 1894 abgeſchloſſen wurden und mit ihren
Bindungen z. T. bis zum Jahre 1906 liefen, verhinderten vielmehr die baldige
Inkraftſetzung eines neuen autonomen Tarifs. Die Notwendigkeit eines ſolchen
Rüftzeugs war von Bülow zur Abwendung der ſchädlichen Auswirkungen der
Freihandelspolitik Caprivis erkannt worden; der Bülowſche Zolltarif
vom 25. Dezember 1902, der am 1. Januar 1906 in Kraft trat, ſollte
dieſer badrohlichen Entwicklung der deutſchen Wirtſchaft entgegenwirken. Auch
dieſe günſtige Gelegenheit blieb aber für den deutſchen
Gartenbau ungenutzt! Die Begründung zu dieſem Zolltarif⸗Entwurf
zeigte das mangelnde Verſtändnis der Regierung für die Bedeutung und für
die Notwendigkeiten des deutſchen Gartenbaues in hellſtem Lichte. Es iſt
geradezu erſchütternd, angeſichts unſerer heutigen Verhältniſſe darin u. a. leſen
zu müſſen, „daß ein Zollſchutz deshalb beſonders bedenklich erſcheinen müſſe,
weil der Gärtnerei dadurch ein Anreiz zu verhältnismäßig hohen Aufwendun⸗
gen für Anlagen und Betriebskapital ſowie für Arbeitslöhne geboten werde,
um den ſich ſtetig ſteigernden Bedarf der Bevölkerung an Friſchgemüſe, an
Blumen und ſonſtigen gärtneriſchen Erzeugniſſen unter Zuhilfenahme der
Treibhauskultur zu decken“. And ſchließlich verkriecht ſich die Regierung ſogar
hinter der mangelnden Einficht damaliger Führer des Berufes, wenn fie in der
Begründung zum Zolltarif⸗Entwurf zu ihrer Entlaſtung erklärt, „daß die Ane
ſichten innerhalb der Gärtnerei ſelbſt über die Zweckmäßigkeit eines Zoll⸗
ſchutzes geteilt ſeien“. Es nimmt nach alledem nicht wunder, daß die Vor⸗
ſchläge der Regierung für den Entwurf bezüglich der Erzeugniſſe des Garten⸗
baues völlig unzureichend waren; wurde doch nach wie vor für die wichtigſten
1) Der Schutz der landwirtſchaftlichen Erzeugung als Vorbedingung des Wie-
deraufbaues der deutſchen Wirtſchaft; Berlin, 1925.
1933, das Schicksalsjahr des deutschen Gartenbaues 595
Erzeugniſſe, insbeſondere für friſches Gemüſe aller Art, für Blumenzwiebeln,
Schnittblumen und Schnittgrün, für friſches Maſſenobſt und Beeren aller Art
an der Zollfreiheit feſtgehalten.
Der Reichstag zeigte zwar für die gartenbauliche Entwicklung beſſeres Ver⸗
ftändnis; er feste gegenüber dem Regierungs⸗Entwurf weſentliche Ver⸗
beſſerungen durch und ſtellte ſich damit grundſätzlich bereits zu jener Zeit auf
den Standpunkt, daß ein handelspolitiſcher Schutz des Gartenbaues anzu⸗
ſtreben fei. Dem Gartenbau aber war damit nur wenig gedient, denn die Ree
gierung machte von der Ermächtigung, die autonomen Zollſätze unterſchreiten
zu dürſen, in den Handelsvertragsverhandlungen weiteſtgehenden Gebrauch.
„Dabei hat — nach Miniſterialrat Dr. Walter!) — zweifellos auch die poli⸗
tiſche Seite der Beziehungen Deutſchlands zu ſeinen Vertragsgegnern eine
große Rolle geſpielt; zweifellos haben infolge der politiſchen, aus dem Drei⸗
bunde fic ergebenden Notwendigkeiten an Oſterreich⸗Angarn und Italien
gerade auf dem Gebiete des Gartenbaues Zugeſtändniſſe gemacht werden
miiffen, die — rein wirtſchaftlich und rein handelspolitiſch geſehen — in die⸗
ſem Amfange vielleicht nicht notwendig geweſen wären.“
Für den deutſchen Gartenbau blieb danach ſo wenig an
handelspolitiſchem Schutz übrig, daß die oben gekennzeich-
nete verhängnisvolle Entwicklung nicht aufgehalten wer⸗
den konnte; die Zufuhren ſtiegen weiterhin an und erſchwerten den Abſatz
der Eigenerzeugniſſe in ſteigendem Maße. Die gärtneriſchen Kulturen wurden
unlohnend; der Obft- und Gemüſebau ſtellte fic auf landwirtſchaftliche Kul⸗
turen um; der deutſche Blumengärtner wurde zum Zwiſchenhändler auslän-
diſcher Erzeugniſſe, die er zur Weiterkultur und oft auch nur zum Vertrieb
einführte. Viele der Gärtner verloren bei dem unverſchuldeten Niedergang ihres
Berufsſtandes ihre Verbundenheit mit dem Boden; ihr Berufsſtolz ſchwand
dahin; ſie bezeichneten ſich oft ſelbſt mit Recht als „Kaufmann“, denn ſie
handelten ja mit fremder Erzeugung und zu guter Letzt mit dem eigenen Grund
und Boden, der allmählich auf Grund der Ausdehnung der Städte — in deren
Weichbild einbezogen — im Werte ſtieg. Oberflächliche Betrachter kamen da⸗
durch zu dem irrigen Schluß, daß es dem deutſchen Gartenbau gut gehe.
Die Regierungen jener Jahrzehnte haben für dieſen
Kampf des deutſchen Gartenbaues nicht das erforderliche
Verſtändnis aufgebracht; lag doch für ſie die Zukunft
Deutſchlands — nach jenem bekannten Kaiſerwort — auf
dem Waſſer. So iſt manchem zu jener Zeit wohl überhaupt
nicht zum Bewußtſein gekommen, daß ſich eines Tages das
1) Der Gartenbau in der deutſchen Soll- und Handelspolitik. — Berichte über
Landwirtſchaft. Neue Folge. Band V Heft 4. Berlin 1927.
596 Kurt Fachmann
Verkümmern eines für die Volksernährung unentbehr-
lichen Zweiges der deutſchen Wirtſchaft in verhängnis⸗
voller Weiſe rächen mußte.
So lagen die Verhältniſſe im deutſchen Gartenbau bei Ausbruch des Welt⸗
krieges! —
Mit einem Schlage war die deutſche Wirtſchaft vor die rieſenhafte Aufgabe
geſtellt, Heer und Heimat, umgeben von einer Welt von Feinden, mit Nah⸗
rungsmitteln zu verſorgen. Soweit Zölle für Gemüſe und Obſt in der Zeit
vor dem Kriege in Geltung getreten waren, wurde angeſichts dieſer Aufgabe
ſofort ihre einſtweilige Aufhebung verfügt. Der gewaltige Bedarf an
Nahrungsmitteln aller Art ſowie der Ausfall der bedeu-
tendſten gärtneriſchen Wettbewerbsländer — ausgenom-
men Holland — bedeuteten für den deutſchen Gartenbau
eine ſolche Belebung des Abſatzes, daß eine erhebliche Aus-
dehnung der Erzeugung die Folge ſein mußte; lediglich der
Mangel an Betriebsmitteln aller Art ſowie der Mangel an Arbeitskräften
ſetzte dieſer Entwicklung zwangsläufig eine beſtimmte nahe Grenze. Es ſteht
aber außer jedem Zweifel, daß der deutſche Gartenbau dennoch während der
Kriegsjahre einen erheblichen Anteil an der Sicherung der Ernährung des
Volkes gehabt hat. Dieſer Anteil wäre noch beträchtlich größer geweſen, wenn
durch produktionsſchützende Maßnahmen vor dem Kriege dieſer Aufgabe be⸗
wußt vorgearbeitet worden wäre. In dieſen Kriegs jahren hatte der
deutſche Gartenbau erneut unter Beweis geftellt, daß er
bei normaler Anforderung und verſtändnis voller Förde⸗
rung ſehr bald wieder in der Lage ſein würde, die dem deut⸗
ſchen Volke ſeit Jahren aufgezwungenen Einfuhren ent⸗
behrlich zu machen und den Bedarf der Märkte aus Eigen-
erzeugung zu decken. Die volkswirtſchaftliche und ernäh⸗
rungspolitiſche Bedeutung des Gartenbaues wurde jetzt
allgemein mehr und mehr anerkannt.
Auch in den führenden Kreiſen des Gartenbaues ſelbſt fing man an, ſich
wieder auf dieſe bedeutſame allgemeinwirtſchaftliche Aufgabe und damit auch
auf den eigenen Wert zu beſinnen; arbeitsfreudige Kräfte gingen ans Werk,
ſchloſſen die zerſplitterten und vielgeſtaltigen Berufsgruppen des Gartenbaues
zu einem einheitlichen Block zuſammen und gingen gegen den Händlergeiſt an,
dem der Gärtner ſeit jenen Vorkriegszeiten, von ſeiner Regierung preisgegeben
und in den Strudel „weltwirtſchaftlichen“ Denkens gezogen, verfallen war.
Von der Regierung wurde tätige Mitwirkung an der Wiederaufrichtung der
in der Vorkriegszeit geſchwächten Produktionskraft verlangt; die Forderung
nach handelspolitiſchem Schutz wurde als die entſcheidende Voraus etzung an
die Spitze geſtellt. —
1933, das Schicksalsjahr des deutschen Gartenbaues 597
Die erſten Jahre der Nachkriegszeit waren diefem Auf-
bauwillen günſtig, weil der Wettbewerb des Auslandes
zunächſt in erträglichen Grenzen blieb. Die geringere Einfuhr
war jedoch keineswegs darauf zurückzuführen, daß ſich etwa in der Reichs⸗
regierung eine Wandlung bezüglich der einzuſchlagenden Handelspolitik voll-
zogen hätte; im Gegenteil, ihr waren ja die Hände durch das Verſailler Diktat
dahingehend gebunden, daß für die Zeit bis zum 10. Januar 1925 die niedrig⸗
ſten Zollſätze in Geltung bleiben mußten, die für die einzelnen Erzeugniſſe am
31. Juli 1914 in Handelsverträgen gebunden geweſen waren. Wenn die Ein⸗
fuhren bis in das Jahr 1923 hinein trotzdem geringer als in der Vorkriegszeit
blieben, ſo lag es vielmehr daran, daß die über die Kriegszeit hinaus laufende
und erſt allmählich dem Abbau verfallende Zwangswirtſchaft ihre Wirkung
ausübte, und daß ſich dem Außenhandel bis zum Ablauf des Jahres 1923 in
ſteigendem Maße die Folgeerſcheinungen der Markentwertung hemmend ent⸗
gegenſtellten.
In trübſter Zeit deutſcher Wirtſchaftsgeſchichte war es
dadurch möglich, die Grundlagen der gartenbaulichen Er-
zeugung zu feſtigen; die Not der Wirtſchaft wurde hier zum Schutze
der Wirtſchaft. Auf zollpolitiſchem Gebiete wurde dieſe Entwicklung für die
Ziergärtnerei dadurch gefördert, daß durch Verordnung vom 29. September
1923 die für lebende Pflanzen (Pof. 38) beſtehenden Zollſätze verdoppelt und
an Stelle der bis dahin autonom geltenden Zollfreiheit für ſonſtige Erzeug⸗
niſſe der Ziergärtnerei beachtliche Zollſätze neu feſtgelegt wurden. Damit gab
man dem Anternehmungsgeiſt der Blumengärtner und Baumſchuliſten einen
ſtarken Auftrieb, obwohl bereits im Jahre 1924 nach Aufhebung des Cinfubr-
verbotes und nach Stabiliſierung der Währung an dem Ausmaße der wieder⸗
beginnenden Einfuhr zu erkennen war, daß dieſe Sätze nicht als genügender
Schutz angeſprochen werden konnten. Weſentlich ſchwieriger geſtaltete ſich da⸗
gegen die Entwicklung im Gemüſe⸗ und Obſtbau, weil die Aufhebung des
Einfuhrverbotes für Gemüſe und Obſt bereits weſentlich früher erfolgt war
und weil zolltarifariſche Anderungen zum Schutze des Gemüſe⸗ und Obſtbaues
aus innerpolitiſchen Gründen verſagt blieben. Mit der Währungsſtabiliſie⸗
rung ſetzte deshalb ſofort eine geradezu erdrückende Aberlaſtung der Märkte
ein, ſo daß bereits im Jahre 1924 die Einfuhrziffern im Vergleich zu den
letzten Vorkriegsjahren mengenmäßig im allgemeinen wieder erreicht,
wertmäßig ſogar durchweg überſchritten wurden. Allerdings muß auch
hervorgehoben werden, daß ſich Abwehr⸗ und Aufbauwille in den Kreiſen des
Gemüſe⸗ und Obſtbaues langſamer Bahn brachen als in den Kreiſen des
Blumen- und Zierpflanzenbaues; berufsſtändiſches Wollen und Handeln ſetzte
ſich ſchwerer durch; Gemüſe⸗ und Obſtbau hatten zu lange unter dem Schutze
der großen Schweſter Landwirtſchaft, aber auch zu lange in deren Schatten
598 Kurt Fachmann
geſtanden, um ſchnell an ihre eigene Kraft zu glauben und nun felbftverant-
wortlich ihre Entwicklung zu beſtimmen. —
Am 11. Januar 1925 gewann Deutſchland mit dem Ablauf der erzwun⸗
genen, einſeitigen Meiſtbegünſtigung für die Regelung ſeiner Zoll⸗ und Han⸗
delspolitik die Freiheit ſeines Handelns zurück. Man könnte meinen, daß die
verantwortlichen Stellen dafür Sorge getragen hätten, rechtzeitig in Form
eines auf die völlig veränderten Verhältniſſe zugeſchnittenen Zolltarifes ein
geeignetes Werkzeug für den nun beginnenden neuen Abſchnitt deutſcher Han⸗
delspolitik in Händen zu haben. Das war nicht der Fall! Die Entſcheidung
wurde hinausgezögert; man ließ die Wirtſchaft in banger Angewißheit und
ſetzte ſie dem Anſturm ausländiſcher Zufuhren weiterhin aus. Die Einfuhr
gartenbaulicher Erzeugniſſe ſtieg inzwiſchen erheblich an. Erſt durch die am
1. September bzw. 1. Oktober 1925 erfolgte Inkraftſetzung
der Kleinen Zolltarifnovelle wurde eine neue, geſetzliche
Grundlage für die Regelung der Handelsbeziehungen ge⸗
ſchaffen. Den Bemühungen des geeinten Verufsftandes war es gelungen,
für alle Zweige des Gartenbaues weſentliche Erhöhungen der autonomen
Sätze zu erreichen. Die Begründung der Regierung zu dieſer Novelle ließ
im Gegenſatz zur Begründung des Zolltariſes von 1902 erkennen, daß der
entſchloſſene Wille des Berufsſtandes zur Eigenverſorgung deutlichen Nieder⸗
ſchlag darin gefunden hatte. Bezüglich des Gemüſebaues erkannte die Regie
rung in der Begründung an, „daß die frühere Auffaſſung, ein beſonderer
Schutz für den deutſchen Gartenbau fet nicht notwendig und die deutſche Pro⸗
duktion ſei zur völligen Deckung des heimiſchen Bedarfs nicht in der Lage,
ſich als irrig erwieſen habe. Klima und VBodenverhältniſſe der Heimat ermög⸗
lichten vielmehr, insbeſondere nach den Erfahrungen der Kriegszeit, eine
Deckung des Inlandsbedarfs, wenn nur die deutſche Produktion durch aus⸗
reichenden Schutz gegen den Wettbewerb des klimabegünſtigten Auslandes
einigermaßen rentabel geſtaltet und dadurch zu einer technifch ſchnell durch⸗
zuführenden Steigerung ihrer Leiſtungsfähigkeit ermuntert werde.“ Auch bei
Betrachtung des Obſtbaues wurde betont, „daß ein erheblicher Zollſchutz not⸗
wendig ſei, um den deutſchen Obſtbau in die Lage zu ſetzen, ſich ſo auszu⸗
dehnen, daß er den inländiſchen Bedarf decken könne“.
Mit Recht durfte der deutſche Gartenbau nun annehmen,
daß die Reichsregierung bereit ſein würde, den Schutz der
gartenbaulichen Erzeugung allen Widerſtänden zum Trotz
nach dieſem eindeutigen Bekenntnis weiter zu verfechten.
Der Reichsverband des deutſchen Gartenbaues e. V. ging deshalb daran, die
zu erwartenden Maßnahmen der Reichsregierung durch ein umfaſſendes
Programm zu unterſtützen, das alle notwendigen innerwirtſchaftlichen
Maßnahmen für die Bedarſsdeckung aus heimiſcher Scholle aufzeigte und vom
1933, das Schicksalsjahr des deutschen Gartenbaues 599
gefamten Berufsſtand im Jahre 1926 gutgeheißen wurde, obwohl ſchon zu
jener Zeit zu überſehen war, daß der Wunſch nach genügendem Zollſchutz nicht
mit einem Zuge in Erfüllung gehen würde.
Inzwiſchen hatten die Handels vertragsverhandlungen mit den
wichtigſten Anliegerſtaaten eingeſetzt, unter recht ungünſtigen Vorbedingungen.
Einesteils war bei Beginn der Verhandlungen der Entwurf der Kleinen
Zolltarifnovelle vom Reichstag noch nicht verabſchiedet worden, ſo daß die
Verhandlungspartner ihm nicht die notwendige Beachtung beizumeſſen gewillt
waren; zum anderen waren deutſche Delegationen zu gleicher Zeit in ver⸗
ſchiedenen Ländern tätig, ſo daß der ſchnelle Nachrichtenaustauſch unterein⸗
ander nicht genügend geſichert war. Der Gartenbau ſtand überall
zeitweilig im Brennpunkte der Verhandlungen; er erwar⸗
tete, daß die Regierung zu ihrem Bekenntnis in der Begründung zur Zoll⸗
tarifnovelle ſtehen würde, aber in den einzelnen Handelsabkommen und Han-
delsverträgen mit Spanien, Belgien, Italien, Holland, Frankreich, der
Schweiz und weiteren Ländern wurden immer tiefere Breſchen in die auto⸗
nome Schutzwehr für gartenbauliche Erzeugniſſe gelegt, ſo daß insgeſamt wohl
— im Gegenſatz zur Vorkriegszeit — ein lückenloſer Zollſchutz
grundſätzlich durchgehalten worden war, aber die einzelnen
rertraglich gebundenen Zollſätze weit unter der erforder-
lichen Mindeſthöhe blieben. Mit dieſem Ergebnis konnte der Einfuhr
der nachfolgenden Jahre nicht mit Erfolg begegnet werden; ſie ſtieg für die
gartenbaulichen Pofitionen von 377,442 Mill. RM. im Jahre 1924 auf
649,833 Mill. RM. im Jahre 1928 an und blieb bis 1930 trotz abfinfender
Preiſe auf 600 Mill. RM. ſtehen.
Der Erfolg der innerwirtſchaftlichen Maßnahmen des Beruſsſtandes wurde
damit in Frage geſtellt; die begonnene Arbeit konnte und durfte er aber um
ſo weniger preisgeben, als auch die zuſtändigen Fachminiſterien alle dieſe
Maßnahmen in der Erwartung unterſtützten, daß die handelspolitiſchen Vor⸗
ausſetzungen in abſehbarer Zeit doch noch geſchaffen würden. Der Ablauf des
deutſch⸗italieniſchen Handels vertrages im Jahre 1930 war nach der gegebenen
Sachlage der früheſte Zeitpunkt, zu dem eine Erhöhung der entſcheidenden
Zarifpofitionen angeftrebt werden konnte. In den dazwiſchen liegenden Jah⸗
ren mußte auf den Märkten ein erbitterter Kampf mit dem überſtarken Aus⸗
land ausgefochten werden, bei dem der deutſche Erzeuger wohl etwas an
Boden gewinnen, aber ihn doch nur unter ſchweren Verluſten behaupten
konnte. Die Lage des geſamten Berufsſtandes wurde immer gefahrdrohender.
Im Frühjahr 1930 wurde wohl erreicht, daß der Reichs-
tag in einer Entſchließung die Reichsregierung auffor-
derte, eine Löſung der in den verſchiedenen Handelsver⸗
trägen eingegangenen Bindungen anzuſtreben, aber die
600 Kurt Fachmann
zu dieſem Swede angeſetzten Bemühungen konnten für
einen Erfolg nicht ausreichen. Das Fachminiſterium ver-
mochte ſich mit feinen Wünſchen gegen die Tendenz des Ge⸗
ſamtkabinetts in der Folgezeit immer weniger durchſetzen,
ſo daß ſich die Selbſthilfemaßnahmen des Berufes nicht in dem erwarteten
Maße auswirken konnten; der Zuſammenbruch vieler Betriebe war nicht mehr
aufzuhalten. Wenn die Einfuhr im letzten Notjahr 1932 wertmäßig auf
361,222 Mill. RM. zurückgegangen iſt, ſo kann daraus nicht auf eine Beſſerung
geſchloſſen werden, denn mengenmäßig iſt die Einfuhr mit 13 707 357 dz
höher als im Jahre 1913 und nur um ein Geringes unter den Höchſteinfuhren
der Jahre 1928 bis 1930. Dabei darf nicht vergeſſen werden, daß die Kauf⸗
kraft des deutſchen Volkes einen Tiefſtand erreicht hat. —
Wir haben durch die Jahrzehnte hindurch verfolgen kön⸗
nen, daß die Entwicklung des deutſchen Gartenbaues mit
der Einfuhr in unmittelbarer Wechſelwirkung geſtanden
hat und von ihr in entfcheidender Weiſe beſtimmt worden
i ſt. Der fehlende handels politiſche Schutz hat den deutſchen
Gartenbau in allen feinen Zweigen vor dem Kriege ver-
kümmern laſſen; die unzureichenden handels politiſchen
Maßnahmen der Nachkriegszeit haben ihn trotz zäheſter
Gegenwehr bis ans Ende ſeiner Kräfte gebracht. In der
Kontingentierung der Einfuhr ſah der Berufsſtand eine
letzte Möglichkeit, dem wirtſchaftlichen Niederbruch zu
entgehen. Die politiſche Entwicklung des Jahres 1932 iſt dieſen Weg,
wie wir es in der Einleitung zu unſerer Betrachtung ſahen, nicht gegangen.
Das Kabinett von Schleicher hat einen anderen Weg: Ablauf der beſtehenden
Handelsverträge; Anwendung der Zollautonomie — in der Meinung empfoh-
len, daß er „ſchnell und wirkſam“ helfen könne. Nachdem wir die enge Ver⸗
bundenheit der Entwicklung des Gartenbaues mit den jeweiligen Maßnahmen
der Handelspolitik kennengelernt haben, werden wir die Frage: Kann dieſer
Weg mit Erfolg beſchritten werden? — beantworten können. —
Als im Dezember 1932 ein [older Weg in Vorſchlag ge-
bracht wurde, hat an allen Stellen durchaus Klarheit dar-
über beſtanden, daß nur einige der mit anderen Ländern
abgeſchloſſenen Handelsverträge in kurzer Friſt aufge⸗
hoben werden konnten; nämlich die Handelsverträge mit Holland
zum 31. 12. 1932, mit Schweden zum 15. 2. 1933, mit Jugoſla wien
zum 7. 3. 1933 und mit Frankreich zum 31. 3. 1933 (bzw. gemäß dem
Zuſatzabkommen vom 28. 12. 1932 bereits zum 15. 2. 1933). Die Aufhebung
der übrigen Handelsverträge würde längere Friſten in Anſpruch nehmen, ſo
daß deren Aufhebung dem Gartenbau „ſchnelle“ Hilfe nicht bringen könnte.
1933, das Schicksalsjahr des deutschen Gartenbaues 601
Bei genauer Betrachtung der Bindung der gartenbaulichen Zarifpofitionen im
einzelnen zeigt ſich jetzt aber die Auswirkung der bereits früher erwähnten
Tatſache, daß die Verbindung der deutſchen Handelsvertrags⸗Delegationen
untereinander und mit Berlin während der Verhandlungen zu wünſchen
übrig ließ. Es ſind dadurch ohne zwingende Notwendigkeit
Bindungen eingegangen worden, die die Wiederherſtel⸗
lung der Zollautonomie für manche Erzeugniſſe faſt zur
An möglichkeit machen. — Sehr viele Erzeugniſſe des Gartenbaues find
trotz der eingeräumten allgemeinen Meiſtbegünſtigung zu jener Zeit verſchie⸗
denen Ländern gegenüber gebunden worden: ſo z. B. Apfel (in der Zeit vom
25. 9 bis 31. 12.) an Belgien, Italien, die Schweiz, Frankreich und Jugo⸗
ſlawien; oder aber: Gurken (in der Zeit vom 16. 4. bis 15. 9.) an Holland,
Frankreich, Italien und Oſterreich. — Bei anderen Erzeugniſſen wiederum
überſchneiden ſich die Bindungen in ihrer zeitlichen Begrenzung. Bohnen
ſind z. B. in der Zeit vom 1. 5. bis 30. 9. an Italien und Frankreich, vom
1. 10. bis 31. 10. an Frankreich und vom 16. 6. bis 31. 10. an Belgien mit
Zollſätzen in verſchiedener Höhe gebunden worden. — Dieſe wenigen Bei⸗
ſpiele ſind nicht etwa Einzelerſcheinungen, ſondern ſie überwiegen!
Es iſt deshalb nicht verwunderlich, daß ſich eine in Ausſicht genommene
Aufhebung der Bindungen eines Handelsvertrages durchaus nicht ſo auswirkt,
wie es zunächſt bei Betrachtung nur dieſes Handelsvertrages ſcheinen
möchte, und es wird verſtändlich, daß ſelbſt bei Aufhebung der oben aufgeführ-
ten vier Handelsverträge verhältnismäßig wenig Bindungen von Gartenbau-
erzeugniſſen tatſächlich frei werden. Es kämen in Frage bei Aufhebung der
Holland gegebenen Bindungen zum 31. 12. 1932:
Weißkohl; Tomaten (vom 1. 10 bis 30. 4.); Pelargonien, Fuchſien,
Cinerarien und Reſeden in Töpfen; Magnolien und Kirſchlorbeer mit
Erdballen; Ilex, Aucuben, Rhododendron und Azaleen m. E.; Taxus
und Buxus m. E.; Blautannen und Chamaecyparis m. E.; Hyaginthen-,
Zulpen- und Narziſſen⸗Zwiebeln;
bei Aufhebung der Schweden gegebenen Bindungen zum 15. 2. 1933:
gartenbauliche Erzeugniſſe werden nicht frei;
bei Aufhebung der Frankreich gegebenen Bindungen zum 15. 2. 1933:
Rotkohl; Wirſingkohl; Champignons und Trüffeln; Zwiebeln; Rofen-
kohl; Auberginen; Kopfſalat (vom 1. 4. bis 30. 11.); Mohrrüben; Cham-
pignons, einfach zubereitet; aus getrockneten Küchengewächſen nur: un⸗
reife Speiſebohnen, unreife Erbſen und Karotten; Blumenzwiebeln,
knollen und -bulben (in Poſtſendungen bis 5 kg); Weintrauben (in ge-
ringen Mengen und in begrenzten Zeiten!); Himbeeren, Johannis ⸗ und
602 Kurt Fachmann
Stachelbeeren; Apfelpülpe; Erdbeerpülpe (in Behältniſſen mit 5 kg und
mehr); Bananen, getrocknet; Mandeln, friſch; Datteln;
bei Aufhebung der Jugoſlawien gegebenen Bindungen zum 7. 3. 1933:
getrocknete Pflaumen aller Art. —
Demgegenüber würde in den Handelsverträgen mit Bel⸗
gien, Italien, Oſterreich, der Schweiz, Spanien und ande
ren Ländern die überwiegende Zahl gerade der wichtigſten
gartenbaulichen Erzeugniſſe nach wie vor gebunden blei⸗
ben; genannt ſeien nur wenige:
Tomaten (Ausnahme fiehe oben); Blumenkohl; grüne Bohnen; grüne
Erbſen; Salat aller Art (Ausnahme fiehe oben); Gurken; Schnittblumen
und Schnittgrün; Weintrauben (Ausnahme ſiehe oben); Apfel, Birnen;
Erdbeeren; Aprikoſen; Pfirſiche; Pflaumen; Kirſchen; Bananen; Apfel⸗
finen; Zitronen; Ananas und viele andere mehr.
Allein ſchon die namentliche Aufführung aller der Gartenbauerzeugniſſe,
für die wir die Zollautonomie zurückgewinnen würden, gegenüber der Auffüh-
rung nur der wichtigſten Gartenbauerzeugniſſe, die nach wie vor ge⸗
bunden blieben, vermittelt den Eindruck, daß der Gartenbau von einem ſolchen
Weg nicht viel erhofſen kann. Wenn wir nun gar zahlenmäßig überſchlagen,
für welchen Hundertſatz der Einfuhr des Jahres 1932 unter Zugrundelegung
der Mengenziffern bzw. der Wertziffern der Einfuhr die Zollautonomie zu⸗
rückgewonnen würde, ſo kann dieſer Eindruck nur erhärtet werden. Eine
„ſchnelle und wirkſame“ Hilfe iſt auf dem Wege des Herrn
von Schleicher nicht zu erwarten! —
Wir find nun für unfere bisherige Betrachtung von der Annahme aus⸗
gegangen, daß eine reſtloſe Aufhebung aller Bindungen dieſer Handelsver-
träge tatſächlich vorgenommen wird. Die bisherige Handhabung hat jedoch
gezeigt, daß in Wirklichkeit aus dem Kompromiß Warmbold — von Braun
weitere Kompromiſſe erwachſen find und wohl auch noch erwachſen können,
die das Geſamtergebnis für den Gartenbau noch weiter beeinträchtigen würden.
Vorläufig iſt z. B. eine endgültige Entſcheidung über die
Bindungen im deutſch⸗franzöſiſchen Handelsvertrag noch keineswegs ge⸗
fallen. Durch das Zuſatzabkommen vom 28. 12. 32 iſt wohl die Möglichkeit
gegeben, Bindungen durch eine Sonderkündigung mit vierzehntägiger Kün⸗
digungsfriſt jederzeit — erſtmals zum 15. 2. 32 — zu beſeitigen. Es iſt jedoch
noch nicht bekannt geworden, daß bezüglich der gartenbaulichen Erzeugniſſe
von dieſer Möglichkeit Gebrauch gemacht werden wird. (Wir möchten aller-
dings annehmen, daß es geſchieht.)
1933, das Schicksalsjahr des deutschen Gartenbaues 603
Man muß weiter abwarten, wie die wiedergewonnene 3ollauto-
nomie für die einzelnen Poſitionen gehandhabt wird. In der Rundfunk.
rede war nur geſagt worden, daß „die Reichsregierung von ihrer Zollautonomie
im Intereſſe der Landwirtſchaft in dem erforderlichen Ausmaße Gebrauch
machen würde“. Aber das erſorderliche Ausmaß wird man ſehr geteilter Mei⸗
nung ſein können. Die bisherigen Ergebniſſe ſind für den Gartenbau nicht
ermutigend; denn bislang iſt lediglich mit Wirkung vom 1. 2. 1933 eine Ere
höhung des autonomen Zolles für Weißkohl von bislang 4 RM. auf jetzt
6 RM. vorgenommen worden, obwohl der Gerufsftand eine Erhöhung auf
10 RM. für erforderlich gehalten hatte. And es iſt noch weniger ermutigend,
wenn die bei Holland wiedergewonnene Zollautonomie für Tomaten (vom
1. 10. bis 30. 4.) dazu geführt hat, daß in Vereinbarungen mit Spanien kurz
danach der nunmehr autonome Zoll von 20 RM. für gewiſſe Zeit auf 10 RM.
herabgeſetzt wurde. —
Der Weg: Ablauf der beſtehenden Handels verträge; An⸗
wendung der Zollautonomie — iſt zur Wiedergewinnung
einer autonomen Handelspolitik an fich erforderlich, aber
er ſichert nach dem Vorhergeſagten dem Gartenbau weder
eine ſchnelle noch eine wirkſame Hilfe, ſo daß für ihn nach
wie vor eine wirkliche und rechtzeitige Beſſerung nur durch
Feſtſetzung von Einfuhr⸗Jahreskontingenten unter Gee
rückſichtigung der ſaiſonmäßigen Verſorgungslage des
deutſchen Marktes erwartet werden kann, wenn feine Be⸗
triebe vor dem Zuſammenbruch bewahrt werden ſollen.
Dieſe Kontingentierung muß ſchnell kommen; wir ſtehen
im Schickſals jahr des deutſchen Gartenbaues. —
Die deutſchen Gärtner haben es am eigenen Leibe erfahren, daß ihre Ve⸗
triebe nur dann vor dem Niedergang bewahrt werden können, wenn die deutſche
Zoll- und Handelspolitik den bisherigen Weg der einſeitigen Vegünſtigung
der Exportwirtſchaft zu Laſten des Binnenmarktes verläßt. Die Kräfte, die
die deutſche Zoll⸗ und Handelspolitik bislang maßgeblich beſtimmten, haben
hundertſältig unter Veweis geſtellt, daß fie keineswegs gewillt find, dieſer
Notwendigkeit Rechnung zu tragen. Sie kämpfen vielmehr mit allen ihnen zu
Gebote ſtehenden Mitteln für die Erhaltung einer liberaliſtiſchen Wirtſchafts⸗
politik und haben ſeit jeher erkannt, daß die Entſcheidungen auf dem politiſchen
Kampfplatze fallen, während der deutſche Gartenbau glaubte, allein mit ſach⸗
licher Arbeit die Sicherung der Lebensnotwendigkeiten des Verufes zu er⸗
reichen.
Die hinter uns liegende Zeit härteſter politiſcher Kämpfe hat der deutſchen
Landwirtſchaft mit aller Deutlichkeit gezeigt, daß eine bewußte Amſtellung der
deutſchen Wirtſchaftspolitik unter Hervorkehrung der Vedeutung des Vinnen⸗
Agrarpolitik Heft 8, Bg. 4
604
marktes nur von Kräften vorgenommen werden wird, die aus ihrer Welt.
anſchauung heraus in der Erhaltung der bodenftändigen Berufe der Bauern
und Gärtner die Grundlage für die Wiedererſtarkung der Wirtſchaft ſehen.
Dieſe Kräfte müſſen zum Siege kommen, wenn die Zukunft des deutſchen
Gartenbaues geſichert werden ſoll! Der deutſche Gärtner kann infolgedeſſen in
dieſem Kampfe nicht tatenlos zwiſchen den weltanſchaulichen Mächtegruppen
ſtehen. In Ausübung ſeiner berufsſtändiſchen und ſeiner ſtaatsbürgerlichen
Rechte muß er im Endkampf allen Kräften entgegenwirken, die auf Grund
ihrer weltanſchaulichen Einſtellung — auch wenn fie in der Maske des Freun⸗
des und Förderers des deutſchen Gartenbaues auftreten — letzten Endes die
erklärten Feinde eines ſtarken deutſchen Gartenbaues ſein müſſen.
Mager milchuerwertung durch Kaseinherstellung
Magermilchverwertung durd Kaſeinherſtellung
Die deutſche Milchwirtſchaft iſt der
größte Zweig der landwirtſchaftlichen
und induſtriellen Gütererzeugung
Deutſchlands und ſteht vor dem Ge⸗
treidebau und der Kohlenför⸗
derung. 10 Millionen Kühe erzeugen
23 Milliarden Liter Milch jährlich. Da-
von werden 3,14 Milliarden Liter zur
Aufzucht von jungen Tieren verwendet,
6 720 000 000 Liter Friſchmilch fließen
dem menſchlichen Verzehr zu. Faſt die
Hälfte der Geſamtmilcherzeugung wird
zur Herſtellung von Butter verwendet,
außerdem noch 1,97 Milliarden Liter
zur Käfeerzeugung.
Aber die Verwertung der Mager
milch gibt die Statiſtik ſehr ungenü⸗
gend Auskunft. Wir haben darum ver⸗
ſucht, den Verwertungsgang der Ma-
germilch in Zahlen feſtzuhalten:
Geſamterzeugung 7 500 000 000 Liter
Magermilch; davon werden 50% in den
Molkereien und 507 in der Bauern⸗
wirtſchaft erzeugt. Dazu kommen
1500 000 000 Liter Buttermilch, die
beinahe ausſchließlich bei der Mäſtung
Verwendung finden. Die Geſamtrück⸗
ſtände bei der Butterung betragen alſo
9 000 000 000 Liter. Die Magermilch
findet Abſatz:
zu 15% im Verkauf an
Bäckerelen, Anſtalten ufw. = 112500000 Ltr.
zu 9,9% tn der Herſtellung
von Magerfettkaͤſe und
Quark = 742500000 Str.
zu 15 a in Der Margarines
induſtrie = 112400000 Str.
zu 0,35% in der Kaſein⸗
induſtrie = 26664000 Ltr.
es verbleiben alfo zur
Fütterung = 6505936000 Lr.
7500000000 Ltr.
Davon entftehen im Bauern»
betrieb 50 %, alfo 3750000000 Ltr.
in der Molkerei werden
13,25 % bereits weitere
verarbeitet 994064000 Ltr.
Somtt bleiben für tnduftrielle
Verwertung 2755936000 Ltr.
die bisher natürlich den Milchlieferan⸗
ten zurückgegeben werden mußten. Die
Magermilch, die bei der Hausbutter-
bereitung anfällt, kommt für den Verkauf
nicht in Frage, weil die Landwirtſchaft
fie zur Aufzucht der Jungtiere und Füt⸗
terung der Schweine braucht, da ſie
ſonſt Vollmilch verwenden müßte. Die
Transportkoſten dieſer Magermilch find
ſo hoch, daß ſie eine induſtrielle Ver⸗
wertung unmöglich machen.
Magermilchverwertung durch Kaseinherstellung
Magermilch, die auf dem
Hofe erzeugt wird, iſt und
ſoll auch in Zukunft nicht
marktgängig werden, ſon
dern der landwirtſchaftli
chen Veredelungswirtſchaf
dienen. Wenn erſt wieder da
. {
Jwiſchen Getreide, Milch un
Fleiſchprodukten hergeſtell
ſt, dann wird für die
r
e
geſunde t
ebseigene Magermilch
rwertung und die indu-
ftrielle Magermilchverwer⸗
tung wohl der gleiche Ren
tabilitätsgrad erreicht wer⸗
den können. Wenn Schwan
kungen auftreten, ſo können
durch Sonderleiſtungen be-
ftimmter Verarbeiter dieſe
Preisabweichungen ausge
glichen werden.
Die Erzeugung von Magerfettläfe
darf nicht als Notbehelf wegen über-
ſchüſſiger Magermilch erfolgen, ſondern
hat ſich dem Bedarf anzupaſſen. Eine
ſolche Anpaſſung an den tatſächlichen
Bedarf iſt aber nur unter der Voraus-
ſetzung einer klaren Regelung der Aus-
landszufuhren durch handelspolitiſche
Maßnahmen möglich. Wenn die bis⸗
herigen Regierungen ſchon zu ſchwach
waren, die Käſeeinfuhr aus dem Aus⸗
lande einzudämmen, fo ſollten fie wenig
ſtens im Inland die Ausgleichsweichen
der Magermilchverwertung offen ge⸗
laſſen haben.
Die Beſtrebungen, Magermildtroden-
pulver in größeren Mengen herzuſtel⸗
len, müſſen vorerſt am Abſatzmangel
ſcheitern. Iſt es doch nicht einmal gelun-
gen, während der Notjahre des Krieges
der getrockneten Vollmilch größeren
Eingang in die deutſchen Haushalte zu
verſchaffen. Wenn daher die deutſchen
Molkereien erſt ſeit kurzem wieder
darangehen, der getrockneten Mager-
milch in Verbindung mit anderen Nähr-
mitteln durch großzügige Werbung
einen größeren Abſatz zu verſchaffen
(Närmil z. B.), ſo iſt das nur zu be⸗
grüßen, weil dadurch ein weiterer Pro-
zentſatz Magermilch marktgängig ge-
4°
605
macht wird. Der Abſatz der Mager-
milch als Volksnahrung aber wird in
Zeiten ſteigender Kaufkraft und Milch-
erzeugung zugunſten der Vollmilch ab-
nehmen; wir müſſen daher, wenn wir
zu einer größeren Ausgeglichenheit des
Abſatzes und der Preisbildung in der
Milchwirtſchaft im Rahmen der deut⸗
ſchen Nationalwirtſchaft kommen wol⸗
len, unſer Hauptaugenmerk auf die bis-
I vernachläſſigte Kaſeinherſtellung
lenken.
Das Kaſein iſt ein durch Ausfällung,
Preſſung und Trocknung aus der ent⸗
fetteten Rohmilch gewonnenes Erzeug⸗
nis, das ſich in der deutſchen Wirtſchaft
ſehr vielſeitig verwenden läßt, wobei
die Entwicklung der Verwendung noch
keineswegs abgeſchloſſen iſt. Das Kaſein
findet heute hauptſächlich Verwendung
zur Herſtellung von Kunſthorn, als
Binde- und Klebemittel in der Möbel-
induſtrie zur Erzielung dauerhafter
Furniere. An . Maueranftride find
Käfefarben. Auch in der Papiererzeu-
gung iſt Rafein ein viel begehrtes Mite
tel, gutes Kunſtd ruck, Chromo-, Bunte,
Kartonagen ⸗ und Glanzpapier herzu⸗
ſtellen. Anentbehrlich iſt es auch als Zu⸗
ſatz zu beſtimmten Sorten Rafe. Der
Allgemeinheit nahezu unbekannt iſt, daß
Kaſein als Bindemittel in der Wurſt⸗
induſtrie ſtark verwendet wurde, vor
dem Kriege bis zu einer Million Rilo-
gramm. Durch eine falſche Geſetzgebung
ift der Verbrauch an Käſeſtoff bei den
Metzgern wieder eingeſtellt worden. In
unſeren Guppen- und Fleiſchbrühwür⸗
feln findet man das Milcheiweiß eben⸗
ſalls. Seine nahe Verwandtſchaft mit
dem tieriſchen Eiweiß macht das Kaſein
zu einem hervorragenden Nähr- und
Kräftigungsmittel, weshalb es in vie⸗
len Heilproduften (3. B. Plasmon, Sa⸗
natogen) als Hauptbeſtandteil enthalten
iſt. Selbſt in der Photographie benutzt
man Kaſein zur Herſtellung lidtempfind-
licher Schichten, und die Technik erprobt
zur Zeit Kaſein zur Herſtellung nicht
brennbarer Filmſtreifen aus. Daß wir
Menſchen ſaſt täglich auf Fußboden-
belag gehen, deſſen Ausgangsprodukt
die Magermilch iſt, wiſſen nur wenige.
606
Der Kamm, die Knöpfe an den Klei⸗
dern, Schmuckſachen, Zahnbürſten, Haar-
ſpangen, Lichtſchalter, Radioapparate,
Meſſergriffe uſw. beſtehen aus Käſe⸗
Manche „angehübſchte“ Frau
würde erblaſſen, wenn ſie wüßte, daß
Puder, Hautcreme und Salben nahe
verwandt find mit dem „wohlriechen⸗
den“ Limburger Rafe. Schließlich fet
noch erwähnt, daß Kaſein auch in der
Textilinduſtrie angewandt wird, und
zwar zum Imprägnieren und Färben
von Stoffen. Selbſt die Flugzeugpro⸗
peller können nur mit Näfeleim fo
dauerhaft zufammengeleimt werden.
Mit dieſer Aufzählung der Verwen-
dungsmöglichkeiten des Kaſeins iſt ſeine
Vielſeitigkeit noch nicht erſchöpfend be-
handelt. In unſerem täglichen Leben ſind
wir jedoch ftändig von Gebraudsgegen-
ſtänden umgeben, die aus der Mager-
milch abzuleiten ſind. Trotzdem wird der
ſtändig ſteigende Kaſeinbedarf faſt voll-
ſtändig aus dem Ausland eingeführt,
weil die Behandlung des Kaſeins in
der Handelspolitik die eigene Erzeu⸗
gung unmöglich macht. Der Zuſammen⸗
bruch der Butter und Milchpreiſe im
Dezember 1932, der z. B. im Allgäu
jetzt einen Werkmilchpreis von 4 Pfen-
nig ſür den Liter Vollmilch bedingt,
zwingt uns zum Schutz unſerer Erzeu⸗
gung gegenüber der ausländiſchen
Schleuderkonkurrenz.
Die Entwicklung der Einfuhrſtatiſtik
von Kaſein, die ſich faſt über 3 Jahr⸗
zehnte erftredt, iſt geradezu ein Muſter⸗
beiſpiel für eine Handelspolitik, deren
Schwerpunkt händleriſch ausgerichtet iſt.
Hervorgehoben muß werden, daß trotz
der vergangenen Kriſenjahre in der
Milchwirtſchaft die Einfuhr von Kaſein
immer noch zugenommen hat. In den
Jahren 1931 und 1932 iſt zwar wert
mäßig die Einfuhr ſehr abgefallen, und
zwar 1931 um 60% und 1932 um 77%.
Hier macht ſich jedoch ſchon ſeit 1930 der
finfende Weltmarktpreis geltend.
Der Rückgang der Preiſe mußte
natürlich die im Aufbau begriffene
deutſche Kaſeinerzeugung wieder zer⸗
ſchlagen. Es iſt daher die Tatſache zu
verzeichnen, daß trotz großer Mengen
Magermilchverwertung durch Kaseinherstellung
unverwertbarer Magermilch die Rafein-
erzeugung in Deutſchland wieder ein-
geſchlafen iſt. Genaue Zahlen über die
deutſche Käſeſtoffherſtellung find nicht
vorhanden, doch hat man die Inlands-
produktion 1929 mit 15 000 dz und 1932
mit 8000 dz angenommen; mithin er-
zeugte Deutſchland 1932 nur 4% ſeines
geſamten Verbrauchs.
Ein anſchauliches Bild dieſer finn-
loſen Einfuhr bekommen wir erſt, wenn
wir die Einfuhr von Kaſein in Liter
Magermilch und ihren Wert in Dollar
umrechnen.
Deutſche Magermilch ⸗Einfuhr 1932
in Dollar.
Aus Argentinten 312743000 Ltr. 461666 3
503000 .
„ Frankreich 155 „ 395716
„England 3476000 „ 10238 „
„ Neuſeeland 42800000 „ 122143 ,
„Norwegen 1207300 „ 42380 „
» fonftigen
Laͤndern 98640000 „ —
Geſamteinfuhr 625235000 Qtr. 1082857 3
Dagegen wurden
in Deutſchland
nur 26664000 Ltr. verarbeitet.
Vor allem aber zeigt uns die Stati-
ſtik, daß der Einwand der Kaſeinindu⸗
ſtrie, daß in Deutſchland nicht die ge⸗
wünſchte Qualität von Kaſein zu er⸗
halten fei, nicht ſtichhaltig tft. Denn
wenn es möglich iſt, von 25 Staaten, ja
aus der ganzen Welt Kaſein abzuneh-
men, dann kann man ſich nicht darauf
verſteifen, daß gerade deutſches Kaſein
untauglich ſei.
Die Milchinduſtrie in Argentinien
hat ſich auch erſt nach dem Kriege ent-
wickelt. Zuerſt wurde in geringem Maße
Butter und Käſe produziert, und erſt
als ſich die Erzeugung und der Abſatz
von Kaſein nach Deutſchland und Ame ⸗
tifa als einträglicheres Geſchaft erwies,
ſtellte ſich die argentiniſche Milhwirt-
ſchaft ganz auf Kaſeinerzeugung um.
Die Entwicklung der Kaſeininduſtrie
in Argentinien und Frankreich unter
deutſcher Zollbegünſtigung zeigt folgen-
des Bild:
Magermilchverwertung durch Kaseinherstellung
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Rafeinerport in Tonnen.
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reich deutſcher tinlen S
Import 2
19022 — — 94 8
107: — 2881 205 Es.
1910: — 4313 2973 Sst
19132 — 663 3446 RE
1918: — — 3584 £<5
1923: — = 10690 52
1924. 6132 — 1458 ©,;%
1925: 6914 11809 16501 x
1926: 7852 9552 19846 2
1927: 14706 13814 14385 *
1928: 11025 14829 17570 5
199: 6788 16701 6150* 85
1930: 6954 14809 457 «
Während der Weltumſchlag
von Kaſein rückläufig iſt,
zeigt ausgerechnet die
deutſche Einfuhr ſteigende
Nichtung.
Die in Deutſchland im Januar 1933
endlich verfügte Zollerhöhung trat aber
nicht fofort, ſondern erſt nach 14 Tagen
in Kraft, um den Händlern eine wirk⸗
ſame Voreindeckung möglich zu machen.
Nachdem der Verbrauch an Nähr- und
Futtermittelkaſein im Vergleich zu In ⸗
duſtriekaſein nicht beſonders hoch iſt,
dürfte durch die Voreindeckung die Zoll ⸗
erhöhung auf Monate hinaus unwirk⸗
ſam ſein.
Vergleicht man dazu die Maßnahmen
des Auslandes auf dem Milch-, Käfe-
und Kaſeinmarkt, dann müſſen wir
Deutſche vor Neid erblaſſen. So haben
die Vereinigten Staaten, die im Ver⸗
brauch von Kaſein an erſter Stelle
ſtehen, durch Zölle erreicht, daß ſich eine
eigene Kaſeininduſtrie entwickeln konnte,
die heute bereits die Hälfte des
Bedarfs deckt. Im Juni 1929 wandten
die USA. zum 1. Mai einen prohibitiven
Zoll von RM. 51.06 für 100 kg bei
Kaſein an. Daraufhin iſt die Rafeinein-
fuhr nach den USA. um 75% zurüdge-
gangen. Die USA. will ihren Zoll fo-
gar auf 90 RM. per dz erhöhen, um
jede Einfuhr zu unterbinden. Bei uns
in Deutſchland aber hat man im Ja-
nuar 1933 den Zoll für Lab-, Nähr-
und Futterkaſein von 6 RM. auf 60
RM. erhöht, entſprechend der drei⸗
Magermilchverwertung durch Kaseinherstellung
fachen Ausbeute von Kaſein bei der
Quart und Käſeherſtellung, den Zoll
für „zum menſchlichen Genuß unbrauch⸗
bar gemachtes“ Induſtriekaſein von
6 RM. auf 2 RM. ermäßigt. Die amt-
lichen Vertreter der Landwirtſchaft und
Milchwirtſchaft ſuchen dieſe Zollände⸗
rung der Regierung mit dem Hinweis
auf die Ausfuhrwettbewerbsfähigkeit
zu entſchuldigen. Sie überſehen, daß der
Kaſeinzoll nur ein Teilausſchnitt der
Magermilchverwertungsfrage iſt. Aber
auch die anderen Länder haben hohe
Zölle auf Kaſein gelegt, z. B. die
Schweiz 20 RM. auf 1 dz, in Ofter-
reich wurden Kaſeinwerke errichtet.
Wenn wir die Entwicklung der Soll-
maßnahmen Deutſchlands gegenüber
der Kaſeineinfuhr betrachten, dann
wundern wir uns nicht mehr, daß es
von ausländiſcher Magermilch über-
ſchwemmt wird.
Im Vorkriegsdeutſchland hatten wir
bereits einen allgemeinen Zollſatz von
10 Mark pro dz Kaſein. Weshalb die
Regierung dann im Jahre 1925 den
Kaſein⸗ und Quarkzoll von 10 Mark
auf 6 Mark herabgeſetzt hat, konnte bei
den täglich wechſelnden handelspoli⸗
tiſchen „Grundſätzen“ unſerer Regie-
rungen nicht in Erfahrung gebracht
werden. Der Zollſatz von 6 RM. für
100 kg aller Kaſeinſorten als da find:
Milchſäurekaſein und Rohkaſein (die
hauptſächlich in der Kunſthorninduſtrie
Verwendung finden), Labkaſein für die
Käſeinduſtrie und Nährkaſein für die
Nahrungsmittel- und Kräftigungsmit-
telinduſtrie, hat ſichim Laufe der
letzten Jahre ſogar zu einer
ernſten Gefahr fürdie Milch ⸗
wirtſchaft und die Käfeindu-
ftrie im beſonderen entwik⸗
kelt. Es konnte ſich unter dieſem
Kaſeinzoll nicht nur keine deutſche Ka⸗
ſeinherſtellung entwickeln, ſondern der
niedere Zollſatz war ein Anreiz dafür,
ausländifhes Kaſein zur Herſtel⸗
lung von Magerkäſe in
Deutſchland ſelbſt zu ver-
wenden. Alle Vorſtellungen der
milchwirtſchaftlichen Verbände wurden
jahrelang übergangen, bis der Mangel
an ausländiſchen Zahlungsmitteln uns
Ergebnisse der Landarbeitsringe
zu teilweiſen Einfuhrbeſchränkungen
zwang.
Schiele und Brüning aber haben in
der Kaſein⸗ und Quarkzollfrage ein
Muſterbeiſpiel falſcher Zollgeſetzgebung
eliefert. Am 23. 1. 32 wurde der
Suartyoll von 6 RM. auf 17 RM. er-
höht, um die Sauermilchkäſerei vor der
Auslandskonkurrenz zu ſchützen. Man
hat damals aber vergeſſen, auch die
Hintertür zu ſchließen. Denn durch die
erfolgte Heraufſetzung des Quarkzolles
wurde die Käſeinduſtrie verleitet, ſtark
gefteigerte Mengen ausländiſchen Ka⸗
ſeins ſtatt inländiſchen Quarks zu ver-
wenden. Genau ein Jahr haben die Ver⸗
antwortlichen gebraucht, um dieſe An.
terlaffungsfünde zu entdecken, denn erſt
durch die Zolländerungen vom 19. Sa-
nuar 1933 hat man dieſes Zollkurioſum
beſeitigt.
Am endlich eine planmäßige Entwick-
lung der deutſchen Kaſeinerzeugung zu
ermöglichen, iſt notwendig, die Einfuhr
von denaturiertem Induſtriekaſein zu
beſchränken in dem Maße wie unſere
Milchwirtſchaſt ihre Erzeugung ſteigert.
Dabei müſſen wir verlangen, daß man
die Argentinier auf ihrem Warenvor-
rat figen läßt und nur von Frankreich
abnimmt, damit die erſteren darüber
nachdenken können, wohin ein Zollkrieg
mit Deutſchland führt. Wir aber könn-
ten bei der einſeitigen Bevorzugung
Frankreichs ein Entgegenkommen in
der Frühgemüſeeinfuhr aushandeln.
Wir ſetzen uns felbftverftändli dafür
ein, daß für die Kunſthorninduſtrie und
verwandte Betriebe, ſoweit ſie nur für
den Export arbeiten, die Arbeitsmög⸗
609
lichkeit unter zollpolitiſcher Aufſicht
offengehalten wird. Ja, es wäre ſogar
zu verantworten, daß das Reich nade
weisbaren Schaden durch Ausfubr-
bebinderung rüdvergütet.
Für das deutſche Kaſein aber ift ein
feſter Preis zu beſtimmen, der eine
ſtändige Magermilchverwertung von
34 Pfennig gewährleiſtet. Dabei fol
der Wert der Rückſtände bei der
Kaſeinerzeugung mit einem 105
bewertet werden. Nachdem aus 10
Liter Magermilch 3 kg Kaſein gewon-
nen werden und dabei 14 Pfg. General-
unkoſten entſtehen, darf der Preis für
1 kg deutſches Kaſein zwiſchen 0,70
RM. und 1,05 RM. liegen. Zefon-
dere Qualitäten Kaſein (3. B. für Kräf-
tigungsmittel) find natürlich höher zu
bezahlen. Wird den Kaſeinerzeugern
dieſer Preis garantiert, dann wird die
Milcherzeugung die techniſchen und die
Molkereigenoſſenſchaften die Abſatz⸗
fragen löſen. Für die verarbeitende Sn-
duſtrie aber wird fid der Nohſtoff nicht
zu ſtark verteuern, weil ja die bisher
ſehr hohen Handelsunkoſten von 20 bis
25 RM. nur mehr 6—8 RM. betragen
werden.
Mag es auch für einen kleinen Kreis
von Händlern hart ſein, einen Teil
ihres Geſchäftes zu verlieren, das In⸗
tereſſe der Volksgemeinſchaft verlangt,
daß wir den Weg zur Kaſeinſelbſtver⸗
ſorgung einſchlagen und damit errei-
chen, daß die Verwertung von weiteren
500 Millionen Liter Magermilch ge⸗
ſichert iſt.
Georg Reichart, München.
Wie können Ergebniſſe der Zand-
arbeitsringe bevölkerungspolitiſch ausgewertet werden?
Im Schaubild iſt die monatliche Ver ⸗
teilung des Jahresarbeitsaufwandes
einer mit 2 Pferden und Bindemäh⸗
maſchine arbeitenden, nach der verbefler-
ten Dreifelderwirtſchaft organiſierten
bäuerlichen Körnerwirtſchaft Mittel-
deutſchlands dargeſtellt. Der Betrieb iſt
ein bäuerlicher Durchſchnittsbetrieb, wie
610
es deren viele gibt und wie ich deren
viele bei meinen demnächſt zu veröffent-
lichenden „Anterfuchungen über den Be⸗
trieb der Mähmaſchinen bäuerlicher Ve-
triebe durch Einbaumotor“ angetroffen
habe. Die größten Anſprüche an den Ar-
beitsbedarf fallen in die Zeit der Ge⸗
treide- und Hackfruchternte. Da der Be⸗
trieb mit Bindemähmaſchine arbeitet,
liegt die Auguſt⸗Arbeitsſpitze der
Frauenarbeitskurve tiefer als ihre Ok.
tober⸗Arbeitsſpitze, zumal keine Kartof⸗
felrodemaſchine vorhanden und das Rü-
benernteverfahren unzweckmäßig iſt. Im
ganzen werden die menſchlichen Arbeits-
kräfte, wie die Kurven erkennen laſſen,
ebenſo ungleichmäßig beanſprucht wie
die beiden Pferde, die im Jahresdurch⸗
ſchnitt nur zu ca. 60%, aber ſelbſt im
8 nicht zu 100% ausgenutzt wer⸗
en. |
In ſolchen Betrieben werden mitunter
auch andere Betriebsmittel ſchlecht aus ·
genutzt, fo z. B. die Gebäude. Es fehlt
zwar infolge Vergrößerung der dem
Getreide eingeräumten Fläche und in⸗
folge Steigerung der Hektarerträge im
Getreidebau ſehr häufig an Scheunen⸗
raum, dafür aber iſt ſehr oft mehr
Wohnraum vorhanden als nötig iſt,
oder aber es find Räume vorhanden,
die ſchlecht ausgenutzt werden und ſich
mit geringem Koſtenaufwand als
Wohnraum herrichten laſſen. Dann ent-
ſteht die Frage, ob die ſchlecht aus⸗
genutzten Gebäude zum Vermieten her⸗
gerichtet werden können. (Der Städter,
der zu teuer wohnt, pflegt auch ans
„Abvermieten“ zu denkenl)
Außer den Gebäuden aber iſt ſehr
häufig noch Grund und Boden vorhan⸗
den, der ſchlecht ausgenutzt wird, z. B.
die mit alten, vermooſten Obſtbäumen
beſtandenen Obft- und Grasgärten und
die mehr oder weniger verwahrloſten
Küchengärten hinter dem Gehöft.
Außerhalb des Bauerngehöftes gibt
es arbeitſuchende Erwerbslofe, die ganz
aufs Land zurückkehren möchten, um
ihre Arbeitskraft verwerten zu können.
Das Problem der „Auflockerung der
Großſtädte“ iſt Programmpunkt in
jeder Regierungserklärung. Nicht fel-
ten beſchäftigt man ſich auch innerhalb
Ergebnisse der Landarbeitsringe
des Bauernhofes mit der Frage, wie
man in der Stadt erwerbslos gewor-
denen Verwandten helfen kann. Wir
wollen daher an Hand unſeres mittel-
bäuerlichen Betriebes unterfuchen, wie
die Arbeitsorganiſation zu geſtalten
wäre, wenn man eine geeig-
nete (ſolche gibt esl) Erwerbs
lofenſamilie in die ſchlecht
ausgenutzten Gebäude ſetzt,
ihr das ſchlecht ausgenutzte Garten
land zur Verfügung ſtellt oder ein
Stück Ackerland verpachtet mit
der Verpflichtung, darauf
Gemüfe- und Obſtbau zu
treiben und dieſen kleinen Er-
werbsloſenbetrieb fo zu organifieren, daß
die Familie nach Bedarf in dem
Bauernbetriebe auf Arbeit
kommen kann. Wenn man eine
tüchtige Familie erwiſcht, kann man ihr
durchaus etwas Ackerland überlaſſen,
weil dafür bei gärtneriſcher Nutzung
ebenſoviel Pacht bezahlt werden kann,
wie man bei landwirtſchaftlicher
Nutzung Reinertrag davon erzielt. Am
die Auswirkung einer ſolchen Maß⸗
nahme auf den bäuerlichen Betrieb an-
zudeuten, genügt es, eine beſonders
wichtige Jahreszeit, die Erntezeit, her.
auszugreiſen.
Erinnern wir uns, daß in unſerm
Beiſpielsbetriebe eine Bindemäh⸗
maſchine, aber keine Kartoffelrode-
maſchine vorhanden iſt, und ſehen wir
an Hand des Schaubildes 1 nach, wie ſich
die Arbeitswirtſchaft geſtalten würde,
wenn an Stelle der teuren Bindemäh⸗
maſchine die weſentlich billigere Ablege
Mähmaſchine angeſchafft worden wärel
Der Verlauf der Pferdearbeitskurve
würde derſelbe fein. Auch die Männer-
arbeitskurve würde ſich nicht weſentlich
ändern, weil das vom Bindemäher be⸗
ſorgte Binden des Getreides Frauen-
arbeit ift. Die Auguſtſpitze der Frauen-
arbeitskurve alſo würde in die Höhe
getrieben, was nicht viel ausmacht, weil
die Oktoberſpitze den Bedarf an
Frauenarbeitskraft beſtimmt. Arbeits-
wirtſchaftlich iſt, im ganzen geſehen,
durch die Anſchaffung der Bindemäh⸗
maſchine nicht viel gewonnen. Da für
ihre Beſpannung aber nur 2 Pferde
611
Ergebnisse der Landarbeitsringe
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612
zur Verfügung fteben, ift der VBetriebs-
leiter geneigt, fid) die jüngften Erfah⸗
rungen mit Einbaumotoren zunutze zu
machen und den Bindemäher zur Ent.
laſtung der 2 Pferde mit Einbaumotor
auszurüften. Das heißt: Er wird durch
den Bindemäher verleitet, nod mehr
Kapital an einer Stelle ein.
zuſetzen, wo dieſe Snveftie-
rung arbeitswirtſchaftlich
wenig vorteilhaft iſt.
Nehmen wir an, das bei Anſchafſung
einer Ablege⸗Mähmaſchine erſparte
Geld werde zur Herrichtung einer Woh.
nung für einen Erwerbsloſen benutzt
und ihm ſolle mit Gemüfe- und Obſtbau
die Grundlage einer Exiſtenz geſchaffen
werden, dann wird man das Arbeits.
tagebuch in der Weiſe aufarbeiten
milffen, daß man die Verteilung der
Männer- und Frauenarbeit in den ein-
zelnen Monatshälften erkennt. Man
fieht dann, in welchen Monatshälften
ſich die Arbeiten zuſammendrängen und
wo noch „Löcher“ find, die durch Obſt⸗
bau ausgeflickt werden können. In der
folgenden Aberſicht iſt die monatliche
Arbeitsverteilung eines bäuerlichen
Betriebes aufgeführt und zugleich an-
gedeutet, in welde Seiten die Ernte-
termine einiger für dieſen Betrieb in
Betracht zu ziehender Obftarten fallen.
Relde Hofe Berfonen»
nden
arbeit arbeit inégefamt
1310
1422 Zweite Monatshaͤlfte:
imbeerernte
1548
Monatshälfte:
Kirſchenernte
1766 Zweite Monatshalfte:
Aprifof., Pflaumen
1611 Smette Monatshaͤlfte:
Sommerbirnen,
Junt 601 821
Juli 257 1291
Aug. 842 924
Sept. 562 1049
Apfel
Okt. 738 907 1645 pet
Nov. 189 1037 1226
De. 80 1109 1189
Gerade der Obft- und Gartenbau mit
feinen zahlreichen Sorten von Kultur.
pflanzen bietet für ſolchen arbeitswirt⸗
Ergebnisse der Landarbeitsringe
ſchaftlichen Ausgle weiten Spiel-
raum, was im einzelnen näher auszu⸗
führen hier unterbleiben kann, weil
hier nur Anregungen gegeben werden
ſollen. Es ſei nur darauf hingewieſen,
daß bei der Organiſation des kleinen
Erwerbsloſenbetriebes auch auf zweck;
mäßige Verteilung von Männer und
Frauenarbeit Rüdfiht zu nehmen iſt.
Die Himbeer -, Aprikoſen⸗ und Pflau-
menernte als Frauen- und Kinderarbeit
fällt z. B. nicht mit Spitzen der Frauen⸗
arbeit, die übrige Obſternte nicht mit
Spitzen der Männerarbeit im bäuer-
lichen Stammbetriebe zuſammen.
Es tft natürlich einfeitig, die hier an ⸗
geſchnittene Frage nur vom Stand-
punkte der arbeitswirtſchaftlichen Ge⸗
ſtaltung des Betriebes zu betrachten,
indeſſen — ſie iſt das am meiſten ver⸗
nadlaffigte und für den bäuerlichen Be⸗
trieb wie auch volkswirtſchaftlich wich.
tigſte Problem. Deshalb darf es in
einer ſolchen Anregung zur Verbeſ⸗
ſerung der Betriebsergebniſſe in den
Vordergrund gerückt werden. Aus die⸗
fer Anregung kann man zugleich entneh-
men, von welchem Stand
punkte allein die Frage der
Wiedereingliederung der
Menſchen in den volkswirt⸗
ſchaftlichen Produktions-
vorgang zu beurteilen iſt.
Herr Dr. Hillmann hat im Sommer in
den D. L. G.⸗Mitteilungen zu beweiſen
verſucht, daß die Landwirtſchaft durch
fleißige Maſchinenanſchaffung zur Am⸗
ſatzſteigerung beiträgt, wobei der Ge⸗
dankengang etwa der geweſen iſt: Mehr
Maſchinen in der Landwirtſchaft —
mehr Arbeiter in der Induſtrie — grö.
ßere Kaufkraft der Arbeiterbevölkerung
— mehr Amſatz in der Volkswirtſchaft.
Leider hat ſich bislang kein Kritiker
hierzu zu Worte gemeldet! Herr Dr.
Hillmann ſtellt die Amſatzſteigerung in
den Landmaſchinenfabriken in den Mite
telpunkt, und das iſt ein Irrtum und
ein Umweg. Ich dagegen ſtelle die Am⸗
ſatzſteigerung im landwirtſchaftlichen
Betriebe in den Mittelpunkt und ſehe
in der Maſchinenanwendung nur ein
Mittel zum Zwecke, und das iſt allein
richtig. Die Eingliederung der Men-
Feldgemüsebau und Flurbereinigung
ſchen in den landwirtſchaſtlichen Erzeu-
gungsvorgang iſt der natürliche und
gerade Weg zur Amſatzſteigerung in
der Volkswirtſchaft. Er führt von Stei⸗
gerung der landwirtſchaftlichen Ar⸗
erzeugung — nicht der landwirtſchaft⸗
lichen Betriebsmittelerzeugung — zur
Arbeitsbeſchaffung und damit zur Stei⸗
gerung des volkswirtſchaftlichen Um-
ſatzes, und damit auch zur Stei⸗
gerung des Amſatzes in der Land-
maſchineninduſtrie. Dieſer Weg iſt der
dauerhaftere und geſündere. Wir wer
den nicht umhin können, ihn mehr als
bisher zu beſchreiten, weil wir uns die
lururidfe bisherige Methode der Er-
werbsloſenunterſtützung, die dem
Bauernhofe die Betriebsmittel durch
hohe Steuern und Wohlfahrtslaſten
entzieht, nicht länger leiſten können.
Wenn die Bauernhöfe am Zuſammen⸗
brechen find und dennoch ſich der Pflicht,
erwerbsloſe Volksgenoſſen durdgubal-
ten, nicht entziehen können, dann kön⸗
nen ſie das nicht auf dem koſtſpieligen
Amwege der Anterſtützung durch Geld-
abgaben an die Stadt, ſondern ſie
müſſen verfuden, den Geldſchleier hin⸗
wegzureißen und die Anterſtützung auf
613
naturalwirtſchaftlichem Wege durch Ge-
währung von Wohnraum, Land und
Arbeitsmöglichkeit zu bieten. And wer
dabei die vorhandenen betriebseigenen
Erzeugungsmittel einer beſſeren Aus-
nutzung zuführen kann, fährt auch finan⸗
ziell nicht ſchlechter als jetzt. Er be-
laftet aber feinen Betrieb erheblich, wie
das Zeifpiel der Bindemähmaſchine in
unſerm bäuerlichen Betriebe zeigt, wenn
er glaubt, durch Maſchinenanſchaffun⸗
gen ſeinen Teil zur Bekämpfung der
ne Urbeitslofigteit und zur Am⸗
atzſteigerung in der Induſtrie beitragen
zu müſſen, wie man ihm das einreden
will. Die Maſchine iſt nicht Selbſt⸗
zweck, ſondern Mittel zum Zwecke der
landwirtſchaftlichen Gilterergeugung,
und die Hebung des Volkswohlſtandes
und die Steigerung des volkswirtſchaft.
lichen Amſatzes geht nicht von der Stei-
gerung des Amſatzes und Verbrauches
von landwirtſchaftlichen Erzeugungs-
mitteln aus, ſondern von der Stei⸗
gerung der Ausnutzung des volfswirt-
ſchaftlichen Bodens. Inſofern hat Ques-
nay recht gehabt!
Dipl.⸗Landw. K. Kermann, Pößneck.
Feloͤgemüſebau und Flurbereinigung
In der Abhandlung „Autarkie in
Treibgemüſe“ (Juliheft) wurde vom
Verfaſſer (Kurt Fachmann) die Frage
aufgeworfen, ob der deutſche Gemüſe⸗
bau in der Lage ſei, die erforderlichen
Mengen an Freilandgemüſe und an
Treibgemüſe zuſäͤtzlich aus eigener Pro⸗
duktion auf den Markt zu bringen.
Zweifellos bedarf es zur Erreichung
dieſes Zieles noch einer erheblichen An⸗
derung des Geſchmacks für einen großen
Teil des Volkes, denn unſere klima⸗
tiſchen Verhältniſſe erlauben den Frei⸗
landbau hochwertiger Gemüſe im Win-
ter und Vorfrühling nicht. Die Finanz ⸗
lage zwingt unbedingt zu einer Drof-
ſelung der Einfuhr aller entbehrlichen
Waren. Wenn auch durch den in den
letzten Jahren ſtark vermehrten Anbau
unter Glas erhebliche Mengen von
Treibgemüſe auf den Markt kommen,
fo find doch bei dem großen Bedarf an
Gemüſe, vor allem im Frühjahr, und
den hohen Geſtehungskoſten des Treib⸗
gemüſes die Preiſe für viele Volks.
genoſſen unerſchwinglich. Es iſt deshalb
ein dringendes Gebot der Stunde, bil-
liges und gutes Frühgemüſe und dauer-
haftes Herbſtgemüſe zu erzeugen. Dies
iſt nur durch feldmäßigen Anbau mög ⸗
614
lich. Welche e hierfür
nötig find, ſei an einem iſpiel aus
der Praxis erläutert:
In der Gemeinde Anterpleichfeld,
einem 12 km von Würzburg an der
Straße nach Schweinfurt gelegenen
Dorſe, wird nachweislich mindeſtens ſeit
dem Jahre 1796 (ältere Arkunden wur-
den bei der damaligen Beſchießung ver⸗
nichtet) feldmäßig Kraut angebaut und
zwar bis vor wenigen Jahren ein fpd-
ter, von den Bauern aus Samen felbft-
gezogener milder Weißkohl, der ſich zur
Sauerkrautbereitung vorzüglich eignet,
auf dem tiefgründigen Lößboden bei nor-
malem Waſſerſtand ſehr gut gedeiht,
aber wenig haltbar iſt. Hier wurde in
den Jahren 1923 —27 eine Slurbereini-
gung (Zuſammenlegung der Grundſtücke)
durchgeführt, die eine Amwälzung im
Anbau zur Folge hatte. Nach den Er-
bebungen zu Beginn der Arbeiten
konnte eine Geſamtſläche von ungefähr
300 ha als für den Krautbau geeignet
angeſehen werden, die jedoch kaum zur
Hälfte in dreijährigem Wechſel mit
Kraut beſetzt wurden. Die fpäte Ernte,
die ſich meiſt bis Mitte November Hin-
zog, wirkte hemmend auf die Beſtellung
der übrigen Grundſtücke, ſo daß faſt kein
Wintergetreide gebaut werden konnte.
Hierin und im Krautbau iſt ſeit der
Abſteckung der neuen Flureinteilung im
Jahre 1927 ein völliger Wandel ein⸗
getreten. Während vorher alljährlich
nur 50—60 ha mit Herbſtkraut beſtellt
wurden, ſtieg im Jahre 1932 die Anbau-
fläche auf 130 ha mit einem durchſchnitt⸗
lichen Hektarertrag von mindeſtens 600
Doppelzentnern. Hiervon wurden un⸗
gefähr 12 ha mit Frühkraut beſtellt, das
in günſtigen Lagen ſchon Ende Juni
bis Mitte Juli eine Ernte lieferte, ſo
daß die Felder noch mit Spätkraut oder
Futterpflanzen beſetzt werden konnten.
Angefähr 20 ha wurden mit Blaukraut,
Wirſing und ſonſtigen beſſeren Gemüſe⸗
forten angebaut, der Reft entfiel zum
größten Teil auf die eingebürgerte
Krautart. Die Ware fand in der Haupt.
ſache in den fränkiſchen Städten, vor
allem auf dem Würzburger Markt Ab.
ſatz, ein geringer Teil wurde in den
beiden im Jahre 1925 errichteten
Feldgemũsebau und Flurbereinigung
Sauerkrautfabriken am Orte verar-
beitet. Die ſchlechte Lagerfähigkeit der
bisher angebauten Sorte hat zum ver-
mehrten Anbau des ſpätreifenden
Dauer- oder Dänenkohls geführt; zur
Zeit wird zur beſſeren Lagerung eine
Kohlſcheune errichtet.
Nur in einer bereinigten Flur war
eine vier- bis fünſmalige gründliche Be⸗
arbeitung des Bodens möglich, die
Vorausſetzung für den Krautbau iſt.
Erſt hierdurch war es möglich, tieriſche
und pflanzliche Schädlinge energiſch zu
bekämpfen und — allerdings unter ſehr
ſtarken Gaben an Stallmiſt und Kunſt⸗
dünger — Hektarerträge von 700 bis
800 dz zu erreichen. Die Anbaufläche
wäre noch größer, wenn nicht in den
letzten Jahren die Preiſe unter dem
Druck der eingeführten Mengen ſtark
herabgeſetzt wären.
Die Erfolge in dieſer Gemeindeflur
einerſeits und die Fehlſchläge in den
Nachbargemeinden laffen den feldmäßi⸗
gen Gemüſebau nur unter folgenden
Vorausſetzungen angezeigt erſcheinen:
a) günftige Abſatzverhältniſſe;
b) mildes Klima;
c) tiefgründiger, am beſten Lößlehm-
boden mit geringem Kalkgehalt und
mäßig tiefem Grundwaſſerſtand;
d) geſchloſſener Anbau wegen beſſerer
Bekämpfung der Schädlinge (vor
allem Erdflöhe und Kohlweißlinge);
e) bereinigte Flur wegen leichterer
Beſtellung und Ernte.
Nur unter dieſen Vorausſetzungen
kann — bei entſprechendem Schutz gegen
die Einfuhr — zum feldmäßigen Ge⸗
müſebau geraten werden. Trockenere,
vor allem kalkhaltige Lagen, erfordern
eine Bereinigungsanlage, wie dieſe in
Anterpleichfeld von einem Beteiligten
mit gutem Erfolge angelegt wurde.
Die guten Erfahrungen, die in dieſer
Gemeinde unter dem Beiſpiele einiger
fortſchrittlicher, den Vorſtellungen des
Beamten zugänglicher Landwirte ge⸗
ſammelt wurden, laſſen mich die ein⸗
gangs geſtellte Frage beſtimmt bejahen.
Regierungsbaurat Anton Haas,
Bamberg.
Das Archiv
Die Betrauung Adolf Hitlers
mit dem Reichskanzleramt iſt für die
Preſſe ſo überraſchend gekommen, daß
die meiſten Leitartikler es bis zum Seit-
punkt dieſer Niederſchrift noch nicht
fertiggebracht haben, dies Ereignis vom
agrarpolitiſchen Standpunkt aus zu be⸗
handeln. Bezeichnend iſt jedoch, daß die
geſamte landwirtſchaftsfeindliche Preſſe
das Kabinett Hitler ablehnt, während
die Preſſe, die ſtets ehrlich für die Ve-
lange des Deutſchen Bauerntums ein-
getreten iſt, ſich vorbehaltlos hinter den
neuen Reichskanzler geſtellt hat. Aus
dem Aufruf der Reichsregie⸗
rung, der von Adolf Hitler im
Rundfunk verkündet wurde, iſt klar und
deutlich der ſtarke Wille, das Bauern-
tum zur Grundlage des Staates zu
machen, heraus zuhören. Folgende Stelle
möchte ich hier wörtlich anführen: „Die
nationale Regierung will das große
Werk der Reorganiſation der Wirt⸗
ſchaft unſeres Volkes mit zwei großen
Vierjahresplänen löſen: Rettung des
deutſchen Bauern zur Erhaltung der
Ernährungs- und damit Lebensgrund-
lage der Nation. Rettung des deut⸗
ſchen Arbeiters durch einen gewaltigen
und umfaſſenden Angriff gegen die Ar-
beitslofigfeit. In 14 Jahren haben die
Novemberparteien den deutſchen Bau⸗
ernftand ruiniert. In 14 Jahren haben
fie eine Armee von Millionen Arbeits-
loſen geſchaffen. Die nationale Regie-
rung wird mit eiſerner Entſchloſſenheit
und zäheſter Ausdauer folgenden Plan
verwirklichen: Binnen vier Jahren muß
der deutſche Bauer der Verelendung
entriſſen ſein. Binnen vier Jahren muß
die Arbeitsloſigkeit endgültig überwun⸗
den ſein. Gleichlautend damit ergeben
ſich die Vorausſetzungen für das Auf⸗
blühen der übrigen Wirtſchaft. Mit
dieſer gigantiſchen Aufgabe der Sanie⸗
rung unſerer Wirtſchaft wird die natio-
nale Regierung verbinden die Aufgabe
und Durchführung einer Sanierung des
Reiches, der Länder und der Kommu-
nen in verwaltungsmäßiger und fteuer-
techniſcher Hinſicht. Damit erſt wird der
Gedanke der föderativen Erhaltung des
Reiches blut ⸗ und lebens volle Wirklich⸗
keit. Zu den Grundpfeilern dieſes Pro-
gramms gehört der Gedanke der Ar-
beitsdienſtpflicht und der Siedlungs-
politik. Die Sorge für das tägliche
Brot wird aber ebenſo die Sorge ſein
für die Erſüllung der ſozialen Pflichten
bei Krankheit und Alter. In der Spar-
ſamkeit ihrer Verwaltung, der Förde⸗
rung der Arbeit, der Erhaltung unſeres
Bauerntums ſowie der Nutzbarmachung
der Initiative des einzelnen liegt zu⸗
gleich die befte Gewähr für das Ver⸗
meiden jedes Experimentes der Gefähr-
dung unſerer Währung.“
Von den wenigen Zeitungen, die auf
die agrarpolitiſche Bedeutung der poli-
tiſchen Wende in Deutſchland eingegan-
gen find, möchten wir folgende hier an ·
führen: Die „Deutſche Tages
zeitung“ vom 31. Januar ſchreibt,
daß das neue Kabinett genau wie ſeine
Vorgänger eine gewiſſe Anlaufzeit be⸗
nötige. Es gäbe aber einige dringliche
Aufgaben, für die die Anlaufzeit auf
ein Minimum verkürzt werden müſſe.
Zu dieſen Dringlichkeiten rechneten in
erſter Linie die Agrarfragen und die
Arbeitsbeſchaffung. Was die erftere an-
beträfe, ſo habe die neue Regierung
von vornherein ein Aktivum zu ver⸗
zeichnen, da man in fie das ſtarke Ver⸗
trauen auf die Hilfsbereitſchaft gegen-
über dem deutſchen Bauern fege. — In
einer Würdigung der Regierungsüber-
nahme durch Adolf Hitler ſchreibt die
„NS.⸗Landpoſt“ (offizielles agrar-
politiſches Organ der NSDAP.) in
ihrer Folge 6 vom 5. Febr. u. a.: „Das
deutſche Bauerntum hat beſondere Ver⸗
anlaſſung, ſich dieſes Tages zu freuen.
Sit es doch in der blutsbedingten Er-
616
kenntnis wahren Führertums in den
letzten beiden Jahren die feſteſte Kern⸗
truppe des Führers im Kampfe um den
Staat von Blut und Boden geworden.
Das deutſche Bauerntum weiß, daß
dieſer Führer, ſelbſt ſtolz auf ſeine
bäuerliche Abkunft, es niemals im
Stiche laſſen wird, weil er niemals ſei⸗
ner ſelbſtgewählten Aufgabe untreu
werden kann. Das deutſche Bauerntum
nimmt ſeinerſeits dafür die Pflicht auf
ſich, mit der Nahrungsfreiheit die wich⸗
tigſte Vorausſetzung der Freiheit dieſes
feines Staates zu gewährleiſten und fei-
ner ſchickſalhaften Aufgabe Quell und
Hort des Blutes dieſes Volkes zu fein,
ſtets eingedenk zu ſein. So geht der
deutſche Bauer ohne große Worte an
ſeine harte Arbeit an Boden und Volk,
durch feiner Hände Arbeit Brot zu ſchaf⸗
fen. Wenn er es aber morgen mit einem
zukunftsfrohen Leuchten in den Augen
tut, ſo deshalb, weil er im Glauben an
den Führer wieder Glauben an die Su-
kunft hat.“
Die „Landwirtſchaftliche
Wochenſchau“ vom 2. 2. geht eben ;
falls in einem Artikel „Wirtſchafts⸗
politik ohne Wenn und Aber“ auf den
neuen Kurs der Wirtſchaftspolitik ein.
Hugenberg würde als Leiter beider
Wirtſchaftsminiſterien ein leichteres
Arbeiten haben als ſeine bisherigen
Amtsvorgänger, es müſſe aber unbe-
dingt ein Wechſel in den wichtigen Be⸗
amtenpoſten in beiden Miniſterien ftatt-
finden. Als erſtes müſſe das Kabinett
einen allgemeinen Schutz vor Zwangs⸗
verſteigerungen erlaſſen und gleichzeitig
einen Entſchuldungsplan vorlegen, denn
es könne dem Bauern nicht weiter zu⸗
gemutet werden, daß er die Folgen
einer falſchen Wirtſchaftspolitik tragen
müſſe. Neben dem Vollſtreckungsſchutz
und Entſchuldungsplan müßten gleich-
zeitig poſitive Maßnahmen zur Wie⸗
derherſtellung der Rentabilität ergrif-
fen werden. Es ſei ſehr klug von der
Reichsregierung, einen Vierjahresplan
aufzuſtellen, der Erfolg werde davon
abhängen, ob man gewillt ſei, eine
Wirtſchaftspolitik ohne „wenn und
aber“ zur Durchführung zu bringen. —
Erwähnt ſei hier auch die Stellung⸗
Das Archiu
nahme der dem Zentrum naheſtehenden
Chriftliden Bauernvereine,
die eine Erklärung unter dem Titel
„Das Ende der Konklavepolitik“ in der
Preſſe veröffentlicht haben. VGefonders
beachtenswert aus dieſer Erklärung iſt
folgende Stelle: „Der neuen Reichs.
regierung dürfte es nur zu bekannt ſein,
welche ſchweren Enttäuſchungen der
Bauer gerade im letzten halben Jahr
regierungsſeitig erfahren mußte, und
zu welcher Erregung und Verbitterung
die Vernachläſſigung feiner Belange
durch die verantwortlichen Stellen ge-
führt hat. Durch entſchiedenes Handeln
der Reichsregierung kann dem Bauern-
ſtande der Glaube wiedergegeben wer ·
den, daß es der Reichsregierung ernſt
iſt um die Rettung der deutſchen Land-
wirtſchaft. Aber nur durch ſchnelles und
durchgreifendes Handeln. Nicht nach
ihren Worten und Programmen, fon-
dern allein nach ihren Taten wird der
Gauernftand die neue Regierung Bee
urteilen.“
Die agrarpolitiſchen Preffeverdffent-
lichungen rein tagespolitiſcher Art, die
vor dem Regierungswechſel erſchienen
find, haben vollkommen an Aktualität
verloren, ſo daß es ſich erübrigt, dieſe
hier anzuführen. Ich möchte nur auf
einige mehr grundſätzliche Artikel ein-
gehen. Der Streit v. Schleicher / Reichs.
landbund hatte auch einen von beftimm-
ter Seite geſchürten Gegenſatz Indu⸗
. erzeugt. In der
„Berliner Börſenzeitung“
Nr. 41 vom 25. Januar nimmt Graf
Kanitz zu dieſer Angelegenheit Stel-
lung und bemerkt, daß man mit größter
Beſorgnis den fi andauernd verihär-
fenden Konflikt zwiſchen ne
und Induſtrie beobachten müſſe. Die
heutige Not der Landwirtſchaft bedeute
gwangsldufig auch die Kataſtrophe aller
anderen Gerufsftdnde. Wirkſame Not -
maßnahmen für die Landwirtſchaft,
wenn fie richtig angeſetzt würden, ftell-
ten auch wirkſame Maßnahmen für die
geſamte Wirtſchaft dar. Wir müßten
exportieren, um Deviſen für die Sndu-
ſtrierohſtoffe zu bekommen, ebenſo wäre
es aber auch erforderlich, daß im In⸗
tereſſe der geſamten Wirtſchaft die
Das Archiv
deutſche Landwirtſchaft geſchützt werden
müſſe.
Aber das Problem „Induſtrie- oder
Agrarſtaat“ hielt Geheimrat Wagemann
auf der Wintertagung der DLG.
am 2. Februar in Berlin einen Vor⸗
trag. Er führte u. a. aus, daß der Ge⸗
genſatz zwiſchen Induſtrie und Land-
wirtſchaft dadurch entſtanden ſei, daß
— gemeſſen an der geſamten Volks.
wirtſchaft — dem Arbeitsanteil der
Landwirtſchaft von rd. 25% ein Ein-
kommensanteil von nur 15 % gegen-
fiberftebe. Die Arſache des Auseinander-
klaffens von Arbeit und Einkommen der
Landwirtſchaſt liege in der Angunſt der
marktwirtſchaftlichen Verhältniſſe. Die
Autarkie wäre durchaus zu begrüßen
und hätte in der Hinſicht, ein Gleid-
gewicht herzuſtellen, ihre volle Bedeu⸗
tung. Man ſolle der Autarkie aber nur
das zuweiſen, was wir im Inland ſelbſt
rentabel erzeugen können. Prof. Wage
mann behauptete dann, daß die Bedeu⸗
tung der Landwirtſchaft für den indu⸗
ſtriellen Abſatz nur noch 15% ausmache,
während der Anteil der Induſtrie am
landwirtſchaftlichen Abſatz 100% be⸗
trage. Graf Kayſerlingk ſowie Geheim;
tat Sering widerlegten in der Diskuſ⸗
ſion dieſe Behauptung. Sie führten aus,
daß es zu den Eigenſchaften der indu⸗
ſtriellen Produktion gehöre, daß ſie zum
großen Teil für den Abſatz an andere
Induſtriezweige beſtimmt ſei. Die Land-
wirtſchaft als Arproduktion ſei das
Fundament jeder Volkswirtſchaft und
damit auch der Induſtrieproduktion.
Weiter hat die Landwirtſchaft die Auf⸗
gabe, für das Wirtſchafts⸗ und Volks⸗
ganze als Geſundbrunnen und als Ge⸗
gengewicht gegen die ſtädtiſche Gemüts⸗
und Denkform zu dienen.
In einer Sondernummer anläßlich
der „Grünen Woche“ veröffentlicht die
„Deutſche Tageszeitung“ in
Nr. 28 vom 28. Januar einen Artikel
des Präſidenten des Deutſchen Land⸗
wirtſchaftsrates Dr. Dr. h. c. Brandes,
der ſich mit den Schickſalsfragen und
Zukunftsausſichten der deutſchen Land⸗
wirtſchaft beſchäftigt. Brandes ver⸗
urteilt den durch die bisherigen Reichs-
regierungen verurſachten Zuſtand, daß
617
gegen den eigentlichen Grund der land⸗
wirtſchaftlichen Not, das Klaffen der
Preisſchere, bis heute nichts getan ſei.
Während die Preisſchere im Jahre
1926/27 um 8 Punkte betragen habe,
ſei ſie heute auf 14 Punkte geſtiegen.
Weiter ſei eine Senkung der öffent⸗
lichen Laſten und Abgaben, vor allem
die Senkung der Grundſteuer, Gefeiti-
gung der Schlachtſteuer und Senkung
des Amſatzſteuer⸗Satzes auf Vieh und
ſämtliche Veredlungserzeugniſſen not⸗
wendig.
Freiherr von Lüninck, Prä⸗
fident der Rheinifhen Landwirtſchafts⸗
kammer hielt auf einer Bauernverſamm⸗
lung in Cleve ein Referat über die
Bauernnot, die er als Arſache der
Wirtſchaftskriſe und Arbeitsloſigkeit
im allgemeinen bezeichnete. Die Indu⸗
ſtrie wäre bisher in jeder Weiſe gegen ·
über der Landwirtſchaft begünſtigt wor-
den, vor allem der übermäßige indu-
ſtrielle Zollſchutz wäre an der weitflaf-
fenden Preisſchere ſchuld. Könne die
Induſtrie heute ihre Fertig⸗Erzeugniſſe
zu immer noch 13— 15 % über den Vor⸗
kriegspreiſen verkaufen, ſo liege das
Einkommen des deutſchen Landwirts, in
Mark gerechnet, faſt um 20% unter den
Vorkriegspreiſen, ja in Schlachtvieh⸗
preiſen ſogar 43 % tiefer. In der Ge⸗
ſamtheit erleide die deutſche Landwirt-
ſchaft, verglichen mit den Vorkriegs⸗
preiſen, einen Einnahme⸗Ausfall von 3
bis 3,5 Milliarden Reichsmark jährlich.
Erhebliches Auffehen hat der ſehr
durchſichtige Angriff auf die deutſchen
Getreidepreife, hinter dem der deutſche
Weizenverband ſteht, hervorgerufen. In
der „Täglichen Rundſchau“ vom
19. Januar veröffentlicht der Geſchäfts⸗
führer des vorgenannten Verbandes,
Wolfgang Eſſen, einen Artikel unter der
Aberſchrift „Neuer Ausbruch der Ge⸗
treidekriſe — Millionen⸗Vorräte in
Händen der Landwirtſchaft — Unter-
gang am Überfluß?“ Eſſen verſucht hier
an Hand der Vorratserhebung der
Preisberichtsſtelle beim Deutſchen Land⸗
wirtſchaftsrat nachzuweiſen, daß in die⸗
fem Jahre 3,7 Millionen Tonnen Ge-
treide⸗Mehrbeſtände gegenüber dem
Vorjahr vorhanden ſeien. Mit ziem⸗
618
licher Sicherheit fet anzunehmen, daß
am Schluß eines Jahres weſentliche
Aberſchüſſe von mindeſtens 2 Millionen
Tonnen vorhanden ſein werden. Dieſe
Behauptungen wurden zugleich mit der
verſteckten Mahnung verbunden, jetzt
möglichſt ſofort noch alles verfügbare
Getreide zu verkaufen. — Die „NS.
Landpoſt“, Folge 5 vom 29. Januar,
enthält eine ſcharfe Entgegnung auf
dieſen Artikel unter der Aberſchriſt:
„Was geht hinter dem Getreidemarkt
vor?“ Es ſei offenſichtlich, daß der
Weizen ⸗ Verband mit diefer Veröffent ⸗
lichung verſuche, den Getreidemarkt in
die Hand zu bekommen. Die „Tägliche
Rundſchau“ jedoch hätte dieſe ſenſatio⸗
nelle Veröffentlichung nur gebracht, um
Herrn von Braun zum Sündenbock für
die Fehler des Reichskanzlers v. Schlei ⸗
cher zu machen. Es ginge aber auf kei⸗
nen Fall, daß man den Reichskanzler
von der Verantwortung für eine zum
Zuſammenbruch treibende Agrarpolitik
freiſchreibe. — Der Deut ſche Land⸗
wirtſchaftsrat nimmt ebenfalls
zu dem Artikel Eſſens Stellung und
ſchreibt in ſeinem . Nr. 22
vom 19. Januar u. „Die Außerun⸗
gen der erwähnten Stelen, die augen-
ſcheinlich einem Sonderintereſſe einzel-
ner Kreiſe Rechnung tragen ſollen, ſind
deshalb aufs ſchärfſte zu verurteilen.
Dies gilt um fo mehr, als fie obendrein
von einer völlig falſchen Beurteilung
der wahren Marktlage ausgehen. Als
Geſamtergebnis der von unverantwort-
lichen Gerüchtemachern als fo fataftro-
phal bezeichneten Marktlage ſtellt fi
ſomit heraus, daß rd. 350 000 Tonnen
Hafer zuviel vorhanden ſind. Es kann
jedoch keinem Zweifel unterliegen, daß
dieſer Lage am Hafermarkt in der Ent-
wicklung der Preiſe zu ihrem derzei⸗
tigen Tiefſtand bereits in weiteſtgehen⸗
dem Maße Rechnung getragen iſt und
daß dieſe Menge außerdem ohne weite-
res als Vorrat mit in das neue Jahr
übernommen werden kann.“ — Auch die
„Deutſche Tageszeitung“ ver-
öffentlicht in ihrer Nr. 19 vom 19. Jan.
eine Entgegnung. Sie weiſt darauf hin,
daß der Weizenverband aus egoiſtiſchen
Gründen eine Panikſtimmung auf dem
Das Archiv
Getreidemarkt erzeugen wolle. Abſchlie⸗
ßend ſchreibt ſie: „Man könne wohl
über Ziele in der Getreidepolitik ftrei-
ten, aber ſolle ſich doch heute um alles
in der Welt davor hüten, ſeine Forde⸗
rungen durch eine Schwarzmalerei zu
begründen, die ſogar die Marktmeinung
der gewerbsmäßigen Baiſſiers noch
weit übertrifft! Eins aber wollen wir
noch einmal klar herausſtellen: Mit den
bisherigen Methoden wird die amtliche
Getreidepolitik ihre Aufgaben nicht er⸗
füllen können; man muß ſchleunigſt an
die Verwirklichung der oben ſkizzierten
Forderungen herangehen. Die Land-
wirtſchaft ſelbſt wird ſich jedoch den
ſchlechteſten Dienſt erweiſen, wenn ſie
ohne Kritik Kataſtrophenparolen — und
mögen ſie kommen, von wem ſie wollen
— einen Einfluß auf Tig Wirtſchaſts⸗
dispofitionen gewährt!“
Die von Reichskanzler v. Schleicher
noch kurz vor feinem Rücktritt ver-
öffentlichte Verordnung über Zollände-
rung und Vollſtreckungsſchutz hat eine
denkbar ungünſtige Preſſe gefunden.
Sowohl die landwirtſchaftsfeindlichen,
wie die landwirtſchaftsfreundlichen Sei-
tungen fritifieren ſcharf die Maßnah-
men. Die „Deutſche Tageszei⸗
tung“ ſpricht in Nr. vom 24. San. von
einer „Zollerhöhung mit Zeitzünder“. —
Der Zeitungsdienſt des Reichs-
land bundes Nr. 5 vom 25. Januar
geht ſpeziell auf die einzelnen Punkte
der Verordnungen ein. Zum Schluß
wird folgende Bilanz gezogen: „Viel
Lärm — wenig Pofitives.“
Auf bevölkerungspolitiſchem Gebiet
möchte ich auf zwei ſehr wertvolle Gei-
träge hinweiſen. In der „NS.⸗Land⸗
poſt“, Folge 6 vom 5. Februar, ver-
öffentlicht Walter zur Angnad einen
Artikel „Der Bauer und die Großſtadt“.
Er ſchildert hier, wie noch vor hundert
Jahren die Städte durchaus organiſch
gegliedert und die Stadtbevölkerung
bodenſtändig geweſen ſei. Jetzt hätten
wir etwa 50 Großſtädte mit ca. 20 Mil-
lionen Einwohnern, die heute hilflos
dem Antergang nahe ſeien, denn die
Bevölkerung ſei dem Lande und Leben
entfremdet und finde deshalb keinen
Ausweg aus der Kriſe. Der Bauer
Neues Schrifttum
müſſe nun verhindern, daß die Groß⸗
ſtädte weiter zunehmen. Das könne
leicht dadurch geſchehen, daß vom Lande
niemand mehr in die Stadt ziehe. Wei⸗
ter müſſe es verhindert werden, daß die
Verwaltungen aus den Landſtädten
nach den Großſtädten verlegt würden.
Die arbeitswillige Großſtadtjugend
müſſe umgeſchult werden, um ſo das
gute Blut, welches noch in der Groß⸗
ſtadt vorhanden iſt, wieder auf das
Land zurückzuführen. Angnad ſchließt
mit einer Mahnung, den Bauern⸗
ſproſſen Adolf Hitler in ſeinem Kampf
zu unterſtützen. Wir müßten ſtets
ſeiner Worte eingedenk ſein: „Das
Dritte Reich wird entweder ein Bau⸗
ernreich ſein oder untergehen, wie die
Reiche der Hohenſtaufen und Hohen⸗
zollern!“ — Eine Ergänzung zu dieſem
Artikel ift die Arbeit, die im Februar-
Heft der Monatsſchrift „Der Bau⸗
ernſtand“ aus der Feder von Dr.
Burgdörfer unter dem Titel „Das
Stadt- Land ⸗Problem“ veröffentlicht
worden iſt. Burgdörfer geht hier eben-
falls auf die Entvölkerung der Groß⸗
ftädte näher ein. Mit vielem ſtatiſtiſchen
Material, das ihm als Direktor des
Statiſtiſchen Reichsamtes zur Ver⸗
fügung ſteht, zeigt er, wie die Entwid-
lung auf bevölkerungspolitiſchem Ge⸗
biet augenblicklich vor ſich geht. Er führt
drei Fälle der vermeintlichen Entwick⸗
lung aus.
Fall 1: Bevölkerungsentwicklung bei
völliger Anterbindung der Wanderun⸗
gen.
619
Fall 2: Bevölkerungsentwicklungen
bei Fortdauer der bisherigen Wan-
derungsintenſität und Richtung.
Fall 3: Bevölkerungsentwicklung bei
einer auf ein Drittel reduzierten Zin-
nen wanderung.
Wie die Entwicklung nun tatſächlich
in der Zukunft vor ſich gehe, könne man
nicht wiſſen. Auf alle Fälle müſſe es
vom biologiſchen Standpunkt aus als
eine volfs- und ſtaatspolitiſche Aufgabe
erſten Ranges gelten, dieſe noch relativ
geſunde Fortpflanzungs⸗Grundlage un-
ſeres Landvolkes im Intereſſe des Ge⸗
ſamtvolkes zu erhalten und nach Kräf⸗
ten zu ſtärken. Möglichſte Feſthaltung
und Seßhaftmachung des ländlichen
Nachwuchſes auf dem Lande, auf der
heimiſchen Scholle ſei darum ein Ziel,
das im Hinblick auf den Geburten-
ſchwund und die Aberalterung des
Volkskörpers heute dringlicher denn je
erſcheint.
Sum Schluß möchten wir noch auf
den Artikel von Prof. Dr. Ludwig
Pesl- Würzburg in der Monats-
ſchrift „Das Grundeigentum“
vom 4. Oktober 1932 unter dem Titel
„Boden⸗ Sozialismus“ hinweiſen. Pest
unterzieht hier die Bodenreform⸗Be⸗
wegung Damaſchkes einer gründlichen
Kritik und weiſt nachdrücklichſt darauf
hin, daß die NSDAP (Pesl begrün-
det dieſe Behauptung durch Zitierung
von Schriften R. Walther Darrés)
Damaſchke ablehnt.
Roland Schulze.
Neues Schrifttum
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derh. 67. 15.—, Vorb. 13.50.
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Manz 1933. XV. 188 S., 1 Taf. 2.85.
Anſchriften verzeichnis der Mitarbeiter der Monatsſchrift
„Deutſche Agrarpolitik“, Heft Februar 1933
Herbert Backe, Domäne Hornſen, Poſt Alfeld (Leine⸗Land)
Minifterpräfident Walter Granzow, Severin, Poſt Baumbühl, Meckl.
Kurt Fachmann, Berlin-Steglitz, Albrechtſtraße 88
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Min u 5 oe der OS nteecthen Sofbuhöru
n Inhalt: Dr. Hermann Reif le,
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Inhaltsverzeichnis
Seite
Nachruf: Leopold Plaichingeegkx᷑;) 623
Hans F. K. Günther / Volk und Staat gegenüber Vererbung
und Aus leꝶdeeeeeeeeeeeeeeeeeeeee 624
Heinz Konrad Haushofer / Lorenz von Stein 642
Otto Jüngſt / Die „Oſthilfe“ am Scheideweg 649
Edmund Schmid / Letzte deutſche Koloniſationsarbeit in Rußland 666
Erich Netſchert / Auf dem Wege zum Monopoll?ʒ . . 676
Hermann Polzer / Flüſſiges Obſt — eine Lebensfrage für den
deutſchen Obſt⸗ und WeinbaMQü nns 689
Karl Scheda / Guſtav Ruhlands Leitſätze für Mittelſtandspolitik 698
Das Archrt “ns 705
Umſchlagbild: Bauer von der Rauhen Alb
Phot. Erna Lendvai-Dirckſen, Berlin
Jedes Heft RM. 1.50 . DPierteljährlih 3 Hefte RM. 3.60
zuzüglich Beſtellgeld. Beſtellungen durch den Verlag oder bei ſeder Poſtanſtalt.
Poſtvertrieb ab Detmold
DeuticheAgrarpolitif
Monatsſchriſt für Deutiches Bauerntum
Sanptichriftleitung Dr. Hermamfeeilchle
7 AAA DENE HE OB EL I 2 PLIST ite EGP EAP FEN
„Beitgefchichte" Verlag und Vertriebs⸗Geſellſchaft m. b. H., Berlin 015
meinekeſtraße 20 |
Heft 9 | März 1933
Leopold Plaichinger 7
Wie vollziehen die ſchmerzliche Pflicht, den Tod unferes ftändigen
Mitarbeiters Leopold Plaichinger mitzuteilen. Als wir im Frühſommer
vorigen Jahres die Herausgabe diefer Monatsſchriſt vorbereiteten, war
es erſt kurze Zeit her, daß er in engere Zufammenarbeit mit uns
getreten war, und anfänglich war ihm, der aus nichtlandwirtfchaftlichen
und nichtbäuerlichen Kreiſen Öfterreihs ſtammte, unſer denken und
Wollen noch etwas fremd. Mit der ihm eigenen Einfühlungsgabe hatte
er jedoch ſehr raſch das Befondere unſerer Arbeitsrichtung erfaßt, und
nun war es bewundernswert zu ſehen, mit welcher Hingabe, Energie
und nimmermüdem Fleiß er ſich einarbeitete. Er übernahm im beſon⸗
deren die Schulung unſeres Mitarbeiterftabes auf außenpolitifchem Ge⸗
biet, und wenn unfere Zeitfchrift in kurzer Zeit einen überraſchenden
Anklang fand, fo ift dies in erſter Linie mit auf die in Inhalt und Stil
gleich wundervollen Arbeiten Plaichingers zurückzuführen. Noch auf
ſeinem mehrmonatigen Krankenlager gehörte ſeine ganze Liebe und un⸗
ermüdliche Tätigkeit diefer Zeitſchrift, der er, der von diefen Dingen
wirklich etwas verftand, von Anfang an einen großen Erfolg vorausſagte.
Die erſchütternde Todesnachricht traf uns unerwartet. Leopold Plais
inger war uns nicht nur engſter Mitarbeiter, fondern Freund und
Mitkämpfer geworden.
Wie ſtehen in tiefer Trauer an dem Grabe diefes unerſetzlichen
Mannes. gez. R. Walther Darré
gez. hermann Reiſchle
Hans F. K. Günther:
Volt und Staat gegenüber Vererbung und Auslefe
Die Tatſache der Vererbung, d. h. die Tatſache, daß Vorfahrenanlagen auf
Nachkommen übertragen werden, ift wohl niemals geleugnet worden. Die Vee
deutung dieſer Tatſache für Volk und Staat iſt in früheren Zeiten ſogar oft
betont worden. In der Jahrtauſende alten Tierzucht iſt der Menſch immer
ausgegangen von der Vorſtellung, welche Macht die Vererbung bedeute und
daß ſich eine Hochzucht nur erreichen laſſe durch Sonderung der tüchtigen von
den weniger tüchtigen Tieren, durch Einſchränkung der Fortpflanzung allein
auf die Beſten der betreffenden Art. Je weiter wir in der Geſchichte der Völker
indogermaniſcher Sprache zurückgehen, deſto mehr finden wir eine überlieferte
Achtſamkeit auf Vererbung, auf Siebung und Ausleſe auch beim Menſchen
ſelbſt, nicht nur bei deſſen Haustieren; deſto mehr ſtoßen wir auf die Aberzeu⸗
gung von einer durans originis vis (Tacitus, Agricola 11), auf die Gewiß⸗
heit, daß Herkunft entſcheide.
Die Überzeugung von der Macht der Vererbung mag geſchwächt worden
ſein durch das Eindringen der chriſtlichen Gedankenwelt mit ihrer Betonung
einer Zwieſpältigkeit von Leib und Seele, von Geiſt und Fleiſch. Wo das
Indogermanentum mehr oder minder bewußt betont eine Leib⸗Seele⸗Einheit
empfand, da haben morgenländiſche Glaubensformen gerne Leib von Seele,
Fleiſch von Geiſt unterſcheiden und trennen gelehrt. Da nun aber die leib⸗
lichen Grundlagen der Vererbung ſozuſagen den finnfälligeren, deutlicheren
Teil der Vererbungserſcheinung ausmachen, da zur Beachtung der Ver⸗
erbung ſeeliſcher Züge im allgemeinen ein größerer Scharffinn gehört, ein fei⸗
neres ſeelenkundliches Verſtändnis, ſo konnte leicht die volksläufige Meinung
aufkommen, als ob ſich die Vererbung im weſentlichen nur im Leiblichen aus⸗
wirke, nicht auch im Seeliſchen.
Das Leibliche war aber durch morgenländifch-hriftliches Denken nunmehr
entwertet, als etwas Minderwertiges hingeſtellt gegenüber dem Geiſtig ⸗See⸗
liſchen. Auf dieſe Weiſe wurde für das allgemeine Bewußtſein die Vererbung
ſelbſt zu etwas, was gleichſam nur niedrigeren Lebensbereichen angehöre und
worüber „der Geiſt“ hinwegſehen dürfe.
Solche Anſchauungen ſtehen heute noch dem Vordringen der Erbgeſundheits⸗
forſchung entgegen und zwar beim ſog. Gebildeten mehr als beim gemeinen
Manne oder gar beim Bauern. Den Forderungen der Erbgefundheitslehre
Volk und Staat gegenüber Vererbung und Auslese 625
(Eugenik, Naſſenhygiene) wird von unkundigen Gebildeten gerne entgegen⸗
gehalten, es komme für ein Volk doch nicht auf ſtärkere Knochen und dickere
Muskeln an oder auf Geſundheit des Leibes allein. Demgegenüber muß von
vornherein betont werden, daß eine Erbgeſundheitslehre als Wiſſenſchaft mit
völkiſcher Zielſetzung die Steigerung des Menſchen ſchlechthin will, und zwar
des Menſchen, der — mindeſtens gegenüber der Erblichkeitslehre — eine leib⸗
ſeeliſche Einheit darſtellt. Worauf es alſo ankommt, das iſt die Aufſtellung
eines Ausleſevorbildes vor unſerem Volke: der leiblich und ſeeliſch
erbtüchtige Menſch deutſcher Prägung. Auch im Lebensgeſetzlichen, im Violo-
giſchen, gilt, daß ein Volk ſich auf ſeiner Höhe halten oder eine Höhe nur er⸗
klimmen kann, wenn es eine Spannung in ſich empfindet zu einem ertüch⸗
tigenden leib⸗ſeeliſchen Vorbilde hin.
Was ich hier Ausleſevorbild genannt habe, iſt das, was die Tierzüchter ein
Zuchtziel nennen. Wir dürfen uns nicht ſcheuen, die für viele Gebildeten un⸗
ſerer Tage unangenehm klingende Tatſache auszuſprechen, daß für den Men
ſchen grundſätzlich die gleichen Lebensgeſetze gelten wie für das Tier. Es iſt
eine weitere Auswirkung der mittelalterlich⸗kirchlichen Trennung von Leib und
Seele, von Fleiſch und Geiſt, wenn heute gerade manche Gebildeten der Erb⸗
geſundheitslehre gegenüber verächtlich von „Geſtüt“ oder „Viehzucht“ oder
„Hundezucht“ ufw. ſprechen. Mir hat es nie einleuchten wollen, daß das Tier
etwas fo Riedriges fein folle, daß man den Menſchen in keiner Weiſe mehr
mit ihm vergleichen dürfe. Der Erbgeſundheitslehre muß daran gelegen ſein,
daß in unſerem Volke wieder eine Würde alles Lebendigen erkannt
werde, denn nur durch ein gewiſſes Erfaſſen der großen Geſetze, denen alles
Lebendige unterworfen iſt, nur hierdurch wird eine Bildung, eine Geſittung
(Kultur), geſchaffen werden können, die ſich darin ausdrücken, daß ſie nach den
Mitteln zu einer erblichen Steigerung des Menſchen ſuchen.
Ich habe geſagt, daß die Achtſamkeit auf Vererbungserſcheinungen im Be⸗
reiche des Menſchen, wie ſie jeder Frühzeit eines Volkes indogermaniſcher
Sprache im beſonderen Maße eigen war, daß dieſe Achtſamkeit geſchwächt
worden iſt, mindeſtens geſchwächt werden konnte durch Glaubenslehren, welche
Leib und Seele zu trennen verſuchten. Es kann aber im Abendlande nur zu
einer Schwächung dieſer Aufmerkſamkeit gekommen ſein, nicht zu einer gänz⸗
lichen Verdrängung: wir können ſehen, wie das volkstümliche Denken der
abendländiſchen Völker eigentlich bis ins 19. Jahrhundert hinein durchaus mit
den Tatſachen der Erblichkeit rechnete. Auf dem Lande haben fich bis heute
mehr oder minder deutliche und finnvolle Vorſtellungen gehalten, wen man
heiraten folle, wen nicht; Vorſtellungen, die fic) mit den üblichen wirtſchaft⸗
lichen Abſichten auseinanderſetzen müſſen, die aber in Reften doch noch ſpürbar
find. Die Gebildeten in den Städten hingegen ſpüren im allgemeinen kaum
noch ein Bedürfnis, an Vererbung und Ausleſe zu denken. Wir müßten nicht
626 Hans F. K. Günther
über die Gattenwahl fo manches ſogenannten hochgebildeten Mannes den Kopf
ſchütteln, wenn heute nod mit „Bildung“ irgendeine volkstümliche Aberlie⸗
ferung über die Macht der Vererbung verbunden wäre.
Mir erſcheint der dichteriſche Stil Nietzſches im großen ganzen ebenſo über-
ſteigert wie der tonkünſtleriſche Stil feines Widerſachers Richard Wagner;
aber in dieſem Zuſammenhange möchte ich doch an einen Satz aus dem
„Sarathuftra” erinnern, der die Anachtſamkeit vieler Gebildeten gegenüber den
Fragen der Ausleſe — und d. h. beim Menſchen der Gattenwahl und Kinder⸗
zahl — treffend kennzeichnet: |
„Würdig ſchien mir diefer Mann und reif für den Sinn der Erde: aber als
ich fein Weib ſah, ſchien mir die Erde ein Haus für Anfinnige.“
Nietzſche ſcheint ſomit auch beobachtet zu haben, daß gebildete Frauen in der
Regel beſſer wählen als gebildete Männer und daß ſie in vielen Fällen eher
ledig bleiben als hinabheiraten — ich meine hier „hinab“ im Sinne der Höhe
der Erbanlagen, nicht natürlich des Beſitzes oder des erworbenen Wiſſens.
Erworbenes dient ja nur allzuoft zur Hinwegtäufchung über Angeborenes.
Das Erworbene an einem Menſchen oder in einer Familie zu erkennen
und abzugrenzen gegenüber dem Angeboren⸗Ererbten, gehört zu der⸗
jenigen Achtſamkeit auf die Tatſachen der Vererbung, die wir der Jugend
wünſchen müſſen, wenn ſie lebensgeſetzlich richtig heiraten ſoll, lebensgeſetzlich
richtiger heiraten ſoll, als dies ſeit dem 19. Jahrhundert Üblich geworden iſt.
Seit dem 19. Jahrhundert etwa hat die Allgemeine Bildung den Zuſam⸗
menhang mit dem überlieferten lebensgeſetzlichen Denken des Volkes, beſon⸗
ders des Bauern, verloren. Im 17. und 18. Jahrhundert bereiteten ſich die⸗
jenigen Gedanken vor, die zur Franzöfiſchen Revolution geführt haben: die
Gedanken der naturrechtlichen Schule, die der ſogenannten Aufklärungszeit,
dann die Gedanken, denen Nouffeau die wirkſamſte Faſſung gegeben hat. In
dieſer ganzen Gedankenwelt waren es zwei Vorſtellungen, die ſich gegen die
überlieferte, aus Erfahrungen gewonnene Betonung der ererbten Anlagen des
Menſchen richteten: der Gedanke der Gleichheit aller Menſchen und
der Gedanke einer weitgehenden Bildbarkeit aller Menſchen.
Beide Gedanken haben ſich verbunden zu den Lieblings vorſtellungen des
19. Jahrhunderts, die zu kennzeichnen find durch das Schlagwort von der
Allgemeinen Bildung, von deren Ausbreitung man ſich eine durch⸗
gehende Veredlung der Menſchheit verſprach.
Wohl gemerkt: man wollte nicht etwa die Menſchheit veredeln durch Meh⸗
rung der Erbanlagen zu beſſerer Bildbarkeit und tieferer Arteils fähigkeit, fon-
dern durch Mehrung der Bildungseinrichtungen und des übertragbaren
Wiſſensſtoffes. Man wurde dementſprechend gar nicht beforgt, als im 19. Jahre
hundert nun die durch ererbte Bildbarkeit aufgeſtiegenen Familien gerade die
kinderarmen Familien wurden, ſondern man gab ſchließlich für unterdurch⸗
Volk und Staat gegenüber Vererbung und Auslese 627
ſchnittlich Begabte viel mehr ſtaatliche Mittel aus als für Überdurchſchnittlich
Begabte — in der Meinung, daß Bildungsausbreitung und Bildungsein⸗
löffelung zur Veredelung der Menſchheit beitrügen. Wir erkennen heute immer
beſſer, daß Veredelung nur von „geborenen“ Edlen kommen kann, daß eine
Veredelung der Menſchheit — oder meiden wir die Schlagwörter und bleiben
wir bei unferem Volke — daß eine Veredelung unſeres Volkes nur durch den
Kinderreichtum der Erblich⸗Beſten aller Stände vorbereitet werden kann.
Staatliche Geldmittel, die zur Bildungseinlöffelung für Begabungsloſe und
Schwachfinnige ausgegeben werden, werden die Bildungshöhe des Volkes —
die eben auf Erbanlagen und deren Mehrung oder Minderung beruht — ſo⸗
lange ſenken, bis nicht eine geſetzliche Anfruchtbarmachung der
Schwachſinnigen durchgeführt iſt. Wenige Geſchlechterfolgen ſpäter würden
große Geldmittel, die heute zur Senkung der Bildungshöhe dienen, frei were
den, zum Beiſpiel auch für Kinderzulagen an wirtſchaftlich ſchwache Familien
mit guten Erbanlagen, d. h. an Familien, die trotz ihren guten Erbanlagen
in Not geraten find.
Der Gedanke der Gleichheit und der Gedanke der weitgehenden Bildbarkeit
aller Menſchen, beide haben dazu beigetragen, das abgeſchwächt noch vorhan⸗
dene Gefühl der Verpflichtung gegenüber den künftigen Geſchlechtern auf⸗
zulöſen, haben ferner dazu beigetragen, ein Gefühl der Spannung zu einem
völkiſchen Vorbilde vom edlen, ſchönen und tüchtigen Menſchen aufzulöſen,
alſo die Spannung zu löſen von der gegebenen Wirklichkeit zu einem anerkann⸗
ten Zielbilde hin. Der Gedanke der Gleichheit und der Bildbarkeit aller Men⸗
ſchen hat gewiß ausgleichend gewirkt; wohl auch da und dort verſöhnend
gewirkt; er hat Einzelnen wohlgetan — aber dem Ganzen geſchadet durch
die Entſpannung und Einebnung, die er gebracht hat. Jedes Volk und jeder
Staat find für ihre Erhaltung und Stärkung an das Beſtehen eines Wert⸗
gefälles gebunden: dieſen Vergleich hat einmal der Erbgeſundheitsforſcher
Willibald Hentſchel gebraucht: eine Turbine arbeitet durch das Gefälle
des Waſſers von oben nach unten; in dem ausgeglichenen Waſſerſtand eines
Flachſees bewegt ſich nicht das kleinſte Turbinenrädchen mehr. Die künſtliche
Einebnung aller Wertgefälle, die der Gleichheitsgedanke gebracht hat, hat
ſchließlich den liberaliſtiſchen Staat des 19. Jahrhunderts zu dem ſtehenden
Gewäſſer gemacht, deſſen Faulen wir heute bemerken.
Der Gleichheitsgedanke derjenigen, die dieſen Gedanken zum erſtenmal aus⸗
geſprochen haben, iſt entſprechend der beachtungswerten Gedankenſchärfe des
18. Jahrhunderts noch durchaus wirklichkeitsnahe und ſtaatsrechtlich fruchtbar:
er bedeutet nämlich bei den großen Denkern und Staatsrechtslehrern des
18. Jahrhunderts nichts weiter als Gleichheit aller Staatsbürger vor dem
Geſetz. Egalité hat bei den großen franzöſiſchen Denkern nie etwas anderes
bedeutet als dieſen ſelbſtverſtändlichen Gedanken. Bei Voltaire in ſeinem
628 Hans F. K. Günther
„Traité de métaphysique“, bei dem Baron von Holbad in feinem
„Systeme de la nature“ finden wir die Tatſache der Angleichheit, der Ver⸗
anlagungs⸗Verſchiedenheit der Menſchen, betont. Selbſt bei dem mehr ſeinen
Gefühlen und ſeinen Wünſchen als dem Verſtande folgenden Nouſſeau
finden ſich Stellen, welche die Veranlagungsungleichheit der Menſchen betrach⸗
ten. Soviel ich ſehe, findet fic der Gedanke der Gleichheit aller Menſchen —
fie ſeien von Geburt alle anlagengleich und die fpäter fich zeigenden Anter⸗
ſchiede ſeien nur durch verſchiedene Amwelt bewirkt — dieſer gänzlich durch⸗
geführte Gleichheitsgedanke findet ſich, ſoviel ich ſehe, nur bei dem kleineren
franzöſiſchen Denker Helvétius (1715— 1771) und dann bei dem Revo-
lutionspolitiker Marquis de Condorcet (1743 — 1794). Bei einzelnen
Philoſophen, wohl auch bei John Locke, beſtehen Neigungen, die Dinge ſo
zu ſehen, als ob erſt die Lebensläufe der Menſchen, die ihnen von außen zu⸗
ſtoßenden Geſchicke, den Menſchen ihr Gepräge gaben. Auffällig ift auch, daß
die „Declaration of Independence“, die Grundurkunde der Vereinigten
Staaten von Amerika vom Jahre 1776, wirklich gleich zu Beginn behauptet,
that all men are created equal, daß alle Menſchen gleich beſchaffen ſeien.
Ich vermute aber, daß die Männer von hervorragendem Wirklichkeitsſinn,
welche die nordamerikaniſche Verfaſſung geſchaffen haben, beſonders Jeffer⸗
ſon, mit dieſem „created equal“ die Ablehnung ſogenannter „angeborener“
Standesunterſchiede ausſprechen, nicht alſo eine von jeder täglichen Erfahrung
widerlegte Anlagen⸗Gleichheit aller Menſchen behaupten wollten.
Jedenfalls war es dem — bei aller Bildungsmehrung — an Gedanken-
ſchärfe nachlaſſenden und an Schlagwortmengen zunehmenden 19. Jahrhundert
vorbehalten, die Gleichheitslehre zu einem Gleichheitswahn zu ent-
wickeln, einem Gleichheitswahn, der ſchließlich ſo mächtig wurde, daß ſchon die
Erwähnung einer erblichen Ungleichheit der Menſchen als eine Rüdftändig-
keit, wenn nicht eine Verruchtheit, angeſehen wurde — als eine Entweihung
des Menſchheitsgedankens und Humanitätsgedankens. Der große Gobineau
ſtand ganz einſam, als er Mitte des 19. Jahrhunderts eine „inegalit& des
races humaines“ behauptete. Gerade die unklare Faſſung des Begriffes
„Gleichheit“ ermöglichte die breite Auswalzung dieſes Schlagwortes. Es lie⸗
fen ungeſchieden mehrere Vorſtellungen durcheinander: die Menſchen find
gleich; die Menſchen ſollen gleich fein; die Menſchen find von Veranlagung
gleich und nur ungleich geworden durch ihre verſchiedene Amwelt: durch Beſitz
oder Armut, Bildung oder Anbildung, hohe oder niedrige geſellſchaftliche
Schicht. Angeſchieden und unentſchieden blieb, ob dieſe „Gleichheit“ — eine
behauptete oder geforderte „Gleichheit“ — im Geiſtigen gelten ſolle oder im
Sittlichen, ob ſie ſich auf das Geſellſchaftliche oder das Staatlich⸗Politiſche
beziehen ſolle.
Volk und Staat gegenüber Vererbung und Auslese 629
Aber durch dieſe begriffliche Anklarheit war die Wirkung des Schlagworts
geſichert. Seine Wirkung war ſchließlich die, daß nicht nur die unbelehrten
Volksmaſſen, ſondern nahezu ſchon die ſogenannte Allgemeine Bildung —
bewußt oder unbewußt — ausgingen von der Vorſtellung, die Menſchen feien
von Natur alle gleich veranlagt, und manche ſetzten hinzu: alle gut veranlagt;
erft verſchiedene Umwelt bewirke ihre nicht abzuleugnenden Verſchiedenheiten.
Im marxiſtiſchen Sozialismus wurde dieſe Auffaſſung ein unveräußerlicher
Glaubensſatz, der ſich, beſtimmt ausgedrückt, wohl zum erſten Male bei
Proudhon finden läßt. Es gibt heute vereinzelte marxiſtiſche Sozialiſten,
die von der Tatſache der erblichen Angleichheit der Menſchen ausgegangen
find und eine Staatliche Erbgeſundheitspflege fordern. Der neulich verftorbene
bedeutende Alfred Grotjahn iſt hier zu nennen und ebenſo Karl
Valentin Müller, der erſt kürzlich wieder verſucht hat, von den (anti-
ariſtokratiſchen) Anſchauungen der Sozialdemokratie zu der (ihrem Weſen nach
ariſtokratiſchen) Erbgeſundheitslehre eine Brücke zu ſchlagen. Ich fürchte aber,
dieſe Brücke wird unbetreten bleiben, denn die Gedankenwelt des marxiſtiſchen
Sozialismus hat ſich in den Gleichheitsvorſtellungen des 19. Jahrhunderts
ebenſo feftgefabren wie der demokratiſche Liberalismus des Bürgertums. Beim
marxiſtiſchen Sozialismus kommt, wie ich angedeutet habe, hinzu, daß dieſer
bei feinen Anhängern jede Möglichkeit zu einem ariſtokratiſchen Denken erftidt
hat. Ein führender Sozialdemokrat hat von einer Erbgeſundheitspflege gerade-
zu befürchtet, ſie werde die Schaffung eines neuen Geburtsadels anbahnen.
Eine ſolche Auffaſſung läßt wohl keine Hoffnung auf ein Weiterlernen
mehr zu.
Sowohl Liberalismus wie Marxismus haben ſich im 19. Jahrhundert ver-
bunden mit damaligen als wiſſenſchaftlich und fortſchrittlich angeſehenen
lebenskundlichen Lehrmeinungen. Zu ihnen gehört vor allem der Lamarckis⸗
mus, d. h. die Lehre von der ausſchlaggebenden Bedeutung
der Amwelt. Man kann mit einiger Abertreibung ſagen, daß nahezu alles
Denken des 19. Jahrhunderts — und zwar gilt dies auch für die einander
entgegengeſetzten Anſchauungen dieſes Jahrhunderts — auf bewußten oder
unbewußten lamarckiſtiſchen Anſchauungen beruht. Nur durch den herrſchenden
Lamarckismus, durch den Glauben an eine ausſchlaggebende Macht der Am⸗
welt und an allerlei Möglichkeiten der Menſchheitsveredelung durch Am⸗
weltverbeſſerungen — mir durch dieſen Lamarckismus iſt der bekannte
Gortidrittswahn des 19. Jahrhunderts möglich geworden. Daher auch die
Anmaſſe von Vorſchlägen zur Hebung des Erziehungs- und Schulweſens, die
für das 19. Jahrhundert bezeichnend ſind und ſich bis heute fortſetzen, als ob
durch andere Verfahren andere Menſchen geſchaffen werden könnten. Auf dem
bewußten oder unbewußten Lamarckismus beruht der Bildungswahn, ja
Bildungsfimmel des deutſchen Volkes, der erſt ſeit neueſter Zeit als ein An⸗
630 Hans F. K. Günther
heil für unfer Volk durchſchaut worden ift. Zum Bildungswahn rechne ich
auch ſolche Forderungen, wie die eines pflichtmäßigen akademiſchen Bildungs⸗
ganges der Volksſchullehrer.
Die Naturwiſſenſchaft kam dem volksläufigen Lamarckismus des 19. Jahr-
hunderts zunächſt zu Hilfe; denn lamarckiſtiſches Denken ſchrankenloſer Art
ſchien vor Darwin und Galton, vor allem aber vor Mendel, noch
weithin möglich zu ſein. Der Darwinismus, d. h. die Lehre von der
ausfhlaggebenden Macht von Vererbung und Ausleſe,
konnte ſich nur langſam durchſetzen und erhielt ja eine tiefere Beſtärkung erſt
durch Mendel. Mendels Ergebniſſe aber lagen bekanntlich ein Menſchenalter
lang unerkannt und unbenutzt, bis ſie endlich im Jahre 1900 wieder entdeckt
wurden. Erſt von 1900 an haben ſich die Grundlagen ergeben, auf denen jede
Erbgeſundheitslehre ſich aufbauen muß.
Die Entſcheidung, ob zur Erklärung der Stammesgeſchichte der Organis-
men, ob für die Abſtammungslehre auch lamarckiſtiſche oder nur darwiniſtiſche
Vorſtellungen heranzuziehen ſeien, iſt noch nicht gefallen, wenn auch nicht
mehr ernſthaft beſtritten werden kann, daß für das Schickſal aller Lebeweſen
nicht die Amwelt, fondern Erbanlagen ausſchlaggebend find. Ich möchte an⸗
nehmen, daß zur Deutung der Stammesgeſchichte der Organismen beide Er⸗
klärungsweiſen heranzuziehen find, ſowohl die lamarckiſtiſche wie die dar⸗
winiſtiſche, und möchte mich darin den ſog. Altdarwiniſten anſchließen, die in
Jena durch Herrn Profeſſor Plate maßgebend vertreten find. |
Wenn ſich aber herausſtellen wird, daß für die Erklärung der Stammes⸗
geſchichte der Organismen auch lamarckiſtiſche Vorſtellungen heranzuziehen
ſeien, fo iſt der Lamarckismus mit feiner Betonung der Umwelt ficherlid nicht
am Platze, wo es gilt, nach den uns gegebenen Mitteln zu einer Veredelung
des Menſchengeſchlechtes zu ſuchen. Gibt es ſo etwas wie eine „Vererbung
erworbener Eigenſchaften“, ſo vollziehen ſich folche Vorgänge in erd⸗
geſchichtlichen Zeiträumen. Für unſere völkiſchen und ſtaatlichen Ziel⸗
ſetzungen, wenn dieſe im Bereich der uns gegebenen Möglichkeiten bleiben
wollen, können lamarckiſtiſche Vorſtellungen nicht herangezogen werden. Wir
können nichts tun, um irgend etwas vom Einzelmenſchen Erworbenes — die
durch Abung erzielte beſondere Ausbildung einer leiblichen oder geiſtigen
Fertigkeit — vererbbar zu machen. Hunderterlei Amweltverbeſſerungen werden
zwar den Einzelnen zugute kommen; eine erbliche Hebung der Geſamt⸗
heit werden ſie nicht bewirken. Für unſere Zielſetzung bleibt nur der dar⸗
winiſtiſche Weg, d. h. die Ausleſe bzw. Ausmerze: der Kinderreichtum
der Erblich-Hochwertigen aller Stände und die Kinder-
armut bzw. Kinderloſigkeit der Erblich⸗Minderwertigen
aller Stände.
Volk und Staat gegenüber Vererbung und Auslese 631
Solange die vielerlei Arten ſozialer Fürſorge nicht mit der geſetzlichen Une
fruchtbarmachung der Erblich⸗Minderwertigen verbunden werden, ſolange wird
jegliche Fürſorge gerade die Abel mehren, die fie angeblich verhüten will. Am⸗
weltverbeſſerung, foviel fie für den Einzelnen bedeuten mag, wird ohne gleich⸗
zeitige geſetzliche Anfruchtbarmachung der Erblich⸗Minderwertigen zu einer
Tortpflanzungsbeihilfe für Erbſtämme, die einen Staat ſchließlich bis zum Er⸗
liegen belaſten können. Auch ein Mehrſtimmenwahlrecht für Familienväter,
wie es neulich von einem Reichsminiſter vorgeſchlagen worden ift, ließe ſich
als finnvolle Maßnahme erft dann durchführen, wenn vorher — und zwar
eine Reihe von Jahren vorher — die geſetzliche Anfruchtbarmachung der Erb⸗
lich⸗Minderwertigen eingeführt worden wäre. Heute ſteht es ja nach entſpre⸗
chenden Anterſuchungen in Deutſchland ſo, daß die Schulkinder, die wegen
Begabungslofigkeit in Hilfsſchulen erzogen werden müſſen, die durchſchnittlich
größte Anzahl von Geſchwiſtern haben; woraus hervorgeht, mit was für Fa⸗
milienvätern heute zu rechnen ijt.
Glücklicherweiſe hat der Sozialdemokrat Grot jahn die Verbindung von
Fürſorge und Anfruchtbarmachung gefordert. Ich ſage: glücklicherweiſe, denn
noch empfindet die Mehrzahl unſerer Zeitgenoſſen — in einem liberaliſtiſch⸗
individualiſtiſchen, einzig den Einzelmenſchen betrachtenden Denken befangen
— ſolche Forderungen wie die geſetzliche Anſruchtbarmachung der erblich Min⸗
derwertigen als etwas Anerhört⸗Reaktionäres, als einen Eingriff in irgend⸗
welche Menſchenrechte. Ein Staat aber wird lernen müſſen zu unterſcheiden
zwiſchen dem „Recht zu leben und dem Recht, Leben zu geben“ (Mjöen). Ein
unbeſchränktes Menſchenrecht zu heiraten und ein unbeſchränktes Menſchen⸗
recht auf Fortpflanzung kann es in einem nach wahrer Ertüchtigung ftreben-
den Staate nicht geben.
Wit milffen uns daran erinnern, daß behördliche Eheverbote, aus altdeut-
ſchem Rechtsempfinden entſtanden, fic) noch bis in die Mitte des vorigen
Jahrhunderts hinein verfolgen laſſen. Dieſe Geſetze find für uns heute nicht
wegen ihres Inhaltes wertvoll, ſondern wegen einer ihnen zugrunde liegenden
nicht⸗individualiſtiſchen Lebensauffaſſung, die es wieder zu beleben gilt, wenn
aus Verfall ein neuer Auſſtieg werden ſoll. Eheverbote gehen heute, wo
Mittel zur Empfängnisverhütung und Anfruchtbarmachung zur Verfügung
fteben, mehr die Geſundheitspflege an, weniger die Erbgeſundheitspflege.
Gegen kinderloſe Ehen zweier Erblich⸗Minderwertiger wird der Staat nichts
einzuwenden haben. Dem Staat wird aber viel daran gelegen ſein müſſen,
in der Jugend den Sinn für eine richtige Gattenwahl zu wecken und die
Jugend ſelbſt wird in ihren Reihen dafür ſorgen müſſen,
daß künftighin das Hinabheiraten eines jungen Mädchens
oder eines jungen Mannes — ich meine das Hinabheiraten
632 Hans F. K. Günther
in eine erblich minderwertige Familie hinein — als eine
Schande gelten wird.
Nebenbei erinnern wir uns daran, daß „erblich minderwertig“ zwar in
vielen Fällen zugleich ſoviel bedeutet wie überhaupt minderwertig, auch als
Einzelmenſch minderwertig; daß „erblich minderwertig“ in vielen Fällen ſo⸗
viel bedeutet wie „geſellſchaftsfeindlich“. Unter den Erblich⸗Minderwertigen
iſt die große Zahl der „Antermenſchen“ zu finden — um ein zuerſt von Fon⸗
tane gebrauchtes Wort anzuwenden — der Antermenſchen, d. h. der werte⸗
verneinenden, gefittungs-unterwühlenden Erblich⸗Minderwertigen. Wir er⸗
innern uns andererſeits aber auch daran, daß in vielen Fällen Menſchen, die
als Einzelweſen hochwertig find, als Erbträger minderwertig fein können.
Vielleicht gilt das gerade für eine kleine Zahl unter den Höchſtbegabten ent⸗
ſprechend jenem — zuviel behauptenden — Satze Senecas: non est magnum
ingenium sine mixture dementiae. Hier gilt es eben, unterſcheiden zu lernen
zwiſchen dem Wert eines Menſchen als Einzelmenſchen und
feinem Wert als Erbträger. Der Bedeutung z. B. Kants wird nichts
abgezogen, wenn man ausſpricht, daß es für ſein Volk wahrſcheinlich beſſer
war, daß er keine Nachkommen hinterlaſſen hat, als daß er Nachkommen Hine
terlaſſen hätte. Wir werden es erleben, daß geiſtig hochſtehende Einzelmen⸗
ſchen, die aber als Erbträg er minderwertig find, die Notwendigkeit einer
gewiſſen ſtaatlichen Lenkung der Gattenwahl und einer geſetzlichen Anfrucht⸗
barmachung eher einſehen werden als die Maſſe der Halbgebildeten, der der
Individualismus und die ihm entſprechenden liberaliſtiſchen Schlagwörter
noch als eine „Weltanſchauung“ teuer ſind. Wir müſſen bedenken, daß ein
geſunder Verſtand — die Art von Verſtand, die beim Bauern eher zu finden
tft als beim halbgebildeten Städter — dazu gehört, die ererbten Angleichheiten
der Menſchen zu erkennen und anzuerkennen. Gegenüber dem Gedanken der
Gleichheit oder der Angleichheit aller Menſchen gilt ja vielfach ein Satz
Pascals: „Die Flachköpfe finden keine Verſchiedenheiten zwiſchen den
Menſchen.“ (Les gens du commun ne trouvent pas de différence entre
les hommes.)
Ich habe geſagt, das 19. Jahrhundert ſei gekennzeichnet durch ſein bewußtes
oder unbewußtes, jedenfalls in faft allen feinen geiſtigen Äußerungen ſich
regendes lamarckiſtiſches Denken, Amwelt und nicht Erbanlagen betonendes
Denken. Es iſt bedauerlich und ein immer noch fortwirkender Schaden für die
deutſche Geiſtesentwicklung und vor allem für die deutſche Staatsentwicklung,
daß diejenigen philoſophiſchen Lehren, die als „deutſcher Idealismus“ zuſam⸗
mengefaßt werden, im ganzen auch einem lamarckiſtiſchen Denken entſprechen,
wie ja leider dieſer „deutſche Idealismus“ auch gerne den Geiſt trennend ab-
gehoben hat vom minderbewerteten Leib, und wie leider dieſer „deutſche Idea⸗
lismus“ ſich gerne in Vorſtellungen einer ſehr weiten Bildbarkeit aller Men⸗
Volk und Staat gegenüber Vererbung und Auslese 633
ſchen erging. Der „deutſche Idealismus“ ift damit eher eine Art Beiftesphilo-
ſophie geblieben, als daß er ſich zu einer Lebensphiloſophie erweitert hätte.
Ich ſage dies als Philoſophiſch⸗Mindergebildeter und ohne den Anſpruch,
mich terminologiſch auszudrücken. Jedenfalls führt eine gewiſſe Lebensphilo⸗
ſophie gewiſſermaßen an der Schule des deutſchen Idealismus vorüber, von
Goethe und einigen Anſätzen der ſogenannten Naturphiloſophie der Nomantik
her über Schopenhauer zu Nietzſche und, wie manche wollen, zu Ludwig
Klages. Bei dieſen Denkern iſt ein gewiſſer Darwinismus, die Betonung des
Angeboren⸗Ererbten, zu finden und iſt eine Ahnung oder eine Gewißheit dere
jenigen Leib⸗Seele⸗Einheit zu finden, die altindogermaniſchem Denken ent⸗
ſpricht, die aber auch von der Lebensforſchung (Biologie) unſerer Tage be⸗
ſtärkt wird.
Es mag Einzelne erſtaunen, wenn ich vom 19. Jahrhundert ſage, es ſei
mehr lamarckiſtiſchen Vorſtellungen gefolgt als darwiniſtiſchen. Gerade der
„Darwinismus“ erſcheint ja vielen als ein Kennzeichen der verſchiedenen fla⸗
chen naturaliſtiſchen Maſſendenkweiſen des 19. Jahrhunderts. Dem iſt aber
nicht ſo, vielmehr was im 19. Jahrhundert als „Darwinismus“ von Freund
und Feind beſchrien wurde, iſt der kleine Ausſchnitt aus Darwins großem
Werke, die Erörterungen über den Anſchluß des Menſchen an die antropo-
morphen Affen, Erörterungen, denen ſich übrigens damals ein Huxley und
ein Haeckel viel eindringlicher gewidmet haben. Dieſer Erörterungen hat
ſich das 19. Jahrhundert begeiſtert bemächtigt, um ſie ſeinem Fortſchrittswahn
dienſtbar zu machen. Dort die Affen, hier der Menſch: für das 19. Jahrhun-
dert ein begeiſternder Fortſchritt! Vor allem aber für das 19. Jahrhundert die
Aufforderung, möglichſt ſchnell alle beſtehenden Verhältniſſe zu unterſuchen,
ob fie nicht irgendwie „fortſchrittlich“ verbeſſert werden könnten. Die Abe
ſtammungslehre, aus der bei beſonnener Betrachtung auch für das Staats-
leben große Einſichten gewonnen werden können, hat ſeltſamer Weiſe — wie
wir heute fagen müſſen — ſich im 19. Jahrhundert mit den Lehren vom demo⸗
kratiſchen Fortſchritt verbunden — ausgenommen bei einem tieferen Denker,
bei Friedrich Nietzſche, der aus ihr die ariſtokratiſchen Folgerungen
zog, die allein aus ihr gezogen werden können.
Dieſer ganze „Fortſchritt“ von einem vormenſchlichen Weſen bis zum Men⸗
ſchen iſt ja nur möglich geworden durch einen Siebungsvorgang, dem die
Natur das Menſchengeſchlecht unterworfen hat. Es find ausgeleſen worden
die tüchtigſten Vertreter ihrer Gattung, und es find ausgemerzt worden die
Antüchtigen, die zur Anpaſſung an harte Lebensbedingungen minder An⸗
gepaßten. Zur Entſtehung der Gattung Menſch hat gerade eine Reihe von
Amweltverſchlechterungen beigetragen. Noch kein dauerhaft fort⸗
wirkender Fortſchritt ijt durch „humane“ Mittel erreicht worden — das Wort
„human“ im flachen Sinne des Schlagwortes aufgefaßt. Darum hat Nietzſche
634 Hans F. K. Günther
vom Sieg der ſortſchrittlichen Demokratie die Hinabzüchtung der abendlän-
diſchen Völker erwartet, hat erwartet „die Geſamtentartung des Menſchen“,
die Züchtung des „vollkommenen Herdenmenſchen“, die Züchtung eines „zur
Sklaverei feinſt vorbereiteten Menſchenſchlages“. Nietzſche hat aus ſeiner
Kenntnis der Geſchichte und aus den damals ſich verbreitenden Abſtammungs⸗
lehren für Staat und Völker den richtigen Schluß gezogen: „Jede Erhöhung
des Typus „Menſch' war bisher das Werk einer ariſtokratiſchen Geſellſchaft
— und jo wird es immer fein.”
Aus der Abſtammungslehre, überhaupt der ganzen Lehre vom Leben, läßt
ſich für den Staat nur eine ariſtokratiſche Folgerung ziehen: die Anerken⸗
nung eines Ausleſevorbildes von erblich⸗ tüchtigen, edlen
und ſchönen Menſchen: die kalok ’agathia der Hellenen,
die Schaffung eines in Lebensführung und Gattenwahl
dem Ausleſevorbild zuſtrebenden Geburtsadels.
Das demokratiſch⸗fortſchrittliche Denken des 19. Jahrhunderts hat fi
immer wieder auf die „Wiſſenſchaftlichkeit“ feiner Lehrmeinungen berufen.
Man könnte an mehreren Beiſpielen zeigen, daß dieſe Wiſſenſchaftlichkeit
nicht tiefer gründete als etwa die ganz oberflächliche Verbindung des Tort⸗
ſchrittswahns mit der Abſtammungslehre. Nur ſo war es möglich, daß man
im 19. Jahrhundert wähnen konnte, „darwiniſtiſch“ zu denken, während man
doch der Amwelt und nicht, wie Darwin, den Erbanlagen und der Ausleſe
ausſchlaggebende Bedeutung zumaß. Otto Ammon, der bedeutende badiſche
Sozialanthropologe (1842 — 1915), hat ſchon hervorgehoben, welches Urteil
über unſere ſogenannte Bildung damit ausgeſprochen ſei, daß der deutſche
Reichstag die lange Rede Bebels über die Entwicklungslehre — oder was
Bebel darunter verſtand — angehört habe, ohne daß unter den Volksvertretern
einer imſtande geweſen wäre, Darwin ſelbſt, den richtig verſtandenen Darwin,
gegen Bebel ins Feld zu führen. In der Tat ſprechen alle Geſetze des Lebens
eine ariſtokratiſche Sprache, und darum eben haben lebenskundlich Belehrte
und völkiſch denkende Männer wie der eben genannte Otto Ammon und wie
Alexander Ville (1866-1912) ſchon vor einem Menſchenalter einen
Staat gefordert, der eine „Sozialariſtokratie“ darſtellen ſolle. (Alexander
Tille, Volksdienſt, 1893; Von Darwin bis Nietzſche, 1895; Otto Ammon,
Die Geſellſchaftsordnung und ihre natürlichen Grundlagen, 1. Auflage 1895).
Die Erneuerung des deutſchen Volkes hängt davon ab,
ob die heutige deutſche Jugend einen ſolchen ,fogial-ari-
ſtokratiſchen“ Staat wird verwirklichen können.
Die Erneuerung hängt davon ab, ob wir nach dem Zeitalter der gleich-
macheriſchen Einebnung einerſeits den Mut finden zur entſchloſſenen Be⸗
hauptung und Verwirklichung des Gedankens der Ungleichheit und anderer.
Volk und Staat gegenüber Vererbung und Auslese 635
ſeits die Demut finden zur Anerkennung einer Wertabſtufung alles Leben-
digen nach göttlichen Geſetzen.
Dazu wird die Weckung einer auf Adel gerichteten Geſinnung in unſerem
Volke nötig fein, einer auf Adel gerichteten Gefinnung, die fic) bei der Jugend
nicht nur kundtun wird in der einzelmenſchlichen Lebensführung, ſondern ſich
beſonders zu bewähren hat in den Fragen der Gattenwahl. Auch für die Er⸗
tüchtigung des deutſchen Volkes gilt, was Leonidas dem ſpartaniſchen Volke
wie ein Vermächtnis zurieſ, als er nach Thermopylai in die Schlacht zog:
„Tüchtige heiraten und Tüchtiges gebären!“ (Plutarchos, de Herod, mal.
XXXII). And beſonders der erbtüchtigen weiblichen Jugend iſt gegenüber dem
Bildungswahn unſerer Zeit zu ſagen, daß es für das deutſche Volk ſehr viel
mehr bedeutet, wenn ein erblich hochwertiges Mädchen nach entſprechender
Gattenwahl ihre Erbanlagen in einer Schar eigener Kinder wieder erſtehen
fiebt, als daß fie durch Ausbildung ihrer verſchiedenen Sonderbegabungen den
üblichen akademiſchen Weg zur Kinderloſigkeit zu Ende gehe. Ein ſpartaniſch
ftrenger Staat würde wahrſcheinlich nur diejenigen Mädchen eine akademiſche
Laufbahn einſchlagen laſſen, die zwar als Einzelmenſchen hochwertig, als Erb⸗
trägerinnen aber bedenklich wären. In allen Fällen wird eben ein auf wirkliche
Ertüchtigung bedachter Staat — und das heißt ein Staat, der nicht nur auf
Ertüchtigung der Einzelmenſchen ausgeht oder ſich gar im ſchlagwortreichen
behördlichen Sportwahn unſerer Tage verliert — eine wirkliche Ertüchtigung,
d. h. Mehrung höherwertiger Erbanlagen erſtrebender Staat, wird ſeine
Einzelmenſchen auf ihre Erbwerte hin zu erkennen und zu fieben trachten —
immer aus der Aberzeugung von der Angleichheit der Menſchen und von der
Notwendigkeit eines züchteriſch wirkenden Ausleſegedankens.
Jeder Staat iſt für ſeine Erhaltung und noch mehr für
ſeine Machtſteigerung angewieſen auf das Beſtehen einer
ziemlich breit gelagerten Schicht erblich⸗ höherwertiger
Familien. Ein Staat germaniſcher Prägung iſt auf das Beſtehen eines
Geburtsadels angewieſen, ich ſage: eines Geburtsadels, ſpreche alſo nicht von
irgendwelchem Titeladel, zumal nicht von dem Briefadel, der ſeine Titel Wil⸗
helm II. verdankt. Die erblich hochwertigen Familien aller Stände können wir
als den heimlichen Adel unſeres Volkes bezeichnen. Wir werden
nicht überſehen, daß der deutſche Titeladel immer noch — trotz den Geld-
heiraten des 19. Jahrhunderts — zum Kreiſe der erblich⸗ hochwertigen Fami⸗
lien vermutlich eine überdurchſchnittlich große Anzahl zu ſtellen hat. Wir wer⸗
den andererſeits nicht überſehen, daß infolge dauernden Aufſteigens überdurch⸗
ſchnittlich begabter und willensſtarker Familien in höhere Schichten — die
unteren Stände verhältnismäßig weniger erblich hochwertige Familien ſtellen
werden als die oberen Stände. Das hat auch der Sozialdemokrat Grotjahn
ausgeſprochen. Aber bei allen dieſen Betrachtungen kommt es nicht auf Titel,
636 Hans F. K. Günther
auf fog. alte Familien, auf Stand oder Beſitz an, ſondern allein auf Erb⸗
anlagen.
So wird der deutſche Titeladel zu dem zu ſchaffenden deutſchen Geburts⸗
adel ebenſoviel beitragen, wie er erblich hochwertige Familien zu ſtellen hat.
Aber als ein geſchloſſener Titeladelsſtand wird der Titeladel im lebensgefeg-
lich begründeten Staat keine Rolle mehr ſpielen. Das verlangt gerade der ari⸗
ſtokratiſche Gedanke, denn Adel, der nicht auf Ausleſe höherwertiger Erb⸗
anlagen beruht, iſt einfach ein Widerfinn und kann ſchließlich ein ſchlechter
Witz werden. Wenn man z. B. bei Hochzeiten oder anderen Feſtlichkeiten
fürftlicher Kreiſe die Kutſcher und Förſter der auftretenden Fürſtlichkeiten als
Menſchen ſieht, die dem Ausleſevorbilde vom tüchtigen, ſchönen und edlen
Menſchen näher ſtehen als die betr. Durchlauchten, fo iſt die witzige Veleuch⸗
tung ſchon gegeben — für denjenigen ſchon gegeben, der erkannt hat, worauf
Adel allein begründet werden kann.
Der germaniſche Adel hat wie aller indogermaniſche Adel urſprünglich eine
lebensgeſetzliche Grundlage gehabt, und Ebenburt hat in den Frühzeiten dieſer
Völker einmal ſoviel bedeutet wie gleiche Höhe der erblichen Tüchtigkeit und
gleich ſtarkes Hervortreten von Merkmalen der nordiſchen Naſſe. Später tft
jeweils aus lebensgeſetzlich ſinnvoller Ebenbüttigkeit die rein ſtändiſch begrif⸗
fene und lebensgeſetzlich finnlos werdende Ebenbürtigkeit entſtanden, und noch
ſpäter ſind jeweils die Geldheiraten mit den „Töchtern reicher Schurken“ hin⸗
zugekommen, wie Theognis aus Megara die vom Adel ſeiner Zeit geheirateten
Mädchen gern bezeichnet hat. Auf dieſe Weiſe kommen ein Volk und ein
Staat ſchließlich dahin, daß ſie wohl noch irgendwelchen Titeladel, aber keinen
zur Führung geeigneten Geburtsadel im lebensgefetzlichen Sinne mehr haben.
Als der blonde, blaudugige und — nach erhaltenen Münzbildern zu ſchließen
— ſo überwiegend nordraſſiſche Sulla aus dem patriziſchen Geſchlechte der
Cornelier die Rettung feines Staates mit den Reſten der römiſchen Nobilitas
durchführen wollte, da drängte ſich etwas um ihn von der Art eines Herren⸗
klubs, nicht aber eine geborene Führerſchicht. Für Rom war es damals ſchon
zu ſpät. |
Auf eine „geborene“, d. h. erblich beſt⸗ausgerüſtete Führerſchicht ift aber
das Beſtehen eines Staates angewieſen. Der Sozialdemokrat Grotjahn hat
geſchrieben: „Wir brauchen nicht nur Eugenik, ſondern Ariſtogenik.“ Das hat
Napoleon I. anſcheinend erkannt. Die franzöſiſche Revolution hatte ja einen
Titeladel entrechtet, der wohl noch zum Teil Geburtsadel im lebensgeſetzlichen
Sinne war. Angeborenes ſollte fortan nach den Lehren dieſer Revolution
nichts mehr gelten. Die Folge war die Herrſchaft von etwas Erworbenem
und Erwerbbarem, die Herrſchaft des Geldes, die gemeinhin noch ſchlimmer
iſt als die eines entadelten Adels, und die Herrſchaft der großſtädtiſchen
Maſſen, die gemein die ſchlimmſte iſt. Napoleon I. muß dieſe Folgen voraus⸗
Volk und Staat gegenüber Vererbung und Auslese 637
geſehen haben, als er fagte: „Die Errichtung eines volkstümlichen Adels ift
zur Aufrechterhaltung der Geſellſchaftsordnung notwendig.“
Notwendig iſt der ariſtokratiſche Gedanke überhaupt:
der Gedanke der Herrſchaft der Tüchtigſten und Edelſten.
Dieſe Seite des ariſtokratiſchen Gedankens zu fallen, find auch heute noch oder
vielleicht gerade heute — nach dem Zeitabſchnitt der liberaliſtiſchen Demo-
kratie — wieder ziemlich viele Menſchen gewillt und befähigt. Aber der ari⸗
ſtokratiſche Gedanke darf nicht beim Einzelmenſchen ſtehenbleiben; er muß
feinem Weſen nach ſich auf Vorfahren und Nachkommen erſtrecken. Indivi⸗
dualiſtiſches Denken kann niemals im vollen Sinne ariſtokratiſches Denken
werden; damit find Einwände gegen einige Sätze Nietzſches ausgeſprochen.
Der Staat kann ſich zur Bildung einer führenden Schicht nicht dem Zufall
gelegentlichen Auftauchens hochwertiger Menſchen überlaſſen, zumal ja ge⸗
legentlich durch eine günſtige Zuſammenſtellung von Erbanlagen zweier an
ſich im ganzen nicht wertvoller Familien auch einmal ein als Einzelmenſch
Wertvollerer geboren werden kann, deſſen Nachkommenſchaft jedoch mit großer
Wahrſcheinlichkeit wieder auf eine geringere Höhe guritdfinfen wird. Der
Staat iſt alſo angewieſen, einen verhältnismäßig breit und ficher gelagerten
Keimboden für höherwertige Erbanlagen zu ſchaffen: eine ziemlich breit ge⸗
lagerte Schicht hochwertiger Familien, aus denen heraus erblich⸗ hochwertige
Menſchen nicht nur als ſeltene Zufallserzeugniſſe erwartet werden können,
ſondern als kennzeichnende Sproſſen erwartet werden dürfen. Das Auffteigen
der Geſchlechter iſt von jeher durch eine förderliche Gattenwahl bedingt ge⸗
weſen. Nur haben ſich ſolche Vorgänge meiftens unbewußt vollzogen, wenig ⸗
ſtens nach Verblaſſen alter volkstümlicher lebensgeſetzlicher Weisheit. Nun
müſſen wir der Jugend die Steigerung ihrer Familie durch Gattenwahl als
bewußte Aufgabe ſtellen. Es muß den Ehrgeiz der Jugend ausmachen,
und dieſer Ehrgeiz muß ſich durch Vorbildgebung auswirken bis in die unteren
Stände hin, ſeine Familie hinaufzuſteigern oder — ſprechen wir dieſes Wort
ohne falſche Scheu aus — hinaufzuzüchten, hinaufzuzüchten, bis Kinder oder
Enkel den Anſpruch erheben können, zum Geburtsadel des deutſchen Volkes
gerechnet zu werden.
Wie viele deutſche Geſchlechter können heute mit ſtillem Stolze von ſich
ſelbſt ſagen, was Euripides (Hekabe 375 f.) fo ausgedrückt hat: „Erhab'ne
Zierde, die mit Ruhm das Leben ſchmückt, von Edlen abzuſtammen!“? —
Wir müſſen für den Anbruch eines Zeitalters kämpfen, in
dem wieder viele deutſche Geſchlechter auf edle Vorfahren
zurückblicken dürfen. Die Aufgabe lebensgeſetzlich richtiger Gattenwahl
wäre auch, wenn das Deutſche Reich wieder einmal ein Kaiſerreich wird, dem
kaiſerlichen Geſchlecht und vor allem dem kaiſerlichen Geſchlechte zu ſtellen.
Es darf kein Kaiſerhaus mehr möglich ſein, das nicht — nach Ablehnung aller
638 Hans F. K. Günther
lebensgeſetzlich ſinnlos gewordenen ftändifchen Ebengeburtsmeinungen — fi
ſelbſt ein erbgeſundheitlich und raſſiſch begründetes Hausgeſetz gegeben hat.
Eine törichte Gattenwahl muß künftighin mindeſtens ebenſo ſchänden wie eine
ſchmutzige Lebensführung, und das muß um ſo ſtärker gelten für diejenigen,
die anderen als hochgeboren erſcheinen wollen und an deren tatfächlicher .
geborenheit — eugéneia — dem Staate viel gelegen ſein muß.
Aber ich ſpreche hier vom ariſtokratiſchen Gedanken nicht als von einer
Lebensauffaſſung, die nur für eine gehobene Schicht zu gelten hätte und nur
für einzelne nach erblichem Aufſtieg ſtrebende Familien, ſondern ich denke an
nicht mehr und nicht weniger als die Erfaſſung des ganzen deut
ſchen Volkes durch den Auslefe- und Adelsgedanken. Zur
Erfaſſung eines ganzen Volkes bis hinab in feine unterſten Schichten hat aber
von jeher das Beiſpiel von oben am meiſten beigetragen, damit auch das Bei⸗
ſpiel durch die Kreiſe der akademiſchen Bildung. Wenn in dieſen Schichten
fic lebensgeſetzliches Denken als ein ariſtokratiſches Denken durchſetzt, wenn
von dieſen Schichten aus eine neue, mit lebensgeſetzlichem Sinn erfüllte Vor⸗
nehmheit als bildende, Vorbilder ſchaffende Macht ſich ausbreitet, dann
wird nach allen geſchichtlichen Erfahrungen das Beiſpiel, das oben gegeben
wird, ſich nach unten hin auswirken. Daß eine fo erfaßte Vornehmheit fich
nicht auf Erworbenes, etwa auf Beſitz und Wiſſensmenge, berufen kann, fon-
dern allein auf dem Angeborenen beruhen wird, das brauche ich jetzt nicht mehr
auszuführen. Adel wird immer im Angeborenen wurzeln; Scheinadel wird
gerne mit Erworbenem prahlen.
Nun aber zum Beſchluß unſerer Erwägungen die Fade wie kann nach
Schaffung einer neuen Führerſchicht, eines Neuadels, diefe
Schicht vor dem Ausſterben bewahrt werden? Bisher war ja
jede Geſittungsſchöpfung eines Volkes erkauft mit dem Ausſterben der zur
Geſittungsſchöpfung und erhaltung befähigten Erbſtämme. Gefittung (Kul⸗
tur) iſt ja bisher faſt immer der unheimliche Vorgang einer Verbrennung von
höherwertigen Erbanlagen geweſen. Somit wäre uns die Aufgabe geſtellt,
nach einer Gefittungsform zu ſuchen, die zugleich auf die Erhaltung oder gar
Mehrung derjenigen Familien hinwirkt, aus deren Erbgut die Schöpfer und
Träger dieſer Gefittung ſtammen. Mit diefer Aberlegung find wir bei dem
bedeutungsvollen Fragenkreiſe angelangt, den ich kennzeichnen möchte durch
den Titel eines richtunggebenden Buches, das mein Freund Darre verfaßt
hat; ich meine „Neuadel aus Blut und Boden“ (1930). Es kann für ein
Volk germaniſcher Prägung keinen Adel geben, deſſen Familien nicht im
Landbefitz wurzeln. Das Wort „Adel“ leitet fi) her von „odal“, d. h. Erbe
gut, Erbhof. Solange der Adel der Völker indogermaniſcher Sprache jeweils
geſund war, ſolange war feine Lebensauffaſſung bäuerlich. Bäuerlich dachten
die alt⸗attiſchen eugéneis, die Spartiaten, die patricii und der ganze Stand
Volk und Staat gegenüber Vererbung und Auslese 639
der Freien bei den Germanen, und ebenſo kennzeichnend war für fie alle die
Abneigung gegen alles Händleriſche und die Verachtung erwerbbaren Geld⸗
reichtums. Ein germaniſcher Staat bleibt ſolange geſund,
wie er aus dem Erbgute eines gewiſſen Adelsbauerntums
ſchöpfen kann. Ich meine hier wiederum nicht etwa einen Stand adeliger
Grundbeſitzer, ſondern den Geſamtkreis auserleſener ländlicher Familien, ob
titeladelig oder nicht.
Nur von einem ſolchen Adelsbauerntum her kann eine wirkliche Erneuerung
kommen. Daher die Pflicht für einen nach Ertüchtigung ſtrebenden Staat,
ausgeleſenen ſiedlungswilligen Familien den Erbhof zu ſchaffen, auf dem
ſie gedeihen und ſich erhalten können. Dazu gehört, daß dieſer Erbhof nach
Anerbenrecht jeweils vom Vater auf einen der Söhne übergehe. Kein
Siedlungswilliger oder Siedler ſollte aber ſtaatliche Anterſtützung erhalten,
der nicht etwa den leiblichen und ſeeliſchen Bedingungen entſpricht, die bei
der Aufnahme in die Reichswehr geſtellt werden, und ebenſo ſollten die ſtaat⸗
lichen Förderungen gebunden werden an eine richtige Gattenwahl. Der
Staat hat bisher übergenug getan zur „Züchtung des riſikoloſen Maſſen⸗
menſchen“ (Jenſen). Nun ſoll er ſeine Fürſorge beſonders den wirtſchaftlich
ſchwachen Familien mit höherwertigem Erbgute zukommen laſſen. Der Staat
muß ferner erkennen, daß alles, was er für die Städte tut, dem abſterbenden
Leben zugute kommt. Vom Land her haben ſich die abendländiſchen Völker
und Staaten aufgebaut, in den Städten zerſetzen ſie ſich und ſterben ſie aus.
Lebensgeſetzlich ſinnvoll iſt nur die Sorge für den Bau-
ernſtand.
Bismarck hat einmal bemerkt, daß das Bauerntum eigentlich allein ein
nährender Stand fei, alle anderen ſeien zehrende Stände. Dieſe Auffaſſung
könnte auch ein patriziſcher Senator der römiſchen Frühzeit ausgeſprochen
haben. Bei Betrachtung aller der koſtſpieligen ſtaatlichen und ſtädtiſchen
Anternehmungen, die dem Ausbau von Städten und gar Großſtädten dienen,
aller der ſtädtiſchen Errungenſchaften, bei deren Schilderung die großſtädtiſche
Preſſe in Wort und Bild ſo gerne verweilt, fällt mir immer wieder der Vers
eines Dichters ein: „Soviel Arbeit um ein Leichentuch!“ (v. Platen.) Es wird
ſich nie verhindern laſſen, daß in dem Verbrennungsvorgang, den wir Kultur
zu nennen gewohnt find, gerade zur Führung begabte Menſchen in den Städten
ehelos, kinderarm oder kinderlos enden werden. Gerade deshalb tut eine ſicher
gelagerte Schicht ausgeleſener ländlicher Familien auf unveräußerlichen und
unteilbaren Erbhöfen not. Mögen dann die aus dieſen ländlichen Familien
zu erwartenden „geborenen“ Führer dem ſtädtiſchen Schickſal der Kinderarmut,
Kinderloſigkeit und Eheloſigkeit auch immer wieder geopfert werden: der länd⸗
liche Keimboden iſt doch geſichert. Das Geſchlecht gedeiht weiterhin und aus
den Verbindungen ausgeleſener ländlicher Geſchlechter werden immer wieder
Agrarpolitik Heft 9, Bg. 2
640 Hans F. K. Günther
die Nachkommen ſtammen, die dem Volke Führer werden können. Ein Volk
aber braucht dieſe geborenen Führer in Zehntauſenden von wichtigen beruf⸗
lichen Stellungen und braucht ſie nicht nur in ſeinen oberen Schichten, ſondern
als Führungsbegabte innerhalb jedes einzelnen Standes. Hiermit iſt die Be⸗
deutung der Frage von „Blut und Boden“ angedeutet. Einzelheiten mag
Darrés Buch vermitteln!
Aus dem Erwähnten folgt aber, daß das Bauerntum für den völkiſchen
Staat etwas ganz anderes bedeutet als für den liberaliſtiſchen Staat. Für den
liberaliſtiſchen Stand gab es einen Bauernſtand neben anderen Ständen, und
dem kam ſoviel Einfluß zu, wie er mit ſeiner Stimmenzahl erreichen konnte.
Man ſprach gerne von der „Landwirtſchaft“, und dieſe Bezeichnung verriet,
wie Darré gezeigt hat, daß man auch den Bauernſtand einbezog in das
ſogenannte wirtſchaftliche Denken, d. h. in die ſtädtiſchen Profitabſichten, in
die „Mentalität“ der Vörſe.
Das Bauerntum iſt aber kein Stand neben anderen oder gar unterhalb
anderer, ſondern es iſt die Lebensgrundlage von Volk und Staat ſchlechthin.
Ein Volk erzeugt ſich auf dem Lande und ſtirbt aus in den Städten.
Damit iſt geſagt, daß ein weitblickender Staat germaniſcher Prägung in ſeinem
Bauerntum den erſten Stand überhaupt erblicken muß. Was ein Staat für
das Bauerntum leiſtet, das leiſtet er für ſeine Stärkung, und ein anderes
dauerhaſtes Mittel für ſeine Stärkung gibt es überhaupt nicht.
Bei dieſer Einſicht wollen wir aber nicht einer gewiſſen ſtädtiſchen Bauern⸗
romantik verfallen und wollen uns auch nicht verhehlen, daß Teile des gegen⸗
wärtigen Bauerntums und wohl auch manche ländlichen Gegenden als Keim⸗
boden für das, was ich Adelsbauerntum genannt habe, kaum noch geeignet
ſind. Wir dürfen nicht überſehen, daß durch die Abwanderung regſamerer
Menſchen in die Städte, die Abwanderung aufſtrebender, zur Führung hin⸗
ſtrebender Menſchen und Familien manche ländliche Gegend an höherwet⸗
tigem Erbgut verarmt iſt. Am ſo dringlicher iſt die Landſiedlung ausgeleſener
ſiedlungswilliger und fiedlungsfähiger Familien ländlicher und ſtädtiſcher
Herkunft, die Begründung von Erbhöfen für Erblich⸗Höherwertige, und wich⸗
tig iſt es, daß die Beſten der akademiſchen Jugend nach Möglichkeit Berufe
ergreifen, die ihnen das Leben und die Familiengründung auf dem Lande ge⸗
ſtatten. Es ſollte eine Art Hausgeſetz und Vermächtnis in den beſten Familien
aller Stände werden, dahin zu trachten, daß einmal wenigſtens für einen der
Söhne ein Familienerbhof oder erbgut begründet werden kann.
Zur Verbreitung ſolcher Anſchauungen wird es aber einer gewiſſen Am⸗
wertung vorhandener Wertungen bedürfen. Hat das 19. Jahrhundert allem
ſtädtiſchen Leben einen, wenn auch flitterhaften, Glanz verliehen, ſo müſſen
wir nunmehr dem ländlichen Leben ſeinen hohen Wert zuſprechen. Der Staat
wird das Anſehen des Landes erhöhen, die Einſchätzung der Städte ſenken
Volk und Staat gegenüber Vererbung und Auslese 641
milffen. Hierzu wäre — fpäter einmal — vielleicht ratſam: die Arbeitsdienſt⸗
pflicht der ſtädtiſchen Bevölkerung, die Heeresdienftpflicht der ländlichen Bee
völkerung — die größte Ehre kommt nach germaniſchem Empfinden dem Trä⸗
ger der Waffe zu — und ferner die Dauerbewaffnung der ſelbſtändig wirt⸗
ſchaftenden ländlichen Familienväter — nach germaniſchem Empfinden iſt nur
der Familienvater ein Vollbürger.
Ariſtokratiſches Denken kann ſich nur aus bäuerlichem
Denken erheben. Nietzſche hat durchaus recht, wenn er der Vorſtellung
von einer „Geiſtesariſtokratie“ mißtraut, dieſer Vorſtellung, die vielen unſerer
Gebildeten fo angenehm iſt: „Wo von Ariſtokraten des Geiftes’ geredet wird,
fehlt es zumeiſt nicht an Gründen, etwas zu verheimlichen; es iſt bekannter⸗
maßen ein Leibwort unter ehrgeizigen Juden. Geiſt allein nämlich adelt nicht;
vielmehr bedarf es etwas, das den Geiſt adelt. — Weſſen bedarf es dazu?
Des Geblüts“. Geblüt aber hat man nie als Einzelmenſch, ſondern immer nur
als Nachkomme einerſeits und als möglicher Ahnherr künftiger Geſchlechter
andererſeits, und für einen Staat kommt Geblüt letzten Endes und auf die
Dauer immer nur von landſtändiſchen Geſchlechtern. Ariſtokratiſches Denken
kann ſich nur aus bäuerlichem Denken erheben, und die Schafſung einer „ge⸗
borenen“ Führerſchicht iſt nur vom Lande her möglich.
Dieſe Einſicht wird für viele unter unſeren Gebildeten zu einer neuen
Faſſung ihres Begriffes „Bildung“ führen müſſen. Ans tut eine Bildung not,
die fi) ausdrückt in einer erhöhten Aufmerkſamkeit auf die Geſetze des Lebens.
Es iſt in Deutſchland immer noch ſehr viel Geiſt am Werke, leider auch ſolcher
Geiſt, der ſich erhaben fühlt über die Erſcheinungen von Vererbung und Aus.
leſe, der gerne höhniſch von „Geſtüt“ redet, wenn die Frage der Aufartung
erörtert wird. Letzten Endes iſt aber nur derjenige Geiſt wirklich fruchtbar,
der den völkiſchen Willen zur Aufartung ſtärkt, und letzten Endes verdient nur
diejenige Kultur eine Kultur, eine Wertpflege, genannt zu werden, der es
gelungen iſt, die ihr eigenen ſeeliſchen Werte in vorbildlichen
Geſchlechtern verleiblicht vor Augen zu ftellen. Wir find zum
Mißtrauen berechtigt gegenüber den verſchiedenen Glaubens- und Weisheits⸗
lehren, die „Geiſt“ und „Seele“ betonen, ja überbetonen, ohne den Weg zu
einer Verleiblichung geiſtiger und ſeeliſcher Werte anzugeben, zu einer Dar-
ſtellung dieſer Werte in menſchlichen Geſchlechtern. Von ſolchen Aberlegungen
aus erſcheint vieles als Angeiſt, was uns als Geiſt angeprieſen wird. And
von ſolchen Aberlegungen aus muß ſich für unſeren Staat auch ein Abbau des
allgemein⸗deutſchen Bildungswahnes ergeben, des Bildungswahnes und der
Aberſchulung, durch die nach einer neulich erſchienenen Schrift Hartnackes
nur der „Volkstod“ vorbereitet wird. Hartnacke iſt ja einer der wenigen lebens⸗
kundlich Geſchulten unter den Vertretern unſeres Erziehungsweſens. (Hart-
2°
642 | Heinz Konrad Haushofer
nade, Naturgrenzen geiftiger Bildung, 1930; Bildungswahn — Wolfs-
tod, 1932.)
Aber nicht nur die Bildungs einrichtungen werden zu überprüfen fein,
ſondern die Bildungs richtung ſelbſt. Noch find in dem Gemiſch unſerer
Bildung da und dort lebensfeindliche Wertungen halb oder ganz verborgen.
Zur Geſundung von Volk und Staat ift aber eine durchaus lebens
förderliche Bildung nötig.
Wie aber find die Wertungen für eine ſolche Bildung zu finden, wie zu
beſtimmen? |
Wenn wir uns nad den Werten fragen, die für eine gefunde und gefun-
dende deutſche Bildung, für eine Ertüchtigung des deutſchen Volkes, feines
Geiſtes und ſeines Staats, richtunggebend werden müſſen, ſo ergibt ſich, daß
die Lebenswerte des deutſchen Volkes abzuleſen ſind vom Daſeinsbilde
der erblich⸗tüchtigen deutſchen Sippe in ländlicher Amwelt.
Heinz Konrad Haushofer:
Torenz von Stein
Ein Vorkämpfer für ein deutſches Bodenrecht
Wer im „Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften“ nach Lorenz von Stein
ſucht, wird ſeine Lebensdaten finden und die Titel ſeiner Schriften, aber nichts,
was irgendwie die Bedeutung dieſes Mannes für die deutſche Agrarpolitik
ahnen läßt. Stein ift 1815 in Eckernförde geboren und ſtarb 1890 in Meid⸗
ling bei Wien. 1855 — 1885 arbeitete er als Profeſſor der politiſchen Okonomie
in Wien. Die Arbeit dieſer dreißig Jahre hates letzten Endes
ermöglicht, daß das agrarpolitiſche Erbe von Adam Müller
an unſere Zeit weitergereicht wurde. Was das bedeutet, geht
ſchon daraus hervor, daß Moeller van den Brucks Staatstheorie mit auf den
Grundſteinen beruht, die Adam Müller gelegt hatte. |
Der Anteil Oſterreichs an der Entwicklung der deutſchen Staatswiſſenſchaft
iſt ungemein groß. Es liegt dazu in den Verhältniſſen Oſterreichs begründet,
daß die öſterreichiſchen ſtaatswiſſenſchaftlichen Schulen in erſter Linie auf die
Agrarpolitik Gewicht legen mußten. Beſonders die ausgeſprochen bäuerliche
Agrarſtruktur der Alpenländer hat wegen ihrer Eindeutigkeit die agrarpolitiſche
Erkenntnis ſtets erleichtert, wie ich dies ſelbſt in einem Beiſpiel erfahren
— — ke =
A OF DE GE
Lorenz von Stein | 643
konnte. („Die bäuerliche Verödung in den Alpenländern“, im Landw. Jahr-
buch für Bayern, 1932.) Dieſe Eindeutigkeit Oſterreichs hat auch Zugewan-
derte ſtets in den Bann ihrer agrarpolitifchen Haltung gezwungen. Adam
Müller, der Freund von Gentz und Schlegel, war in Berlin geboren; Lorenz
von Stein, wie geſagt, in Eckernförde. Aber von den „Agronomiſchen Briefen“,
mit denen Adam Müller 1812 ſeine Agrartheorie (in Friedrich Schlegels Zeit⸗
ſchrift „Deutſches Muſeum“) hinſtellte, bis zu Othmar Spanns „Herdflamme“
geht eine logiſche Gedankenkette, deren ſtärkſtes Mittelglied eben Lorenz
von Stein iſt. Ä
Die drei wichtigen agrarpolitiſchen Schriften Steins find:
1. „Die drei Fragen des Grundbeſitzes und feiner Zukunft. Die irifche,
die continentale und die transatlantiſche Frage.“ 1881.
2. „Bauerngut und Hufenrecht. Gutachten erſtattet an die K. u. K. Mi⸗
niſterien des Ackerbaus und der Juſtiz, mit Anhang, betreffend die Er⸗
laſſung eines Agrarrechtes für das Herzogtum Salzburg.“ 1882.
3. „Die Landwirtſchaft in der Verwaltung und das Prinzip der Rechts-
bildung des Grundbeſitzes.“ 1883.
Schon dieſe drei Titel werfen ein Licht auf die Probleme, die ſich Stein
ſtellte, und die bis auf uns die gleichen und ungelöſt geblieben ſind. Während
die Titel der zweiten und dritten Schrift ſchon die Fanfare klar erkennen laſſen,
die ſie waren, iſt der Titel der erſten Schrift, des Hauptwerkes, dunkel. Er
enthält aber in gedrängteſter Kürze die Dreigliederung des geſchloſſenen agrar⸗
politiſchen Syſtems, das Stein vorträgt; es bezeichnet nämlich:
1. Die irländiſche Frage: das Problem der Agrarſtruktur.
Der völlige Untergang des freien VBauernſtandes in einer Maſſe ver⸗
‘armter Kleinpächter und die Entvölkerung des flachen Landes durch Aus⸗
wanderung hatte ſich nirgends ſo erſchütternd gezeigt wie in Irland.
Irland, urſprünglich eines der reichſten und ſchönſten Agrarländer Euro-
pas, hatte 1841: 8,2, 1845 gegen 9, 1880 kaum 5,5 Millionen Einwohner.
Die Zahl der eigentlichen Agrarbevölkerung hatte in der gleichen Zeit
um 3 Millionen oder 40 % abgenommen.
2. Die kontinentale Frage: das Problem der Auseinan-
derſetzung zwiſchen Geldkapital und Grundkapital.
Was Stein hier ſieht, zeigt er ſelbſt am gedrängteſten mit den folgenden
Stichworten an: Arſprüngliche Ausſchließung des Geldkapitals vom
Grundbeſitz. Eintreten des Geldkapitals in den Grundbeſitz. Zinspflicht
des Grundbeſitzes und arbeitsloſes Einkommen des Geldkapitals aus dem
Grundbefig. Macht des Geldkapitals, den Grundbeſitz zu beherrſchen.
Der Grundbefig wird Ware. Die Gefahr dieſer Entwicklung.
644
3.
Heinz Konrad Haushofer
Die transatlantiſche Frage: das Problem der welt-
wirtſchaftlichen Verflechtung und des Kampfes um den
Marktpreis. Niemand hat ſeinerzeit die zukünftigen Auswirkungen
des Weltverkehrs auf die Landwirtſchaft produktionstechniſch benachtei⸗
ligter Gebiete ſo deutlich geſehen wie Stein. Im Anſchluß an eine genaue
Prognoſe der ſteigenden überſeeiſchen Getreideeinfuhr unterſuchte z. B.
Stein damals, als die Kühltechnik in ihren erſten, wenig beachteten An⸗
fängen ſtand, die zukünftigen Gefahren der Gefrierfleiſcheinfuhr mit einem
erſtaunlichen Weitblick. Zum erſtenmal bezeichnet hier ein deutſcher
Agrarpolitiker den „Kampf um den Marktpreis“, d. h. die Abwehr des
überſeeiſchen Druckes und die Ordnung der innereuropäiſchen Handels-
beziehungen, als eine gemeinſame europäiſche Aufgabe.
Das ſind die drei „Fragen“, um die Stein ſein Syſtem einer deutſchen
Agrarpolitik mit einem ungeheuren Gedankenreichtum aufbaut. Aber wo ſtand
Stein ſelbſt? Er zitiert am Schluß ſeines Hauptwerkes (alſo mit dem ganzen
Gewicht, das einem Zitat an ſolcher Stelle zukommt) Turgenieff aus
deſſen Roman „Neue Generation“, und zwar ein Zwiegeſpräch über die Bau⸗
ernbefreiung und die Mobiliſierung des Bodens. Wir wiſſen heute, daß es
kein Zufall war, daß Lorenz von Stein hier den Ruſſen Turgenieff zitiert,
um im Anſchluß daran den Grundgedanken ſeines Werkes zu formulieren. Mit
einem ungeheuren Fingerſpitzengefühl für kommende Entwicklungen hatte Stein
den Kernpunkt auch unſerer heutigen Probleme vorweggenommen, wenn er
auf der letzten Seite, Seite 305, ſchreibt:
„Nur eines iſt neu in dieſem kühlen Nihilismus, und das iſt es, weshalb
der Nihilismus der Gefittung des heutigen Europas furchtbar ernſt er-
ſcheint. Wir fangen an zu fühlen, daß das Geldkapital keine
dauernde Widerſtandskraft gegen die ſoziale Amwäl⸗
zung beſitzt, und daß wir doch die einzig erhaltende ſoziale Kraft,
den Grundbeſitz, durch dasſelbe Geldkapital unter unſeren Füßen ſich zer⸗
bröckeln ſehen. In der großen Frage der Zukunft iſt daher die Frage nach
der Zukunft des Grundbeſitzes ſelbſt wieder nur ein, wenn auch entſchei⸗
dender Moment. Was foll werden, wenn das Geldkapital (mit ſeinem,
gegen den Ertrag ſeiner Darlehen abſolut gleichgültigen Recht auf ſeinen
Zins) von denen erſchüttert wird, welche ihm im Namen des Privatrechts
unbedingt zinspflichtig find, und nun auch der Grundbeſitz durch dasſelbe
Geldkapital die Fähigkeit verliert, ſeine große ſoziale Funktion zu er⸗
füllen? Das iſt das Anbehagen Europas gegenüber jener
Erſcheinung, welche beide Arten des Kapitals zugleich
negiert.“
Lorenz von Stein | 645
Aus diefer Außerung fieht man die außerordentliche Klarheit, mit der Stein
aus den noch ſpärlichen Anhaltspunkten feiner Zeit die Zukunft erſchloß. Zu⸗
gleich offenbart ſich die Aufgabe der Agrarpolitik als Wiſſenſchaft: die Pro-
gnoſe und das Aufſtellen von Leitlinien für bevorſtehende praktiſche agrar⸗
politiſche Arbeit. Weiterhin wird beſtätigt, daß es durchaus möglich iſt, Jahr⸗
zehnte vorauszudenken — und was liegt doch alles in den vergangenen Jahr⸗
zehnten, ſeit Stein dieſe Sätze niederſchrieb!
Stein war im beſten Sinn des Begriffes objektiv. Er kannte die hiſtoriſche
Bedeutung des Kapitals, der volkswirtſchaftlichen und weltwirtſchaftlichen
Arbeitsteilung durchaus. Er begriff die Wirtſchaftsgeſchichte als einen un⸗
zerlegbaren organiſchen Prozeß und hütete ſich vor dem weitverbreiteten Denk⸗
fehler, eine nach dem Tagesbedarf beliebig herausgegriffene Epoche abzulehnen.
Man kann ihn durchaus nicht „antikapitaliſtiſch“ nennen, und er wußte, da ß
der Landwirt, der mit fremdem Kapital „ kapitaliſtiſch“
arbeitet, auch den Geſetzen dieſes Kapitals unterſtehen
muß. Stein hätte den Gedanken grundſätzlich abgelehnt, als Landwirt
Fremdkapital zuerſt zum Zwecke einer Verbeſſerung der Rente oder einer Ver⸗
größerung des Gefiges, alſo auf privatwirtſchaftlich kalkulierter Baſis einzu⸗
ſetzen, dann aber die Zinszahlung unter Berufung auf den beſonderen Cha⸗
rakter des Grundeigentums abzulehnen. Aber Stein dachte in erfter Linie für
den Bauern:
„Jene dauernde Verbindung des Beſitzers mit feinem Eigen; jene Er⸗
füllung des tüchtigen Mannes mit den erſten Aufgaben ſeiner neu wieder⸗
kehrenden alten Arbeit; jenes Genügen für das, was er fordern konnte,
mit dem, was durch ſeinen Beſitz ihm dauernd geſichert ward, wenn er
verſtand, Maß zu halten; das ergänzte innerhalb der Gemeinſchaft, was
als das höchſte, aber ſchwer erreichbare Ziel aller öffentlichen Zuſtände
von jeher von jedem Staatsmanne erſehen ward: ein feſter und lei⸗
ſtungsfähiger Stamm im Volk, der mit ſeiner Stellung
zufrieden war. Mit dem entſtandenen Eigentum am Grundbeſitz
ſchied ſich das erhaltene Prinzip in der Gemeinſchaft vom beweglichen.
And, weil das nicht auf der wechſelnden Perſönlichkeit, ſondern auf der
dauernden organiſchen Gewalt des Eigentums beruht, ward dem Gefamt⸗
leben Europas erſt dieſer organiſche Faktor gewonnen und wird ſolange
bleiben, als das Eigen bleibt. Darum aber iſt die Erhaltung des bäuer⸗
lichen Beſitzes eine Sache, die hoch über bloß nationalökonomiſchen For⸗
derungen ſteht; was jenen gefährdet, gefährdet ein unſchätzbares Gut in
feiner Gefittung!” (S. 48.)
Wenn Stein ſich darüber klar war, daß die europäifche ziviliſatoriſche Ent⸗
wicklung ſeit der Renaiſſance nicht rückgängig zu machen war, wenn er wußte,
646 Heinz Konrad Haushofer
daß dem Anteil des Bauern am modernen Kapitalismus zuliebe diefer ohne
eine völlige ſoziale Amwälzung nicht grundſätzlich zu ändern war, ſo ſah er
nur einen gangbaren Ausweg: Dem Bauern ſollte eine Ausnahme
ſtellung geſchaffen werden, und eine ſolche fah er in einem
deutſchen Agrarrecht. Der Vauer ſollte grundſätzlich aus dem „Kampf
der eigentumslofen Arbeit mit dem arbeitsloſen Eigentum“ herausgehalten
werden, d. h. er ſollte davor bewahrt werden, ſich mit Kapitalismus oder
Sozialismus zu identifizieren. Der Herausarbeitung dieſer Sonderſtellung des
Bauern widmete Stein einen langen Abſchnitt: „Die Geſchichte des Grund⸗
beſitzes und ſeines Rechts bei den germaniſchen Völkern bis zur Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts“, eine der geiſtreichſten Durchleuchtungen der Agrar⸗
geſchichte, die mir bekannt iſt. Hier ſtehen Sätze wie die folgenden:
„Es ſteht feſt und gerade der Grundbeſitz und feine Geſchichte beweiſen
es, daß es niemals zwiſchen Kapital und Arbeit, ſondern, daß es ewig
nur zwiſchen dem arbeitsloſen Kapital und der kapital⸗
los gewordenen Arbeit jenen tiefen, noch auf keinem Punkte aus-
getragenen Gegenſatz gibt, den wir die ſoziale Frage nennen.“ (S. 103.)
And dann in Beantwortung der Frage: „Gibt es noch ein anderes Recht
als das bürgerliche?“:
„Die römiſche Jurisprudenz iſt, nicht etwa weil die Romaniften perſön⸗
lich ſo borniert wären, ſondern vermöge ihres eigenſten Prinzips gänzlich
unfähig den Gedanken zu faſſen, daß es in dem Weſen des
Grund beſitzes an und für ſich etwas gibt, was jene ab-
ſolute Souveränität des juriſtiſchen Eigentums und
Vertrages nicht auf allen Punkten zuläßt.“ (S. 110.)
Das Ergebnis der Entwicklung faßt er in dem einen lapidaren Satz zu⸗
ſammen, der ſeinem Stil nach bei Tacitus ſtehen könnte:
„Die Freiheit des Eigentums hat durch die abſolute
Herrſchaft feiner Kapitalsqualität die Freiheit des
kleinen Beſitzes vernichtet.“ (Seite 121.)
Lorenz von Stein ließ es bei der theoretiſchen Erfaſſung dieſer Entwicklung
nicht bewenden. Er ſah ſeine — und unſere — Aufgabe in der agrarpolitiſchen
Praxis nicht ſo ſehr darin, in die augenblickliche Lage verändernd und wo⸗
möglich zerſtörend einzugreifen, ſondern darin, durch die Geſetzgebung für die
zukünftige Entwicklung vorzubauen. Er wußte, daß dies nur ganz kon⸗
kret durch ein Agrarrecht, niemals allgemein möglich iſt:
„Eine landwirtſchaftliche Verwaltung in höherem Sinn iſt ohne einen
mittleren Beſitz nicht möglich und iſt durch gar keine, auch noch
fo freie Verfaſfung zu erſetzen. Jede wahre, ihrer Idee ent⸗
Lorenz von Stein | 647
ſprechende landwirtſchaftliche Verwaltung muß den mittleren Beſitz ent⸗
weder in ſein Recht einſetzen, oder ihn, wo er nicht vorhanden iſt, durch
eine öffentlich⸗ rechtliche Ordnung möglich machen.“ (S. 137.)
Der Vorbereitung dieſes deutſchen Agrarrechtes diente das an die k. k. Mi⸗
nifterien des Ackerbaues und der Juſtiz erſtattete Gutachten: „Bauerngut und
Hufenrecht“. Stein bezieht ſich zwar auf die ähnlichen Vorgänge in Hannover
und Weſtfalen. Er hebt aber einen grundlegenden Anterſchied hervor: Im
Gegenſatz zu den dortigen Höferollen wollte Steins öſterreichiſche Schule keines⸗
wegs eine Erftarrung der geſamten Grundbefitzverhältniſſe in lauter unteil-
baren und unantaſtbaren bäuerlichen Fideikommiſſen. Denn:
„Alle, die darüber nachdenken, werden bald mit uns zu der Aberzeugung
gelangen, daß allenthalben in der ganzen Welt das ernſte Leben erſt da
beginnt, wo die lebendige Kraft in Geiſt und Hand noch etwas gewinnen
und darum auch verlieren kann.“ (S. IV.)
In ſeinen theoretiſchen Vorunterſuchungen hatte Stein es als die Aufgabe
jeder Verwaltung bezeichnet, zunächſt denjenigen Punkt zu finden, „auf wel⸗
chem die abſolute individuelle Freiheit mit den großen Geſamtbedingungen
unſerer Entwicklung in Widerſpruch tritt“. Auf dieſem Punkt müſſe die neue
Rechtsbildung gegenüber dem reinen Privatrecht ihre Aufgabe ſuchen. Die
eigentliche Frage für die Bildung eines Agrarrechtes beſtehe in der Be⸗
ſtimmung der Grenze, an welcher dieſes ſtatt des rein bürgerlichen
Eigentumsrechts einzutreten habe. Stein baut dieſen Gedanken für ſein Hufen⸗
recht logiſch aus:
„Anſere Aufgabe ſchien es zu ſein, denjenigen Punkt zu bezeichnen, auf
welchem das erhaltende Prinzip dem bewegenden die Hände reicht und
ein Anverlierbares neben dem Verlierbaren, eine feſte Geſtaltung des
mittleren Beſitzes neben der beſtändigen Bewegung innerhalb desſelben
beſtehen könne.“
Der praktiſche Grundgedanke Steins war infolgedeſſen, neben der geſchloſſe⸗
nen Hufe etwa ein Drittel von Grund und Boden dem freien Verkehr bei
Erbteilungen und für den Kredit zu überlaſſen. Sein Entwurf eines Agrar⸗
geſetzes zerfiel in vier Teile:
1. Der erſte Teil ſollte das Hufen⸗ oder Bauernbuch, d. h. die Codt-
fizierung der bäuerlichen Beſitzordnung enthalten. Anabänderlicher Grundſatz
ſollte ſein, daß das Bauerngut (abgeſehen von begründeten Ausnahmen) mit
dem Rücken beſeſſen werden muß. Das Bauerngut ſollte unteil-
bar fein, und es ſollte von keiner Schuld belaſtet werden können. Ein Drittel
des Beſitzes ſollte in Geſtalt fog. „walzender“ Grundſtücke dem freien Ver⸗
kehr überlaſſen bleiben.
648 Heinz Konrad Haushofer, Lorenz von Stein
2. Der zweite Teil follte das bäuerliche Anerbenrecht enthalten, das
ſich eng an das Hufenrecht anſchloß, d. h. dem Erbrecht wurde der Anterſchied
zwiſchen dem (gebundenen) Bauerngut und dem (walzenden) freien Verkehrs-
gut zugrunde gelegt.
3. Das dritte Hauptſtück ſollte das Schuldenweſen in der Weiſe ord-
nen, daß die Rechte der Gläubiger die Ordnung des Beſitzes und der wirt⸗
ſchaftlichen Selbſtändigkeit der Hufe nicht mehr bedrohen konnten. Stein ging
grundſätzlich davon aus, daß auch der mittlere und kleine Grundbefiß. nicht
ohne Kredit beſtehen kann und daß jeder Schutzgegen Verſchuldung
mit dem ebenſo wichtigen Kreditbedürfnis in Einklang ge⸗
bracht werden muß. Den Weg hierzu ſah er gleichfalls in der Durch⸗
führung der Trennung zwiſchen gebundenem und freiem Beſitz auch im Kredit⸗
recht. Entſchuldung durch Abverkauf z. B. bedingte nach feinem Entwurf fofor-
tigen Eintritt des ſanierten Hofs in das Hufenbuch.
4. Im letzten Abſchnitt ſollte das Geſetz das Exekutions⸗ und Pfän-
dungsrecht gleichfalls im Sinne der vorhergegangenen Hauptſtücke anpaſſen.
Das Gutachten Steins war verfaßt auf Wunſch des Landesausſchuſſes des
Herzogtums Salzburg, der in einem Bericht an den Salzburger Landtag am
19. September 1881 den Antrag ſtellte „um Anderung des Agrarrechtes und
um Erlaſſung eines bäuerlichen Sonderrechtes“. Stein hoffte, daß dieſe Ini⸗
tiative zu einer weiteren Bewegung im ganzen deutſchen Sprachgebiet führen
würde. Dieſe Hoffnung trog. Trotz dem warnenden Fanal der damaligen
Agrarkriſe war in dem Mitteleuropa der achtziger Jahre kein Platz für ein
Agrarrecht. Auch in der Lehre der Agrarpolitik auf den Kathedern ging die
Gedankenwelt Steins unter, oder friſtete ſpäter in der Geſchichte der Doktri⸗
nen ein Schattendaſein. Die Gründe ſind bekannt, die Aufrollung einer gei⸗
ſtigen Schuldfrage iſt gegenüber einer abgeſchloſſenen Epoche, wie dem Vor⸗
kriegs⸗Deutſchland, müßig und wahrſcheinlich nicht einmal gerechtfertigt.
Aus den Arbeiten Steins geht oft genug hervor, daß er das Gefühl hatte,
auf einem Poſten zu ſtehen, den er zwar nie als einen verlorenen bezeichnet
hätte, von dem er aber ahnte, daß erſt eine ſpätere Zeit deſſen zähe Verteidi⸗
gung werten würde. In feiner letzten größeren agrarpolitifchen Arbeit um⸗
grenzte er dieſe ſeine Stellung noch einmal, und zwar vor dem Kreis, der am
eheſten in der Lage war, ihn zu verſtehen: 1882 hielt er vor dem Club der
Land- und Forſtwirte in Wien den Vortragszyklus über „Die Landwirtſchaft
in der Verwaltung und das Prinzip der Rechtsbildung des Grundbeſitzes“.
Hier ſtellt er der „rein nationalökonomiſchen Auffaſſung
des Grundbeſitzes“ mit höchſtem ethiſchen Bewußtſein die
„organiſche und ſoziale Funktion des Grundbeſitzes“ gegen⸗
über. And wieder kulminiert eine glänzende und leidenſchaftliche Deduktion
in dem Appell, als Folgerung dieſer ſozialen Funktion auch ein entſprechendes
Otto Jüngst, Die ,,Osthilfe“ am Scheidewege 649
Recht zu Schaffen. Lorenz von Stein ſchließt dieſe letzte Arbeit mit der zeit-
loſen und unabdingbaren Forderung:
„Der Grundbefitz ſoll wiſſen, daß es keine ſozialen Rechte ohne ſoziale
Pflichten gibt. Das iſt das größte in der Anſchauung jenes großen Leh⸗
rers, des Ariſtoteles, bei dem Jahrhunderte unſerer Bildung dankbar
in die Schule gegangen ſind, daß er zuerſt alles Recht der Menſchen mit
der fittlihen Pflicht, dem Ethos, unzertrennlich für alle Zeiten ver-
bunden hat. And wenn wir jetzt das Recht des Grundbeſitzes erſtreben
und verwirklichen, fo wird die zweite Aufgabe uns nie er-
laſſen werden, das ſpezifiſche Ethos des Grundbeſitzes,
wie es Xenophon geahnt, zu einem dominierenden Teile
unſeres Bewußtſeins und unſerer Lehre zu machen! Auch
dieſes Ethos, dieſe Idee des Grund befitzes, hat ihre Geſchichte! Laſſen
Sie mich mit dem Ausdruck der Aberzeugung ſchließen, daß ſie auch ihre
Gegenwart hat!“
Hier brennt ein Richtfeuer, das für unſere Zeit ebenſo wegweiſend ift wie
für die damalige. Eine Haltung wie die Lorenz von Steins verpflichtet die
Nachfahren in Agrarpolitik und Wiſſenſchaft. Es iſt unmöglich, geiſtig mehr
zu geben, als er gegeben hat. Die äußeren Bedingungen für die Durchführung
ſeiner Gedanken mögen ſich verändern; die Aufgaben, die er aus einer ge⸗
ſchichtsphiloſophiſchen Veranlaſſung der Agrarpolitik ſah, bleiben wohl für
jede Zeit, unbeſchadet jeweiliger Löſungsverſuche, beſtehen.
Otto Jüngſt:
Die „Oſthilfe“ am Scheioͤewege)
In weiteſten Kreiſen beſteht über den Inhalt des Wortes „Oſthilfe“ große
Anklarheit. Die einen denken auf Grund alarmierender Zeitungsnachrichten
lediglich an eine Entſchuldung „verkrachter Großgrundbeſitzer“, die andern
wieder denken, daß es ſich um eine allgemeine Hilfe für bedrängte Oſtgebiete
handele. Wieder andere — und das dürfte die bei weitem größte Zahl aller
Volksgenoſſen fein — machen ſich überhaupt keine eingehenderen Gedanken
über das Weſen der Oſthilfe und haben deshalb auch keine Vorſtellung von ihr.
) Unter Hinweis auf den Aufſatz von Graf von der Goltz im Novemberheft
1932 veröffentlichen wir als weiteren Beitrag zur Ausſprache die vorliegende
Arbeit von Otto Jüngſt, der wie von der Goltz in der praktiſchen Oſthilfearbeit
ſteht. H. R.
650 Otto Jüngst
Angeſichts der Wichtigkeit der „Oſthilfe“ für das Volksganze und der in den
letzten Wochen durch die Preſſe gegangenen Berichte über Teilergebniſſe der
„Oſthilſe“ erſcheint es aber notwendig, einem möglichſt großen Kreiſe einen
Geſamtüberblick über die „Oſthilſe“ zu gewähren.
Das urſprüngliche Ziel
Arſprünglich hat ihr Ziel darin beſtanden, die Landwirt
ſchaft des Oſtens, die durch die für Deutſchland unglückliche Grenzziehung
und dabei ganz beſonders durch Anterbindung der Verkehrswege, Abtrennung
großer Verbrauchsgebiete uſw. benachteiligt worden iſt, der Landwirtſchaft
des übrigen Deutſchlands gegenüber wieder wettbewerbsfähig zu
machen. Dementſprechend hat ſich die Oſthilfe zunächſt auf das ganz beſon⸗
ders benachteiligte Oſtpreußen und ſodann auf beſtimmte an Polen und den
polniſchen Korridor angrenzende Teile der Provinzen Pommern, Grenzmark
und Schleſien erſtreckt. Im Laufe der Zeit iſt der Geſichtspunkt der Hilfe für
Grenzgeſchädigte mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt worden. Nach
mehrfacher Erweiterung des Oſthilfegebietes ijt jetzt faſt das geſamte Land öſt⸗
lich der Elbe einbezogen. Es gehören heute zum Oſthilſegebiet nicht nur Oft-
preußen, Grenzmark, Oberſchleſien, Niederſchleſien, ſondern auch Schleswig⸗
Holſtein, Mecklenburg, Brandenburg, die rechtselbiſchen Teile Anhalts und
der Bayriſche Wald. Die ganze Maßnahme trägt infolgedeſſen rein gebiets⸗
mäßig geſehen die Bezeichnung „Oſthilfe“ keineswegs mehr zu Recht.
Die Gefährdung der oſtdeutſchen Landwirtſchaft, um die es ſich zunächſt
gehandelt hat, iſt in ihrer, vielfach auf Kriegsſolgen zurückführbaren Aber⸗
ſchuldung und dem mit dieſer verbundenen drückenden Zinſendienſt zu er⸗
blicken. Eine ſehr große Zahl von Betrieben hatte nicht nur ihre grundbuch⸗
liche Belaſtung bis zur erreichbaren Höchſtgrenze geſteigert, ſondern darüber
hinaus unter dem Druck der ungünſtigen Verhältniſſe auch alle ſonſt noch er⸗
denklichen Möglichkeiten der Geldaufnahme in Form kurzfriſtigen Perfonal-
kredites ausnützen müſſen. Diefer Perſonalkredit hat dadurch für die Land-
wirtſchaſt eine beſonders gefährliche Geſtalt angenommen, daß er, gemeffen
am langſamen Amſchlag landwirtſchaftlicher Gütererzeugung, viel zu ſchnell
rückzahl bar, alfo zu kurzfriſtig und außerdem vielfach noch gegen Hergabe von
Wechfeln eingeräumt worden war.
Dieſer Lage entſprechend ift die geſamte Oſthilfegeſetzgebung, ſoweit fie ſich
auf landwirtſchaftliche „Entſchuldung“ bezieht, auf eine Ablöſung der die Be⸗
triebe gefährdenden kurzfriſtigen Verbindlichkeiten durch langfriſtig tilgbare
Hypothekendarlehn abgeſtellt. Der Grundgedanke dieſer „Entſchuldung“ iſt —
normale Verhältniſſe vorausgeſetzt — durchaus geſund. Schwierigkeiten ern⸗
ſteſter Art waren nur dann zu befürchten, wenn die Frage der Tragbarkeit der
mit den neuen Hypotheken naturnotwendig verbundenen Zinslaſten nicht klar
beantwortet werden konnte. Dieſer Fall mußte aber in dem Augenblick ein⸗
treten, in dem normale landwirtſchaftliche Erzeugungs⸗ und Abſatzbedingungen
durch anormal-ungünftige abgelöſt wurden. Dann mußte ein mehr oder minder
weitgehender Zuſammenbruch der bis dahin umgeſchuldeten Betriebe erfolgen.
Dieſer Fall iſt jetzt eingetreten. Daß das Abſinken der Preiſe auf dem Markt
faſt aller landwirtſchaftlichen Erzeugniſſe für die ganze Wirtſchaftslage unſeres
Volkes ſchwere Erſchütterungen mit ſich gebracht hat, iſt bekannt, daß es jedoch
auf die Oſthilfe verheerend eingewirkt hat, iſt weniger Allgemeingut geworden.
Die „Osthilfe“ am Scheidewege 651
Die Durchführung
Die Durchführung der Oſthilfe ijt bislang einem „Reichskommiſſar für die
Oſthilfe“ übertragen geweſen, dem als Ausführungsorgane „Landſtellen“ in
den einzelnen gefährdeten Gebieten unterſtellt find. Dieſe Landſtellen, vor-
nehmlich in den Provinzialhauptſtädten mit Zuſtändigkeit für die ganze Pro—
ving, find es, die die eigentlichen Amſchuldungsarbeiten zu leiſten haben. Bei
der außerordentlich großen Zahl zu bearbeitender Anträge iſt eine Abgrenzung
in Groß⸗ und Kleinbetriebe erfolgt dergeſtalt, daß die Kleinbetriebe mit einem
Einheitswert unter 40000 RM. nach beſtimmten, von den Landſtellen aus-
gegebenen Richtlinien durch die Landräte der einzelnen Kreiſe bearbeitet wer—
den, während die Erledigung der Angelegenheiten der Betriebe mit einem Ein-
heitswert über 40 000 RM. durch die Landſtellen ſelbſt erfolgt. Jeder Land-
wirt, der eine Amſchuldung erſtrebt, hatte — innerhalb der inzwiſchen längſt
abgelaufenen Anmeldefriſt — einen Antrag zu ſtellen, in dem feine Verſchul—
dung und ihre Arſachen im einzelnen dargelegt ſind. Sofern eine Kürzung
von Gläubigerforderungen notwendig erſcheint und ein entſprechender Plan
hierfür bereits beſteht, iſt dieſer dem Antrag beizufügen. Es iſt nicht etwa ſo,
wie vielfach vermutet wird, daß jeder einzelne Landwirtſchaftsbetrieb, der ſich
im Bereich einer Landſtelle befindet, von vornherein Amwandlung feiner furz-
friſtigen Verbindlichkeiten in langfriſtige, tilgbare Hypothekendarlehn erfährt,
fondern mit Rückſicht auf die beſchränkten Amſchuldungsmittel find lediglich
diejenigen Betriebe zur Oſthilfe zugelaſſen, die vor Ablauf der Anmeldezeit
ordnungsgemäß zur Amſchuldung angemeldet worden ſind. Der Antrag wird
De durch die Landſtelle — bei Kleinbetrieben durch die Landratsämter —
m einzelnen in bezug auf die Richtigkeit der Größen⸗ und Schuldangaben und
dabei namentlich auch hinſichtlich der für die Darlehenseintragung wichtigen
Grundbuchverhältniſſe geprüft. Erſcheint die Amſchuldung durchführbar, was
meiſt erſt nach Ablauf einer Reihe von Monaten feſtgeſtellt wird, jo wird der
Antrag an die Bank für deutſche Induftrie- Obligationen weitergegeben.
Der Außenſtehende wird zunächſt erſtaunt ſein, in Verbindung mit der land⸗
wirtſchaftlichen Entſchuldung den Namen einer Bank zu hören, die während
der unangenehmſten Nachkriegszeit — nämlich bei Liquidation des Ruhrein⸗
bruchs 1924 — auf Verlangen der Feindbundmächte ins Leben gerufen wor-
den iſt und deren Hauptbeſtimmung, wie der Name vermuten läßt, auf indu-
ſtriellem Gebiete liegt. Am die Forderungen der Feindbundmächte im Sinne
der damaligen „Erfüllungs politik“ befriedigen zu können, iſt ſeinerzeit nicht nur
die Landwirtſchaft mit der Rentenbankbelaſtung zwangsläufig belegt, ſondern
auch die Induſtrie ebenſo zwangsweiſe geſetzlich zur Zahlung der ſogenannten
Aufbringungsumlage verpflichtet worden. Aus dieſer Aufbringungsumlage,
vermehrt durch ſtarke Zuſchüſſe des Reiches, ſtehen laufend nicht unerhebliche
Beträge zur Verfügung, die auf Grund des erſten Oſthilfegeſetzes vorwiegend
zur landwirtſchaftlichen Entſchuldung im Oſthilfegebiet Verwendung finden
ſollen. Auf dieſe Weiſe kommt die Induſtrie zur Entſchuldung der Land—
wirtſchaft! —
Die Bank für deutſche Induſtrie-Obligationen prüft die ihr von den Land-
ſtellen zugehenden Entſchuldungsakten und dabei namentlich — nach rein banf-
mäßigen Geſichtspunkten — die Möglichkeit der Beleihung, gibt notfalls nach
örtlicher Prüfung, zu der ein großer Stab eigener landwirtſchaftlicher Sachs
verſtändiger zur Verfügung ſteht, die Höhe des von ihr zu gewährenden Dar-
652 Otto Jüngst
lehns und beſtimmt gleichzeitig die Grenze der Zinsleiſtung, die ihr für den
einzelnen Betrieb tragbar erſcheint. Sobald dieſe beiden Grenzwerte:
Beleihungs- und Zinsleiſtungsgrenze, feftgelegt worden find,
geht der Amſchuldungsantrag, der während der inzwiſchen abgelaufenen weite⸗
ren Monate in der Mehrzahl aller Fälle zu einer dickleibigen Akte angewachſen
iſt, an die Landſtelle zurück, die ihrerſeits nunmehr viele Monate oder gar
Jahre beanſpruchende Verhandlungen mit den Gläubigern zwecks Kürzung
ihrer Forderungen aufnimmt. In allen ſchwierigen Fällen haben die Land⸗
ſtellen einen ausgedehnten aufreibenden Papierkrieg mit den Gläubigern zu
führen, die ſich begreiflicherweiſe nicht ohne Widerſtand in die Beeinträchti⸗
gung ihrer Rechte finden wollen und von denen ein Teil, ebenfalls begreiflicher⸗
weiſe, nichts unverſucht läßt, was, notfalls auch unter Benachteiligung der
übrigen Gläubiger, ihnen zur Hereinholung ihrer Forderung verhelfen könnte.
Das Sicherungsverfahren
Aus dieſer Lage heraus hat ſich die Notwendigkeit ergeben, den einzelnen
Betrieb gegen den Zugriff beſonders gewandter, entſchlußkräftiger und zäher
Gläubiger zu fihern. Das Ergebnis ijt die Schaffung des „Sicherungs⸗
verfahrens“. Es iſt das ein Schutz gegen Zwangsvollſtreckungen, kurz auch
Vollſtreckungsſchutz genannt, der den einzelnen Landwirtſchaftsbetrieb im Oſt⸗
hilfegebiet gegen die Umwelt gewiſſermaßen abgeſperrt und jeden Einzel-
zugriff eines Gläubigers ohne Einwilligung der Landſtellen verhindert.
Die Sicherungsverordnung, die allmählich zu einem ungemein wichtigen
Gliede in der Entſchuldung überhaupt geworden iſt, bedeutet einen Eingriff
in die perſönlichen Rechte des einzelnen, wie er ſrüher kaum je für denkbar
gehalten worden iſt. Von allen Seiten — auch der Landwirtſchaft — ſind
gegen dieſes Verfahren die allerſchwerſten Bedenken erhoben worden. Nicht
nur deshalb, weil der landwirtſchaftliche Kredit aufs äußerſte gefährdet und
das Vertrauen in die Vertragstreue der Landwirtſchaft aufs ſchwerſte erſchüt⸗
tert worden iſt, ſondern auch, weil es in ſeiner Praxis zu einer oft unerträg⸗
faber ee landwirtſchaftlicher Schuldner vor ihren Gläubigern ge-
ührt hat.
Man vergegenwärtige ſich zum Beiſpiel folgenden Fall: Ein Ritterguts⸗
beſitzer hat durch Vermittlung ſeines Dorfſchmiedes einen Grasmäher gegen
Wechſel gekauft. Bevor es zur Wechſeleinlöſung kommt, wird über den Be⸗
trieb des Rittergutsbefigers das Sicherungs verfahren eröffnet. Bei Fälligkeit
des Wechſels muß ihn der Dorfſchmied einlöſen, da der Treuhänder des
Schuldners Zahlung ablehnt und ablehnen muß, auch wenn ſie möglich wäre.
Gelingt es dem Dorfſchmied nicht, die zur Einlöſung des ihm von der Mas
ſchinenfabrik vorgelegten Wechſels erforderlichen Beträge aufzutreiben, ſo wird
er zwangsverſteigert. Während die Landwirte, die ſeine Kunden ſind und mit
denen er auf Gedeih und Verderb verbunden iſt, von Staats wegen geſchützt
werden, bleibt der Handwerker völlig ſchutzlos.
Die Tatſache, daß jeder „geſicherte Betrieb“ von einem Treuhänder über-
wacht wird, der die Intereſſen der Gläubigerſchaft wahrzunehmen hat, be—
deutet gegen die ungeheuerlichen Angerechtigkeiten der Sicherungsverordnung
keine ausreichende Abwehrmaßnahme. Eigenartigerweiſe iſt die Sicherungs⸗
verordnung ſeinerzeit als „Verordnung zur Sicherung der Ernte und der land-
— —
Die „Osthilfe“ am Scheidewege | 653
wirtſchaftlichen Entſchuldung im Ofthilfegebiet” bezeichnet worden, obwohl
damals ſchon vorauszuſehen geweſen iſt, daß eine Gefährdung der Volksernäh⸗
rung aus ſchlechter Ernte etwa deswegen, weil eine Anzahl von Oſthilfe⸗
betrieben nicht in der Lage geweſen wäre, ihre Beſtellungen ordnungsgemäß
durchzuführen, unter keinen Amſtänden erwartet werden konnte. Die Deutung
dieſer irreführenden Bezeichnung wird vielleicht in der einige Monate zuvor
abgegebenen Erklärung der Reichsregierung zu erblicken ſein, daß an eine
Wiederholung des „Vollſtreckungsſchutzes“ „wegen feiner jedes Rechts⸗
gefühl untergrabenden Wirkung“ nicht zu denken ſei. Als man wenige Monate
ſpäter kein beſſeres Mittel fand, iſt das Vollſtreckungsſchutzverfahren — nur
an dem neuen Namen Sicherungsverfahren! — aufs neue notverordnet
worden
Das Sicherungsverfahren mit der Einrichtung des Treuhänderweſens
und der weitgehenden Bevormundung der Betriebseigen-
t ũ mer hat es mit ſich gebracht, daß ſtarke Kräfte des geſamten Amſchuldungs⸗
ſtabes lediglich zur Bearbeitung der Sicherungsfragen in Anſpruch genommen
und den eigentlichen Entſchuldungsfragen völlig entzogen werden. Praktiſch iſt
eigenartigerweiſe feſtzuſtellen, daß ſich die Sicherungsverordnung nur in einer
Verzögerung der ganzen Amſchuldung, nicht aber in ihrer Förderung ausge⸗
wirkt hat, obwohl zuzugeben iſt, daß dieſer oder jener Betrieb durch das Siche⸗
rungs verfahren vor dem Zuſammenbruch ge 8 worden iſt und der Amſchul⸗
dung he hat zugeführt werden können. Das gleiche Ziel hätte aber unſchwer
unter Amgehung der außerordentlich bedenklichen, die geſamte Landwirtſchaft
in ihrer Kreditfähigkeit ſchwer ſchädigenden VGeftimmungen des Sicherungs-
verſahrens dadurch erreicht werden können, daß zunächſt der unerträglich ſchlep⸗
pende Gang der Amſchuldung beſchleunigt und gleichzeitig den Landſtellen die
Befugnis eingeräumt worden wäre, gegen Gläubiger, die ſich zuungunſten der
übrigen Gläubiger vorweg befriedigen wollen, mit einſtweiligen Verfügungen
rechtswirkſam vorzugehen. Das Beſtehen dieſer Möglichkeit hätte genügt, faſt
jede Störung auszuſchalten.
Nach dieſen kurzen Schilderungen des „Oſthilfeverfahrens“ wird ſich nie⸗
mand wundern, daß das allgemeine Arteil über die Oſthilfe dahin geht, daß ſie
bisher mehr oder minder völlig verſagt hätte. Selbſt der letzte Reichskommiſſar
r die Oſthilfe, alfo der für das Verſagen letzten Endes verantwortliche höchſte
eamte, hat kürzlich in einem vor einem Ausſchuß des Reichstages erſtatteten
Berichte zugeben müſſen, daß das aus der Oſthilfe, ſoweit es bisher vor⸗
läge, recht kärglich ſei.
*
Was iſt angefichts dieſes bisherigen Verſagens zu tun? Wie ift die Oft-
hilfe, deren ſchnellſte Durchführung von Tag zu Tag drängender wird, in die
richtigen Bahnen zu lenken, wie iſt der Oſthilfe zu helfen?
„Individualverfahren“ oder „Generalverfahren“?
Da unſchwer zu erkennen iſt, daß nicht zuletzt den außerordentlich verwicdel-
ten und ſchwerfälligen Behördenapparat, der für die Durchführung der Indi—
vidualumſchuldung aufgezogen worden iſt, ein gerüttelt Maß der Schuld an
dem bisherigen Mißerfolg trifft, gehen die meiſten Beſſerungsvorſchläge dar—
654 Otto Jüngst
auf aus, die „Individualumſchuldung“ durch eine „Generalumſchuldung“ zu
erſetzen. An Stelle der Prüfung jeden Einzelfalles ſoll eine allgemeine Schul⸗
denſenkung in Bauſch und Bogen erfolgen.
Bei dieſer Verurteilung der „Individualumſchuldung“ wird nur allzuoft
vergeſſen, daß der Mißerfolg neben den offenkundigen ſchweren Organifations-
mängeln auf den langanhaltenden politiſchen Kampf zwiſchen Reid und
Preußen zurückzuführen iſt und daß es infolgedeſſen von vornherein nicht nur
an klarer Zielſetzung, ſondern auch an dem klaren Arbeitsplan gefehlt hat, der
nun einmal Vorausſetzung der Löſung jeder ſchwierigen Aufgabe iſt. Ange⸗
ſichts der vielfach erhobenen Forderung nach „Generalumſchuldung“ ſoll dem
Leſer an Hand einiger tatſächlicher Beiſpiele aus dem Leben
die Möglichekit gegeben werden, ſich unvoreingenommen ein eigenes Arteil
über die Zweckmäßigkeit der Anwendung des einen oder anderen Verfahrens
zu bilden.
1. Beiſpiel |
Der Eigentümer eines ſtark verfchuldeten Landgutes verfügt neben feinem
landwirtſchaftlichen Grund und Boden noch über ein kleines Hausgrundftüd
in der benachbarten Stadt und über einige Wertpapiere aus beſſeren Zeiten.
Eine richtige „Einzelumſchuldung“ iſt in der Lage, dieſe betriebsfremden Ver⸗
mögensteile zur Amſchuldung heranzuziehen. Die Amſchuldungsmittel, die
der Staat zur Verfügung ſtellen würde, können dementſprechend zugunſten an⸗
derer Betriebe geſtreckt werden. Die „Geſamtumſchuldung“ ſchließt eine ſolche
Löſung aus. Bei ihr werden die Gläubigerforderungen, ſoweit ſie die Ver⸗
ſchuldungsgrenze überſteigen, ganz ohne Rückſicht auf das betriebsfremde Ver⸗
mögen gekürzt. Die Gläubiger verlieren alſo zum Teil ihr Geld, während der
Gutseigentümer im unangetaſteten Beſitz nicht nur feines landwirtſchaftlichen
Betriebes, ſondern auch ſeines Hausgrundſtückes in der Stadt und der von
früher erhaltenen Wertpapiere bleibt.
2. Beiſpiel
Ein Landwirt, dem die Befriedigung ſeiner Leidenſchaften ſtärker am Herzen
liegt als die Bewirtſchaſtung des ererbten Beſitzes, hat es allmählich unter
dauernder Täuſchung ſeiner Gläubiger zu völliger Aberſchuldung gebracht.
Die „Geſamtumſchuldung“ befreit ihn von ſeinen Schulden, ſoweit ſie die
Verſchuldungsgrenze überſteigen, während eine richtige „Einzelumſchuldung“
in der Lage geweſen wäre, in der weitgehenden Verwertung der vorhandenen
Vermögensrechte die getäuſchten Gläubiger wenigſtens teilweiſe zu befriedigen.
3. Beiſpiel
Ein Großgrundbeſitzer hat ſich bereits vor der Oſthilfe in richtiger Erkennt⸗
nis ſeiner Lage und der kommenden Entwicklung der Landwirtſchaft dazu ent⸗
ſchloſſen, zur größtmöglichen Entſchuldung ſeines Beſitzes die in früheren Ge⸗
ſchlechterfolgen dem Rittergut einverleibten Bauernſtellen, deren Gehöfte zum
Teil noch vorhanden ſind, zu veräußern. Die „Geſamtumſchuldung“ macht das
unnötig. Die Forderungen der Gläubiger werden, fofern fie die in der „Ge⸗
ſamtumſchuldung“ feſtzuſetzende Verſchuldungsgrenze überſteigen, beſchnitten
und das, nicht nur privatwirtſchaftlich, ſondern allgemeinwirtſchaftlich richtige
Verfahren der Selbſtentſchuldung wird eingeſtellt. Die „Geſamtumſchuldung“
wirkt ſich hier alſo gegen die Selbſtumſchuldung aus.
Die ,,Osthilfe“ am Scheidewege | 655
4. B et piel
großſprecheriſcher Bauer vermehrt feinen Gefig durch Zukauf eines
1 Gutes, obwohl feine Mittel an und für fic) dieſe Maßnahme keines;
wegs rechtfertigen. Im Laufe der Zeit tritt zufolge der Aberſchätzung ſeiner
Mittel und außerdem dank mangelhafter Betriebs führung eine völlige Aber⸗
ſchuldung beider Betriebe ein. Bei „Einzelumſchuldung“ würde immerhin die
Möglichkeit beſtehen — vorausgeſetzt, daß der Eigentümer noch als entſchul⸗
dungswürdig anzuſprechen iſt —, einen Betrieb zur Befriedigung der Gläu⸗
biger zu verkaufen und den Stammbetrieb umzuſchulden. Bei der „Geſamt⸗
ihr Geld! bleibt der Beſitz unangetaſtet, lediglich die Gläubiger verlieren
r G
Es muß dem gefunden Rechtsempfinden jedes einzelnen Volksgenoſſen über⸗
laſſen bleiben, aus diefen wenigen, dem Leben entnommenen Beiſpielen, die
um eine Anzahl von Fällen vermehrt werden könnten, die richtige Schlußfolge⸗
rung zu ziehen, ob eine „Geſamtumſchuldung“ zu wünſchen oder abzulehnen iſt.
Der Landwirt, der im allgemeinen gewöhnt iſt, als freier Mann auf eigenem
Grund und Boden zu ſchaffen und deſſen Nechts⸗ und Pflichtgefühl dank
dieſer nur ihm eigenen Daſeinsgrundlage größtenteils beſonders ausgeprägt
ift, will kein Almoſen. Er iſt der Typ des Menſchen, der gewohnt iſt,
ſich ſelbſt zu helfen. Iſt er in Schwierigkeiten geraten, jo will er dieſe Schwie⸗
rigkeiten nach Möglichkeit aus eigener Kraft überwinden und will im übri⸗
gen möglichſt unbehelligt ſeinem Beruf nachgehen können. Dieſe geſunde und
fittlich ſelbſtverſtändliche Grundeinſtellung der bodenverbundenen Menſchen,
die heute noch faſt Allgemeingut der Landbevölkerung iſt — ſoweit ſie noch
auf eigenem Grund und Boden ſchafft — wird der Offentlichkeit verſchwie⸗
gen. Statt deſſen werden offenſichtliche Mißſtände, die nie und nimmer, wo
Menſchen tätig ſind und wo und in welchem Berufsſtande es immer ſei, ganz
vermieden werden können, zum Schaden des Anſehens des ganzen Berufs⸗
ſtandes verallgemeinert.
Dieſes Anſehen würde einen weiteren, ungemein folgenſchweren Stoß er⸗
halten, wenn man dazu übergehen würde, durch eine „Gefamtumfchul⸗
dung“, deren Folgen in den vorſtehend erwähnten Einzelbeiſpielen andeu⸗
tungsweiſe hervorgehoben worden ſind, zu einem neuen Generalangriff
auf das Rechtsempfinden weiteſter Kreiſe vorzugehen. Bei Ver⸗
gegenwärtigung dieſer Folgen kann niemand, dem der Ruf des größten Stan⸗
des Selbſtändiger im Volke wirklich am Herzen liegt, für eine Geſamtumſchul⸗
dung eintreten, ſofern es einen Weg gibt, der die mit einer Geſamtumſchul⸗
dung naturnotwendig verbundene Vergewaltigung vielfacher Gläubigerinter⸗
eſſen vermeidet.
Vorausſetzungen einer Einzelumſchuldung
Von den verſchiedenſten, zum Teil perſönlich intereſſierten Seiten wird die
Auffaſſung genährt, ein brauchbarer Weg zu einer „Einzelumſchuldung“ be⸗
ſtände nicht. Dieſe Auffaſſung iſt richtig, ſolange der bisherige Weg als der
einzig vorhandene Weg betrachtet wird; ſie iſt falſch, wenn man ſich die Mühe
macht, an Stelle des bisherigen Weges hemmungsloſeſter und damit unfrucht⸗
barſter Bürokratie auch einmal nach anderen Wegen zu ſuchen. Denn dann er-
gibt ſich, daß mindeſtens ein anderer Weg offen iſt; ſtatt zu einem
Agrarpolitik Heft 9, Bg. 3
656 Otto Jüngst
Serrbild der Oſthilfe führt er zu wirklicher Geneſung. Wir Deutſchen ſtehen
überall in der Welt in dem Ruf, beſonders befähigte Organiſatoren zu haben.
Wir würden uns ſelbſt ein klägliches Zeugnis ausſtellen, wenn wir erklären
würden, daß wir zur Löſung der Aufgaben einer „Einzelumſchuldung“ un⸗
fähig wären.
In den Auguſttagen des Jahres 1914 tft das geſamte deutſche Heer in aller⸗
kürzeſter Friſt an allen bedrohten Fronten eingeſetzt worden. Der Aufmarſch
hat ſich reibungslos vollzogen, da man ſich über das Ziel, die Voraus
ſetzung zu deſſen Erreichung und die verfügbaren Hilfsmittel im
klaren war, vorher einen bis in alle Einzelheiten aus gearbeiteten Plan
aufgeſtellt und im übrigen jedem einzelnen Führer bis hinab zum Anteroffizier
für alle im Aufmarſchplan unvorhergeſehenen Fälle ſelbſtändi ges Han-
deln zur erſten Pflicht gemacht hatte. Sollte nicht, nachdem dieſe Großtat
unſerer Heeresleitung in bewunderungs würdiger Weiſe vollbracht worden iſt, das
unendlich viel einfachere Werk einer wirkſamen deutſchen Oſthilfe durchführbar
ſein? Dieſe Frage ſtellen und bejahen iſt eins. Nur wird man aus dem eben
genannten Beiſpiel lernen müſſen, daß vor Inangriffnahme der Arbeit völlige
Klarheit beſtehen muß über
1. das Ziel,
2. die Vorausſetzung,
3. den leitenden Grundſatz,
4. die Hilfskräfte,
5. die Hilfsmittel.
Das Ziel
Beſeitigung der die Entwicklung und Leiſtungsfähigkeit der deutſchen Land⸗
wirtſchaft untergrabenden Aberſchuldung unter gerechter Abwägung der Inter⸗
eſſen aller Beteiligten und unter rückſichtsloſeſter 5 des Grund-
atzes: Gemeinnutz geht vor Eigennutz! Dieſe Beſeitigung der Aberſchuldung
ſt notwendig, um eine Wiedergeſundung der für die Volksernährung unent⸗
behrlichen Landwirtſchaft zu erzielen und gleichzeitig die nicht minder wichtige
Wiedergeſundung der durch den Zuſammenbruch der Landwirtſchaft aufs
ſtärkſte in Mitleidenſchaft gezogenen anderen Berufsſtände und des geſamten
Binnenmarktes herbeizuführen.
Die Vorausſetzung
Vorausſetzung jeder Oſthilfe iſt die vorherige Schaffung allgemeinwirt-
ſchaftlicher Verhältniſſe, die der Landwirtſchaft bei Durchſchnittswitterung und
sleiftung einen auskömmlichen Ertrag ſicherſtellen und ihr die Erfüllung ihrer
volkswirtſchaftlichen Aufgabe, Ernährung des Volkes aus eigener Scholle, er⸗
möglichen. Dieſe Vorausſetzung iſt zur Zeit noch nicht erfüllt. Sie wird auch
nicht durch „Beimiſchungszwang“, „Einfuhrſcheine“, „Kontingentierung“ und
ähnliche zuſammenhangs⸗ und planlos angewandte Mittelchen erreicht werden
können. Aber ſie muß geſchaffen werden, wenn die Oſthilfe überhaupt einen
Sinn haben und nicht, wie bisher, ein Faß der Danaiden fein und bleiben fol.
Aber die zur Schaffung dieſer Vorausſetzungen anzuwendenden Mittel brau-
aa beute nicht viel Worte verloren gu werden. n fann fie in den einen
ag zuſammenfaſſen: Gerechte Abwägung der Geſamtintereſſen des eigenen
Die „Osthilfe“ am Scheidewege | 657
Landes gegenüber den wirtſchaftlichen, politifchen, kulturellen und völkiſchen
Intereſſen der anderen Völker bei bedingungsloſer Anterordnung unter das
Geſetz, daß das Wohl Deutſchlands allem andern, und daß das Wohl des
geſamten Volkes dem Wohl einzelner Gruppen vorangehen müſſe.
Der leitende Grundſatz
Das bisher wichtigſte und neben Gläubigerkür zungen faſt allein
angewandte Oſthilfemittel iſt die Bezahlung der gefährlichen Schulden des
Landwirtes aus Mitteln der Allgemeinheit, d. h., aus Geldern des Reiches
oder der Amſchuldungsbank. Dieſe Schuldentilgung aus Mitteln
der Allgemeinheit iſt derart zum Kernſtück der ganzen Oſthilfe gewor⸗
den, daß mancher Landwirt dank der verfehlten Handhabung der Oſthilfe
glaubt, ein verbrieftes Recht auf die Tilgung ſeiner perſönlichen Schulden aus
öffentlichen Mitteln zu haben und deshalb glaubt, nicht genötigt zu ſein, auch
aus eigenem zur Schuldentilgung beizuſteuern, obwohl das oft ſehr wohl
möglich iſt. So iſt zum Beifpiel dem Einſatz betriebseigener Mit-
tel in Form von Landverkäuſen in der bisherigen Oſthilfe ſo wenig
Aufmerkſamkeit geſchenkt worden, daß der Nat, zur Schuldentilgung Land ab⸗
zuſtoßen, von manchem „führenden“ Landwirte heute noch als Beweis bolſche⸗
wiſtiſcher Gefinnung betrachtet wird. In Zukunft iſt grundſätzlich Aus⸗
nutzung aller fitch bietenden Schuldentilgungsmöglichkei⸗⸗
ten zu fordern.
Damit wird, ſoweit die Amſchuldungsmittel vom Reich und der Amſchul⸗
dungsbank ſtammen, eine ſtarke Streckung der öffentlichen mſchuldungsmittel
erreicht und ee Sea die Möglichkeit geſchaffen, einem Vielfachen
der jetzt unterſtützten Betriebe wirkſame Hilfe zu leiſten. Die Landwirtſchaft
in ihrer Geſamtheit ift an folder Streckung der verfügbaren Mittel am aller-
meiſten intereffiert, da durch die große Zahl nachträglich, d. h. nad dem bis⸗
herigen Anmeldeſchluß notleidend gewordener Betriebe, denen gerechterweiſe
auch geholfen werden muß, ein ganz ungeheurer Geldbedarf entſtanden iſt,
der weder aus Mitteln des Reiches, noch aus denen der ebenfalls notleidenden
deutſchen Snduftrie auch nur annähernd befriedigt werden kann. Die Zahl
der nach dem Anmeldeſchlußnotleidend gewordenen und der
dauernd von Tag zu Tag weiter in Notgeratenden Betriebe
i ſt ungeheuer. Man darf heute von Oſthilfe nicht mehr reden, ohne dieſe
für die Geſamtheit der Landwirtſchaft viel wichtigere Gruppe zu berückſich⸗
tigen; viel wichtiger deshalb, weil in ihr die Landwirte enthalten ſind, die zu⸗
nächſt jede Staatshilfe weit von fic) gewieſen haben und fi) aus eigener Kraft
haben helfen wollen. Wenn auch ſie jetzt in geldliche Schwierigkeiten geraten
find, und wenn auch ihre Betriebe jetzt in die Oſthilfe einbezogen werden
müſſen, fo deshalb, weil die Märkte landwirtſchaftlicher Erzeugniſſe in den
letzten Monaten einen Preiszuſammenbruch in einem Ausmaße erlebt haben,
wie er den lebenden Volksgenoſſen bei deutſchen landwirtſchaftlichen Erzeug⸗
niſſen bisher unbekannt geweſen iſt.
Damit iſt die Streckung der Geldmittel der öffentlichen Hand zur unabweis⸗
baren Notwendigkeit geworden; es muß aufs ſparſamſte mit ihnen umgegan⸗
gen werden. Die Ausnutzung aller übrigen Amſchuldungsmittel tritt in den
ordergrund. Wie beſte Heilmittel und raffinierteſte Operationsgeräte zweck⸗
3
658 Otto Jüngst
los oder ſogar ſchädlich find in der Hand eines ungeeigneten Arztes, fo wür⸗
den auch noch ſo große Geldbeträge und noch ſo viele ſonſtige Amſchuldungs⸗
mittel in der „Landhilfe“ — wie die neuen Maßnahmen im Gegenſatz zu
der bisherigen „Oſthilfe“ genannt werden könnten — erfolglos vertan werden,
wenn nicht Leute gefunden würden, die es verſtänden, die Amſchuldungsmittel
kunſtfertig zu handhaben. Deshalb ſoll zunächſt der menſchlichen und dann
erſt der ſachlichen Hilfen — zuerſt alſo der Hilfskräfte und erſt dann
der Hilfsmittel — gedacht werden.
Die Hilfskräfte
Aberall in den Landſtellen find Diplomlandwirte und Juriſten tätig, die
nur darauf warten, endlich einmal zu poſitiver, ſelbſtſchöpferiſcher, geſtaltender
Arbeit zu kommen, die es begrüßen würden, befreit zu werden von dem ſtumpf⸗
ſinnigen Befolgen verfehlter, ſich von Monat zu Monat widerſprechender
„Richtlinien“ und vom Aufſtellen von Voranſchlägen und Rüdberichten über
immer weiter abſinkende Betriebe. Dieſe Männer kennen die Nöte und Not⸗
wendigkeiten. Sie find die geeigneten Kräfte, die neue „Landhilfe“ pofitiv zu
fördern. Sie werden in Zukunft zu zweien, je ein Juriſt und ein Land-
wirt, eine Spruchkammer bilden. Sie werden nicht mehr in der Pro⸗
vinzhauptſtadt, ſondern in den kleinen und großen Landſtädten ganz nach Be⸗
darf, ohne feſten Sitz, tätig werden. Sie werden nach forgfältiger Prüfung
jeden Einzelfalles unter Zuziehung der Gläubiger und Schuldner in für alle
Beteiligten zugänglichen Sitzungen ihren Entſchuldungsplan vortragen und
möglichſt in einer Sitzung eine Entſcheidung herbeiführen. Die Zahl der
Sitzungen, in denen über einen Fall beraten wird, ſoll drei grundſätzlich nicht
überſteigen. Ein Vertreter der Amſchuldungsbank iſt an jeder der Sitzungen
beteiligt, er muß bevollmächtigt fein, jederzeit eine rechts verbindliche
Erklärung abzugeben.
Dieſe Spruchkammern ſtellen die Stoßtrupps dar, die die Entwirrung
der verfahrenen wirtſchaftlichen Verhältniſſe auf dem Lande einleiten ſollen.
Wie dem Führer eines Stoßtrupps im Felde volle Bewegungsfreiheit ein⸗
geräumt wird, für deren Ausmitzung er volle Verantwortung trägt, ſo iſt auch
jede Spruchkammer mit weitgehender Vollmacht auszuſtatten. Das
Ziel iſt ihnen bekannt, ſie haben aus den ihnen verfügbaren Mitteln diejenigen
auszuſuchen und anzuwenden — zum Beiſpiel Erlaß einſtweiliger Verfügun⸗
gen — die die Erreichung des Zieles unter gerechteſter Abwägung der Inter⸗
eſſen der Geſamtheit und demnächſt der Beteiligten gewährleiſten. Ihr Spruch
hat die Wirkung eines Arteils, gegen das nur in beſonderen Fällen
das Recht der Berufung bei der Landſtelle gegeben ift.
Am die Spruchkammern zu ſchnellſter Erledigung ihrer Aufgaben anzu⸗
ſtacheln — denn der Satz „Doppelt gibt, wer ſchnell gibt“ iſt nie ſo berechtigt
geweſen wie hier —, find ihnen nach oben ſtark zu ſtaffelnde Leiſtungs⸗
prämien in Ausſicht zu ſtellen, durch die nebenbei verhindert wird, daß ſich
die Spruchkammern zu Dauereinrichtungen entwickeln. Auf dieſe Weiſe ſowie
durch Hervorhebung der perſönlichen Verantwortung wird
die Arbeits freude jedes einzelnen Gliedes der Spruchkammern einen ge⸗
waltigen, der Arbeit zugute kommenden Auftrieb erfahren und wird der Ver⸗
bürokratiſierung, dem Tode jeder poſitiven Arbeit, aufs wirkſamſte vorgebeugt.
Die „Osthilfe“ am Scheidewege | 659
Die weiteft gehende Heranziehung der Gläubiger zur Regelung der Schuld-
verhältniſſe wird das ſtark erſchütterte Vertrauen der Offentlichkeit wieder
beleben und zur wirtſchaſtlichen Wiedergeſundung erheblich mehr beitragen,
als die immer wiederkehrenden Verſprechungen kommender Hilfe, denen auf
Grund der bisherigen Erfahrungen letzten Endes doch nur noch deklamatoriſcher
Wert beigelegt wird. Die weiteſt gehende Heranziehung der Gläubiger zu
allen Entſchuldungsverhandlungen wird nebenbei den Vorteil haben, daß in
Zukunft nicht mehr ſo häufig wie bisher Amſchuldungsmaßnahmen bei „ent⸗
ſchuldungsunfähigen“ Betrieben in den Händen „entſchuldungsunwürdiger“
Eigentümer durchgeführt werden. Der Staat als der Träger der ganzen Am⸗
ſchuldungsmaßnahmen hat ein grundlegendes Intereſſe daran, durch Zuſam⸗
menarbeit mit den Gläubigern über die Anterſtützungs⸗ und Erhaltungswür⸗
digkeit ehrlich unterrichtet zu werden.
Als Leitfaden für eine Verſtändigung zwiſchen Schuldner und Gläubiger
kann ſehr wohl das Vermittlungs verfahren für die Landwirtſchaft nach der
Verordnung vom 27. 9. 32 dienen, aber ohne die dazu erlaſſenen, offenſichtlich
von Intereſſenten beeinflußten e U Re die die Anwend⸗
barkeit des Verfahrens aufs ſtärkſte einengen. Durch verhältnismäßig geringe
Abänderungen wird das Vermittlungsverfahren zu einem wirklich brauchbaren
Werkzeug der Verſtändigung zwiſchen landwirtſchaftlichen Gläubigern und
Schuldnern gemacht werden können. Man wende nicht ein, durch die Schaf⸗
fung ſolcher Spruchkammern erführe die jetzige Oſthilfe eine Verzögerung.
Das iſt nicht möglich, denn fie tritt jetzt ſchon fo gut wie auf der Stelle!
Im übrigen würde das Ausbleiben einer für alle ſichtbaren ſtarken Beſchleuni⸗
gung nichts gegen die Spruchkammern als ſolche beweiſen, ſondern nur er⸗
kennen laſſen, daß der „große Generalſtab“ in Berlin ſeiner Aufgabe nicht
gewachſen iſt.
Die Hilfsmittel
Die Hilfsmittel, die den Hilfskräften an der „Landhilfe“ zur Verfügung
ſtehen, find den Eingeweihten bekannt. Sie ſollen hier nur der Vollſtändigkeit
und Aberſichtlichkeit halber zuſammengeſtellt werden (Neuerfindungen und
Patentlöſungen Selbſtintereſſierter find nicht darunter !), und zwar in der
Reihenfolge, in der ihre Anwendung von den Spruchkammern vorzunehmen iſt.
Zuerſt iſt zu prüfen, ob ſich der Schuldner nicht aus eigenen Mitteln, ledig⸗
lich unterſtützt durch die Spruchkammer, aus ſeiner Notlage befreien kann.
Erſt wenn dieſe Möglichkeit nicht beſteht oder für ſich allein nicht ausreicht,
kommt der Gläubiger an die Reihe und dann erſt die Allgemeinheit; alſo
umgekehrt wie bisher!
1. Hilfe aus eigener Kraft:
a) Landverkauf,
b) ſonſtige Heranziehung des Grundvermögens,
c) Heranziehung betriebsfremden Grundbeſitzes und
ſonſtigen Vermögens;
2. Verwandten und Freundeshilfe;
3. freiwillige Gläubigervergleiche;
4. Ablöſungsdarlehn zur Ausnutzung von Kursgewinnen;
9. nd: Gläubigervergleiche;
6. Amſchuldungsdarlehn.
660 Otto Jüngst
Landverkauf
Das Hilfsmittel des Landverkaufs wird bei Kleinbetrieben ſo gut wie gar
nicht, bei Mittelbetrieben wenig, bei Großbetrieben dagegen faſt ſtets ange⸗
wandt werden können. Dieſes Hilfsmittel iſt unter dem irreführenden Schlag⸗
wort „Siedlung“ auf die Bühne der großen Politik gebracht worden und iſt
dort bisher Gegenſtand oft recht unſachlicher Behandlung geweſen. Anter
dem Schlagwort „Siedlung“ wird jeder Landverkauf eines Großgrundbeſitzers
verſtanden, während es nur dort berechtigt iſt, wo die Errichtung eines neuen
Bauernhofes die Folge der Landabgabe iſt. Dieſe Art des Landverkaufs, die
allein die Bezeichnung „Siedlung“ zu Recht trägt, wird an Bedeutung ſtark
überſchattet durch Landverkauf an Grundbeſitzer — meiſt Bauern — der nähe⸗
ren oder weiteren Umgebung. Die Behördenſprache nennt das „Anliegerſied⸗
lung“ — was ungefähr fo richtig iſt wie „Spazier fahrt zu Fuß“ —, ob-
wohl es ſich keineswegs um Schaffung neuer Betriebe, ſondern lediglich um
Vergrößerung bereits beſtehender Betriebe handelt und obwohl nicht nur „An⸗
lieger“, d. h. mit Land angrenzende Nachbarn, ſondern auch Käufer aus der
weiteren Nachbarſchaft in Frage kommen.
An erſter Stelle ſteht die Verflüſſigung der im eigenen landwirtſchaftlichen
Grund und Boden ſteckenden Vermögenswerte durch Verkauf abtrennbarer,
entbehrlicher, vom Stammgut getrennt liegender oder aus anderen Gründen
völlig unwirtſchaftlicher Teile, ſowie bei Großgütern und Herrſchaften der
Verkauf ſelbſtändiger oder unſelbſtändiger Vorwerke oder Nebengüter. Da
Entſchuldung und Schaffung geſunder lebensfähiger Betriebe das Ziel der
ganzen „Landhilfe“ fein ſoll, muß bei allen Maßnahmen der Betriebsverklei⸗
nerung durch Abtrennung von Ländereien die Berückſichtigung betriebswirt⸗
ſchaftlicher Geſichtspunkte oberſtes Gebot ſein. In zahlreichen Fällen bedeutet
die Abſtoßung von Landteilen keinen Nachteil, ſondern einen betriebs⸗ und
eldwirtſchaftlichen Vorteil für den Landabgeber. Es würde eine Fahrläſſig⸗
eit ſowohl dem Schuldner wie ſeinen Gläubigern gegenüber bedeuten, wollte
man ſolche Vorteile unausgenutzt laſſen. Das Ausmaß der Land⸗
abtrennung wird gemeinſam durch die Erforderniſſe des Reſtbetriebes
und die wohlabgewogenen Rechte der N beſtimmt werden müſſen, d. h.,
es gibt Fälle, in denen die Hälfte des Grundbeſitzes und mehr verkauft werden
kann, ohne daß dadurch die Daſeinsgrundlage des Schuldners beeinträchtigt
wird, während es im Gegenſatz hierzu Galle gibt, in denen ſich aus betriebs⸗
wirtſchaftlichen Gründen jedwede Abtrennung von Land verbietet, weil ſie
and zwar zu einer ſchwachen Befriedigung der Gläubiger führen, den
etrieb aber — auf die Dauer geſehen — rettungslos dem Zuſammenb
entgegenführen würde. In ſolchen Gallen kann es richtiger fein, den Betrie
in ſeiner gegenwärtigen Größe zu erhalten und eine Gläubigerbefriedigung
durch Feſtſetzung einer laufenden Rente vorzuſehen, die dem nach Zinszahlung
und Abſpaltung eines angemeſſenen Betrages zur Deckung der perſönlichen
te des Eigentümers verbleibenden Betriebsüberſchuſſe entnommen
wird.
Für die Anwendung des wichtigſten Entſchuldungsmittels, des Landver⸗
kaufes, ift eine einheitlich zwingende Vorſchrift unmöglich. Die Verhältniſſe
liegen in jedem Einzelfall verſchieden und bedürfen jeweils ganz beſonders
ſachkundiger Prüfung. Sie laſſen ſich in einer „Geſamtumſchuldung“ nicht
erſaſſen! Bei Landverkäufen muß ein gerechter Intereſſenausgleich zwiſchen
Die „Osthilfe‘ am Scheidewege | 661
dem Anbieter und Abnehmer herbeigeführt werden. Jede unnötige Bevor⸗
mundung des Abnehmers durch Kulturämter, Siedlungsbanken oder -gefell-
ſchaften zum Schaden der Gläubiger des Anbieters muß unbedingt vermieden
werden. Die Landverkäufe werden vorgenommen, um den Landabgeber in
den Stand Mu ſetzen, ſich zu entſchulden, d. h. feine Gläubiger zu bezahlen.
Dieſe Gläubiger haben einen Anſpruch darauf, daß ein Preis erzielt wird, der
mit den Intereſſen ſowohl des Käufers wie des Verkäufers vereinbar iſt. Die
bisherige Gepflogenheit zahlreicher Siedlungsgeſellſchaften, unter dem Druck
der Verhältniſſe Grund und Boden vom Landabgeber zu Schleuderpreiſen zu
erwerben und ihn dann, ſelbſt unter Berückſichtigung der von ihr vorgenomme⸗
nen Anlagen an Gebäuden uſw., überteuert zu verkaufen, muß ebenſo auf⸗
hören wie das oft durch die Verhältniſſe nicht gerechtfertigte Feſtſetzen völlig
unzureichender, lediglich einſeitig die Käuferintereſſen wahrender Preiſe.
Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß auf die Wahnvorſtellung mancher Landwirte,
ihr Anſehen finke mit der Betriebsgröße, keinerlei Rückſicht genommen werden
kann, wenn der wohlabgewogene Intereſſenausgleich zwiſchen Gläubiger und
Schuldner nach ſorgfältiger betriebswirtſchaftlicher Prüfung eine Betriebs-
verkleinerung erheiſcht. Es ſollte im Gegenteil überall und mit allem Nach⸗
druck darauf hingewieſen werden, daß der Ruf und das Anſehen eines Land⸗
wirtes einzig und allein an ſeiner Tüchtigkeit und dem Erfolge ſeiner Arbeit
zu meſſen iſt, und daß die Betriebsgröße für eine ſolche Beurteilung einen
völlig unbrauchbaren Maßſtab darbietet. Die im Landverkauf liegenden Ent⸗
ſchuldungsmöglichkeiten können durch geldliche Anterſtützung der
Kaufliebhaber ganz außerordentlich geſteigert werden. Zur Streckung
ihrer . und zur Förderung der Hilfe aus eigener Kraft
ſollte deshalb die Amſchuldungsbank die Hergabe in zwei bis drei Jahren tilg⸗
barer Ankaufsdarlehn an Landkäufer ohne Eintragung der oft ſtörenden Wie⸗
derkaufsrechte mit beſonderem Nachdruck betreiben.
Für diejenigen Flächen, die tatſächlich zur Siedlung in des Wortes richtigem
Sinne kommen, muß die einfachſte Aus bau ſiedlung überall dort das Ziel
ſein, wo, wie heute faſt überall, nur geringe Mittel zur Verfügung ſtehen.
Geringe Mittel dürfen nicht dazu führen, Land zu Schleuderpreiſen zu er⸗
werben und die Gläubiger des Landwirtes zugunſten nt bevorzugter
Siedlungsgeſellſchaften zu ſchädigen, ſondern nur dazu, die Siedlung hinſicht⸗
lich der Bauten ſo beſcheiden wie möglich zu errichten. Das deutſche Volk iſt
zur Zeit ſo arm, daß es ſich Luxusbauten nicht mehr leiſten kann. Die Haupt⸗
ſache iſt nicht, die Siedler in maſſiven, beſonders teuren Häuſern anzuſetzen,
ſondern ſie geſund, wohnlich und ſo unterzubringen, daß der nationalpolitiſche
und volkswirtſchaftliche Sinn der „Siedlung“ erfüllt wird. Dieſes Ziel läßt
ſich ſelbſt mit noch viel geringeren Mitteln erreichen, als ſie von dem letzten
Reichsernährungsminiſter genannt worden ſind.
Es iſt nicht einzuſehen, warum der im verarmten Deutſchland anzuſetzende
Siedler nicht eine ähnliche Anſpruchsloſigkeit ſollte aufbringen können, die den
deutſchen Auswanderer kennzeichnet, der ſich in Amerika, Auſtralien oder Afrika
eine neue Heimat zu gründen ſucht und dort jahrelang, ohne Schaden an ſeiner
Geſundheit zu leiden, in den einfachſten Behauſungen lebt. Der einfache Bau
hat den Vorteil, daß ein möglichſt großer Teil der dem Siedler zur Ver⸗
fügung ſtehenden Mittel zur Beſchaffung des für den Betriebserfolg ſeiner
Stelle ausſchlaggebend wichtigen lebenden und toten Beſatzes dienen kann. Er
662 Otto Jüngst
bat weiterhin den Vorteil, daß die Wahl des Bauplatzes für die endgültigen
Gebäude in aller Ruhe nach gründlicher Vertrautheit mit den örtlichen Vere
hältniſſen getroffen und damit die ſonſt üblichen Fehlgriffe nach Möglichkeit
vermieden werden können ).
Aber nicht nur rein geldlich, ſondern auch pſychologiſch geſehen, erſcheint
die einfachſte Art der Siedlung wertvoller als ein nach den Plänen einer
Siedlungsgeſellſchaft fertig hingeſtelltes Haus. Der Siedler, der ſeine Ge⸗
bäude in der einfachſten Bauart eigenhändig herſtellt, verwächſt mit ihnen und
feiner Stelle unendlich feſter als der, für den alles von einer Siedlungsgeſell⸗
ſchaft zu hohen Preiſen fix und fertig hergerichtet wird. Der letztere fühlt ſich
nur allzu leicht als „Staatsrentner“ mit einem „Anſpruch“ auf Anterſtützung,
wenn die mit Wiſſen der öffentlichen Hand überteuerte Stelle ihre Rente ver⸗
ſagt. Der erſtere dagegen, der mit eigener Kraft alles ſchafft, wird zu dem,
was wir vordringlich brauchen, zum freien Bauern. Der Hinweis auf die bis⸗
lang noch völlig unausgeſchöpften Möglichkeiten billigſter Siedlung erſcheint
notwendig, weil er eine weit ſtärkere Heranziehung der in den umzuſchuldenden
Betrieben ſchlummernden Mittel ermöglicht und damit gleichbedeutend mit
einer weitgehenden Erſparnis an öffentlichen Amſchuldungsgeldern iſt. Bei
Verſuchen der Geſundung aus eigener Kraft treten häufig dadurch Schwierig⸗
keiten auf, daß die erſtſtelligen Hypothekengläubiger im Hinblick auf den ge⸗
ſunkenen Grundſtückswert Rückzahlungsforderungen als Vorausſetzung ihrer
Pfandentlaſſungserklärung ſtellen, die ein gerechtes Maß überfchreiten und
den Entſchuldungsverſuch zunichte machen, weil infolge übertriebener Forde⸗
rungen des erſtſtelligen Gläubigers Mittel zur Abfindung weiterer Gläubiger
aus den Landverkäufen nicht verfügbar bleiben. Am derartige Sabotageakte
erſtſtelliger und anderer Hypothekengläubiger zu vereiteln, iſt es notwendig,
daß die vorerwähnten Spruchkammern auch die Befugnis erhalten, über den
Preis von Pfandentlaſſungserklärungen, wenn eine annehmbare friedliche
Einigung nicht zuſtande kommt, endgültige Entſcheidungen zu fällen.
Der Landverfauf als Mittel zur Entſchuldung kann im übrigen hier und da
ſtark gefördert werden, wenn es gelingt, durch Einſatz des freiwilli⸗
an Arbeitsdienſtes bisher mehr oder minder ungenutzte
lächen der allgemein⸗landwirtſchaftlichen Nutzung zu⸗
zuführen, ſo daß dieſe Flächen entweder zum Verkauf geſtellt oder aber
unter Preisgabe entſprechender anderer Flächen in die Bewirtſchaftung ein⸗
bezogen werden können. Daß alle bürokratiſchen Hemmniſſe bei Eintragungen
in die, neben neuzeitlichen Karteien faſt prähiſtoriſch anmutenden Grundbücher
und bei den Arbeiten der „Siedlungsbehörden“ beſeitigt werden müſſen, wird
lediglich der Vollſtändigkeit halber erwähnt.
Sonſtige Heranziehung des Grundvermögens
Häufig iſt es aus betriebswirtſchaftlichen Gründen nicht möglich, Land zu
verkauſen, wohl aber, ſtatt deſſen drängende Inhaber ungedeckter Forderungen
durch die Eintragung langfriſtig tilgbarer Darlehn zu befriedigen. Auch die
Fälle find nicht ſelten, in denen, oft ſogar vom Gutseigentümer ſelbſt ver-
*) Hierzu bitten wir, den Aufſatz von A. Ruf im Novemberheft 1932 dieſer
Monatsſchrift zu beachten. D. Schriftl.
Die „Osthilfe“ am Scheidewege | 663
geſſen, im Geſamtbetriebe früher einmal zugekaufte, dem Stammgrundſtück
aber nicht zugeſchriebene und dementſprechend auch nicht belaſtete Grundſtücke
vorhanden ſind. Wenn ſolche Stücke, wie das häufig der Fall iſt, aus betriebs⸗
wirtſchaftlichen Gründen im Betriebe verbleiben müſſen, beſteht die Möglich⸗
keit der Abtretung an Gläubiger und Anpachtung von dieſen, oder aber der
Gläubigerbefriedigung durch Eintragung einer grundbuchlichen Sicherheit.
Heranziehung betriebsfremden Grundbefiges
Im Rahmen der Oſthilfe iſt der Blick zunächſt ſtets auf die Landwirtſchaft
gerichtet. Es wird infolgedeſſen hier und da überſehen, daß neben landwirt⸗
ſchaftlichem auch ſtädtiſcher Grundbeſitz vorhanden ſein kann. Es iſt ſelbſtver⸗
ſtändlich, daß ſolcher Grundbeſitz — ſei es durch Verkauf oder durch Belaſtung
— zur Entſchuldung in vollſtem Amfange herangezogen werden muß. Für
Wertpapiere, Hypotheken, Beteiligungen an Erwerbsunternehmen, Bürg⸗
ſchaften, für die der Landwirt in Anſpruch genommen iſt und aus denen er
dementſprechend Forderungen beſitzt, uſw. gilt das gleiche.
Verwandten und Freundeshilſe
Oft find Freunde oder Verwandte bereit, durch Betriebszuſchüſſe oder
Gläubigerbefriedigung zu helfen, wenn ihnen die Gewähr gegeben wird, daß
mit einer ſolchen Hilfe ein tatſächlicher, endgültiger Erfolg erzielt werden
kann. Auch dieſe Möglichkeit ſollte mehr als bisher ausgenutzt werden.
Freiwillige Gläubigervergleiche
Freiwillige Vergleiche mit Gläubigern find ſchon ſeit jeher eines der Haupt⸗
mittel der Entſchuldung nicht nur landwirtſchaftlicher Betriebe, ſondern aller
Zweige der Wirtſchaft geweſen. Ihre Hervorhebung geſchieht hier nur der
Vollſtändigkeit halber. Daß freiwilligen Vergleichen der Vorzug vor Zwangs⸗
vergleichen gegeben werden muß, iſt ſelbſtverſtändlich.
Die Vergleichsgeneigtheit muß überall dort, wo im Rahmen der „Land-
hilfe“ Schuldenablöſung vorgeſehen iſt, durch ſofortige Barauszahlung
aufs m. angeregt werden. Wenn die Spruchlammer beim Cingeben auf
ihren Vorſchlag zu ſofortiger Zahlung ermächtigt ift, wird fie Nachläſſe
von 50 % und mehr erzielen, wo ſonſt nur 25 % zu erreichen find! Dieſe
Möglichkeit muß unbedingt ausgenutzt werden. Bargeld lachte ſchon immer,
aber heute mehr denn je!
Ablöſungsdarlehn zur Ausnutzung von Kursgewinnen
Die Amſchuldungsbank muß Darlehn zur Ablöſung von Hypotheken und
ähnlichen Verbindlichkeiten, bei denen durch die Ablöſung ein Kursgewinn zu
erzielen iſt, der für die Entſchuldung nutzbar gemacht werden kann, in größtem
Amfange zur Verfügung ſtellen. In erſter Linie kommen hier Amerika⸗Anleihen,
Landſchaftshypotheken uſw. in Frage. Bei einigen Amerika ⸗Anleihen find
zur Zeit noch — früher ſind ſie höher geweſen — Kursgewinne von annähernd
40 % zu erzielen. Wenn auch die Schwierigkeiten, die mit ſolcher Ablöſung
möglicherweiſe verbunden ſind, nicht unterſchätzt werden, ſo müſſen im Intereſſe
der Bereinigung der Verhältniſſe doch Mittel und Wege gefunden werden,
die zu einer möglichſt umfaſſenden Ausnutzung dieſer Hilfsquelle führen können.
664 Otto Jüngst
Zwangsweiſe Gläubigervergleiche
Bei zwangsweiſen Gläubigervergleichen wird zunächſt nur eine Kürzung
der Zinsrückſtände und erſt, wenn dieſe nicht ausreicht, eine Kürzung der Ka⸗
pitalforderungen vorgenommen werden. Da nicht damit zu rechnen iſt, daß
die große und mächtige Gruppe öffentlich- rechtlicher Hypothekeninſtitute (Land⸗
ſchaften, Hypotheken⸗ und Pfandbriefbanken uſw.) in unmittelbaren Verhand-
lungen mit einzelnen Gläubigern für die Zukunft freiwillig Zinsſenkungen
bewilligen werden, bleibt nichts anderes übrig, als den bereits durch Not⸗
verordnung beſchrittenen, aber nicht zu Ende gegangenen Weg geſetzlicher
zwangs mäßiger Zinsſenkung weiter zu verfolgen. Angeſichts der
Gefahren, die durch erneute Zwangszinsſenkungen in Geſtalt von Erſchütte⸗
rungen des Vertrauens in deutſche Zinsverſprechungen auftreten können, wäre
es fraglos vorteilhafter, wenn an Stelle zwangsweiſer Zinsſenkung eine frei-
willige Zinsſenkung träte. Es beſteht auch kein Zweifel darüber, daß eine
Vielzahl der Gläubiger der Landwirtſchaft vernünftig genug iſt, fic angefichts
der Gegenwartsverhältniſſe und Zukunftsausſichten lieber mit verringertem
Kapital und verringerten Zinſen zufriedenzugeben, als auf ihrem „Schein“ zu
beſtehen und dabei Gefahr zu laufen, alles zu verlieren. Bei der völlig ab⸗
lehnenden Einſtellung der Hypothekenbanken und Landſchaften bleibt jedoch
nichts anderes übrig, als eine allgemeine Zinsſenkung kraft Geſetzes anzuordnen.
Die Frage der Kürzung von Kapitalforderungen verlangt die
Beachtung folgender Geſichtspunkte: Die allgemeine Entwertung landwirt-
ſchaftlich genutzten Grund und Bodens iſt zu weitgehend, als daß ſie nur als
Konjunkturerſcheinung gewertet werden könnte. Im Hinblick auf die allge⸗
meine Weltwirtſchaftslage kann mit einem Wiederanſtieg der noch vor drei
Jahren vielfach überhöhten und ſeither jäh abgeſtürzten Bodenpreiſe auf Vor⸗
kriegshöhe keinesfalls gerechnet werden. Man wird vielmehr davon ausgehen
müſſen, die Gegenwartspreiſe als die für den Augenblick richtigen zu betrachten.
Es ijt unendlich viel wichtiger, die Schuldverhältniſſe ſofort zu bereinigen
und alle Beteiligten ſofort willen zu laſſen, womit fie in Zukunft zu rechnen
haben, als ſcheinwiſſenſchaftliche Anterſuchungen und tiefſchürfende Mut⸗
— über die Möglichkeiten zukünftiger Vodenpreisentwicklung anzu⸗
ellen.
Die als gegeben anzuſehende Entwertung des Bodens und aller landwirt-
ſchaftlichen Betriebe bedeutet für alle Darlehnsgeber eine Wertminde-
tung ihrer Darlehns unterlagen. Dementſprechend find für alle Darlehns⸗
geber angemeſſene Abſchreibungen vom Kapital erſorderlich unter gerechter
Würdigung der gegenwärtigen wahren Werte. Dieſe Notwendigkeit trifft
den grundbuchlich geficherten ebenſo wie den ungeficherten Gläubiger, nur in
verſchiedenem Maße. Hier heißt es, einen gerechten Gradmeſſer zu finden, als
der keinesfalls die grundbuchliche Nangſtelle betrachtet werden kann. Der
bedingungsloſe Schutz der erſten Hypothek muß eindeutig
beſeitigt werden.
Die keinesfalls ſeltenen Fälle von vornherein erfolgter Aberbeleihung ſelbſt
durch öffentlich⸗rechtliche Darlehnsgeber laſſen den allgemeinen geſetzlichen
Schutz aller erſten Hypotheken als grobe Angerechtigkeit erſcheinen, die die
nachſtehenden grundbuchlichen und ungeſicherten Gläubiger in beſondere Ver⸗
luſtgefahren bringt. Das Gemeinwohl verlangt in ſolchen Fällen unbedingt
eine ſtarke Kürzung des keineswegs immer mit der erforderlichen Vorſicht
Die ,,Osthilfe“ am Scheidewege | 665
gegebenen erſten Darlehns zugunſten der Folgegläubiger, die ſich — wo es
ſich um öffentlich⸗ rechtliche Stellen als Geber der erſten Hypothek handelt —
oft in der Beurteilung des Wertes und der Sicherheit mangels eigener Ein-
ſichtmöglichkeiten den erſtſtelligen Gläubiger zum Vorbild genommen haben.
Wenn ſchon allgemein im Hinblick auf den Rückgang aller Werte bei Ka⸗
pitalskürzungen vor erſten Hypotheken nicht haltgemacht werden darf, ſo be⸗
ſonders nicht bei den ſoeben erwähnten. Es wird Aufgabe des Geſetzgebers
und der Spruchkammern ſein, eine Staffelung ausfindig zu machen, die den
verſchiedenartigen Intereſſen der umzuſchuldenden Betriebe und deren Gläu⸗
bigern auf der einen und den Pfandbrief- uſw. Gläubigern auf der andern
Seite gerecht wird. Die völlig willkürlich anmutende und jeder Nedhtsgrund-
lage entbehrende bisherige verſchiedenartige Behandlung der Gläubiger muß
unter allen Amſtänden zugunſten einer organiſchen, den jeweiligen Verhält⸗
niſſen individuell Rechnung tragenden Intereſſenabſtufung weichen.
Was beim freiwilligen Vergleich über ſofortige Barauszahlung geſagt
worden iſt, gilt natürlich auch hier. Im übrigen ſoll unbare Befriedigung
(Entſchuldungsbriefe) möglichſt nur bei Großgläubigern vorgenommen wer⸗
den, die die Möglichkeiten für die Anterbringung der Entſchuldungsbriefe
beſitzen und keine Gefahr laufen, bei der Verwertung erneute Verluſte zu er⸗
leiden. Am den großen Schwierigkeiten zu entgehen, die bei den gegenwärtigen
Amſchuldungsmaßnahmen durch den während des Verfahrens laufenden Zins⸗
zuwachs — der mit dem zu Beginn aufgeſtellten Entſchuldungsplan nicht in
Einklang zu bringen iſt — entſtehen, iſt in Zukunft einheitlich vom Tage der
Aufftellung des Entſchuldungsplanes an der Lauf ſämtlicher Zinſen zu unter⸗
brechen, d. h. während des Verfahrens, deſſen Dauer in Zukunft nur noch
einen Bruchteil des bisherigen betragen wird, dürfen keinerlei neue Zinſen
entſtehen. Bei der Regelung der Schuldverhältniſſe hat man es nur noch mit
feſtſtehenden und nicht mehr mit täglich ſich vermehrenden Zinsrückſtänden
zu tun.
Amſchuldungsdarlehn
Die hypothekariſch zu ſichernden Amſchuldungsdarlehn, die jetzt ſeitens der
Bank für deutſche Induſtrie⸗Obligationen gewährt werden, und mit denen
heute hauptſächlich die Oſthilfe beſtritten wird, find z. 3. auf eine Durch-
ſchnittsjahresleiſtung an Zinſen und Tilgungsbeträgen von 8,7 % abgeſtellt.
Dieſer Satz iſt für den verfolgten Zweck entſchieden zu hoch. Es muß erreicht
werden, ihn erheblich zu ſenken, ohne die jetzige Tilgungsfriſt von 33 Jahren
weſentlich zu verlängern. Die Auszahlung der Amſchuldungsdarlehn erfolgt
heute zum größten Teile in Entſchuldungsbriefen. Ohne die Zweckmäßigkeit
dieſes Verfahrens hier erörtern zu wollen, muß doch für den Fall ſeiner Bei⸗
behaltung angeſichts des Zieles tatkräſtiger Wirtſchaftshilfe angeſtrebt wer⸗
den, die Auszahlung in Entſchuldungsbrieſen auf Großgläubiger zu beſchrän⸗
ken und die vorſtehend bereits erwähnte pſychologiſche Wirkung der ſofortigen
Vargeldablöſung im Intereſſe der Allgemeinheit aufs äußerſte auszunutzen.
Daß die Entſchuldungsbriefe bei der Schuldablöſung vollwertig ſein und nicht,
wie jetzt, nur mit erheblichen Kurseinbußen abzuſetzen ſein dürfen, iſt eine
Selbſtverſtändlichkeit, weil ſonſt die Gläubiger, die in Entſchuldungsbriefen
befriedigt werden, neben der — möglicherweiſe im Vergleichswege gewährten
666 Edmund Schmid
Kürzung ihrer Forderungen — noch einen weiteren Verluft bei Veräußerung
der Briefe erleiden, alfo mo geſchädigt würden.
Gleichzeitig mit der Amſchuldung ſind im Rahmen der „Landhilfe“ zur
Vermeidung erneuter Verſchuldung landwirtſchaftlicher Betriebe beſtimmte
Maßnahmen — beiſpielsweiſe Feſtſetzung einer, gegebenenfalls grundbuchlich
einzutragenden, Verſchuldungsgrenze, Eingliederung der umgeſchuldeten Wee
dae : Arbeitsgemeinſchaften an Stelle polizeilicher Aberwachung uſw. —
vorzuſehen.
Nur auf dieſe Weiſe kann den Hilfsmaßnahmen ein Dauererfolg beſchieden
fein!
*
Die Ausführungen haben, ohne in der Aufzählung erſchöpfend zu fein, be⸗
wieſen, daß Hilfskräfte und mittel zur Durchführung einer „Einzelumſchul⸗
dung“ zur Verfügung ſtehen. Nicht ein Verſuch wird gefordert, ſondern nur
die planmäßige, organiſche Durchſührung in der Praxis erprobter Maßnah-
men! Nicht eine Vergewaltigung, wie ſie eine „Geſamtumſchuldung“ dar⸗
ſtellen würde, ſondern gerechte Löfung auf dem Boden gegebener Tatſachen!
Die Hilfskräfte ſtehen bereit — ſie erwarten den Führer
und feine Befehle!
Edmund Schmid:
Zefte oͤeutſche Koloniſationsarbeit in Rußland
Die Wende des 19. Jahrhunderts ſah die letzte große, organiſierte Anſied⸗
lung deutſcher Bauern im Auslande. Die Zarin Katharina II. hatte weite
Flächen Landes im Oſten, an der Wolga, und im Süden, am Schwarzen
Meere, erworben. Am ihren Beſitz zu feſtigen und die Steppenflächen der
Kultur zu erſchließen, rief ſie Koloniſten herbei. Was lag näher, als daß ſie,
die deutſche Prinzeſſin, dieſe Koloniſten aus Deutſchland holte, das immer
fremden Ländern die Koloniſatoren und Kulturträger gegeben hatte? War
nicht Rußland ſchon von je eine deutſche Kolonie, angefangen von den erſten
Machtträgern, den ſagenhaften Warägern, die in Wirklichkeit Franken waren,
bis zu den großen deutſchen Handwerkerkolonien der ruſſiſchen Städte im
Mittelalter und den Handelsniederlaſſungen der deutſchen Hanſa? So berief
denn Katharina II. deutſche Koloniſten an die Wolga, und ſpäter ſie und
Alexander I. an die Afer des Schwarzen Meeres. Die Koloniſation war
organiſiert von der Werbung an, ebenſo die Reiſe und die erſten Anterkünfte.
Auf ihren Stellen angelangt, blieben die Koloniſten in ihrer Arbeit ſich ſelbſt
und dem Elend überlaſſen. Erſt ſpäter wurden für ihre Verwaltung eigene
Fürſorge⸗Komitees geſchaffen. Neben den beiden Hauptſiedlungen an der
Wolga und am Schwarzen Meer gingen Nebenſtröme einher, die ſich auf
verſchiedene Gebiete des ruſſiſchen Reiches verteilten. Arſprung und Art ihrer
Letzte deutsche Kolonisationsarbeit in Rußland 667
Niederlaſſung ſowie ihre wirtſchaftliche Entwicklung find ſehr verfchieden.
Deutſchland kennt in der breiten Offentlichkeit eigentlich nur die deutſchen
Kolonien an der Wolga. Der Name „Wolga“ iſt eben bekannter, und ſo
ſchreibt einer dem anderen nach und eine Zeitung der anderen, wenn von deut⸗
ſchen Bauern in Rußland die Rede iſt; es ſind dann eben immer die deutſchen
Koloniſten der Wolga.
Es gibt aber eine ganze Reihe deutſcher Bauernſiedlungen im ehe⸗
maligen ruſſiſchen Reiche, jede von ganz beſtimmtem Charakter und beſonderer
Eigenart. Herausgeber und Schriftleiter geben mir Gelegenheit, in der „Deut⸗
ſchen Agrarpolitik“ neuerdings über dieſe bedeutende agrarpolitiſche Erſchei⸗
nung der deutſchen Öffentlichkeit zu berichten). Es ſollen hier zunächſt die
einzelnen Koloniſationsgruppen angeführt und über ihre Entſtehung, ihre Art
und ihre wirtſchaftliche Entwicklung kurz berichtet werden. In einem weiteren
Aufſatz ſoll dann die Verfaſſung der Gruppe am Schwarzen Meer geſchildert
werden, die im vergangenen Jahrhundert eine ungeheure koloniſatoriſche Tä⸗
tigkeit entfaltet hat, die ſelbſt die Koloniſationstätigkeit der Neuen Welt ver⸗
hältnismäßig in den Schatten ſtellt.
Gruppierung der deutſchen Koloniſation in Rußland
1. Die baltiſche Gruppe
Sie iſt die älteſte und bekannteſte der deutſchen Kolonien in Rußland. Ihre
Anlage erſolgte nicht von Rußland, ſondern vom alten Deutſchen Reich, von
den Hanſaſtädten aus und den deutſchen Nitterorden. Erſt ſpät wurde fie dem
ruſſiſchen Reiche einverleibt und kann und muß deshalb in unſerer Gruppie-
rung aufgeführt werden. Geſchichte und Art dieſer deutſchen Niederlaſſung
find wohl am beſten bekannt und erfahren demnächſt in dieſer Zeitſchrift eine
eingehende Darſtellung von berufener Seite. Ich kann mich daher hier auf eine
ganz kurze Charakteriſierung beſchränken, um ſie in ein richtiges Verhältnis
zu den übrigen deutſchen Gruppen in Rußland zu bringen. Die baltiſche
Siedlung iſt eine ausgeſprochene Herrſchaftsſiedlung ſowohl in der Stadt,
noch mehr auf dem Lande. Dieſe Herrſchaftsſiedlung wurde nicht untermauert
durch den Nachzug und die Anſiedlung deutſcher Bauern, ſondern beließ die
eingeborenen Völker der Letten und Eſten in ihrem beſchränkten Beſitz. Das
Feudalſyſtem fand hier eine ganz ausgeprägte Geſtaltung. —
2. Die polniſch⸗wolyniſche Gruppe
Dieſe Gruppe bildet in politiſch⸗ſozialer Beziehung genau das Gegenſtück
der baltiſchen Gruppe. Deutſche Bauern und Arbeiter kamen zu fremden Land⸗
befigern, um in ihrem Dienſt oder in Pachtverhältnis das Land zu bearbeiten.
Schon im 13. Jahrhundert hatte die deutſche Anſiedlung in Polen begonnen
und dauerte, allerdings mit großen Anterbrechungen, bis zum Ende des 18.
) Im Jahre 1917 erſchien im Verlage der „Deutſchen Landbuchhandlung,
G. m. b. H., Berlin“ von dem gleichen Verfaſſer die Schrift: Die deutſchen Bauern
in Südrußland. Mit Anterſtützung der Geſellſchaft zur Förderung der inneren
„Koloniſation herausgegeben von E. Schmid Frankfurt a. O. Die Schrift ift in
6000 Exemplaren erſchienen und dürſte heute vergriffen ſein. D. V.
668 Edmund Schmid
Jahrhunderts, um zu dieſer Zeit mit erneuter Kraft einzuſetzen. Dieſe neue
Anſiedlungsbewegung hält durch das ganze 19. Jahrhundert an. Die älteren
Anſiedlungen waren auf Einladung der polniſchen Fürſten erfolgt. Die große
Maſſe der neueren Anſiedler, beſonders im 19. Jahrhundert, iſt dagegen aus
eigenem Antriebe eingewandert, als Arbeiter, Pächter und Verwalter, in
fortdauerndem Zuzuge von Preußen aus. Immer weiter drangen ſie in Polen
vor in breiten Streifen von Weſt nach Oſt, in die Gouvernements Kaliſch,
Petrikau, Plotzk und Warſchau. Einen beſonders kräftigen Anſtoß gewann
dieſe Einwanderung in den Jahren 1791 — 1806, als dieſe polniſchen Pro-
vinzen in der zweiten Teilung Polens Preußen zugeſprochen worden waren.
Als bei den polniſchen Aufſtänden in den Jahren 1830/31 und 1862/64 die
deutſchen Bauern ſich den Aufſtändiſchen nicht anſchließen wollten, wurden ſie
von den Polen ſchwer verfolgt. Viele von ihnen wanderten deshalb weiter
nach Südoſten, in das Gouvernement Wolynien und in ſchwächerem Strome
in das Gouvernement Kiew. In Wolynien hatte es auch ſchon vordem deutſche
Anſiedlungen eee deren ältefte vom Jahre 1765 aus der Gegend von
Frankfurt a. M. ftammte.
Alle dieſe deutſchen Siedler waren ſowohl in Polen als auch in Wolynien
und Kiew in verhältnismäßig ſtark bevölkerte Gegenden mit alteingeſeſſenem
Landadel von annähernd weſteuropäiſcher Kultur gekommen. Deshalb iſt es
nur ſelten zur Gründung geſchloſſener deutſcher Dörfer und Gebiete gekommen,
am häufigſten noch in Wolynien ). And ebenſo iſt es nur wenigen Deutſchen
elungen, fich ſelbſtändige größere Gutsbefige zu erwerben. Die Mehrzahl, in
Polen bis zu 90 %, iſt Pächter geblieben. Zerſtreut und eingekeilt zwiſchen
den kulturell tieferſtehenden polniſchen und ukrainiſchen Bauern und den
maſſenhaft dort wohnenden Juden, konnten ſie nur in den mittleren polniſchen
Geſellſchaftsſchichten Anſchluß finden. Als die nationaliſtiſchen Bewegungen
entſtanden, verfielen die Deutſchen in Polen vielfach dem Einfluſſe dieſer
Kreiſe. Am fo mehr, als der polniſche Nationalismus beſonders unduldſam
und agreſſiv iſt, die Agitation aber häufig in der beſtechend liebenswürdigſten
Gorm erfolgte. Verfielen dieſen Einflüſſen doch ſelbſt proteſtantiſche Paftoren-
kreife, die ſonſt zu den widerſtandsfähigſten deutſchnationalen Elementen ge⸗
rechnet werden. Damit minderte ſich der Widerſtand gegen die Poloniſierung,
der ſeinen feſteſten Halt im Anterſchiede der Konfeſſion findet. Der Name des
Paſtorenführers „Burſche“ ſteht in diefer Beziehung in übelſtem Andenken.
In Wolynien waren die nationalifierenden Einflüſſe ſchwächer. Hier hat ſich
das Deutſchtum unter den Koloniſten beſſer erhalten.
Den deutſchen Bauern in dieſen Gebieten fehlten ſomit die geſchloſſene An-
ſiedlung, der feſtgewurzelte Beſitz und angeſtammte oder verliehene Rechte.
Selbſt in politiſcher Beziehung kamen ſie zu keinem klaren Verhältnis zum
ruſſiſchen Staate. Manche von ihnen waren deutſche Staatsangehörige ge⸗
blieben, viele hatten die deutſche Staatsangehörigkeit verloren, ohne die ruſſiſche
zu erwerben. Dieſer letztere Amſtand gab der ruſſiſchen Regierung die Mög⸗
lichkeit, hier leichter und erfolgreicher zerſtörend einzugreifen. And als das Rad
der Verfolgung einmal im Rollen war, wurden in den Topf der deutſchen und
) Im Gouvernement Warſchau werden in der Zeit von 1880 — 1890 neben
61 rein deutſchen Dörfern 586 gemiſchte Anſiedlungen gezählt.
Letzte deutsche Kolonisationsarbeit in Rußland 669
ſtaatenloſen Koloniſten ohne weiteres auch die ruſſiſchen Untertanen deutſcher
Nationalität geworfen ).
Als nun im Kriege Polen und Wolynien zum Kriegsſchauplatze wurden,
wurden die deutſchen Bauern, ſoweit man ihrer noch habhaft werden konnte,
ausgefiedelt und in den Often Rußlands und nach Sibirien geſchickt. Nach
Friedensſchluß durften fie zurückkehren, fanden aber vielfach ihre Höfe, ſoweit
fie noch beſtanden, von Nuſſen beſetzt vor. Die damalige deutſche Beſatzung
tat ihr Möglichſtes, um den Zurückkehrenden zu ihrem Rechte zu verhelfen.
Ihr großes Anglück begann aber erſt nach dem allgemeinen Friedensſchluſſe.
Ein Teil von Wolhynien blieb bei der Akraine und wurde damit den Volſche⸗
wiſten ausgeliefert. Der andere kam zu Polen, wo es ihnen nicht viel beſſer
erging. Das perfide Vorgehen Polens erhellt aus der Anwendung eines
polniſchen Geſetzes vom Jahre 1924. Dieſes beſtimmt, daß alle Pächter Eigen⸗
tümer werden, wenn ſie nicht länger als ein Jahr abweſend geweſen waren.
Da nun die deutſchen Pächter drei Jahre nach Innerrußland verſchickt ge⸗
weſen waren, verloren ſie ihre Pachten und wurden auf die Straße geſetzt.
Von der polniſchen Enteignungspolitik wurden über 300 000 ha deutſchen
Klein- und Großgrundbeſitzes betroffen. Vor dem Kriege wohnten in dieſem
Gebiete 100 000 Deutſche, jetzt 48 000. 50 deutſche Kolonien find ganz ver⸗
ſchwunden, in 60 früher rein deutſchen Kolonien ſind die Deutſchen heute in
der Minderheit. Von 560 deutſchen Schulen, die 1919 noch beſtanden, find
heute noch kaum 100 übrig.
Dem Antergang geweiht!
Aber Bevölkerungs⸗ und Befitzverhältniſſe im polniſch⸗wolyniſchen Gebiet
vor dem Kriege geben folgende Ziffern Aufſchluß: Geſamtbewohner 12 391 753;
Deutſche 700 000, deutſche Bauern 300 000. Geſamtfläche 206787 Quadrat-
werſt ) = rund 20 Mill. Deßj. Davon in deutſcher Bewirtſchaftung rund
1000 000 Dßji., in Cigenbefig rund 500 000 Deßi.
3. Die Petersburger Gruppe
Im Jahre 1765 gründeten 110 Brandenburger und Württemberger Fa⸗
milien 3 deutſche Kolonien im Gouvernement Petersburg. Im Jahre 1768
bildeten 67 Pfälzer Familien 3 weitere Kolonien. Beide dürften von den
nach der Wolga wandernden deutſchen Koloniſten abgeſplittert ſein. Im Jahre
1808 wurde Kronſtadt, in den Jahren 1810— 1812 5 weitere deutſche Kolo⸗
nien gegründet, darunter Peterhof und Oranienbaum. Im Jahre 1843 er⸗
folgte die letzte Gründung, die Kolonie Suamen. Dieſe 13 deutſchen Kolo⸗
nien umfaßten zu dieſer Zeit 3035 Seelen. Sie beſchäftigten ſich mit Land«
wirtſchaft (Kleinbau) und in der Nähe der Städte mit Lohnfuhrwerkerei.
4. Die Wolgagruppe
Dieſe wurde in den Jahren 1764 — 1776 in den Gouvernements Garatow
und Samara zu beiden Seiten der Wolga gebildet. Die Anzahl der anſänglich
*) In Wolynien zählte man vor dem Kriege unter den deutſchen Bauern 68 830
ruſſiſche Staatsangehörige mit 162 872 Deßj. Landbeſitz und 18 301 deutſche
Staatsangehörige mit 290 912 Deßj. Landbeſitz. 1 Deßj. = 1,09 ha.
**) 1 Werft = 1,067 km.
670 Edmund Schmid
gegründeten deutſchen Kolonien betrug 104 mit 23 184 Seelen. Die Anfied-
lung dieſer deutſchen Bauern bildete den erſten Verſuch der ruſſiſchen Regie ⸗
rung unter Katharina II., durch eine größere Koloniſation die weiten neu⸗
erworbenen Provinzen planmäßig zu bevölkern und einer geordneten Wirt⸗
ſchaft zuzuführen. Ein Verhältnis von Gutsherrſchaft zu Pächtern oder Hö⸗
rigen kam hier nicht in Betracht. Es war eine ausſchließliche Bauernſiedlung.
Das den Anſiedlern von der Regierung zugewieſene Land (Kronland) wird
Eigentum der Gemeinde, ſie ſelbſt ſind freie Bauern. Das erlangte ſeine große
Bedeutung durch den Amſtand, daß die ruſſiſchen Bauern damals noch durch
hundert Jahre der Leibeigenſchaft unterlagen. Die erſte Generation der Wolga⸗
koloniſten hatte ſchwer zu leiden unter Kirgiſeneinſällen und im Pugatſchow⸗
ſchen Aufſtand. Als die Zeiten ſicherer wurden, nötigte die Regierung den
deutſchen Kolonien die altruſſiſche Landordnung des „Mir“ auf (im Jahre
1816), die die uneingeſchränkte Entwicklung eines freien, ſelbſtändigen Bauern⸗
une unterband. Das der Gemeinde zugewieſene Land iſt Gemeinbeſitz.
lle männlichen Gemeindeangehörigen ohne Anterſchied des Alters, der Be⸗
ſchäftigung und des Wohnortes haben gleiches Recht auf gleiche Teile des
Landes. Alle zwölf Jahre fand die Neuverteilung (Revifion) ſtatt, auf Antrag
der Gemeindemitglieder auch in kürzeren Abſtänden. Gemeinſamer Befitz
führte zu gemeinſamer Wirtſchaft. Der Vater behielt ſeine Söhne, auch nach⸗
dem ſie ſich verheiratet hatten, bei ſich zu Hauſe und zog ſelbſt die Schwieger⸗
ſöhne nach Möglichkeit in ſein Haus, um recht viele männliche Familienglieder
aufweiſen und ſo möglichſt viele Landanteile auf ſich vereinigen zu können.
Viele Kinder waren Reichtum. Knaben brachten Land mit ſich, Mädchen
Arbeitskräfte. Das Land wurde gemeinſchaftlich unter der Leitung des Alt-
vaters bearbeitet. Es ergab ſich eine patriarchaliſche Familienwirtſchaft mit
all ihren guten und ſchlimmen Folgen. Anfänglich, ſolange die Bevölkerung
noch nicht zu ſtark angewachſen war, ergab dieſe Betriebsart ſtarke Gemeinden
mit gutem Wohlergehen, ſelbſt einer Art Wohlhabenheit. In der Mitte des
19. Jahrhunderts bekamen die Wolgakoloniſten zur Neugründung von Dör⸗
fern einen Teil des Reſervelandes zugewiefen, das ihnen urſprünglich zugeſagt
war. In die Jahre 1850 — 1880 fällt die Blüte ihres Wohlſtandes. Mit der
Zeit aber wuchſen die Dörfer über ſich ſelbſt hinaus. Manche kamen auf Gee
völkerungsziffern von 5000, 8000 und 10 000 Seelen und darüber. Der Land-
beſitz aber wuchs nicht mit, die Landanteile wurden immer kleiner. Damit
begann die Verarmung. Gerade in den kritiſchen Jahren zu Ende des 19. Jahr⸗
hunderts vernichtete die Regierung den einträglichen Tabakbau der deutſchen
Wolgakoloniſten durch Einführung der Akziſe. Eine Reihe von Mißernten
in den Jahren 1887 — 1894 gab den Kolonien den Reft. Die Wirkung war fo
ſchlimm, daß die ganze Wolgagegend, der Kaukaſus und das Schwarzmeer⸗
gebiet von den vor dem Hunger fliehenden armen Saratowern und Samarern
überſchwemmt wurde. Ganze Familien verfielen dem Vettel.
Der patriarchaliſche Betrieb im gemeinſamen Haushalte mit den vielen
Familienangehörigen hatte die Anternehmungsluſt des Einzelnen gebunden,
hatte bei Männern Faulheit erzeugt, da die Arbeit den vielen Frauen zufiel.
Die ganze Aufmerkſamkeit war auf Wahrung des Anteils am gemeinſamen
Beſitz gerichtet. Die Koloniſten empfanden keine Nötigung, ſich eigenes Land
zu erwerben. Solange es ihnen gut ging, fehlte der Anlaß, und als es ihnen
ſchlecht ging, das Geld. Ein bedeutender ſelbſtändiger deutſcher Gutsbeſitz
Letzte deutsche Kolonisationsarbeit in Rußland 671
in gekauftem Eigentum konnte fid fo in den beiden Gouvernements Saratow
und Samara nicht entwickeln. Der äußere Zuzug in dieſe Bezirke kam vom
Süden. So gründeten die Mennoniten von 1858 —1866 eine Reihe von Nie⸗
derlaſſungen im Gouvernement Samara. Bei alledem find die deutſchen
Wolgakoloniſten keineswegs ohne Intelligenz und Tatkraft. Sobald fie ſich
dem Sumpfe ihrer Familienwirtſchaft 1 und ſich auf eigene Füße ſtell⸗
ten, leiſteten ſie nicht ſelten Gutes und Vorzügliches und kamen vorwärts.
Die vornehmſte Straße in Saratow, die „deutſche Straße“, kennt eine Reihe
roßer Geſchäfte, die den deutſchen Koloniſten gehören. Stark find fie auch im
Holz. und Getreidehandel vertreten, und die Mühleninduſtrie in der Wolga⸗
gegend wurde faſt ganz von ihnen beherrſcht. In manchen Gegenden wurde
zur Winterzeit von den deutſchen Koloniſten auch die Weberei als Haus⸗
induſtrie ſtark gepflegt. Ihr Produkt, die Saratower Sarpinka, wurde von
der ruſſiſchen Frauenwelt hoch geſchätzt.
Kurze Zeit vor dem Kriege, die letzten 10 bis 15 Jahre, fetzte eine wirt⸗
ſchaftliche Wiedererſtarkung der deutſchen Wolgakolonien ein. Landwirt-
ſchaſtliche Maſchinen fanden im Betriebe Benutzung, Anſiedlung in Sibirien
und Auswanderung nach Amerika erleichterten die Kolonien und vermehrten
den Landbeſitz der Zurüdbleibenden. —
Auf der anderen Seite führte dieſe Intelligenz auch zu Erſcheinungen, die
weniger erfreulich waren. Die Wolgakoloniſten waren immer bekannt durch
einen bei ihnen vorherrſchenden Radifalismus. Da mag die Mirverfaſſung
ihren Anteil daran haben. Am ſtärkſten prägte fic) dieſer Nadikalismus aus,
und zwar nach der politiſchen Seite, in der ſogenannten Intelligenz, den Leh⸗
rern und Verwaltungsbeamten. Dieſe neigte ſtark z. T. zu der offiziellen
ruſſiſchen Seite, z. T. auch zu der kommuniſtiſchen Partei. Das Bewußtſein
ihres Deutſchtums kam dabei vielfach unter die Nader. So wurde in der erſten
Revolutionszeit (1905) in einer Lehrerverſammlung darüber abgeſtimmt, ob
die deutſche Sprache als Anterrichts gegenſtand beibehalten werden ſoll.
3 ruſſiſche Lehrer ſtimmten dafür, über 20 deutſche Lehrer dagegen. Da war
es nun nicht auffallend, daß die Wolgakoloniſten unter dieſer Führung nach
der Revolution mit fliegenden Fahnen zum Bolſchewismus überginge rn. Sie
wurden belohnt durch die Bildung der autonomen deutſchen Wolgarepublik.
Heute ſchmachten ſie unter ihrer autonomen Regierung, die nicht von ihnen,
ſondern von Moskau aus geleitet wird. Selbſt die deutſchen Führer derſelben
find jetzt vielfach erwacht, das Volk ganz. Dafür wandern die Wolgamänner,
die fo häufig das „Maul nicht halten können“, zu Tauſenden und Zehntauſen⸗
den nach Sibirien und ans Weiße Meer, ſo wie andere auch, die keine auto⸗
nome Republik haben.
Ihrer Sprache nach ſtammen die Wolgakoloniſten zum größeren Teil aus
Heſſen. Manche nennen auch Sachſen und Württemberg ihr Heimatland. Die
Koloniennamen Franzoſen, Louis erinnern an franzöſiſche Abſtammung und
Zürich, Luzern u. ähnl. an Schweizer Herkunft. Der Konfeſſion nach iſt der
größere Teil lutheriſch, der kleinere katholiſch. Die Geſamtbevölkerung der
Gouvernements Saratow und Samara betrug vor dem Kriege 5 157 165 Sees
len, die Geſamtlandfläche rund 20 Mill. Deßj. Deutſche Dörfer gab es zur
ſelben Zeit 209 mit 554 818 Seelen und einem Landbeſitz von 11% bis 2 Mill.
Deßj., zum weitaus größten Teil Kronland. —
Agrarpolltik Heft 9, Bg. 4
672 Edmund Schmid
5. Die Kaukaſiſche Gruppe
Die Gruppe wurde im Jahre 1816/17 von Württemberg aus angeſiedelt.
Neben wirtſchaftlichen Arſachen wirkten die aus jener Zeit in dieſem Lande
bekannten ſeparatiſtiſchen und pietiſtiſchen Strömungen in der S
Landeskirche als Beweggründe für die Auswanderung mit. Von den etwa
9000 erſten Auswanderern erreichten viele das Land ihrer Hoffnung nicht;
manche blieben auch in Beſſarabien zurück. Die 7 Anſiedlungen im ſüdlichen
Kaukaſus hatten anfangs viel unter Aberfällen kaukaſiſcher Völker, beſonders
aber unter dem Fieber zu leiden. Mehrere Kolonien mußten ein und mehrere⸗
mal umgeſiedelt werden, ehe ihre Bewohner ſich an das Klima gewöhnten.
Das hinderte lange Zeit ihre wirtſchaftliche Entwicklung. Die Anſiedlung war
nach derſelben Landordnung erfolgt wie im Schwarzmeergebiet, nur waren die
Landanteile der einzelnen Familien kleiner, durchſchnittlich 30 bis 35 Deßj.
Die Kolonien erreichten einen ziemlichen Grad von Wohlhabenheit durch
Spezialbetriebe: in den niedriger gelegenen Kolonien durch Weinbau, in
den höher gelegenen durch Viehzucht und Molkereibetrieb. Sie konnten
nicht nur nahe gelegene Grundſtücke ankaufen, ſondern auch einige Tochter⸗
kolonien anlegen. Einen beſonderen Aufſchwung nahm ihr Wirtſchaſtsbetrieb
in den letzten Jahrzehnten durch Gründung von Weinproduzentengenoſſen⸗
ſchaften und durch moderne Einrichtungen im Molkereibetriebe. Im Hand-
werk blühten beſonders der Wagenbau und ſpäter die Küferei.
Der Südkaukafus zählt im ganzen 4 702 800 Einwohner auf einer Fläche
von 14 Mill. Deßj. Die Zahl der deutſchen Anſiedler dürfte 15 000 Seelen
und der Landbeſitz 75 000 Deßj. nicht tiberfteigen. Von letzterem find etwa
2% Kronland, 44 Eigentum. —
6. Kleine Gruppen in Innerrußland
finden ſich in den Gouvernements Wologda, Kaluga, Moskau, Mohilew,
Tſchernigow, Poltawa und Podolien. Sie ſind zum geringeren Teile urſprüng⸗
liche Anſiedlungen, zum größeren Tochtergründungen aus den alten Anſied⸗
lungsgebieten. Es find etwa 100 000 Seelen mit 450 000 Deßi. Landbefig. —
7. Die Gruppe der Schwarzmeerkoloniſten
Dieſe Gruppe der deutſchen Anſiedlungen in Rußland iſt die einzige, die
zur vollen wirtſchaftlichen Entfaltung gekommen iſt. Die Koloniſten dieſer
Gruppe wurden zu Koloniſatoren beſter Art, wie ſie deutſches Blut jemals
hervorgebracht hat. Sie haben im vergangenen Jahrhundert die Weizenkammer
Europas am Schwarzen Meer entwickelt, die Liquidation des dortigen ade⸗
ligen Grundbeſitzes in Angriff genommen und ein deutſches Wirtſchaftsgebiet
begründet, das in der Zahl der Träger, in der Größe des Beſitztums und an
Wert der Produktion alle anderen deutſchen Anſiedlungsgebiete in Rußland
weit übertrifft.
Zwiſchen den Jahren 1787 und 1857, zumeiſt aber von 1804 - 1809 und in
den zwanziger Jahren desſelben Jahrhunderts, wurden im ſüdlichen Teil
Rußlands, in den eben den Türken abgenommenen Provinzen, die unter dem
Letzte deutsche Kolonisationsarbeit in Rußland 673
Namen Neurußland zuſammengefaßt wurden, von der ruſſiſchen Regierung
eine Reihe von deutſchen Bauernkolonien gegründet. Den Einwanderungs-
agenten wurde vorgeſchrieben, bei der Auswahl der Aberſiedler vorſichtiger zu
ſein, als es bei der Beſiedlung der Wolgagegenden geſchehen war, und nur
ſolche Aberſiedler zuzulaſſen, die in ländlichen Beſchäftigungen und Hand-
werken erfahren, den ruſſiſchen Bauern als Beiſpiele dienen könnten. Außer⸗
dem ſollten die Uberfiedler nur Familien mit Kindern fein und ein Vermögen
von 300 Gulden in bar oder in Waren nachweiſen können. Die Schwarz⸗
meerkoloniſten kamen ſomit nicht arm und beſitzlos nach Rußland. Der Zweck
ihrer Anſiedlung war nicht ſo ſehr, die öden Steppen zu bevölkern, als den
anderen dort Seßhaften (Akrainern) und Anzuſiedelnden (Ruſſen, Bulgaren
und Rumänen) Beiſpiel zu fein in der Bewirtſchaftung ſowie in den notwen⸗
digen Handwerken. Wie hoch letztere geſchätzt wurden und wie notwendig ſie
waren, iſt daraus zu erſehen, daß Herzog Richelieu, der Generalgouverneur
von Neurußland, im Jahre 1804 42 deutſche Handwerker aus den Aberſiedlern
auswählte und ſie veranlaßte, ſich in der eben neugegründeten Stadt Odeſſa
niederzulaſſen. Im ganzen wurden in Südrußland 207 deutſche Kolonien ge
gründet, denen rund 600000 Deßj. zugewieſen wurden. Die Zahl der
fiedler dürfte ungefähr 50 000 betragen haben. Stammesmäßig waren es
Pfälzer, Elſäſſer, Heſſen, Schwaben, aber auch Pommern und Preußen.
Letztere waren Mennoniten. —
Das zugeteilte Land war Kronland, das den Einzelgemeinden und Gebieten
als gemeinſames Eigentum zugewieſen wurde. Die Einzelzuteilung erfolgte
aber nicht, wie an der Wolga, an die männliche Seele, ſondern an die ein⸗
zelnen Familien. Jede erhielt einen Hof, oder wie es dort hieß, eine Wirt⸗
ſchaft, mit dem Rechte auf 50—80 Deßj. Das Land wurde von Zeit zu Zeit
— nach Notwendigkeit des Fruchtwechſels, Weide, Grün⸗ und Schwarzbrache,
Sommer- und Winterfeld — in gleichen Teilen auf die einzelne Wirtſchaft
verteilt. Das Weideland blieb zur gemeinſchaftlichen Benutzung. Jede Wirt⸗
ſchaft hatte das Recht, eine beſtimmte Zahl von Pferden, Rindern, Jung⸗
und Kleinvieh darauf zu treiben.
Die erfte Generation fühlte ſich tiefunglücklich auf der weiten, unüberſeh⸗
baren Steppe. Sie wehrte ſich ſelbſt gegen das viele Land, das ihr zugeteilt
wurde. Sie wußte nichts damit anzufangen. Wäre es möglich geweſen, ſie
wären wohl alle wieder heimgekehrt. Dieſe Generation ſtarb mit ſchweren
Gedanken. Die zweite Generation aber ſchon wurzelte ſich feſt in dem frem⸗
den Boden. Es wurde früh geheiratet, große Familien wurden zur Regel.
Zunächſt wurden die Höfe geteilt in Halbhöfe, mancherorts nochmal in Viertel⸗
höfe. Bald aber merkten die Koloniſten, daß das zum Anheil führen müßte,
und ſie beſchloſſen ſelbſt, daß die Wirtſchaften nicht weiter geteilt werden dürf⸗
ten. Bald auch reichte das Land für die vielen Söhne nicht mehr aus. And
nun erwies ſich die gute Bauernart, die furchtloſe Anternehmungsluſt und der
Koloniſatorengeiſt. Die jüngeren Söhne blieben nicht in den Kolonien ge⸗
drängt beieinanderſitzen, ſuchten nicht in Handwerken und anderen Betrieben
unterzukommen, dienten nicht den anderen, den glücklichen Hofbeſitzern, als
Knechte. Bauern waren ſie und wollten Bauern bleiben. Auf der weiten
Steppe war unbebautes Land genug. So zogen Ende der fünfziger und An⸗
fang der ſechziger Jahre die jüngeren Söhne, die in der Kolonie keinen Land-
4°
674 Edmund Schmid
anteil zu erwarten batten, kaum achtzehn bis zwanzigjährig, ſchon mit Weib
und Kind, hinaus auf die Steppe. Vom Vater waren ſie ausgeſtattet worden
mit ein paar Pferden, einer Kuh, mit Wagen und Pflug, mit den notwen-
digen Geräten und Sämereien. Die Frau brachte das Ehebett, die Wag’
(Wiege) und ſonſtige Hausbedürfniſſe. So zogen ſie auf die ausgedehnten
Adelsgüter und pachteten Land um den dritten Haufen. Der Hauptbetrieb der
neuruſſiſchen Landwirtſchaft beſtand damals in der Schafzucht. Die deutſchen
Bauern wandelten ihn in Körnerbau um. Extenſiven Betrieb hinderte zu⸗
nächſt noch der Mangel an Arbeitern. Da kamen die Maſchinen. Die Schwarz⸗
meerkoloniſten griffen mit allen Händen danach. Nun konnten ſie im vollen
arbeiten und immer mehr jungfräuliche Steppe umbrechen. Drei- und vier⸗
ſcharige Pflüge, Säemaſchinen, Erntemaſchinen, Dreſchmaſchinen ermöglichten
immer mehr einen Großbetrieb. Der Weizenbau verdrängte faſt vollſtändig
die Schafzucht.
Nach wenigen Pachtjahren ſchon kauften die jungen Leute das Land, das
fie bebauten, oder anderes. Der Preis war niedrig, 3—5 Rubel (6— 10 M.)
die Deßjatine. Zwanzig Jahre ſpäter wurden ſchon 20 —30 Rubel bezahlt,
anfangs der neunziger Jahre 80 — 100 Rubel und vor dem Kriege 500 Rubel.
Es bildeten ſich Geſellſchaften unter den jungen Angehörigen einer Kolonie,
eines Verwandtenkreiſes, die zuſammen foviel Land kauften, daß ſie neue
Dörfer anlegen konnten. Einzelne zogen hinaus und erwarben ſich ſtattliche
Gutsbeſitze. Land und Landwirtſchaft wurden beweglich. Mancher dieſer
deutſchen Koloniſten wanderte Zeit ſeines Lebens von einem Gut zum anderen,
immer aber vom kleineren zum größeren. Von einem Beſitz von 100 Deßj.
= er auf 300, 600 und 1000 Deßj. und mehr. Jeder diefer Koloniſatoren
tebte danach, jedem feiner zahlreichen Söhne mindeſtens ebenfoviel Land zu
binterlaffen, als er ſelbſt zu Beginn feiner Tätigkeit beſeſſen hatte. Ich hatte
Gelegenheit, die 50jährige Hochzeit einiger der älteſten Pioniere dieſer Art
mitzumachen. Die Alten beſaßen ihre 5— 10 000 Deßj. Land, die Söhne eigene
Güter von 3— 5000 Deßj., und manche der zahlreichen Enkel hatten auch ſchon
eigene Gutsbeſitze von 1000 Deßj. und mehr. Es ergaben ſich Familienbefitze
von 50—60 000 Deßj., rechnete man die Schwiegerſöhne dazu, bis zu 100
Deßj. Beſitz in den Händen einfacher Bauernfamilien. Auch die Bewohner
der alten Kolonien und die neugegründeten Dörfer kauften, wo freies Land
in der Nähe vorhanden war, zu ihrem Kronland Eigentum dazu, was ſie
irgendwo erhaſchen konnten. Wo keines mehr zu haben war, zogen ſie weiter
und beſiedelten neue Striche. Beſonders ſtark war dieſe Bewegung im
Gouvernement Cherſon, und hier wieder im Odeſſaer Kreiſe. Im letzteren
haben die deutſchen Bauern über die Hälfte des geſamten Kulturlandes er⸗
worben. Adelsgüter blieben wenig mehr übrig. Der benachbarte Tiraspoler
und Cherſoner Kreis wurde von da aus beſiedelt, ebenſo Teile des Eliſabet⸗
grader und Ananjewer Kreiſes. Von Oſten her reichten die Kolonien der
Gouvernements Jekaterinoslaw und Taurien, die ſchon die Krim beſiedelt
atten, die Hand. Gemeinſam bearbeiteten fie die Riefentreife Dnjeprowsk,
lexandrowsk und Pawlograd. Auch das genügte ihnen nicht. Sie drangen
nach Norden vor in den Is jumer Kreis des Charkower Gouvernements und
über den Bachmuter Kreis nach Often in das Gebiet der Doniſchen Koſaken
bis zum Donez und zum Don. Weiter ging es nach Südoſten. Dort beſie⸗
Letzte deutsche Kolonisationsarbeit in Rußland 675
delten fie Teile des nördlichen Kaukaſus im Ruban- und Terekgebiet und im
Gouvernement Stawropol. Wieder gogen fie nad) Norden und kauften große
Ländereien in den Gouvernements Woroneſch, Garatow und Samara. Sie
überſäten die rieſengroßen Gouvernements Afa und Orenburg, ſchon an der
afiatifden Grenze. Und dann drangen fie hinein in die ſibiriſchen Steppen,
nördlich in die Gouvernements Tomsk und Tobolsk, ſüdlich nach Mittelaſien,
in die Gebiete Akmolinsk, Turgai und Syrdarinsk. Einzelne Gruppen drangen
bis an die Afer des Stillen Ozeans vor.
Nicht die Not trieb dieſe Landpioniere hinaus, nicht ruſſiſche Bedrückung,
nicht der grauſame Steuereinnehmer, wie man's manchmal lieſt. Niemals
haben die deutſchen Bauern den ruſſiſchen Steuereinnehmer zu fürchten gehabt.
Selbſt in Mißjahren, da die ruſſiſchen Bauern ſich Steuernachläſſe, Gaate
getreide und den Lebensunterhalt von den Behörden erbettelten und erzwan⸗
gen, haben die deutſchen Bauern niemals die Regierung um Hilfe gebeten;
ſie haben ſich immer ſelbſt geholfen. Was ſie hinaustrieb, immer weiter, immer
weiter, war der Drang nach Selbſtändigkeit, nach eigenem Beſitz, nach Land,
nach billigem und vielem Land. Dieſer Drang führte ſie auch übers Meer,
nach den Vereinigten Staaten, wo ſie Ohio und die beiden Dakota, in letzter
Zeit auch Texas und andere weſtliche Staaten bevölkerten. Sie gingen nach
Kanada in die Provinz Sasketſchewan, und nach Südbraſilien und Argen⸗
tinien. Dieſes unerſchöpfliche deutſche, rein deutſche Menſchenreſervoir
im Süden Rußlands, das ſich ewig neu gebar, gab in den letzten 50 Jahren
vor dem Kriege ſein überflüſſiges Menſchenmaterial, beſte Bauernkraft, an
alle Welt ab. Angeſtellte der großen Auswanderungsgeſellſchaften nannten
Zahlen deutſcher Auswanderer aus Rußland von über 1 Million Seelen.
Dieſe Maſſenabgabe an Menſchen war nur möglich bei einer Fruchtbarkeit
der Ehen, die Familien mit 8— 12 Kindern zu den gewöhnlichen Erſcheinun⸗
en rechnete, aber auch ſolche mit 16 und 20 und mehr Kindern kannte. Gutes
skommen, geringe Bedürfniſſe, leichte Verſorgungsmöglichkeit machten die
Familien ſo fruchtbar wie das Land rings umher. Eine intereſſante Lehre für
Bevölkerungspolitik und Ehemoral.
Aus den 209 Kolonien mit 128652 Deßj. Kronland und 50 000 Anſiedlern
wurden bis zum Jahre 1910 in dem engeren eigentlichen Schwarzmeergebiet:
Gouvernement Beſſarabien: 258 393 Deßj. Land, 62 875 deutſche Ein-
wohner, 58 000 Evangelifche, 5000 Katholiken;
Gouvernement Cherſon: 1 156 254 Deßj. Land, 169 313 Deutſche, davon
66 663 Evangeliſche, 99 072 Katholiken, 3578 Mennoniten;
Gouvernement Taurien: 1 385 928 Deßj. Land, 133 924 Deutſche, davon
56 581 Evangeliſche, 27 050 Katholiken, 50 293 Mennoniten;
Gouvernement Jekaterinoslaw: 1 012 160 Deßj. Land, 123 160 Deutſche,
davon 26 811 Evangeliſche, 48 109 Katholiken, 48 240 Mennoniten;
Gouvernement Charkow: 79 941 Deßj. Land, 6703 Deutſche, davon 2367
Evangeliſche, 2617 Katholiken, 1719 Mennoniten;
Dongebiet: 311822 Deßj. Land, 28 346 Deutſche, davon 13927 Evange-
liſche, 13 879 Katholiken, 540 Mennoniten.
Sufammen: 4 204 559 Deßi. Land, 524 321 Deutſche, 224 280 Evangeliſche,
195 671 Katholiken, 104 370 Mennoniten.
676 Erich Netschert
Im ganzen ruſſiſchen alten Reich ergeben fid:
Baltiſche Gruppe .. 165 627 Deutſche mit 4 000 000 Deßj.
Polniſch⸗wolyniſche Gruppe . 300 000 * „ 1000 000 „
Petersburger Gruppe u. Simeriland 100 000 1 „ 450 000 „
Wolgagruppe . . . . 554 828 . „ 2000 000 „
Südkaukaſusg rue 15000 „ - 7500 „
Schwarzmeergruppe . . . 524321 ‘4 „ 4209 559 „
Sibirien⸗Mittelaſien 105 000 5 750 000
Zuſammen Er 764776 Deutſche mit 12 479 550 Debi.
And all dieſer b Reichtum, die Frucht von hundert und mehr Jah⸗
ren Arbeit, iſt heute vernichtet. Tauſende dieſer Bauern find Hungers ge⸗
ſtorben und ſterben noch heute Hungers. And nicht nur die Körper find ver⸗
nichtet, auch die Seelen find vergiftet. Kann dieſer fo geſunde Zweig am deut⸗
ſchen Volkskörper jemals wieder zu Geſundheit, zu Kraft kommen? Es iſt
der Fluch der Realm im Auslande, der ſich erfüllt.
Erich Netſchert:
Auf dem Wege zum Monopol?
Ein Beitrag zur Agrarpolitik unter befonderer Berückſichtigung
der Getreidewictfchaft
Vorbemerkung der Schriftleitung: Die nachſtehenden Mitteilun-
gen erheben gemäß Mitteilung des Verfaſſers in keiner Weiſe Un-
ſpruch auf eine erſchöpfende Behandlung des Problems. Sie ſtellen
einen Beitrag aus der Praxis zur Monopolfrage dar, wie dieſe ſich
von der Warte eines Landesproduktengroßhändlers aus anſieht.
Sie verfolgen mit kurzen Worten das Ziel, den beſten Weg zu
ſuchen in der agrarpolitiſchen Hilfe zum Wohle der geſamten Wirt⸗
ſchaft. Wir lege fie zur Ausſprache, ohne fie uns in allem zu eigen
zu machen. H. R
Es iſt Tatſache, daß in den letzten Monaten die Einnahmen des Land⸗
wirts in keinem Verhältnis zu den Ausgaben ſtanden, und daß ſchon ſeit meh-
reren Jahren durch die Entwertung des Grundbeſitzes eine Kreditſperre ein ⸗
getreten iſt, die untragbar wird. Die Landwirtſchaft iſt heute mit 25 bis 50 %
1 7 Vorkriegswertes belaſtet, aber ihr Wert liegt weit unter dieſen 50 %.
as zeigen die häufigen usfälle auf den Verſteigerungen, felbſt bei erſten
Hypotheken. Kredithilfe allein, wie z. B. bei der Oſthilfe, iſt ein Notbehelf,
der ſich ſogar ſchädlich auswirken kann und die Zinslaſten nur noch weiter
erhöht. Es hat keinen Zweck, einen Landwirt umzuſchulden, wenn er nicht
ſofort nach der Amſchuldung rentabel wirtſchaften kann. Die Ankoſten in der
deutſchen Landwirtſchaft ſind nur ganz langſam abbaufähig, weil ſie zu ſtark
Auf dem Wege zum Monopol? 677
mit den Steuereinnahmen des Reichs verknüpft find. Sie können ſchon aus
dieſem Grund einem Vergleich mit den Produktionskoſten reiner Agrarländer,
wie z. B. Kanadas, niemals ſtandhalten. Die Zollſchraube iſt in ihrer Wir«
kung nun größtenteils erſchöpfend ausgewertet. Trotzdem ſind die Verhältniſſe
täglich ſchlechter geworden, weil wir zu einer gewiſſen Abererzeugung bei
gleichzeitigem Verbrauchsrückgang gekommen find.
Es iſt nur ſehr bedingt richtig, wenn behauptet wird, der deutſche Landwirt
müſſe viel billiger erzeugen lernen. Man kann eben einen Bauernhof nicht
ohne weiteres mit einem Induſtriebetrieb vergleichen. Auf deutſche Verhält⸗—
niſſe umgelegt, iſt es im wahrſten Sinne des Wortes kataſtrophal, wenn der
Landwirt für den Zentner Kartoffeln 70 bis 80 Pfg., für den Liter Milch
7 bis 9 Pfg., für das Ei 4 bis 5 Pfg., für ein Kalb 20 RM., für einen
Zentner Hafer 4,50 RM. erhält. Man könnte die Kette dieſer Preiſe beliebig
verlängern. Dieſe Verhältniſſe aber allein ſind daran ſchuld, daß man heute
leider einſehen muß, daß die Oſthilfe, die beſtimmt gut gemeint war, über«
flüſſig geweſen wäre, wenn man einen richtig geſteuerten Markt für landwirt⸗
ſchaftliche Erzeugniſſe in Deutſchland gehabt hätte.
Ich vertrete die Anſicht, daß das ſich raſch türmende Gebäude der autarken
Wirtſchaftsform in allen Ländern ſich nicht ſo lange halten wird wie der
Liberalismus, aber daß man nicht liberal gegen einen Strom ſchwimmen
kann, in dem ſich alle Wellen autark überſchlagen. Ich behaupte aber, daß
Deutſchland bei richtiger Steuerung des Anbaus und der Veredelung ſich
auch bei weiterer Intenſivierung der Landwirtſchaft wird beſſer fortbringen
können wie die anderen. In dieſer Kriſe ſtehen wir als größter Verbraucher
Europas. Wenn wir uns unſere handelspolitiſche Bewegungsfreiheit wieder
erwerben und uns nicht voreilig neuerdings binden, fo wird fic) der Waren-
austauſch von ſelbſt ſchneller wieder zu unſeren Gunſten regeln als wohl für
alle anderen Länder. Reine Agrarſtaaten können ſterben durch Mangel an
Abſatz, Induſtrieſtaaten werden zugrunde gehen durch den Tod der Agrar—
länder, bevor der Aufſtieg in der Welt wiederkehrt. Wir Deutſche aber können
uns im Inland notgedrungen ſelbſt helfen, bis etwa eine Ara des Wiederauf—
ſtieges der Weltwirtſchaft anbricht.
Der größte Fehler aller bisherigen Regierungen war der, daß man aus
Angſt vor den anderen Ländern in der Preisſtützung viel zu zaghaft vor«
gegangen iſt. Man hat diktatoriſch jahrhundertealte Rechtsauffaſſungen über
den Haufen geworfen, man hat Notverordnungen erlaſſen, Steuern hoch—
geſchraubt, man hat eine ſoziale Geſetzgebung diktiert, aber man hat ſich an
das Preisproblem der landwirtſchaftlichen Erzeugniſſe nicht herangetraut. Wir
haben viele Arzte in der Wirtſchaft gehabt, die die Krankheit erkannten, aber
vergeſſen haben, den Kranken zu heilen. Wir Deutſche haben immer das Ge-
fühl, die Welt durch zärtliche und völkerfreundliche Ideen und Grundſätze
beglücken zu müſſen, um ja nirgends anzuſtoßen. Währenddeſſen bauen die
anderen Länder für ihren eigenen Vorteil. Dieſes falſche Gefühl hat uns zur
ungünſtigſten Zeit in den Weltkrieg getrieben und hat uns dann 14 Jahre
lang wirtſchaftlich durch ungeheure Belaſtungen in den Abgrund gezogen.
Es gibt heute noch ſehr viele, die den Schlachtruf „Export um jeden Preis“
nicht vergeſſen können. Sie haben noch nicht erfaßt, daß die Exportfrage
nicht nur von unſeren eigenen Maßnahmen, ſondern noch viel mehr von dem
guten Willen des Auslands abhängt. Was nützt uns unſer Exportwille, wenn
678 Erich Netschert
ſich die anderen Länder täglich mehr abſperren? Willen diefe Herren, wieviel
Werke eigentlich auf Koſten des Inlandsmarktes die ganze Zeit bewußt mit
Verluſt ausführen in dem Wahn, „durchhalten“ zu müſſen? Das Durch⸗
halten aber ijt ein leerer Wahn gegen den Federſtrich einer Zollnovelle irgend⸗
eines Landes. And wenn dieſen Erportfreunden die ſchwindenden Ausfuhr⸗
zahlen nicht mehr beweiskräftig genug find, dann ſpricht man von dem unge-
heuren Ausfuhrfolgemarkt. Gibt es aber nicht auch einen Agrarfolgemarkt,
der unendlich viel größer iſt und der vor allem auch die große Maſſe des
gewerblichen Mittelſtandes der Handwerker, Kleinkaufleute ufw. retten muß?
Es ſcheint immer noch genug Leute zu geben, die über das Denken eines
Hamburger Exporteurs noch nicht hinweggekommen ſind und die noch nie einen
Inlandsmarkt, eine kleine Landſtadt und all die vielen kleinen und kleinſten
Betriebe geſehen haben, die heute zu dem Heer der arbeitsloſen Millionen das
große Kontingent ſtellen. Nachdem wir auf dem Wege der freien Entfaltung
die Not unſerer Landwirtſchaft innerhalb Deutſchlands nicht nachhaltig lin⸗
dern können und wir es uns nicht leiſten können, jedes Jahr direkt und indirekt
Milliardenbeträge zur Stützung aufzubringen, muß die freie Entfaltung der
Preiſe durch eine ſtaatliche Planung in die richtigen Wege geleitet werden.
Es iſt bitter, als freier Kaufmann erkennen zu müſſen, daß nur eine gebundene
Gorm der Bewirtſchaftung unſerer Agrarprodukte die Lage vorerſt wird mei⸗
ſtern können.
Für eine ſolche ſtaatliche Planungsſtelle — fälſchlicherweiſe Monopol ge⸗
nannt, obwohl es nur eine Regulierungsſtelle ſein ſoll — müſſen wir vor
allen Dingen feſthalten, daß ſie wegen ihrer Exiſtenz und ihres gründlichen
Ausbaus nur dann einen Sinn bekommt, wenn nicht alle zwei Monate neue
Regierungen mit entgegengeſetzter Tendenz auf die Bühne des politiſchen
Geſchehens treten. Ein „Monopol“ darf niemals der Spielball der politiſchen
Parteikämpfe werden. Die Vorausſetzungen zu einer ſegensreichen Arbeit find
eine abſolute Ruhe in der Perſonal⸗ wie in der Preispolitik. Es kann nur
exiſtieren, wenn eine agrarfreundliche nationale Regierung die Zügel auf die
Dauer in der Hand behält. Der Getreidepreis wird immer ein politiſcher blei-
ben, ſolange große Staatenwirtſchaften beſtehen und es Zölle gibt. Nur muß
eben dieſer politiſche Preis ſachlich richtig geſteuert werden. Wenn nun geſagt
wird, daß in der Welt genügend abſchreckende Beiſpiele von Monopolen vor⸗
. — ſind, die Schiffbruch erlitten haben, ſo iſt dem folgendes entgegen⸗
zuhalten:
1. Alle Monopole waren gegründet in einer Zeit des ſchnellen und ſtarken
Verfalls am Weltmarkt. Die Verluſte waren damals ſo ungeheuer, weil
der Zuſammenbruch der Preiſe in einem Ausmaß erfolgt iſt, an das
niemand je gedacht hätte.
2. Die Monopole, die Schiffbruch erlitten, find meiſt in den reinen Agrar-
ländern gegründet und durch die plötzliche autarke Strömung in den ande⸗
ren Ländern ſowie durch das Sowjetruſſiſche Dumping geſtützt worden.
3. Sie waren alle nur einſeitig auf den Export aufgebaut und hatten eine
inländiſche Verbrauchsregelung überſehen.
All dieſe Faktoren kommen für eine innerdeutſche Planwirtſchaft nicht in
Frage. Wir haben heute am Weltgetreidemarkt ungefähr den Tiefpunkt er⸗
reicht. Rückgänge find wohl immer noch möglich, aber nie mehr in den bis⸗
herigen Ausmaßen. Auch berühren ſie uns wenig. Wir haben innerhalb
Auf dem Wege zum Monopol? 679
Deutſchlands eine febr Starke Abſatzmöglichkeit, die uns von niemand verfperrt
werden kann. Aus diefem Grunde find für Deutſchland die Warnungsrufe
der Planungsgegner als unſachlich zu bezeichnen. Darüber hinaus hat der
kanadiſche Pool bewieſen, daß eine tatſächliche Erſparnis durch Ausſchaltung
aller Zwiſchenglieder erzielt werden kann. Wenn es auch nur eine kleine Er⸗
ſparnis war, ſo war es doch ſchon das Gegenteil eines Verluſtes, den man
ihm. immer „ hat. Das Schickſal hing natürlich auch hier von der
Güte der Leitung ab
Handelsſtärke des Monopols
In der heutigen Zeit der Abſperrung aller Länder gegen alle hat das Mo⸗
nopol die Aufgabe, große Austauſchbeziehungen zu den anderen Ländern zu
pflegen und zu erhalten. Der Staat wird dann allerdings, weltwirtſchaftlich
geſehen, zu einer gemiſchten Warenhandlung, aber welche Möglichkeiten be⸗
ſtehen z. B. nur darin, daß wir deutſches Aberſchußgetreide nach oſtaſiatiſchen
Ländern bringen, die immer Zuſchußbedarf haben, während wir von den Leu⸗
ten Zinn, Gummi, Tee uſw. übernehmen. Wir brauchen 3. B. auch ſehr viel
Salpeter, Kupfererze, Zinn aus Südamerika. Warum ſollen wir in einem
Gegengeſchäft nicht andere Artikel aus Deutſchland exportieren können? So
könnte man eine Reihe von Beiſpielen anführen, die nur dann Verwirk⸗
lichung finden können, wenn Staat gegen Staat machtvolle Vereinbarungen
1 Privatwirtſchaft kann dann immer noch die endgültigen Preiſe
aushandeln.
Grundſätze der ſtaatlichen Vewirtſchaftung
Die Steuerung der landwirtſchaftlichen Erzeugerpreiſe durch den Staat
ſehe ich nicht darin, daß alle Waren in den Beſitz des Staates gehen oder
durch ſeine Hände vermittelt werden. Der Staat ſoll vielmehr nur als Auf⸗
fangvorrichtung fungieren und der Landwirtſchaft möglichſt lange vorher feſt⸗
gelegte Mindeſtpreiſe ſichern. Dieſe Preisſicherung hat ſich nicht nur auf die
Getreidemärkte zu erſtrecken, ſondern muß ſich zwangsläufig gleichzeitig auch
auf die Erzeugniſſe der Milch, insbeſondere auf Butter und Käſe, auf die
tieriſchen Fette und die Olfrüchte ausdehnen. Hierbei iſt zu verlangen:
1. Möglichft freie Entwicklung der Märkte mit Kontrolle der Preiſe nach
oben, wegen der Aberteuerung für den Konſumenten.
2. Paritätiſche Stellung von Handel und Genoſſenſchaften, denn nur fo
bringen fie dem Landwirt in freier Konkurrenz die billigſten Preiſe, nur
ſo legen ſie beim Ankauf die höchſten Preiſe an, und nur in paritätiſcher
Gleichheit vermitteln ſie am billigſten an den Konſum.
3. Preisſicherungen nach unten auf nicht zu hoher Baſis durch ſtaatliche
Stützungsſtellen, bei Getreide Staffelung der Preiſe.
4. Bei Anſätzen zu ſtärkerer Aberproduktion rechtzeitige Kontingentierung.
5. Bei der Erhöhung der Erzeugerpreiſe muß darauf geſehen werden, daß die
Konſumentenpreiſe nicht im gleichen Maße mitgehen, ſondern daß endlich
einmal bei dieſer Gelegenheit die Zwiſchenhandelsſpannen verringert
werden, was beſonders bei den Molkereiprodukten und beim Fleiſch
wünſchenswert wäre.
680 Erich Netschert
Der Grundgedanke eines Monopols gipfelt in der einfachſten Bewirtſchaf⸗
tung, in gerechten Preiſen mit möglichſt großer Freiheit bis in die letzten Han⸗
delsglieder, und a mit einem Anternehmergewinn, der genügt, um das
Kapital und den Anternehmergeiſt zu regerer Beteiligung zu binden. Der iſt
der beſte und erſolgreichſte Leiter der Planwirtſchaft, der es verſteht, die private
Initiative auf die intenfivfte Weiſe einzuſchalten.
Wie iſt die Planung des Agrarmarktes zu löſen?
Es iſt klar, daß nach dem Ebengeſagten der Standpunkt gewahrt bleiben
muß, daß der Staat nur inſoweit eingreifen darf, als die Spitzenmengen den
Markt überlaſten. Es wäre aber heute zwecklos, nur von einer Seite mono-
poliſtiſch preisſichernd zu wirken, der Kreis muß vielmehr geſchloſſen werden.
Jede Lücke, die den Preisniedergang eines Agrarproduktes zuließe, würde die
größte Gefahr bedeuten für das geſamte monopoliſtiſche Opfer, das wir brin⸗
gen miiffen. Ich ſchlage deshalb folgendes vor:
1. Molkereiprodukte, insbeſondere Käſe und Butter, erhalten Mindeſtpreiſe.
Aberſchüſſige Mengen werden durch den Staat angekauft und verwertet.
Der durch Notverordnung vom 23. Dezember 1932 zuläffige Bei⸗
miſchungszwang von Butter zur Margarine wird in Kraft geſetzt.
2. Tieriſche Fette aus der Rinder ⸗ und Schweineerzeugung werden durch
Mindeſtpreiſe geſchützt. Beimiſchungszwang bei der Margarine kann
ausgeſprochen werden.
3. Es werden mit ſofortiger Wirkung Mindeſtpreiſe für Olfrüchte feſt⸗
geſetzt, die in Deutſchland gebaut werden können.
4. Der Staat übernimmt mit ſofortiger Wirkung die Kontrolle und
Steuerung der Margarineeinfuhr und des Olfuchenimportes.
5. Es werden für die neue Getreideernte ſchon heute Mindeſtpreiſe feſt⸗
geſetzt, die geſtaffelt werden müſſen.
Dieſe fünf Punkte werde ich im folgenden kurz erläutern. Auch hier iſt zu
betonen, daß es nicht der Zweck dieſer Zeilen iſt, die Materie erſchöpfend zu
behandeln, ſondern nur Beiträge in der großen Linie zu bringen.
Zu 1. Molkereiprodukte
Im Jahre 1930 / 31 betrug der Erlös aus dem Verkauf von Getreide in
an 1,6 Milliarden, aus dem Verkauf von Vieh 3,5 Milliarden, und
für Milch und Eier ſowie Molkereiprodukte wurden annähernd 2 Milliarden
eingenommen. Die Einnahmen aus der Viehwirtſchaft waren alſo beinahe
dreieinhalbmal fo groß wie die aus dem Ackerbau. Der veredelnde deutſche
Bauer kann auf die Dauer nicht beſtehen, wenn er für ſeine Produkte nur
60% der Vorkriegspreiſe bekommt. Der Induſtrie⸗Index iſt heute 114, der
Vieh⸗Index 62. Aus dieſem Grunde muß die Stützung bei der Viehwirtſchaft
beginnen. Es iſt nicht möglich, Fleiſch monopoliſtiſch zu erfaſſen oder dabei
Preisſicherungen durchzuführen. Dagegen kann man Molkereiprodukte, ins⸗
beſondere Butter und Käſe, zu Mindeſtpreiſen vom Staate aufkaufen laſſen
und dadurch den Milchpreis heben. Bekommt erſt einmal der Landwirt für
ſeine Milch ſtatt 7 Pfg. wieder 12 Pfg., dann kann man von ihm auch ver⸗
langen, daß er auf ausländiſche Futtermittel verzichtet, die einen Dumping
Auf dem Wege zum Monopol? 681
gegen die deutſchen Futtermittel und das ausländiſche Getreide bilden. Die
Frage des Ankaufs für den Staat iſt verhältnismäßig leicht. Er kann an
Börſenplätzen Spitzenmengen nach Standardtypen und Normen ſowohl in
Butter wie in Käſe aufnehmen und dadurch die Notierung halten. Er kann
auch aufgenommene Mengen in Kühlhäuſer einlagern. Schwierig aber iſt die
Abſatzfrage. Hier wird die Beimiſchung von Butter zur Margarine nicht zu
umgehen ſein. Auch wird es ſich notwendig erweiſen, daß Käſe in ſtärkerem
Maße an Truppenteile, Polizei, Arbeitsdienſt, Strafanſtalten und alle ſtaat⸗
lich unterſtützten Anſtalten zur Verköſtigung abgegeben wird. Von beſonderer
Bedeutung iſt hierbei der Beimiſchungszwang von Butter zur Margarine.
Dank ihrer ungeheuren Kapitalkraft hat die Margarine⸗Induſtrie, die zu 70%
in ausländiſchen Händen ift, durch einen un verantwortlichen Propaganda⸗
Feldzug die Anſichten im Volk für ihre Intereſſen ſo ſtark verſeucht, daß die
Notverordnung vom 23. Dezember bis heute noch nicht in Kraft getreten iſt.
Ich bin nach reiflicher Prüfung des ſehr umfangreichen Fragenkomplexes zu
der Aberzeugung gekommen, daß eine Butterbeimiſchung zur Margarine zweck⸗
mäßig ijt und nicht die Nachteile von Verteuerung, Rückgang des Butterver⸗
brauchs uſw. nach ſich ziehen wird, wenn die Dinge ſachlich und techniſch
richtig angefaßt werden. Ich werde dies in einer kleinen Abhandlung dem⸗
nächſt eingehend begründen und die entſprechenden Wege zeigen.
Es ſind in den letzten Monaten verſchiedene Wege von Kartellierung auf
dem Gebiete der Molkereiprodukte gezeigt worden. Ich bezweifle als Praktiker
die Möglichkeit einer ſolchen Kartellierung, die in ihrer Auswirkung den
Willen von etwa 4 Millionen kleiner und kleinſter Betriebe zufammenfaſſen
müßte. Ich ſehe dabei gang ab von dem enormen Verwaltungsapparat mit
zwangswirtſchaftlichem Einſchlag, der dabei alle, felbft in Rußland gemachten
Verſuche hinſichtlich Umfang in den Schatten ſtellen würde. Wo die privat-
wirtſchaftliche Initiative zerſtört wird, fängt die intereſſeloſe und daher teure
Verwaltung an.
Zu 2. Fettbewirtſchaftung
Wie auf den Butters und Käſemärkten, fo ift es einer Monopolſtelle auch
bei Talg, Fett und Schmalz möglich, dieſe Produkte zu gewiſſen Grundpreiſen
anzukaufen. Ferner kann in der Margarine- wie in der Olfabrikation eine
ſtärkere Verwendung tieriſcher Fette wieder eingeführt werden, wie ſie ja auch
vor dem Krieg beſtanden hat. Die moderne Raffinerie hat heute, nach dem
Urteil erſter Fachleute, Mittel und Wege genug, die infolge Beimifchung von
tieriſchen Fetten eintretende Verteuerung durch Verwendung billigerer anderer
Robftoffe zu kompenſieren. Auch hierüber werde ich in der Abhandlung über
den Margarinebeimiſchungszwang das entſprechende Material vorlegen. Es
iſt jedenfalls eine nicht zu verantwortende wirtſchaftspolitiſche Angerechtigkeit,
wenn man rein inländifche Erzeugniſſe, wie Zucker, Salz und Fleiſch uſw., mit
hohen Steuern belegt, wohingegen man die als Auslandsprodukt anzuſpre⸗
chende Margarine ſteuerfrei in beliebiger Menge hereinkommen läßt.
Zu 3. Ölfrühtebau
Es iſt des weiteren nicht einzuſehen, warum in Deutſchland zur Entlaftung
des Getreideanbaus nicht Blfrüchte ſollten gebaut werden können, wenn der
Landwirt dabei eine beſtimmte Rendite ſieht. Die Margarineinduſtrie hat es
682 Erich Netschert
glänzend verſtanden, aus Geſchäftsgründen die ganze Angelegenheit zu baga-
telliſieren. Wenn auch in Deutſchland nicht gleich überwältigende Flächen in
Olfrucht angebaut werden können, weil es das Klima und die Bodenverhält⸗
niſſe nicht erlauben, fo bin ich doch der Meinung, daß in Kürze die hoch⸗
ſtehende deutſche Züchtung eine Olfrucht finden wird, die der Soyabohne die
Stirne bieten kann. Wir können uns eben den Luxus nicht mehr leiſten, aus
der Mandſchurei auf die Dauer ohne irgendwelche Gegengeſchäfte Olfriichte
zu beziehen und damit unſeren geſamten innerdeutſchen Markt von Futter⸗
mitteln und Futtergetreide zu ruinieren. Ich halte es deshalb für außerordent⸗
lich dringend, daß die Regierung ſofort eine Erklärung abgibt, daß ſie für
beſtimmte Olfrüchte einen Mindeſtpreis bei der Ernte garantiert und daß dieſe
Ölfrüchte bei den Fabriken zwangsmäßig verwendet werden müſſen. Wenn
dabei in dieſem Jahre wenig Erfolg noch zu verſpüren ſein wird, weil die Zeit
ſchon zu fortgeſchritten iſt, ſo muß doch einmal der Anfang gemacht werden.
Zu 4. Olkuchenſperre
Ich habe ſchon feſtgeſtellt, daß der deutſche Milchbauer zum Dank für einen
erträglichen Milchpreis, den ihm die Regierung ſchaffen wird, rg
werden muß, im Inland erzeugte Guttermittel zu bevorzugen. Dies erfordert
eine Droffelung der Olkucheneinfuhr und Olfuchenproduftion in Deutſchland.
Sie find die beſten Regulatoren für den deutſchen Getreidemarkt. 24 Mil⸗
lionen dz Olkuchen haben wir im Jahre 1932 in Deutſchland verbraucht. Welch
ungeheure Mengen Futtergetreide, Mühlennachprodukte, Gutterguder uſw.
könnten an deren Stelle verfüttert werden, wenn dem Landwirt anſtändige
Milchpreiſe garantiert find. Es iſt auch durchaus möglich, die Olkuchen⸗
produktion dadurch zu verringern, daß man Trane, die ja billiger ſind wie
Olſaaten, in der Margarine mehr verwendet wie bisher. In dieſem Zuſam⸗
menhang find auch die kürzlich in der Preſſe erſchienenen Vorſchläge zur Aus⸗
rüſtung deutſcher Walfangexpeditionen beachtenswert.
Zu 5. Getreidebewirtſchaftung“)
Daß wir in Getreidemonopolfragen nicht allein auf dem Marſch find, be⸗
weiſt, daß ausgerechnet in Amerika, dem Lande des reinſten Freihandels, ein
monopolähnliches Gebilde im Entſtehen iſt. Dort will man zwei Millionen
Weizenfarmen, zwei Millionen Baumwollpflanzungen und 400 000 Tabak⸗
plantagen kontrollieren und durch Prämien dazu zwingen, weniger anzubauen.
Man bedenke die große Organiſation! Auch hier eine Planwirtſchaft wie in
Rußland, nur mit umgekehrten Vorzeichen: ein Freiheitsverzicht, der bezahlt
wird. Ich bin der Anſicht, daß ein Vollmonopol mit l aller Betriebe
heute unmöglich iſt und abſolut den Zweck verfehlen würde. Das weiß jeder,
der ſich mit praktiſchen Getreidehandelsfragen täglich beſchäftigen muß. Ich
warne hier alle Theoretiker, die ſich noch nie mit den Fragen der täglichen
Getreidepraxis berufsmäßig befaßt haben. Die Allgemeinheit wird beſtimmt
bei einem Vollmonopol die Zeche zu bezahlen haben, denn der Beamten⸗
) Zu dieſem Abſchnitt bitten wir, den getreidepolitiſchen Aufſatz im Auguſt⸗
heft 1932 dieſer Monatsſchrift zu beachten. Die Schriftleitung.
Auf dem Wege zum Monopol? | 683
apparat, der nötig wäre, ift auf die Dauer vom Staate finanziell nicht tragbar.
Ich bin auf Grund meiner praktiſchen Erfahrungen zu der felſenfeſten Aber⸗
zeugung gekommen, daß die Preisſicherung nach unten der einzig gangbare
Von 197 eine ſtaatliche Planung ſein kann. Die Preisſicherung hat folgende
orteile:
1. Die Kalkulation für die Verkaufspreiſe der Mühlen iſt weſentlich ver⸗
einfacht, weil das Preisriſiko verringert iſt. Die Bäcker werden ſich durch
eine Preisfeſtlegung mit ſtarker Staffelung nach oben, wieder mehr für
die Lagerhaltung und die Vorkäufe intereſſieren, was ja gerade für den
guten Abfluß des Getreides in der erſten Hälfte der Saiſon von großer
Wichtigkeit iſt.
Die Zinskalkulation würde ſich nicht unweſentlich ermäßigen.
Es bedarf keiner Ausfallbürgſchaften des Reiches mehr für Kunſtdünger
und keiner Bevorrechtung von Forderungen aus gemachtem Aufwand zur
Sicherung der Ernte.
Die Preisſicherung bedeutet eine ſteuerliche Mehreinnahme für den Staat.
Sie bietet eine weitgehendere Lombardmöglichkeit des Getreides, hierdurch
ZJinsverbilligung, hierdurch Anlockung von Geldern zur Kapitalsanlage.
. Sie erfordert keinen beſonders erhöhten Beamtenapparat über das Maß
der bisherigen D. G. H.⸗Organiſation hinaus.
.Sie bildet die Grundlage für die Exiſtenz der bäuerlichen Siedlung, be⸗
ſonders im Oſten.
.Sie bietet eine Möglichkeit der weitgehendſten Steigerung des perſön⸗
me 1 5 Leiſtungsgedankens im Rahmen einer planwirtſchaftlichen Agrar-
politik.
WN
ao N DD Nm
Die Preisſicherung hat bei Getreide m. E. nach einer beſtimmten Staffelung
zu erfolgen. Dieſe Ankaufsſtaffel enthält bereits 25 bis 30 Pfg. per 50 kg für
den Handel und die Genoſſenſchaften und deren Tätigkeit für Zuſammenkauf,
Reinigung uſw. Es muß von vornherein dafür geſorgt werden, daß die Spitzen⸗
mengen eines Marktes für die aufzunehmende Reichsanftalt möglichſt gering
bleiben. Aus dieſem Grunde müſſen unter allen Amſtänden der ortsanſäſſige
Handel und die Genoſſenſchaft ſowie die Mühlen in weitgehendſtem Maße
intereſſiert werden. Hierzu iſt notwendig:
a) Eine Staffelung der Mindeſtpreiſe, die dem Handel ermöglicht, bei Ein-
lagerung, Behandlung, Lombardierung uſw. trotz Schwund noch einen
kleinen Nutzen für ſich zu erarbeiten.
b) Eine weitgehendſte Lombardierungsmöglichkeit zu ſehr billigen Zins⸗
ſätzen, die der Preisſtaffelung angepaßt ſein müſſen. ö
c) Das Wiederaufleben des Neexpeditionsverfahrens für Getreide, das in
amtlichen Lagerhäuſern eingelagert wird.
Preisfeſtſetzung
Da es ſich um Mindeſtpreiſe handelt, muß natürlich ein tragbar geringer
Satz aufgeſtellt werden, wobei es dem Monopol immer noch offen bleiben
kann, die Mindeſtpreiſe bei ſchlechter Ernte zu erhöhen. Auch die Mühlen und
der Handel werden ja auch weiterhin eine gewiſſe Marktmeinung haben, und
dieſe ſorgen ſchon bei ſchlechten Ernteverhältniſſen für eine höhere Einſpielung
684 Erich Netschert
über die Monopolpreife hinaus. Die Preisfeſtſetzung ſelbſt müßte ſich nach
Produktionskoſten und Auskömmlichkeit für die Landwirtſchaft richten. Sie
dürfte nicht verteuernd für den Konſum wirken und würde ſich nach den Ernte⸗
erträgen, den Qualitäten und der Anbaufläche des letzten Jahres zu richten
haben, wobei es jederzeit der Monopolſtelle möglich iſt, Korrekturen für beſſere
Preiſe nach oben vorzunehmen. Wie in der Schweiz, ſo darf natürlich ſtark
abfallende Qualität, brandiges, ſtark mit Unkraut befallenes Getreide uſw. nicht
abgenommen werden. Iſt durch Hochwaſſer oder andere elementare Gewalt
irgendein Landſtrich qualitativ ſtark benachteiligt, ſo kann die Regierung Son⸗
dermaßnahmen zur Getreideaufnahme mit dem Zwecke der Abſatzverbeſſerung
ergreifen. Immer aber wird die Preisſicherung und die Preis-
feſtſetzung ſich auf einen Durchſchnittspreis für mittelgute
Ware mit beſtimmtem Gewicht und geſunder, handels
üblicher Beſchaffenheit aufbauen müſſen, in enger Anlehnung
an die Normen der deutſchen Getreideklaſſifizierung, an die die deutſche Lande
wirtſchaft immer mehr gewöhnt werden muß. Jedenfalls kann ein Monopol«
inſtitut nur für die Mindeſtquantität von 15 t Abnahme garantieren, und der
Preis müßte ſich aufbauen auf einer 15-t-Ladung ab jeder deutſchen Voll⸗
bahnſtation. Wenn die Staffelung der Preiſe ſo ſtark iſt, daß eine Ein⸗
lagerung von Getreide nicht nur dem Landwirt, nicht nur dem Händler, ſon⸗
dern auch den Mühlen Anreiz bietet, ſo wird der Staat vorausſichtlich ſehr
wenig Material zur unmittelbaren Aufnahme bekommen. Die Klaſſifizierung
des Getreides wird dabei natürlich zu einigen Schwierigkeiten, vielleicht ſogar
Härten, führen, aber die Landwirtſchaft wird ſich ſchnell anpaſſen. Dem Handel
und den Genoſſenſchaften der Provinz müſſen, ſoweit nicht ganze Waggon-
ladungen dem Landwirt direkt abgenommen werden, die vollen Riſiken für die
Qualitäten aufgebürdet werden. Sollten ſich Anregelmäßigkeiten ergeben, die
auf eine Benachteiligung des Landwirts oder des Monopolinſtituts abzielen,
ſo wird ſchon beim erſten Fall dem unehrlichen Handel, gleichgültig ob Ge⸗
noſſenſchaft oder freier Händler, die Handelserlaubnis entzogen und der
Schuldige ſtreng beſtraft werden müſſen.
Ich trete für die Preisſtaffelung bei allen Getreidearten ein, da nur Lücken⸗
loſigkeit der Maßnahmen Erfolg gewährleiſtet. Als Beiſpiel einer Preis-
ſtaffelung, das keinen Anſpruch auf die richtig eingeſetzte Höhe des Preiſes
machen ſoll, gebe ich folgendes Schema:
Nehmen wir an, daß ein 75-kg- Weizen normaler handelsüblicher Qualität
als Sicherungsgrundpreis im Auguſt kommenden Jahres mit RM. 9.— zu
ſtaffeln wäre, ſo ergibt ſich ungefähr folgendes Bild:
Auguſt RM. 9.— Februar RM. 10.20
September 8 9.20 März „ 10.35
Oktober 5 9.40 April „ 10.45
November ps 9.60 Mat „ 10.50
Dezember ‘i 9.80 Juni „ 10.50
Januar „ 10.— Juli „ 10.50
Dieſe Staffelung könnte natürlich auch enger oder weiter verſchoben werden,
je nach den Vorräten, Ernteausfall, Haltbarkeit uſw. Weſentlich iſt dabei nur,
daß der Landwirt eine gewiſſe feſte Kalkulationsbaſis bekommt. Wenn nun
ſich ergibt, daß eine beſonders große Ernte das Monopolinſtitut in Gefahr
Auf dem Wege zum Monopol? 685
bringt, im Mai / Juni eines Jahres unendliche Mengen von Getreide auf
nehmen zu müſſen, jo kann dieſes jederzeit durch Gewährung von Export-
ſcheinen, Einfuhrſcheinen oder auch Tauſchabſchlüſſen mit anderen Bedarfs-
ländern Mengen aus dem Inlandsmarkt herauszuziehen. Die Staffelung
ſchließt keineswegs die Verwendung von Austauſchkaufſcheinen uſw. aus. Im
Gegenteil bilden ſie eine wertvolle Ergänzung. Exportſcheine uſw. werden
beſonders in der erſten Hälfte der Saiſon von großer Wichtigkeit ſein, ebenſo
wie die Preisſtaffelung der erſten Hälfte größer fein muß, weil der Angebots-
druck in Deutſchland dann am ſtärkſten iſt. Auf der anderen Seite iſt der Druck
vom Weltmarkt auf Europa beſonders im Auguſt / September am ſchwächſten,
ſo daß auch der Exportſchein dann gleichzeitig erhöhte Bedeutung gewinnt.
Es hat nun den Anſchein, als ob bei einer Preisſtaffelung zwiſchen dem letz⸗
ten hohen Preis im Juli und dem neuen niedrigen Preis im Auguſt ein Aus.
gleich nur ſchwer möglich ſein wird. Es kann vielleicht von mancher Seite der
Einwurf gemacht werden, daß der Staat dann die ganze Summe der bäuer⸗
lichen Getreidereſerve des alten Jahres auf den Hals geladen bekommt. Aber
auch dieſes kann die Monopolſtelle verhüten. Sie wird bei Beginn der neuen
Ernte nicht nur wenig Getreide zum billigſten Preis bekommen, ſondern viel⸗
leicht gar keines. Die Preisſpanne zwiſchen alter und neuer Ernte wird zur
beſtimmten Zeit im Auguſt genau ſo verſchwimmen, wie es bisher der Fall
war. Sollten aber beſonders große Vorräte an Getreide noch vorhanden ſein,
ſo kann der Staat rechtzeitig dieſe Aberſchußmengen durch Abdroſſelung des
Olkuchenmarktes in die Wirtſchaft hineinpumpen. Das iſt auch der Grund,
warum in der Staffelung ab Mai keine Steigerung mehr angenommen iſt.
Hiermit im VR! auch die Frage der ſtaatlichen Getreide⸗
reſerve, die in den letzten Monaten eines Erntejahres am meiſten zur Bil⸗
dung kommen wird. Die nationale Getreidereſerve iſt bei einem Staat wie
Deutſchland in wirtſchaftlicher wie in wehrpolitiſcher Hinſicht unbedingt not⸗
wendig. Aber die Größe dieſer Referve fol an dieſer Stelle abſichtlich nichts
geſagt ſein. Es wird ſich zwangsläufig ergeben, daß die aufgenommene Min⸗
deſtmenge des Reiches zu einem Teil in die eiſerne Neſerve wandert. Bei
Futtermitteln wird dieſe Reſerve nicht entſtehen, dagegen bei Brotgetreide.
Da Brotgetreide aber nicht unbeſchränkt haltbar iſt, beſonders nicht Roggen,
ſo muß am Schluß des Jahres und am Anfang des neuen Jahres die Ge⸗
treidereſerve in ſolchen Mühlen verwendet werden, die Getreide im Staats.
auftrag zu vermahlen haben.
Man kann bei dem Syſtem der monatlichen . noch tulad
daß eine Gefahr gegeben ift, daß gerade bei Beginn eines Monats die An⸗
fuhren und Andienungen größer ſein werden wie gegen Ende eines Monats.
Es iſt aber leicht die Anfuhr dahin zu ſteuern, daß die Andienungen an die
Monopolverwaltung, die natürlich nur waggonweiſe kauſen kann, ſukzeſſive
auf Abruf innerhalb eines Monats erfolgen darf. Wir haben ja nach dieſer
Richtung hin ſchon genügend Erfahrung im Verkehr mit der D. G. H. gemacht.
Wichtig iſt, daß durch die Preisſtaffelung die Regierung die Möglichkeit hat,
den Terminhandel als ſolchen völlig auszuſchalten und daß damit das große
ſpekulative Moment einer gewiſſen Marktſicherheit und Stabilität der Preiſe
Platz machen muß. Ich glaube auch, daß es zweckmäßig iſt, wenn zur beſſeren
Orientierung eines Wirtſchaftsbeirates im R. E. M. auf allen Provinzbörſen
ein Schlußſcheinzwang eingeführt wird, der von den einzelnen ſtaatlichen Bör⸗
686 Erich Netschert
ſenkommiſſaren ſtatiſtiſch erfaßt werden muß. Inwieweit die außerhalb der
Börſe getätigten Abſchlüſſe, die ja bekanntlich bei weitem überwiegen, erfaßt
werden können, wäre zu prüfen. Es ſteht zu erwarten, daß die Preisſtaffe⸗
lung den Mühlen einen ſehr bedeutenden Anreiz zur großzügigen Einlagerung
geben wird. Ich erblicke darin die einzige Möglichkeit, dieſe überhaupt wieder
mit ihrer eigenen Initiative und ihrem Kapital in die ſtaatlichen Intereſſen
5 nachdem ſie im letzten Jahre bekanntlich ſo ſchwer geſchädigt
wurden.
Haferſtützung
Eine bedeutende Gruppe landwirtſchaftlicher Fachleute iſt der Anſicht, daß
man Hafer nicht in die Getreideſtützung mithereinnehmen ſoll. Die Auswir⸗
kungen hiervon wären nicht zu begrüßen. Man kann der Anſicht ſein, daß ſehr
viel weniger Hafer angebaut werden muß, weil wir weniger Pferde haben,
aber wir können feſtſtellen, daß wir bei beſtimmten Abmachungen mit einigen
Ländern Hafer am beſten von allen Getreideſorten am europäiſchen Markt
verwerten können. Mit der Einſchränkung des Haferanbaus taucht ſofort die
Frage auf, was mit dieſen Bodenflächen geſchehen ſoll, und es beſteht dann
die Gefahr, daß noch mehr Roggen angebaut wird. Hafer iſt ertragſicher, füllt
die Lücken in der Fruchtfolge und Arbeitsverteilung und trägt zur G
erhaltung des Bodens bei, weil er nicht von Pilzarten befallen wird, wie die
anderen Getreideſorten. Gerſte ſtatt Hafer zu bauen verdirbt in den meiſten
Fällen das nachfolgende Getreide. Es iſt alſo vielleicht beſſer, unter ſcharfer,
aber elaſtiſcher Handhabung des Ausfuhrſcheinſyſtems den Hafer mitzuſtützen,
als dafür einen Brotgetreidemehranbau zu bekommen, der auf der anderen
Seite einen noch größeren Preisdruck verurſachen würde, als es der Hafer
am Futtergetreidemarkt tut. Darüber hinaus wäre es eine Angerechtigkeit
gegen die klimatiſch weniger bevorzugten Gegenden, wenn man ſie ſchlechter
ſtellen würde wie gute Gegenden mit anders geartetem Getreideanbau.
Gegen die Produktionsvergrößerung
Es wird nun eingewendet, daß bei einer Rekordernte wir mit allen Gegen⸗
maßnahmen nicht mehr fertig werden. Das letzte und ſtärkſte der Mittel gegen
die Produktionsvergrößerung, von denen ich weiter unten noch eine Reihe
aufzählen werde, iſt die Kontingentierung der Übernahme durch das Reich.
Wer vorſchlägt, daß das Reich bei beginnender Ernte immer noch das Recht
haben ſoll, die Preiſe geringer anzuſetzen, als ſie in Ausſicht genommen waren,
ſät Mißtrauen bei allen Ständen und allen Leuten, die mit der Landwirt-
ſchaft zu tun haben und die doch fo dringend endlich einmal Ruhe haben
müßten. Wenn es wirklich einmal eine ſolche Rekordernte gibt, daß der Staat
keine Möglichkeit mehr findet, die Aberſchußmengen abzuſetzen, dann muß
man ihm das Recht zuerkennen, zu dem geplanten Mindeſtpreis dem Landwirt
pro Anbaufläche nur eine beſtimmte Menge abzunehmen. Es iſt dann freilich
notwendig, daß man den Mühlen einen Vermahlungszwang für dieſes Ge⸗
treide auferlegt. Aber eine ſolche Maßnahme iſt eben dann eine unvermeidliche
Notmaßnahme. Für den Landwirt aber iſt es beſſer, er bekommt nur für
einen Teil, z. B. für 10 Str. pro Morgen, den angeſetzten Mindeſtpreis, als
daß man ihn im letzten Augenblick durch Amwerfen der Sicherungspreiſe vor
Auf dem Wege zum Monopol? 687
den Kopf ſtößt. Bei der heutigen Organiſation unſerer Anbauflächenerhebung
wird es nicht ſchwer fein, mittels entſprechender Ausweiſe der Bürgermeiſter⸗
ämter die kontingentierte Anfuhr und Abnahme des Getreides zu regulieren.
Es ſoll dies aber, wie ſchon erwähnt, die allerletzte Maßnahme ſein, die man
tunlichſt umgehen muß.
Bei der ganzen vorliegenden Frage iſt es beſonders wichtig, ſchon heute
klarzuſtellen, welche Maßnahmen gegen die Produktionsvergrößerung getroffen
werden können. Hierzu iſt zu bemerken: Die Umftellung auf eine weſentlich
A Produktion geht nicht fo ſchnell, denn der Bauer muß fic ja an eine
eſtimmte Fruchtfolge halten. Tut er es 3 ſo bezahlt er dies bei der Ernte
mit Mindererträgen. Außerdem führt die Beſſerſtellung der Milchwirtſchaft
viele Betriebe, deren Böden ſich ja ohnehin nicht zum Getreideanbau eignen,
wieder zum Grünfutteranbau und zur Grünlandwirtſchaft zurück. Außerdem
aber dürfen wir nicht vergeſſen, daß wir gar nicht jedes Jahr Rekordernten
zu verzeichnen haben, und darüber hinaus brauchen wir auch eine bedeutende
nationale Brotgetreidereſerve in Händen des Staates. Selbſt wenn wir aber
auch von dieſen Möglichkeiten abſehen, ſo müſſen wir doch nicht zuletzt durch
die Arbeitsbeſchaffung und die dadurch erfolgende Ankurbelung der Wirt⸗
ſchaſt eine Konſumſteigerung im breiteſten Rahmen erwarten. Sollte ſich aber
trotz allem durch Rekordernten doch eine Aberproduktion in Zukunft erwarten
laſſen, ſo ergibt ſich folgendes:
1. Wir haben die Möglichkeit des Aufbaus einer deutſchen Olfruchtproduk⸗
tion durch Garantiepreiſe, die, wenn auch nur allmählich, dem Getreide
Anbauflächen entziehen wird.
2. Wir haben für die nächſten zwei Jahre die große Droſſelklappe in der
beliebigen Sperrung der Olkucheneinfuhr und Produktion in einer heu⸗
tigen Höhe von 24 Millionen Doppelzentner Kuchen, die durch Getreide
notfalls erſetzt werden müſſen. Wir haben nicht jedes Jahr gleich große
Refordernten und brauchen eine bedeutende nationale Reſerve in den
- Händen des Staates.
3. Wir haben Tauſch⸗ und Exportmöglichkeiten
a) innerhalb der Länder durch Austauſch,
b) durch Ausfuhr mit Scheinen wie bisher.
4. Wir können auf reinen Sandböden mit Staatshilfe aufforſten, um eine
Bodenreſerve für den Fall einer Blockade zu bekommen. Wir erwarten
eine Konſumſteigerung im nn Rahmen Durch die Arbeitsbeſchaf⸗
fung und die dadurch erfolgende Ankurbelung der Wirtſchaft.
5. Wir haben die Möglichkeit, für beſtimmte Nahrungsmittel an Erwerbs-
loſe Gutſcheine abzugeben, die verbilligten oder koſtenloſen Bezug er⸗
möglichen.
6. Wir haben durch verſchärfte Ausmahlungsvorſchriften die Möglichkeit
einer verringerten Mehlproduktion und durch Qualitätsverbeſſerung die
Anwartſchaft auf einen erhöhten Verbrauch. Würden wir z. B. die
Bäcker früher backen laſſen und wenn z. B. dazu neue Leute eingeſtellt
werden, auch Sonntags, ſo würde beſtimmt Sonntags ein bedeutend
vergrößerter Brotkonſum die Folge fein.
7. Wir können aber auch durch Verwendungszwang nicht nur für deutſches
Getreide, ſondern auch für deutſche Wolle, Wein, Spiritus, Holz, Flachs
Agrarpolitik Heft 9, Bg. 3
688 Erich Netschert, Auf dem Wege zum Monopol?
u. a. Veredelungsprodukte neue Produktionsmöglichkeiten für die Land⸗
wirtſchaft aus dem gleichen Boden ſchaffen.
8. Zeitlich können wir uns vor übermäßiger Anlieferung durch Abertrag⸗;
barkeit der Lieferungsberechtigung ſchützen, und wenn dann alle anderen
Hebel nicht mehr bremſend wirken, kommen wir endlich als letztes zur
Kontingentierung der Abnahme durch das Reich.
Es wäre bedauerlich, wenn innerhalb einiger Jahre in einem Aal orga·
nifierten nationalen Staat dem Bauern nicht fo viel Vernunft beizubringen
wäre, daß er die Warnungen vor einer finnloſen Aberproduktion, wenn fie
t drohen ſollte, in den Wind ſchlägt. Die Regierung aber wird Mittel und
ege finden, rechtzeitig mit aller Schärfe, wenn es notwendig würde, dagegen
anzugehen. Wenn die Gegner einer Planung die Angſt vor der Aberproduk⸗
tion in die vorderſte Linie ſtellen, ſo nen fie, was ein ſtraff organifierter
Staat mit einem geſunden Wirtſchaftsleben alles zu leiſten vermag. Die
Landbevölkerung muß wieder beſſer entlohnt werden, damit die Arbeitslofig-
keit und Erwerbsloſigkeit in der Induſtrie zurückgeht.
Das Monopolinſtitut
Die vorliegende Skizze beweiſt, daß die Aufgaben eines NVC
von enormer Größe und Bedeutung find. Die D. G. H. als Monopolinſtitut
iſt in ihrem Aufbau grundſätzlich brauchbar. Dagegen iſt K erwägen, ob nicht
mehrere ſtaatliche und halbſtaatliche Inſtitute, wie die Reichsmaisſtelle, die
G. J. C. und andere, in dieſer D. G. H. vereinigt werden. Es iſt überflüſſig,
ſolche Inſtitute weiterhin nebeneinander beſtehen zu laſſen. Für beſonders
unglücklich erachte ich es aber, wenn eine mit Staatsmitteln aufgezogene
Aktiengeſellſchaft ſich e auf ihre Art an den Märkten betätigt. Mehr
wie einmal hat ein Kampf zwiſchen der D. G. H. und der G. J. C. zum großen
Schaden der Reichsmittel markttechniſche Merkwürdigkeiten ausgelöſt. Man
bat wohl die G. J. C. wegen des bedeutenden Einfluſſes der Genoſſenſchaften
im R. E. M. noch nicht aufgelöſt. Es ſcheint aber notwendig, daß hier Sonder⸗
beſtrebungen im Intereſſe der geſamten deutſchen Landwirtſchaft ein für alle-
mal ausgeſchaltet werden. Ich verweiſe hier auf die Vorſchläge von Reiſchle
im Auguſtheft 1932.
Die Struktur der D. G. H. bedarf noch einiger interner Verbeſſerungen. Es
iſt zu prüfen, ob es richtig iſt, daß dem leitenden Direktor des Monopol-
inſtituts ein Beirat und ein Aufſichtsrat beigegeben wird. Es hat ſich gezeigt,
daß gerade in den letzten Jahren durch kleinere und größere Indiskretionen
verſchiedene Mitglieder des Beirats und Verwaltungsrats ſich Sondervorteile
verſchaffen konnten, was bei einem Monopolinſtitut wie die D. G. H. es dar⸗
ſtellt, nicht vorkommen darf. Es müßte deshalb in Erwägung zu ziehen ſein,
ob die beratenden Praktiker nicht beſſer ſtatt dem Monopolinftitut, dem
R. E. M. zur Verfügung geſtellt werden, das ſeinerſeits als Vorgeſetzten⸗
behörde unterbinden kann, daß ſich Leute innerhalb eines Reichsſtützungs⸗
inſtituts unbeanſtandet bewegen können, die ſelbſtſüchtige Zwecke verfolgen.
Ein ſtaatliches Monopolinſtitut ſollte überhaupt in feiner Betriebsorganiſa⸗
tion und ſeiner agrarpolitiſchen Aufgabe getrennt ſein. Man kann einer ſtark
belaſteten technifchen Organiſation keine agrarpolitiſche Verantwortung auf-
bürden, wie es teilweiſe geſchehen iſt. Es iſt ſelbſtverſtändlich, daß die Mo⸗
Hermann Polzer, Flüssiges Obst 689
nopolbeamten qualifiziert hochwertige Kräfte fein müſſen, die in der Lage find,
die volle Verantwortung für die techniſchen Maßnahmen ihrer Verwaltung
zu tragen. Die Verantwortung der leitenden Männer eines ſolchen Mono-
polinſtituts iſt enorm, aber ſie muß eben getragen werden, und man darf ſich
nicht auf allerlei Ausreden ſtützen, wie es bisher war. Daß auch bei einer
Monopolverwaltung durch feſtgelegte Preiſe und weiteſt gehende Ausſchal⸗
tung des Riſikos ſehr billig gearbeitet werden kann, beweiſen die Hafer ⸗ und
Noggenankäufe der D. G. H. Bei der Verbreiterung der Aufgabe, wie fie für
die Monopolſtelle in der vorliegenden Skizze vorgeſehen iſt, bedarf es einer
Vermehrung der gutgeſchulten, fachlich ganz durchgebildeten und unabhängigen
Beamten. Die Kontrolle wird nicht durch orts⸗ und regionalanſäſſige Hilfe zu
bewerkſtelligen fein; hierdurch entſtehen zuviel Begünſtigungs möglichkeiten,
die auf die Dauer viel ſchlimmer find als einige Härten.
Die Tätigkeit der Prüfer wird ſich in erſter Linie auf die Prüfung der
Qualität, der Menge und der richtigen Einlagerung zu erſtrecken haben. Die
Lombardinſtitute werden ihrerſeits bei den Kontrollen kräftig mitwirken
können und die ſtaatliche Aufficht entlaſten. Völlige Belaſſung des Qualitäts.
riſikos bei der privaten Hand und perſönliche Verantwortung von öffentlichen
Lagerhaltern der D. G. H. werden den Abwicklungsverkehr vereinfachen.
Hermann Polzer:
Flüſſiges Obſt — eine Lebensfrage für den deutfchen
Obſt⸗ und Weinbau
„Flüſſiges Obſt“, d. h. naturreine, unvergorene Obſt⸗ und Trauben ⸗Moſte,
waren bei uns noch vor ſechs Jahren nur in kleinen Kreiſen bekannt. Heute
überraſcht auf jeder Großausſtellung ein fein eingerichteter, reich beſetzter und
geſchickt geführter Stand mit dieſer Aufſchrift. In vielen unſerer Bahnhöfe,
unſeres Wiſſens z. B. in allen des Direktionsbezirks Hannover, hängt ſichtbar
das ſchöne Vildplakat der deutſchen Werbung: „Trinkt Flüſſiges Obſt!“ And
Tages- und Fachpreſſe bringen immer wieder (wenn auch nicht immer ganz
ſachkundige) Aufſätze über dieſe Frage.
Gleichwohl — manches Ausland bewertet dieſe Sache noch ungleich höher.
Voran die Schweiz. In den letzten fieben Jahren haben drei ihrer Bundes⸗
präfidenten dieſe ganze Arbeit, die gärungsloſe Früchteverwertung, „eine
der wichtigſten nationalen Angelegenheiten“ genannt. Die
allgemeine Verbreitung dieſer köſtlich⸗leichten, friſchen, naturreinen Getränke,
nach Schweizerart zumeiſt prickelnd von feinperliger Kohlenſäure, überraſcht
we lag hr 1 Pedi des 1 Die dortige Gefamt-
e unſere reichsdeutſche verhältnismäßi 1
bis achtzehnfache. tſch 5 mäßig um das ſechzehn
38
6% Hermann Polzer
Dann Italien! Neben feiner unermüdlichen Werbung für Wein und
der großzügigen, ſchlagartig wirkenden für Tafeltrauben, hat unter Muſſolini
eine tatkräftige für Flüſſige Trauben und deren Zubereitungen erfolgreich ein-
geſetzt. So gelang es 1931 an einem einzigen Tage, dem Nationalen Trauben-
tag, ein Siebentel der ganzen reichen Ernte, d. h. etwa neun Millionen Dop-
pelzentner an Trauben, Traubenſäften u. ä., abzuſetzen.
Weiter Frankreich! Die gewerbliche Herſtellung auf unſerem Gebiete
iſt dort zwar erſt in den Anfängen, im übrigen in guten Anfängen! Die hohe
volkswirtſchaftliche und volksgeſundheitliche Bedeutung der Sache wird aber
voll erkannt. Die erſte Internationale Konferenz für gärungsloſe Früchtever⸗
wertung) wird Oſtern (18.—22. April) in Paris unter dem Ehrenvorfitz
des Präſidenten der Republik uſw. und unter dem Vorſitz des Erſten Medi⸗
ziners Frankreichs tagen.
Auch aus der amerikaniſchen Anion liegen uns (noch ungedruckte)
günſtige Berichte erſter Fachleute des Obſtbaues und Obſthandels vor. Die
greifbare gewerbliche Herſtellung wird dort auf das drei- bis vierfache der
deutſchen gefchätzt. Bedarf wie Verbrauch ſeien außerordentlich im Steigen.
Wie ſteht es damit nun aber bei uns? Die rein gewerbliche Herſtellung
Flüſſigen Obſtes und Flüſſiger Trauben ſchätzten wir 1927 auf über 2, 1929
auf über 8, 1931“) auf rund 16 Millionen Liter. Daneben beſteht eine raſch
ſteigende, beſonders für den Kleingartenbau, vielfach aber auch für den länd⸗
lichen Anbau, arbeitende freie Lohnmoſterei meiſt vereinlicher oder genoſſen⸗
ſchaftlicher Art, deren Herſtellung wir für 1931 auf etwa 4—5 Millionen Liter
ſchätzen. Die großen Mengen, die — mehr oder weniger vollkommen — in den
Haushaltungen ſelbſt hergeſtellt werden, laſſen ſich natürlich auch nicht an⸗
nähernd erfaſſen.
Iſt dieſer raſche und ſtarke Anſtieg der Herſtellung ge⸗
ſund? Dürfen wir für weiter Gutes erwarten? Ein Blick auf das Weſen
und die geſundheitliche Bedeutung der neuen Getränke, auf die Verfahren der
Herſtellung, auf die noch zu gewinnenden Käuferkreiſe wird uns hierauf nur
mit Ja antworten laſſen.
Flüſſiges Obſt iſt der naturreine, unvergorene Friſchſaft des Obſtes,
auf natürlichem Wege haltbar gemacht, mit möglichſt voller Erhaltung der
naturgegebenen Genuß -, Geſundheits⸗ und Heilwerte des Friſchobſtes. Anſere
beſten Marken unterſcheidet von dem köſtlich labenden und ſtärkenden friſch⸗
gepreßten Saft nur eine durch die Lagerung erworbene edle Reife, die ſie an
Genußwert mit edlen Weinen durchaus auf eine Stufe, an Nähr- und Kräf-
) Mitvorbereitet von der Hauptgeſchäftsſtelle für gärungsloſe Früchteverwer⸗
tung, Berlin-Dahlem, der (gemeinnützigen) Zentrale der deutſchen Werbung, Auf-
klärung uſw.
% In etwa 15 größeren Betrieben mit über 200 000 Liter jährlich, etwa 160
mittleren mit 20—200 000 Ltr. und ſehr vielen kleinen Betrieben. Einzelne Pionier-
firmen ſind bereits 25—35 Jahre in Ehren an der Arbeit. Aber auch manche
neuere Gründung hat ihren Erzeugniſſen Wertſchätzung und Zutrauen erworben.
Vor größeren Beſtellungen wie überhaupt in jeder dieſes ganze Gebiet be⸗
rührenden Frage empfiehlt ſich Anfrage bei der (gemeinnützigen, nach allen Seiten
unabhängigen) Hauptgeſchäftsſtelle für gärungsloſe Früchteverwertung in Zerlin-
Dahlem (Poſtgeld beifügenl).
Flüssiges Obst | 691
tigungswert natürlich weit über fie ſtellt. Sm Deutſchen Reich find für
ihre Herſtellung zwei Verfahren gebräuchlich: das der Warmentkeimung, d. h.
vorſichtigſter und raſcheſter Paſteuriſierung auf niedrigſtmöglichen Wärme⸗
graden unter Abſchluß von Luft und Licht (nach Baumann); und das der
Kaltentkeimung mittels feinftporiger Bakterienfilter (nach Dr. Schmitthenner).
Die warmentkeimten Säfte ſchmecken voller, ſüßer, runder, ſind eine Freude
vor allem der Kinder, auch der Frauen; ihre Herſtellung iſt einfacher und
weſentlich billiger. Die kaltentkeimten ſind leichter, etwas nüchterner, herber,
ſpitzer und werden, wohl auch wegen ihrer Weinähnlichkeit, von Männern
meiſt vorgezogen. Die Anlagekoſten ſind nicht gering, das Verfahren erfordert
beſondere Sorgfalt. Eine Kombination des Warm⸗ und Kaltverfahrens hat
ſich bereits gut bewährt. Beide liefern in der Hand tüchtiger, ſauberer und
gewiſſenhafter Praktiker, die wirkliche Liebe zur Sache haben, ausgezeichnete
„Süßmoſte“ (wie die Schweizer und Süddeutſchen, nun auch ſchon unſere
Reichsgeſetzgebung, das Flüſſige Obſt wegen der vollen Erhaltung ſeiner
natürlichen Süße nennen); anderenfalls ergeben ſich noch manche Rückſchläge.
Denn Tun. guten Süßmoſt herſtellen iſt kein Handwerk, ſondern
eine Kunſt“.
Der hohe geſundheitliche Wert des Flüſſigen Obſtes liegt auf der
Hand. Vom Friſchobſt (deſſen Saft übrigens an ſich ziemlich vitaminarm, da⸗
gegen an kraftſpendendem Fruchtzucker und nervenſtärkenden, geſunderhalten⸗
den bafifden Nährſalzen reich iſt) kaum verſchieden, zeigt es fo ziemlich alle
Werte desſelben für den Geſunden und für den Kranken. Aus dem reichen
mediziniſchen Schrifttum darüber ſei ein glänzender Vortrag Prof. C. von
Noordens-⸗Wien (22. 2. 33 in Berlin) hervorgehoben. Danach iſt das
Flüſſige Obſt oft mehr noch als Friſchobſt eine ideale Zwiſchenverpflegung
und Ergdngungsfoft für Geſunde, mit vorzüglich abhärtender, milde regelnder
Wirkung auf Darm und Nierentätigkeit. Namentlich bei allen fieberiſchen
Erkrankungen und Kreislaufſtörungen iſt es als Erfriſchung und Nahrung
zugleich einfach unerſetzlich. Aberraſchende Erfolge erzielte von Noorden damit
nach Magen- und Darmkatarrhen, bei Leber⸗ und Gallenblaſenleiden und
Nierenentzündung, beſonders auch, wenn periodenweiſe ausſchließlich genom⸗
men, bei harnſaurer Gicht, Fettleibigkeit ufw. Nerven⸗ und Gemütsleidenden
bringt regelmäßiger Genuß wohltuende Erleichterung. Zur Geſunderhaltung
iehlt von Noorden jedermann einen ausſchließlichen Obſt⸗ und Obſtſaft⸗
tag in jeder Woche. Erfahrene Arzte haben den beſonderen Wert des Flüſſigen
Obſtes für die werdende und ſtillende Mutter und als regelmäßige Beinah⸗
rung für den Säugling feſtgeſtellt. Namentlich in obſtarmen Zeiten kann es
ſämtliches Auslandsobſt, außer etwa den Apfelſinen, erſetzen.
Dabei ſtehen wir heute er ſt in den Anfängen einer großen Ent-
wicklung. Ein großer Verbraucherkreis wird ſich jedenfalls bald und ohne
weſentliche Mühe für die Süßmoſte erobern laſſen. Von den wertloſen fabrik⸗
mäßig hergeſtellten Selterwäſſern, von den kaum wertvolleren, meiſt aber
) Das — ſcheinbar ſehr bequeme — Verfahren der chemiſchen Konfer-
vierung, das allerdings keinerlei Kunſt erfordert, wird von der geſamten
deutſchen Süßmoſtbewegung und den Reichsverbänden der ſtädtiſchen und länd-
lichen Hausfrauenvereine als geſundheitlich nicht unbedenklich und der allgemeinen
Einführung abträglich unbedingt abgelehnt.
692 Hermann Polzer
ebenſo überteuerten künſtlichen Limonaden, die im beſten Galle nur ſehr geringe
Mengen eines itberguderten Fruchtſirups (nicht etwa Fruchtſafts !) enthalten,
werden die Millionen ihrer heutigen Verbraucher ſich mehr und mehr auf
naturreine, unvergorene Süßmoſte hinüberlenken laſſen. Selbſt wenn dies nur
bis zur Hälfte gelingt, würde der deutſche Süßmoſtverbrauch auf et wa das
Zehnfache des heutigen fteigen.
Dies iſt für uns die eine gewichtige volkswirtſchaftliche
Tatſache: Durch die gärungsloſe Früchteverwertung werden unſerem Obſt,
unſeren Trauben weite, ganz neue Abſatzkreiſe gewonnen, die ihnen
andernfalls völlig verſchloſſen bleiben würden. Die Maſſe unſerer Jugend
trinkt keinen Wein, auch die meiſten Sportleute und Turner wiſſen, daß fie
ohne Wein (und erſt recht ohne Bier) ſicherer und länger leiſtungsfähig find.
on uns allen ferner, die wir heute noch Arbeit haben, zumal von jedem an
. oder leitender Stelle, fordern die Zeit und der Wettkampf Tag für
g Einfag der vollen Kraft. Auch der Mann auf der Lokomotive, am
Lenkrad, am Steuer weiß Dinge, die ſeine Vorgänger vor 20 Jahren noch
nicht wußten. Alle dieſe trinken vor und während der Arbeit oder zum Teil
überhaupt nur mehr ſolche Getränke, die nicht müde machen, die nicht in ihren
feinſten Wirkungen noch lange nachher nachteilig zu ſpüren find; d. h. heute
trinken ſie leider noch meiſtens Selter, Limonaden u. ä. — ſehr zum Nachteil
unſerer Landwirtſchaft.
Die andere volkswirtſchaftliche Tatſache fällt hier noch mehr
ins Gewicht. Während unſer Tafelobſt zumeiſt guten Abſatz findet, iſt das
Wirtſchaftsobſt in guten Erntejahren nur unter dem Selbſtkoſtenpreis, unan⸗
ſehnliche Ware an Apfeln, aber namentlich auch an Beeren und Sauerkirſchen
überhaupt nicht verkäuflich. Außer aus den eigentlichen Moſtobſtſorten wird
aber gerade aus fold) kleinem, unanſehnlichem, dafür aber meiſt um fo wür⸗
igerem Obſt der beſte Süßmoſt gewonnen. Was iſt darum natürlicher, ver⸗
ſtändiger, wirtſchaftlicher, was liegt mehr im Intereſſe der Volksgeſundheit,
als alle ſolche Aberſchüſſe zu unvergorenen Moſten zu verarbeiten und in obft-
armen Zeiten oder Jahren der Volksernährung zuzuführen. Heute drücken
ſie gundchft lange Zeit auf die Marktpreiſe und müſſen endlich zum großen
Teil an das Vieh verfüttert oder zu Schnaps gebrannt werden, oder man läßt
ſie, oft in Anmaſſen, am oder unterm Baume verfaulen. | |
Ein einziges Beiſpiel für vielel In einem dünnbeſiedelten Kreiſe
nahe unſerer Oſtgrenze mit wenig über 10 000 Einwohnern ſind 1931 etwa
8—9000 Zentner Obſt teils verfault, teils als Viehfutter verwendet worden,
weil eine andere Verwertung unmöglich war. Der dortige Obft- und Garten-
bauverein erkennt es nun „als ſeine Pflicht und Aufgabe, hier zum allgemeinen
Nutzen durch Gründung einer kleinen, aber tüchtigen Lohnſüßmoſterei reſtlos
Wandel zu ſchaffen“.
Das heißt in der Tat: Dienſt am Volke! Erſt wenn der Obſtbau ſo denkt
und handelt, kann er ſeine Aufgabe im Leben des ganzen Volkskörpers als
erfüllt anſehen.
Wir brauchen auch nus einmal zu rechnen: Was in jener obſt⸗
baulich bedeutungsloſen Grenzgegend in einem Jahre an Obſt verfaulte oder
an das Vieh verfüttert werden mußte, hätte hingereicht, um jeden ein⸗
zelnen Einwohner des ganzen Gebietes, die Säuglinge eingeſchloſſen,
in dem ſchlimmen Vierteljahr von Weihnachten bis Oſtern Tag für Tag
Flüssiges Obst | 693
3—4 Apfel oder noch viel beſſer — weil frifh bleibend, etwa 2 Glas
Flüſſiges Obſt zu verſchaffen. Die Verteilung an alle wäre zunächſt viel-
leicht ſchwierig. Alle Obſtbauer, Landwirte, Kleingärtner, Landarbeiter aber
8 un wenigſtens ihren herrlichen, Leben und Geſundheit gebenden
Strunk.
Wie die Dinge heute liegen, kann und darf die Zeit nicht ferne Dit wo
Staat und Gemeinden es als ihre ſelbſtverſtändliche Pflicht
anſehen werden, nirgends im Reiche, am wenigſten in Gebieten, wo Armut
oder Trunkſucht herrſcht, auch nur einen Zentner der edlen Gottesgabe, unſeres
deutſchen Obſtes, verkommen zu laſſen, vielmehr alles reſtlos der Volksernäh⸗
rung nutzbar zu machen. :
Solche billigſte Verarbeitung zu Süßmoſt — unmittelbar für den Gere
braucher — kann auf zwei Arten erfolgen.
Der ländliche 17 obſtbauliche Haushalt wird ſeine Obſtüberſchüſſe zu
Siipmoft für den eigenen Bedarf umwandeln laſſen: fet es von einem
gelernten Süßmoſter, der mit einfachem Apparat von Haus zu Haus wandert,
oder mittels unferer guten Süßmoſtkanone, die, von 1—2 ausgebildeten Män⸗
nern begleitet, in den Obſtbaugebieten von Ort zu Ort zieht bzw. dorfweiſe
an feſtem Standorte arbeitet, oder Sag in einer fachmännifch geleiteten Süß⸗
moſtküche oder Lohnmoſterei am Orke. In allen ſolchen Fällen muß ein Orts-
oder Kreisausſchuß der Sache Halt und Stütze geben und einwandfreie Arbeit
verbürgen. Der ſtädtiſch e Haushalt dagegen läßt billig gekauftes Obſt in
der örtlichen oder einer nahegelegenen Süßmoſterei — gewerblich oder verein⸗
lich — vermoſten und lagert es entweder bei der Herſtellerin auf Abruf oder
im eigenen Keller ein. Beides iſt in vielen Gebieten des Reiches, vor allem
im Süden und Weſten, ſchon weithin im Gebrauch.
Nur nebenbei ſei hier auf ein großinduſtrielles Verfahren zu raſcheſter,
billigſter und großzügiger Aufarbeitung ganz großer Ernteüberſchüſſe hinge⸗
wieſen. Der friſchgepreßte Saft wird dabei ſofort im Vakuum bei niedrigen
Wärmegraden (30 —35 C) auf ein Achtel feiner Maſſe zu dünnflüſſigem
Dickſaft . der infolge feines hohen Zuckergehaltes (65 —68 v. H.)
auch offen unbegrenzt haltbar, auf ſehr geringem Raume lager und leicht
und billig beförderungsfähig iſt. Dickſaft, beſonders von Upfeln, iſt eine aus⸗
gezeichnete Sache für Sportler, Wanderer, Touriſten, Militär, Polizei,
Kraftfahrer. Die vollkommenſten neuen Anlagen dafür erlauben eine faſt
völlige Erhaltung des natürlichen Fruchtgeſchmacks und der natürlichen Duft⸗
ſtoffe, ſo daß ſolcher Dickſaft mit Waſſer oder Selters verſetzt ſehr angenehm
und erfriſchend mundet. Bezeichnenderweiſe haben wir bei uns im Reiche
keine einzige neuzeitliche Anlage, wohl aber eine ſolche ausgeführt nach und
eingerichtete in Sowjetrußland, der Schweiz, Südafrika uſw. Außer dieſen
Staaten zeigen namentlich Frankreich und Italien für die hohe Bedeutung
dieſer Art Obſtverwertung Verſtändnis. |
Die hohe Bedeutung der gärungsloſen Früchteverwertung für unſeren Obſt⸗
und Weinbau wie für unſere Volksgeſundheit iſt augenſcheinlich. Man ſollte
darum meinen, daß Reich, Länder und Landkreiſe ſich ſeit Jahren alle Mühe
gegeben haben, die Herſtellung im großen einzuführen oder zu fördern, den
Erzeugniſſen großzügige Verbreitung zu ſchaffen, namentlich aber Groß⸗
abnehmer wie Reichswehr und Neichsmarine (nach dem Beiſpiel etwa der
engliſchen Kriegsmarine), Krankenanſtalten, Krankenverſicherung, Gaſtſtätten
694 Hermann Polzer
uſw., mittelbar oder unmittelbar zu dauerndem Verbrauch in fteigendem Maße
zu veranlaſſen. Gis heute find wir aber, von Ausnahmen abgeſehen, davon
noch weit entfernt. Eine Menge Sympathien — eine an kleiner Maß-
nahmen —, aber nirgends Großes, irgendwie Durchgreifendes! Die Schwei⸗
zeriſche Eidgenoſſenſchaft freilich dagegen verbürgt ihren Obſtbauern
bei gärungsloſer . annehmbaren Mindeſtobſtpreis; fie unter ·
ſtützt in großem Maße die Arbeit der „Propagandakommiſſion für die Er⸗
zeugniſſe des ſchweizeriſchen Obſt⸗ und Weinbaus“, die z. B. Jahr für Jahr
an jedes Schulkind bzw. jeden Rekruten der Schweiz glänzend ab⸗
gefaßte, packend bebilderte Flugſchriften über und für Flüſſiges Obſt verteilen
läßt. Bei uns ſand in dieſem Jahre zum erſten Male die mit großem Ge⸗
ſchick und ſeltener Hingabe, aber mit verzweifelt geringen Mitteln arbeitende
Werbung für Flüſſiges Obſt von ſeiten des Reichs eine — dankbar begrüßte,
aber noch ſehr geringe — Förderung. Im übrigen bleibt die ganze Aufklärung
und Werbung den — noch oder zur Zeit geldſchwachen — wirtſchaftlich oder
gemeinnützig intereſſierten Verbänden und Stellen überlaſſen.
Die Frage iſt berechtigt: Woher dieſe Zurückhaltung, dieſe in der Hauptſache
nur platoniſche Sympathie? Bevor wir eine Antwort darauf verſuchen, ſei
ein Blick auf die für gärungsloſe Früchte verwertung bei uns
tätigen Kräſte geworfen.
Bis etwa 1927 waren dies, abgeſehen von einzelnen, weitblickend geleiteten
Obftbauverbänden und vereinen, faft ausſchließlich Verbände und Gruppen
alkoholgegneriſcher Richtung. Flüſſiges Obſt galt — neben und gleichen
Ranges mit Limonaden, Mineralwäſſern, Kaffee, Tee, Milch uſw. — als
alkoholfrei, als „Erſatzgetränk“ (1), gewertet i. a. nur von ſolchen, die Alkohol
ablehnten oder ablehnen mußten. 1927/28 erfolgte ein gewaltiger Schritt nach
vorwärts, aus dieſer Enge hinaus in die Weite des Volkslebens. Der große
und einflußreiche Deutſche Verein gegen den Mißbrauch geiſtiger Getränke
(gegen den Alkoholismus) machte ſich damals für diefes volkswirtſchaftlich ſo
wichtige Gebiet von allen alkoholgegneriſchen Gedankengängen und Amklam⸗
merungen frei und gründete — mit Anterſtützung von Reich und einzelnen
Ländern und Provinzen — der gärungsloſen Früchteverwertung zwei große
Zentralen tendenzlos⸗ſachlicher Arbeit: die Hauptgeſchäftsſtelle für gärungsloſe
teverwertung Berlin Dahlem, Zentrale vor allem der deutſchen Sorat
und Aufklärung, und die ihr organifatoriſch unterſtellte — einzige europäifche
— Spezialanſtalt für die techniſche Arbeit, Ausbildung und Beratung ), die
Lehr⸗ und Verſuchsanſtalt für gärungsloſe Früchteverwertung in Obererlen⸗
bach b. Frankfurt a. M. Was dieſe beiden Einrichtungen ſeither in offenkun⸗
diger und beſonders in ſtiller Arbeit für die Sache geleiſtet haben, läßt fich
ſchwer Überſchätzen.
Eine Zuſammenarbeit der wirtſchaftlich intereſſierten Verbände — Reichs⸗
verband des deutſchen Gartenbaues und Deutſcher Weinbauverband einer⸗
ſeits, Verband der deutſchen Süßmoſtkeltereien andererſeits — mit den ge⸗
*) Neben ihren vielen anderen Aufgaben wird dies zum Teil ſeit Jahren mit-
beſorgt von den beſtehenden Anſtalten für Objt- und Gartenbau, den beiden
höheren Lehranſtalten in Dahlem und Pillnitz an der Spitze. Die Spezialanſtalt
in Obererlenbach aber, in der die techniſche Erfahrung von zwei Jahrzehnten
konzentriert iſt, arbeitet ausſchließlich auf dieſem und für dieſes Gebiet.
Flüssiges Obst | 695
nannten gemeinnützigen Zentralen war nun gegeben. Die 1931 gegründete
Reichsarbeitsgemeinſchaft „Deutſcher Süßmoſt“, geleitet von
Prof. Dr. Ebert, dem Führer des deutſchen Erwerbsobſtbaues, hat u. a. als
Aufgaben: Schutz der Naturreinheit durch Schaffung gefetzlicher Begriffs⸗
beſtimmungen, rationelle Zuſammenarbeit zwiſchen Anbau, Induſtrie und
Verbraucher, Schutz gegen unerwünſchte und Schleudereinfuhr, Erleichterung
und Verbilligung des Vertriebs und Ausſchanks, Organiſierung der Lohn⸗
ſüßmoſterei, Werbung für und allgemeine Einführung der Süßmoſte als
Volksgetränk. Auf allen dieſen Gebieten wurde bereits Wertvolles und Wich⸗
tiges erreicht. Aufklärung und Werbung — in Zuſammenarbeit mit der tech⸗
niſchen Arbeit, mit wiſſenſchaftlicher Forſchung und ärztlicher Erprobung —
wurde nun auch amtlich der genannten Hauptgeſchäftsſtelle für gärungsloſe
Früchteverwertung und den ihr angeſchloſſenen Landes⸗ und Provingialaus-
ſchüſſen übertragen.
Warum machen nun, trotz der beſten Ausſicht und all dieſer rührigen Kräfte,
Verbreitung und Abſatz des Süßmoſtes — ſo ſtark ſie auch zunehmen — nicht
noch weſentlich raſchere Fortſchritte? Ein Hauptgrund liegt darin, daß die
Werbung für Flüſſiges Obſt noch keinerlei öffentliche Un-
terſtützung findet. Irren wir nicht, dann zum guten Teile deshalb, weil
viele im Süßmoſt noch immer den gefährlichſten Nebenbuhler des Weines
ſehen. Denkende Führer des Weinbaues und Weinhandels urteilen hier frei⸗
lich anders. Der entſcheidende Mann im weitaus größten deutſchen Weinland-
befitz ſagte uns z. B. vor Jahresfriſt: „Anſeren Wein können wir ſeit Jahren
nur mit Mühe und Verluſt verkaufen; unſer Süßmoſt aber geht immer glatt
ab. Darum find wir Freunde des Süßmoſtes.“ And ein Großkeltereibeſitzer,
ſelbſt feiner Kenner und begeiſterter Liebhaber des Weins, vielleicht mehr noch
aber Freund unſeres wackeren Winzerſtandes, erklärte uns: „Durch den Trau⸗
benſüßmoſt erobern wir unſeren Winzern viele Tauſende von neuen, zumeift
zahlungsfähigen und treubleibenden Kunden.“ Auch für den Weinbau gilt,
natürlich mit einiger Einſchränkung, die Erklärung des Deutſchen Obſtbau⸗
tags 1930: „Der Sieg der gärungsloſen Früchteverwertung iſt eine Lebens⸗
frage für unſeren Wirtſchaftsobſtbau.“ Oder wie ein anerkannter Führer des
deutſchen Obſtbaues es kürzlich ſagte: „In der Bewegung für Flüffi-
ges Obſt ſieht unſer darniederliegender Obſtbau den ein-
zigen wirklich ausſichtsreichen Weg zur Rettung.“ Schon
aus dieſem Grunde ſollten die leitenden Männer ſich raſch zu entſchiedener,
tatkräftiger, großzügiger Förderung der gärungsloſen Früchteverwertung und
aller tüchtigen Werbearbeit für Flüſſiges Obſt (Trauben) entſchließen.
Ein zweiter Grund für manche Zurückhaltung liegt in der und jener min⸗
derwertigen oder gar gefälſchten Ware, die jeweilen, wie üblich,
mehr und lauter getadelt werden, als man die Mengen wirklich gute Ware
loben will. Solange Süßmoſt eine kleine Sache für kleine Kreiſe war, bee
gegnete man minderwertigen Erzeugniſſen nur vereinzelt. Erſt als infolge
jener geſchickten und weitverzweigten Werbung das öffentliche Intereſſe für
Flüſſiges Obſt plötzlich außerordentlich zunahm, tauchten bald da und dort
gewiſſenloſe Geldmacher auf, die hier eine neue Konjunktur witterten und das
Schaf möglichſt für ſich allein ſcheren wollten, bevor es noch recht geboren war.
Erleichtert wird fold elendes Handwerk durch das Fehlen geſetzlicher Begriffs
beſtimmungen über die Beſchafſenheit einwandfreier Süßmoſte. Ein vom
696 Hermann Polzer
Reichsgeſundheitsamt und den beteiligten Fachſtellen genehmigter Entwurf
dafür ſchlummert, wenn wir recht berichtet ſind, ſchon ſeit etwa einem Jahr
in den Aktenſchränken des zuſtändigen Reichsminiſteriums. Es fei übrigens
51080 daß einerſeits der Verband der gewerblichen Keltereien, andererſeits
die Zentrale der freien Lohnſüßmoſtereien kürzlich den Anfang mit einer frei⸗
willigen Wertkontrolle ihrer Erzeugniſſe gemacht haben.
Ein nicht unwichtiger Grund mag für viele auch in den Verkaufs
preiſen liegen. Gis 1931 waren dieſe für die meiſten Käuferkreiſe ent⸗
ſchieden zu hoch. Heute find fie, ſoweit nicht durch Zwiſchenhandel überteuert,
im Reichsdurchſchnitt gerecht, in einzelnen Gebieten, beſonders in dem mit
Betrieben zu reichlich geſegnetem Württemberg, infolge ſinn⸗ und gewiſſenloſer
Preisunterbietung ſogar zu niedrig, ſo daß dabei entweder ein ehrliches Be⸗
ſtehen oder eine redliche Arbeit auf die Dauer unmöglich iſt. Jede Kritik an
den Süßmoſtpreiſen wird ſich freilich folgende Tatſachen vor Augen halten
müſſen: Jeder Liter Süßmoſt ſtellt den vollen reinen Saft von 3—4 Pfund
Friſchobſt (-trauben) dar; Süßmoſten ift eine Kunſt und muß mit beſonderer
Sorgfalt geſchehen; die Lagerung (und Beobachtung) erfordert ſehr viel Zeit
(3—4 Monate) und große Gewiſſenhaftigkeit; das für die Anlagen und die
großen Lagerräume aufgewendete Kapital läßt ſich im Jahre in der Regel nur
einmal ausnützen; für ſehr weite Gebiete des Reichs treten zu den Erzeuger⸗
preiſen noch hohe Frachtkoſten; endlich ſind die Ernteerträge und damit die
Nohſtoffpreiſe bei uns ſehr verſchieden (z. B. zwiſchen 1 und 15 Mark für
den Zentner Wirtſchaftsäpfel). Berückſichtigt man all dies, fo find die heutigen
Preiſe für vorzüglichen Apfelſüßmoſt (Berlin frei Haus 80 Pfg. für die
/ Flaſche, Stuttgart frei Haus 65 Pfg.) eher billig zu nennen.
Für eine weitere Verbilligung ſtehen u. E. vier Wege offen: Geſetz⸗
liche Zulaſſung von Zubereitungen (aus naturreinem Süßmoſt, leicht mit
Waſſer — mit oder ohne feinperlige Kohlenfäure — verdünnt) ); Einführung
des Offenausſchanks (aus Aluminium- und V2 A-Tankfäſſern bereits gelöſt;
die billigen Ballonflaſchen freilich mit Antenanſtich empfehlen ſich auf die
Dauer nur bei ſorgfältiger Bedienung); zweckmäßige Regelung des Vertriebs
unter möglichſter Ausſchaltung unnötiger oder mindertüchtiger Zwiſchen⸗
händler; endlich (was allerdings zunächſt nur für den Haustrunk in Frage
kommt) Anterlaſſung der Schönung oder Klärung, wie ja der Kenner über⸗
haupt den naturtrüben Süßmoſt als weit gehaltvoller und vollmundiger vor⸗
zieht. And natürlich: ſtarke Ausdehnung des Verbraucherkreiſes.
Bei planmäßiger Anwendung aller dieſer Mittel wird ſich der Süßmoſt⸗
preis in jedem Normaljahr zweifellos auf die Höhe des Bierpreiſes
ſenken laſſen: eine Grenze, die uns überhaupt für jedes Volksgetränk not⸗
wendig erſcheint. |
Warum ſoll nun nicht aud das ſchlimmſte Hindernis für eine allge
meine Einführung des Flüſſigen Obſtes genannt ſein? Es iſt der Mangel
an Mut, an Zielſicherheit, an entſchloſſenem Willen bei
Männern, die für dieſe Sache einzuſtehen berufen ſind,
auf die es gerade ankommt! Einige Belege nur für hunderte! Eine
große Obſtbautagung mitten in einem Süßmoſtgebiet. Drückende Sommerhitze,
*) Vorzuſchreiben wäre dafür ein ſcharf zu unterſcheidender eigener Name
und genaue Kennzeichnung des Waſſerzuſatzes.
Flüssiges Obst | 697
lange ſchwierige Verhandlungen, faft alle die Hunderte tranken wertloſes, aber
teures künſtliches Mineralwaſſer. Süßmoſt gab es überhaupt nicht. Ebenſo⸗
wenig an ſo gut wie allen neueren Tagungen des Obſtbaues und Obſthandels,
überhaupt der „Grünen Front“. Auch an keiner großen Urztetagung der letz⸗
ten Jahre iſt uns Süßmoſt irgend begegnet). Die fortſchrittlichen Männer
im ſchweizeriſchen Bauernſtand dagegen, vor allem die auf ihren Stand und
ſeine Aufgaben ſtolze Jungbauernſchaft, fordert bei Feſten und Tagungen die
naturreinen Erzeugniſſe des Heimatbodens, voran den Süßmoſt. Ebenſo die
ſchweizeriſchen Hygieniker und Arzte.
So muß es bald auch beiuns werden! Gerade an uns National-
ſozialiſten iſt es — für die überlegter Einkauf nur vollwertiger, heimiſcher
Ware und Käuferhilfe für den deutſchen Bauer, Gärtner, Winzer ſelbſtver⸗
ſtändliche Pflichten find —, gerade an uns iſt es, das Flüſſige Obſt einzu-
führen und durchzuſetzen. Möge jeder nach Willen und Belieben ſein Glas
Wein oder Vier weitertrinken! Wer aber, aus Gründen der Leiſtung, der
Geſundheit, der Aberzeugung für den Arbeitstag oder für die Regel oder über⸗
upt einen anderen Weg vorzieht, der wähle, fordere, empfehle Flüſſiges
Obſt, ſetze es, wo er irgend Einfluß hat, durch: Neben Wein und Bier überall
Flüſſiges Obſt, für den Feſttag Flüſſige Trauben!
Gaffen wir zuſammen:
Flüſſiges Obſt iſt der naturreine, unvergorene, auf natürlichem Wege
haltbar gemachte Saft des Friſchobſtes (friſcher Trauben);
nach dem Stande der Wiſſenſchaft iſt es ein idealer Nähr⸗ und Kraft-
quell und zugleich, da nach Sorten und Verfahren jedem Geſchmack
anpaßbar, ein ideales Volksgetränk, gegeben beſonders für Jugend,
Frauen, Sport;
bei der Behandlung, Ernährung, Heilung des Kranken und des Genefen-
den iſt es vielſeitig und in hohem Maße wertvoll;
der Verbrauch ſteigt raſch, die Ausfichten für Vervielfachung des Abſatzes
find ſehr günſtig;
unanſehnliches und beſonders kräftig ſäuerliches Obſt ergibt die beſten,
dem Volksgeſchmack am meiſten zuſagenden Süßmoſte;
nur die Herſtellung von Flüſſigem Obſt im großen kann den heimiſchen
Obſtmarkt von den ihn ſchwer drückenden, kaum oder nicht verkäuflichen
Warenmengen entlaſten und damit Ertrag und Rente ſteigern;
großzügige Herſtellung von Obſt⸗Dickſäſten erlaubt eine Vorratswirt⸗
ſchaft im großen für obſtarme Jahre;
zur Durchführung der Obſtverſorgung, der Herſtellung, der Aufklärung
und Werbung genügen i. a. die vorhandenen Kräfte;
von den Behörden iſt dringend zu erhoffen: VBaldige Herausgabe der
Begriffsbeſtimmungen über Flüſſiges Obſt; Anterſtützung und Aus⸗
bau der beſtehenden Einrichtungen für Wertkontrolle; ausgiebige geld-
liche und moraliſche Förderung der Werbung für Flüſſiges Obſt.
) In Maſſen, in beſter Güte und zu billigem Preiſe hoffen wir ihn beſtimmt
zu finden auf dem Deutſchen Turnfeſt in Stuttgart 1933, mitten im
Süßmoſtlande Württemberg.
698 Karl Scheda
Zur allgemeinen Einführung des Flüffigen Obftes als Volksgetränk wür⸗
den durchſchlagend beitragen:
Verſtändnisvolles Mitgehen der großen Beamtenkörper und der Heeres⸗
und Flottenverwaltung; |
Bereitwilligkeit von Krankenbehandlung und Krankenverſicherung;
vor allem aber das Vorbild der Führer:
Flüſſiges Obſt auf den Alltags-, erft recht auf den Feſttiſch!
Neue Sitten kommen immer von oben. Anſer Obft- und
Weinbau verdienen es und haben es dringend nötig, daß
Flüſſiges Obſt, Flüſſige Trauben in Deutſchland „Mode
werden und Sitte bleiben.
Karl Scheda:
Guſtav Ruhlands Leitſätze für Mittelſtanoͤs politik
Wir haben zum Gedenken an den großen deutſchen Volkswirt
Ruhland im Januar eine mehr lebensbeſchreibende Studie Schedas
veröffentlicht. Am die Erkenntnis zu vertiefen, bringen wir, gleid-
falls von Karl Scheda bearbeitet, die nachſtehenden Leitſätze Nuh -
lands zur Mittelſtandspolitik. H. R.
1. Der „echte“ Mittelſtand iſt die wirtſchaftlich ſelbſtändige Mittelklaſſe, die
wiſſenſchaftlich mit dem ſogenannten „modernen“ Mittelſtande der beſſer⸗
geſtellten, abhängigen Leute nicht verwechſelt werden darf. Er tft heute zwi⸗
ſchen zwei Mühlſteine geraten; zwiſchen die unbeſchränkte Reichtumsmeh⸗
rung der Oberſchichten der modernen Geſellſchaft und zwiſchen die politiſchen
Erfolge der unteren, abhängigen Leute (Proletarier). Der Kernpunkt unſerer
Mittelſtandsauffaſſung liegt darin, daß die Angehörigen des echten Mittel-
ſtandes ihre erſten Arbeiter und zugleich Eigentümer ihrer
Produktions mittel find. Dabei ijt entwicklungsgeſchichtlich das Auf⸗
ſteigen dieſer Mittelſtandsleute aus der Arbeiterſchaft das Normale. Lehrling,
Fra Meiſter — Bub, Knecht, Bauer — Praktikant, Verwalter, Guts⸗
eſitzer. |
2. Bei der wiſſenſchaftlichen Beurteilung des Mittelſtandsproblems fteben
ſich zwei philoſophiſche Auſfaſſungen des Menſchen gegenüber: die indivi⸗
dualiſtiſche und die volksorganiſche Auffaſſung. Nach der indivi⸗
dualiſtiſchen Auffaſſung ſteht das einzelne Individuum im Mittelpunkt
aller Erwägungen. Ihr iſt die Volkswirtſchaft nur die Summe aller Private
wirtſchaften; der Wille der Staatsgemeinſchaft kommt durch die Mehrheit der
Staatsbürger zum Ausdruck. Die Forderungen der verſchiedenen Intereſſenten⸗
gruppen ſind „gleichberechtigt“. Der politiſche Ausgleich der Gegenſätze
muß auf der mittleren Linie geſucht und gefunden werden. Alle Politik
Gustav Ruhlands Leitsätze für Mittelstandspolitik 699
aft im weſentlichen Gegenwartspolitik. Das Endziel aller Entwid-
VJ Mehrung des Reichtums an materiel.
en ern.
Nach der volksorganiſchen Auffaſſung — die ſchon ſeit Plato und
Ariſtoteles vertreten wurde — iſt „ein Menſch kein Menſch“ (unus homo
nullus homo). Nur der „größere Menſch“, wie er im Laufe der Sabr-
hunderte geworden als „nationales Gebilde“ allen vor Augen ſteht mit
dem unverkennbaren Einſchlag einer menſchheitlichen Entwicklung, iſt der
„Menſch“ im wiſſenſchaftlichen Sinne. Hiernach iſt die Volkswirtſchaft un⸗
endlich viel mehr als nur die „Summe der Privatwirtſchaften“; und der ver⸗
antwortliche Wille der Staatsgemeinſchaft iſt etwas ganz anderes als nur der
„Wille der Mehrheit der Staatsbürger“. Die Forderungen der verſchiedenen
Intereſſentengruppen find als „geſund“ oder „krank“ zu bezeichnen. Von
ihrer Gleichberechtigung oder einem Ausgleich auf der mittleren Linie kann gar
keine Rede fein. Die Gegenwarts politik muß die ganze Sorge
für die Zukunft des Volkes mit umſchließen, und ihr haben ſich
alle gegenwärtig lebenden Einzelnen mit ihren Intereſſen ſchlechthin unterzu⸗
ordnen. Die Politik wird ſo zu einem gewaltigen Entwicklungsproblem, als
deſſen Endziel nicht der „größere Reichtum“, ſondern die
eg abl menſchenwürdige Entfaltung Aller zu bezeich⸗
nen iſt.
3. Die individualiſtiſche Auffaſſung des Menſchen ſieht in dem
heutigen Mittelſtandsproblem nur ei ne der vielen gleichberechtigten Spezial⸗
fragen der Gegenwart und ſteht deshalb dieſer ratlos gegenüber. Folgerechter⸗
weiſe haben eine Reihe von Vertretern dieſer Auffaſſung erklärt: der alte
Mittelſtand ſei nicht zu halten, er müſſe nach und nach ver⸗
I Hwinden. So die Freihändler, der Marxismus und der Kathederſozia⸗
is mus.
Die volksorganiſche Auffaſſung des Menſchen führt zur Erkenntnis,
daß die Lebensbedürfniſſe des „größeren Menſchen“, des Volkes,
abſolut unvereinbar find mit dem heutigen Auflöſungsprozeß des Volkes in die
Reichen auf der einen — und die Maſſe der abhängigen Leute auf der anderen
Seite. Das geſunde Leben aller Kulturvölker der Geſchichte hatte ſtets das
Vorhandenſein einer möglichſt breiten Schicht wirtſchaftlich unabhängiger
Exiſtenzen zur Vorausſetzung. Dieſes Lebensintereſſe des „grö-
ee Menſchen“ muß ein unbeſchränktes Erwerbsrecht der
eichſten ausſchließen; denn durch dasſelbe gelingt es der Oberſchicht
der modernen Geſellſchaft, die jährlich zuwachſenden, neuen felb-
ſtändigen Arbeitsgelegenheiten in Syndikaten und Truſts
aller Art ſchon im voraus für ſich zu mon opoliſieren. Deshalb
fehlt heute der wirtſchaftliche Raum zum Sichemporarbeiten, zum Selbſtändig⸗
machen, für die Tüchtigen der unteren Volksſchicht, und die Mittelſchicht wird
gleichzeitig nach und nach vernichtet. Verſchwindet aber durch Beſeitigung des
unbeſchränkten Erwerbsrechts der Reichften der Grundbegriff des „Kapita⸗
liſten“, jo kommt damit auch der Grundbegriff des „Proletariers“ aus
dem Syſtem der Nationalökonomie in Wegfall. So z. B. durch ein allgemei⸗
nes Kontingentierungsgeſetz mit individuellem Kataſter für die ſelbſtändigen
Erwerbsgelegenheiten.
700 Karl Scheda
4. Unfere moderne, individualiſtiſche Proletarierpolitik ſucht Durch Ge⸗
ſetze aus den Taſchen der Arbeitgeber und des Staates wie der Kommunen mit
ergänzenden Beiträgen der Verſicherten das Einkommen der Proletarier etwas
beſſer zu ſtellen und den verſchiedenen Anglückslagen zu begegnen. Dabei wird
das Gefühl der wirtſchaftlichen Selbſtverantwortlichkeit im Volke gemindert.
Die Bahn zum Aufrücken der tüchtigen Hilfsarbeiter in den
unabhängigen Mittelſtand iſt nicht freigehalten worden.
Deshalb die zunehmende Verbitterung der Proletarierbewegung, die ſichtlich
abnehmende Arbeitsfreudigkeit der unteren Volksſchichten mit allen bekannten
weiteren Entartungserſcheinungen am ganzen Volkskörper.
Die volksorganiſche Auffaſſung der Mittelſtandspolitik als leitender
Gedanke unſerer geſamten Wirtſchaftspolitik würde alſo darin liegen: einem
jeden Mitbürger, der ſich dienend an die große ſoziale Arbeitsgemeinſchaft
des nationalen Volkskörpers anſchließen will, auch Arbeitsgelegenheit zu geben.
Für die tüchtigen unter dieſen Hilfsarbeitern muß ſich
dann die Möglichkeit zur wirtſchaftlichen Verſelbſtändi⸗
gung bieten. Es muß alſo für tüchtige Leiſtungen dem Gehilfen (Hilfs⸗
arbeiter) ein Emporarbeiten auf der ſozialen Stuſenleiter zur wirtſchaftlichen
Freiheit und Selbſtverantwortlichkeit offengehalten bleiben. Nur ſo wird
die Arbeitsfreudigkeit im Volke wachgerufen, der Klaſſen⸗
haß beſeitigt, und an feine Stelle tritt das Gefühl der Zu-
ſammengehörigkeit des Einzelnen mit dem Ganzen.
5. Daß für eine ſolche volksorganiſche Neuordnung unſerer geſamten Er⸗
werbsverhältniſſe ähnliche Abergangsbeſtimmungen Platz greifen müßten, wie
ſolche ſeinerzeit für den Abergang aus der feudalen in die individualiſtiſche
Geſellſchaftsordnung eingetreten ſind, iſt ſelbſtverſtändlich.
Nuhlands Leitſätze für wirtſchaftliche und ſoziale Reformen in der
Deutſchen Landwirtſchaft
1. Ruhland verwirft ſowohl die Grundſätze der ſreihändleriſchen, großkapi⸗
taliſtiſchen Wirtſchaftsanſchauung als auch die Grundſätze des Marxismus.
Er vertritt eine ſelbſtändige, die „volksorganiſche Weltanſchauung“.
Seine Forderungen ſind daher eigenartig und ſtehen, die wahrhaft berechtigten,
dauernden Belange Aller vereinigend, auf germaniſch⸗chriſtlicher Grundlage.
2. Ruhland erſaßt daher in dem weiteren Ausbau ſeiner reformatoriſchen
Beſtrebungen nicht nur die Belange der Landwirte, ſondern nach der chriſtlich⸗
organiſchen Auffaſſung die Lebensintereſſen des ganzen Volkes, aber nicht wie
der Freihändler vom Kapital ausgehend und nicht wie der Marxismus vom
Induſtriearbeiter ausgehend, ſondern von der natürlichen Grundlage aller wirt⸗
1 Dinge vom vaterländiſchen Grund und Boden aus:
gehend.
3. Die für die Geſamtheit erſprießliche Nutzung des vaterländiſchen Grund
und Bodens ſchafft und erhält die ſelbſtändigen Einzelwirtſchaften, die das
notwendige wirtſchaftliche und ſoziale Gleichgewicht eines Volkes bedingen.
Nur auf eine blühende Landwirtſchaft geſtützt, vor allem auf einen unabhän⸗
gigen und wohlhabenden Bauernſtand, findet der Mittelſtand in Handwerk,
Induſtrie und Handel den ſicheren Halt zu ſeinem Blühen und Gedeihen. Nur
durch möglichſte Ausbreitung eines geſunden Mittelſtandes wird die ſoziale
Gustav Ruhlands Leitsätze für Mittelstandspolitik 701
Frage gelöſt, weil nur der Mittelſtand Kapital und Arbeit organisch in einer
Perſon vereinigt und damit die Grundzelle einer gefunden Volkswirtſchaft
bildet. Auch das Gedeihen der Arbeiterſchaft iſt mit dem Beſtehen eines ge-
ſunden, kräftigen Mittelſtandes aufs engſte verknüpft, denn der Aufſtieg der
dazu befähigten Arbeiter in den ſelbſtändigen Mittelſtand verſchafft ihm auf
organiſche Weiſe das Arbeitsprodukt als den natürlichen Arbeitslohn, was der
Marxismus rein mechaniſch durch die Verſtaatlichung der Produktionsmittel
erſtrebt. Durch dieſelbe würde aber nicht nur die auf jahrtauſendjährige Ent-
wicklung beruhende Freiheit der Arbeit vernichtet werden, ſondern auch Volk
und Vaterland.
Die Marriften unterſtützen in ihrem Irrwahn die jetzige großkapitaliſtiſche
Entwicklung in ihrer ungehinderten RNeichtumsmehrung und ihrer Vernichtung
des Mittelſtandes in Stadt und Land. Indem die Not die ſo vernichteten
Exiſtenzen auf den Arbeitsmarkt treibt, übt ſie auf dieſen einen für die Arbeiter
höchſt ſchädlichen Druck aus. Kapitalismus und Marxismus bekämpfen alle
Maßnahmen zur Geſundung unſeres Volkskörpers durch Erhaltung und Ver⸗
mehrung des Mittelſtandes. So erklärte der Begründer des Hanſabundes (zur
Bekämpfung der Landwirtſchaft), weiland Geheimrat Rießer, „daß man hinter
einem Leichenwagen weder philoſophieren, noch Geſetze machen und die Wir-
kungen der Börſenkriſen auf den nationalen Wohlſtand nicht zum Ausgangs-
punkt von Reformen wählen dürfe.“ Die Befolgung dieſes Rates würde aber
nach Ruhland die ſchwerſte Pflichtverletzung gegen Volk und Vater—
land bedeuten.
4. Somit baut ſich die Löſung aller großen wirtſchaftspolitiſchen Fragen der
Gegenwart organisch auf der Löſung der Agrarfrage auf. Die ſyſtematiſche
Ausgeſtaltung des Agrarrechts mit Rückſicht auf die Bevölkerungszunahme
fordert vor allem eine rationelle bäuerliche Beſitzverteilung mit einer Enteignung
ſolcher Beſitzungen zugunſten der inneren Koloniſation, die aus bäuerlichen
Händen während der letzten 20 bis 30 Jahre in Großgrundbeſitz übergegangen
ſind. Eine zweckdienliche Behandlung unſerer Bevölkerungszunahme fordert
ferner die Einführung des Inſtitutes des antizipierten Erbrechts im Sinne
eines beſcheidenen Pflichtteilrechts durch eine obligatoriſche Volksverſicherung
nach den Vorſchlägen Marlows und Schäffles. Eine andere Quelle der Ent—
eignung ſoll zugunſten der inneren Koloniſation aus jenem Luxusbeſitz fließen,
der wiederholt zu ſteigenden Preiſen die Hand gewechſelt hat.
5. Die Landbevölkerung wird durch eine obligatoriſche Volksverſicherung
als Ausſteuer- und Einrichtungsverſicherung in drei Gruppen geteilt:
a) die ländlichen Lohnarbeiter, die mit einer Verſicherungsſumme von 2 bis
3000 Mark ausgerüſtet ſind;
b) der ländliche Mittelſtand, der mit einem Betrage von 20 bis 30 000 Mark
je Kopf ausgeſtattet iſt, und
c) die Großgrundbeſitzerfamilien, deren Angehörige je Kopf mit einem Be—
trage von 100 000 Mark verſichert ſind.
Alle dieſe Verſicherungsbeträge werden den betreffenden jungen Leuten aus—
gezahlt, wenn fie 24 Jahre alt geworden und ſich bis dahin für die Landwirt⸗
ſchaft zum dauernden Aufenthalt auf dem Lande vorbereitet haben.
6. Die Arbeiter, die aus der öffentlich⸗rechtlichen Verſicherung einen Betrag
von 2—3000 Mark auf Grund jährlicher Zahlungen ihrer Eltern von je 60
702 Karl Scheda
bis 80 Mark erhalten, bekommen dieſe Beträge natürlich nicht zur inneren
Koloniſation, ſondern um nicht als Proletarier geboren zu werden und als
Spareinlage für das Lebensziel einer wirtſchaftlichen Verſelbſtändigung. Sue
gleich haben ſie die Verpflichtung, nicht vom Lande nach der Stadt abzuwan⸗
dern oder den Verſicherungsbetrag zugunſten anderer Landarbeiter, die dieſe
Verpflichtungen erfüllen, zurückzuzahlen. Endlich bleibt auch der Anſchluß an
4 Arbeiterorganiſationen oder andere Klaſſenkampfverbände unter-
agt.
7. Ruhland verfolgt in zielbewußter Einwirkung auf die Getreidepreiſe die
Intereſſen ſowohl der Erzeuger als auch der Verbraucher. Seine Forderungen
richten ſich gegen den herrſchenden, freihändleriſchen Großkapitalismus, der das
Wirtſchaftsgebiet der Völker der durchaus unchriſtlichen, ſpekulativen Ausbeu⸗
tung überliefert und hierbei bald die Erzeuger, bald die Verbraucher ausbeutet.
Ruhland erſtrebt eine geſetzliche Förderung nationaler Syndikate auf öffent-
lich⸗ rechtlicher Grundlage, insbeſondere auch nationale Verkaufsvereinigungen
der deutſchen Müller zum Mehlvertrieb zum gerechten Preiſe.
8. Die gleiche beſſere Regulierung der Preiſe muß auch bei Vieh und Fleiſch
erreicht werden. Denn nur ſtetige, mittlere Preiſe können allen berechtigten
Intereſſen gleichmäßig gerecht werden. Nach dieſer Richtung erſtrebt Ruhland
zweckentſprechende Vereinbarungen zwiſchen den Metzgerzünften als Vertreter
der nationalen Verkaufsvereinigungen und der Viehverwertungszentrale der
deutſchen Landwirte.
9. Durch eine ſolche moderne Ordnung der Preisbewegung auf mittlerer
Preislinie zunächſt für Brot und Fleiſch wird zwar der einzelne, indirekte
Händler im heute üblichen Sinne nach und nach verſchwinden, aber durch den
C der Verkaufsvereinigungen mit geſichertem Einkommen erſetzt
werden.
Ruhlands Leitſätze für vaterländiſche Verufsvereine
1. Die „volksorganiſche“ Arbeit — als die redliche, wertſchaffende Ar⸗
beit des Einzelnen in harmonifcher Verbindung mit jener der großen ſozialen
Arbeitsgemeinſchaft — iſt die Quelle aller wirtſchaftlichen Werte. Der Idee nach
umſchließt dieſe große ſoziale Arbeitsgemeinſchaft die ganze Menſchheit mit
ihrer geſamten geſchichtlichen Entwicklung. Aber praktiſch⸗politiſch kann heute
nur die nationale Volksgemeinſchaft erfaßt werden. Wenn der Einzelne in
dieſer gewaltigen Arbeitsgemeinſchaft „arbeiten“ will, dann muß er ſich als
„dienendes“ Glied der nationalen Volksgemeinſchaft anſchließen. So hat
ſich ſchon Friedrich der Große als erſten Diener des Staates bezeichnet. Im
gleichen Sinne muß fi) auch jeder „Arbeiter“ — gleichviel in welcher Stel-
lung — der Volksgemeinſchaft in irgendeiner Weiſe „dienend“ anſchließen.
„Arbeiten“ im volksorganiſchen Sinne heißt daher „dienen“. Wer nicht
dient, ſondern als reiner Egoiſt „ſpekuliert“, ſchafft keine Werte, ſondern
überträgt nur Werte aus anderer Leute Taſche in ſeine Taſche, wie dies ſelbſt
David Ricardo eingeräumt hat. Ein ſolcher Mann ſtellt ſich tatſächlich außer⸗
halb der nationalen Volksgemeinſchaft. Seine gemeinſchädliche Erwerbsart iſt
leider heute möglich, weil viele unſerer Geſetze teils aus fremden Rechten her⸗
rühren, teils auf Grund falſcher volkswirtſchaftlicher Theorien entſtanden ſind.
Gustav Ruhlands Leitsätze für Mittelstandspolitik 703
Die leider auch heute noch in der Wiſſenſchaft allgemein übliche, nur indi-
vidualiſtiſche Betrachtung, die nur den einzelnen Menſchen arbeiten
fleht, verſchließt ſich dem wahren Kern des gewaltigen Arbeitsprozeſſes und
verdunkelt und verwirrt deshalb das Problem der gerechten Arbeits.
entlohnung, ſtatt es wiſſenſchaftlich zu klären und zu löſen.
2. Im Sinne dieſer „volksorganiſchen Auffaſſung“ iſt die Frage
nach dem „gerechten Lohne“ des einzelnen Arbeiters nur aus dem Ganzen
der nationalen Rechtsordnung zu löſen. Satz für Satz unſerer Geſetze muß
. ſeiner lebendigen Wechſelbeziehungen zur gerechten Entlohnung der
beit einer grundsätzlichen Prüfung unterzogen werden. So ſagte auch Paul
Anton de Lagarde: „Sind Bürger, d. h. organiſch eingefügte Glieder eines
Gemeinweſens, ſo geht jeden Einzelnen von uns die Krankheit jedes Teiles
dieſes Gemeinweſens genau ſo viel an, wie das Herz die Krankheit des Kopfes
und die Hand das Abelbefinden des Fußes. Kein Glied leidet, ohne daß das
Ganze leidet. Darum hat jedes Glied das Beſtreben und die Befugnis, jedem
anderen Gliede von ſeiner Krankheit zu helfen. Daraus folgt mit zwingender
Notwendigkeit, daß jedes im Staat geſchehene Anrecht nicht bloß den Ein⸗
zelnen trifft, dem es zugefügt wird, nicht bloß das ſtark unperſönliche Ganze,
worin es vorkommt, ſondern durchaus jeden, neben dem es geſchieht. Es iſt
ſchier Albernheit, nicht ans Löſchen zu denken, wenn des Nachbarn Haus brennt;
denn eine Wendung des Windes, ein verzettelter Funken kann mein eigenes
Dach in Flammen ſetzen. In der ſittlichen Welt haben wir es noch dazu nie
mit einem Nebeneinander, ſondern ſtets mit „Organismen“ zu tun, deren
Glieder ſich weit näher angehen, als die Häuſer der Nachbarn. Das Gute wie
das Böſe iſt nun einmal nach Zarathuſtra und dem Evangelium ein Reich.
Aberdies iſt Gift um ſo zerſtörender, je höher der Ort iſt, wo es erzeugt wird.
Die aus Menſchen entſtandenen Krankheitsſtoffe ſind auf körperlichem wie ſitt⸗
lichem Gebiete gefährlicher als alle anderen Krankheitsſtoffe und darum unbe⸗
dingt ſofort, wie ſie ſich zeigen, zu verjagen und möglichſt zu vernichten.
3. Die Entwicklungsgeſchichte der Völker lehrt uns, daß alle höher ent ⸗
wickelten Kulturvölker am Klaſſenhaß und Klaſſenkampf
zugrunde gegangen ſind, nachdem unter der Herrſchaft des individua⸗
liſtiſchen Kapitalismus das nationale Gemeinſchaftsbewußtſein der Volks⸗
W verlorengegangen war. Der Weg hierzu war ſtets mit allgemeinen
euerungserſcheinungen und wiederkehrenden Wirtſchaftskriſen gepflaſtert.
Beides haben wir heute wieder und gleichzeitig den organiſierten Klaſſenhaß
und Klaſſenkampf, hervorgerufen durch die wieder allgemein herrſchend gewor⸗
dene kapitaliſtiſche Entwicklung. Im Intereſſe der Rettung unſeres Vater⸗
landes muß es deshalb möglichſt bald gelingen, dieſe entſchieden kapitaliſtiſche
Entwicklung mit ihrem entſchieden egoiſtiſchen Grundtone wieder zu beſeitigen.
Der „Kapitalismus“ in unſerem Sinne entſpricht keineswegs der Marx⸗
ſchen Theorie der angeblichen Ausbeutung der Lohnarbeiter durch den Arbeit⸗
eber bei der Privatwirtſchaft, ſondern der echte Kapitalismus war immer die
neignung der Vermögensrechte Anderer in einem Verkehr, bei dem Leiſtung
und Gegenleiſtung ſich nicht entſprechen. Die Möglichkeit einer ſolchen ver⸗
traglichen Aneignung der Vermögensrechte Anderer unter Mitwirkung un⸗
ſerer RNechtsorgane beruht auf dem ganzen Syſtem unſerer Geſetze, die dem guten
Geiſte unſeres angeſtammten Deutſchen Rechts durch eine ganze Reihe von
Rezeptionen fremder Rechte untreu geworden find. Es muß daher wieder der
Agrarpolitik Heft 9, Bg. 6
704 Karl Scheda, Gustav Ruhlands Leitsätze für Mittelstandspolitik
Aquivalenzwert (Buchwert oder Sachwert oder gerechter Preis) in die Geſetz⸗
gebung eingeführt werden. Dadurch wird dann der heutige Aberſtand verhütet,
daß alljährlich viele Milliarden Mark als mühe- und arbeitsloſer Gewinn
vereinnahmt werden. Aus der Luft können dieſe Summen nicht gegriffen wer⸗
den, alſo müſſen andere dafür aufkommen. Im Sinne der volksorganiſchen
Auffaſſung verdichten ſich dieſe mühelos vereinnahmten Milliarden Mark zu
regelmäßig wiederkehrenden Teuerungserſcheinungen und allgemeinen Wirt⸗
ſchaftskriſen. Dieſen tieferen Zuſammenhang und unſere ungeſunde Ver⸗
mögensverteilung hat der berühmte Nationalökonom Albert Schäffle ſchon
nach der Kriſis von 1873 mit den Worten gekennzeichnet: „Anſere allgemeinen
Wirtſchaftskriſen müſſen unter dem Geſichtswinkel ungeſunder Vermögens⸗
verteilung als eine förmliche Methode der Vernichtung der kleineren Vermögen
as das große Börſenkapital mittels organiſierter Spielkuppelei betrachtet
werden.“
Auch die materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung des Marxismus iſt abzu-
lehnen, die bei einſeitiger Betonung der materiellen Produktivkräfte die idealen
Lebenskräfte des nationalen Volkskörpers Pee überſieht und deshalb im
weſentlichen als falſch bezeichnet werden muß. Gänzlich unhaltbar iſt daher
auch die Anficht Engels’: „Die Ideen ſeien bloße Kleider, die getragen werden,
aber nicht ſelbſt tragen.“
4. Anſere Reichsfinanzreform von 1909 hat auch den „un verdienten
Wertzuwachs“ zur Steuerleiſtung herangezogen. Das war ein weſentlicher
Gort{dritt, und dadurch iff das Problem des „müheloſen Wertzuwachſes“
einer eindringlichen Prüfung nähergerückt worden. Aber es iſt zu bedauern,
daß dieſes Geſetz nur den Wertzuwachs beim Grund beſitz erfaßt, die
genau gleiche Erſcheinung aber bei allen Formen des beweglichen Be⸗
ſitzes unberückſichtigt läßt. Leider find auch noch alle müheloſen Bereicherun⸗
gen, die mit einer Wertminderung ſo häufig verknüpft ſind, gleichfalls nicht
erfaßt worden. Vom Standpunkte der volksorganiſchen Betrachtungsweife
muß endlich geſagt werden, daß dieſe bedauerlichen Aneignungen der Ver⸗
mögensrechte Anderer niemals dadurch „ſanktioniert“ werden können, daß die
Staatskaſſe gewiſſe Prozente davon als Steuern vereinnahmt. Die volks⸗
organiſche Auffaſſung verlangt unbedingt, jede dieſer vielen Arten des mühe⸗
loſen Erwerbs grundſätzlich zu verhüten, denn in irgendwelcher Form müſſen
dieſe müheloſen Gewinne von der ehrlichen, wertſchaffenden Arbeit als eine
Verkürzung ihres gerechten Lohnes getragen werden. N
5. An der baldigen und richtigen Löſung der Frage des gerechten Lohnes
find alle Volksglieder vom Herrſcher bis zum letzten Arbeiter gleich ſtark inter⸗
eſſiert. Es iſt deshalb ein großer Irrtum, dieſe Frage nur für die Proletarier⸗
maſſen als die Klaſſe der Lohnarbeiter löſen zu wollen. Wenn aber die Frage
des gerechten Lohnes Alle angeht, die in ehrlicher Arbeit ihr Auskommen finden
wollen, dann kann auch von einer ſozialen Berechtigung des Klaf-
ſenkampfes keine Rede fein. Statt des Klaſſenhaſſes und der Selbſt⸗
ſucht ſollte mit Eifer die Geſinnung des nationalen Gemeinſchaftsbewußtſeins
gepflegt werden und ſchon in das Gemüt der Kinder verſenkt werden durch eine
groß angelegte Schulreform, die in einem modernen Religionsunterricht gerade
dieſe Geſinnungspflege mit einer beſonderen Weihe zu umgeben hat. Denn
die ſoziale Frage iſt keine Magenfrage, fondern eine Frage
der Amwandlung eines jeden Menſchen aus einem Egoiſten
705
in ein dienendes Glied des nationalen Volkskörpers. Diefe
volksorganiſche Auffaſſung hat ſchon vor Jahrhunderten in dem Satz: ein
Menſch iſt kein Menſch! den richtigen Ausdruck gefunden. Damit wird keines⸗
wegs eine Geringſchätzung des Einzelnen als Perſönlichkeit verbunden. Schon
Friedrich Rückert hat mit Recht geſagt: „Wie groß für Did) Du feift, vorm
Ganzen biſt du nichtig, doch als des Ganzen Glied bift du als kleinſtes wichtig.“
„Mache ein Organ aus dirl“ ſagt auch Goethe. Lerne deshalb ſchon in
der Schule die Pflichten kennen, die du der nationalen Volksgemeinſchaft
gegenüber zu erfüllen haſt, um ein rechtes Organ derſelben zu werden. Lerne
mit deinem geiftigen Auge erkennen, daß der Dichter des ſchönen Vaterlands⸗
liedes, Hoffmann von Fallersleben, die volle Wahrheit geſagt hat, als er ſang:
ne id bin und was ich habe, dank’ ich dir, mein Vater:
a n u
Das Archiu
Das Archiv
In der vergangenen Berichtszeit hat
durch die Ernennung Adolſ Hitlers
zum Reichskanzler eine ſo umfaſſende
Amwälzung auf ftaats- ſowie wirt-
ſchaftspolitiſchem Gebiet eingeſetzt, daß
dieſe eine ganz neue Lage geſchaſfen hat.
Trotz des Reichstagswahlkampfes hat
die Reichsregierung auf agrarpoliti-
ſchem Gebiet umfaſſende Maßnahmen
ergriffen, um die Not der Landwirt-
ſchaft zu beheben. Es iſt nun natürlich,
daß die Preſſe dieſe Maßnahmen wäh⸗
rend des Wahlkampfes in ihren Rom-
mentaren rein agitatoriſch ausnutzte.
Vor allem die Links. und Gewerk-
ſchaftspreſſe verſuchte eine Hetze gegen
die Reichsregierung mit dem Einwand
in Szene zu ſetzen, daß durch die Maß⸗
nahmen der Reichsregierung die Le-
bensmittelpreiſe verteuert würden.
Die Zentrumspreſſe leiſtete ſich den
Spaß in ihren bäuerlich eingeſtellten
Zeitungen, die Maßnahmen der Re-
gierung als zu gering zu kritiſieren,
während die Zeitungen des zentrüm-
lichen Gewerkſchaftsflügels, wie z. B.
„Der Deutſche“, dasſelbe Argument
gegen die agrarpolitiſchen Maßnahmen
ins Feld führt wie die Marxiſtenpreſſe.
Es iſt natürlich, daß die Zeitungen,
die hinter der Reichsregierung ſtehen,
die Maßnahmen der Reichsregierung
für die Landwirtſchaft nicht nur be⸗
6*
grüßten, ſondern ſie als Anfang eines
neuen wirtſchaftlichen Aufſtieges des
deutſchen Volkes mit gutem Recht be⸗
zeichneten.
Ein lebhaftes Echo in der Preſſe
hat vor allem die landwirtſchaftliche
Vollſtreckungsſchutz Verordnung vom
15. Februar gefunden. Aus der Fülle
der Preſſe⸗Kommentare möchten wir
hier nur einige wenige anführen. Die
„JS. Landpoſt“ Folge 10 vom 5. März
ſchreibt: „Der Zweck des Vollſtreckungs⸗
ſchutzes ſoll ſein, eine ſeeliſche Entſpan⸗
nung innerhalb des durch Steuerbüt⸗
telei und Zwangseingriffe vollſtändig
zermürbten Bauerntums zu erzielen
und dafür Sorge zu tragen, daß die
kommenden Hilfsmaßnahmen noch den
derzeitigen Beſitzern und nicht dem wie
ein blutſaugeriſcher Vampyr über den
Höfen liegenden Leihkapital zugute
kommen.“ Die „Deutſche Zeitung“ vom
15. 2. veröffentlicht einen Aufſatz über
den Titel „Atempauſe“. A. a. heißt es
in dieſem Aufſatz: „Der neue Voll⸗
ſtreckungsſchutz bringt endlich die von
der Landwirtſchaft fo dringend bend-
ligte Atempauſe. Er hält auch nach der
unzulänglichen Sanuar-Notverordnung
des Kabinetts Schleicher die noch wei-
ter drohende Zwangsverſteigerungs-
Lawine auf und ſchafft ſomit endlich
die Vorausſetzungen, die für eine wei⸗
706
tere ruhige Aufbauarbeit zur endgül-
tigen Sanierung der deutſchen Land-
wirtſchaft und damit zur Wiedergefun-
dung unferes geſamten Wirtſchaftskör⸗
pers erforderlich find.” Im „Reichs-
landbund“ Nr. 7 vom 18. 2. verdffent-
licht Regierungsrat a. D. Fritz Wen⸗
zel Berlin den Aufſatz „Echter Voll⸗
ſtreckungsſchuz“. Nach vielen Fehl
{lagen und halben fog. Hilfsmaßnah⸗
men, zu denen frühere Regierungen
allenfalls ſich bereit fanden, habe die
neue Reichsregierung Maßnahmen er-
griffen, die die Vorausſetzung für die
Durchführung des Sanierungswerkes
ſchafft. Die Notverordnung ſtelle aber
keinen einſeitigen Landwirtſchaftsſchutz
dar, vielmehr verhindere fie, daß der
Landwirt von der Scholle vertrieben
würde, ohne daß der größte Teil der
Gläubiger davon Nutzen hätte. In den
weitaus meiſten Fällen war der Zu⸗
ſchlag zu einem Preis erteilt, der noch
nicht einmal den gewiß recht niedrigen
Einheitswert auch nur annähernd er-
reichte. Der Vollſtreckungsſchutz foll
ſolange in Kraft bleiben, bis die
Rentabilität der Landwirtſchaft wie⸗
der zu ſteigen beginnt. Zum Schluß
heißt es dann wörtlich: „Nach dem
Geſagten kann die ganze Verordnung,
auf die auch der Reichslandbund un⸗
ermüdlich hingearbeitet hat, nur wärm-
ſtens begrüßt werden. Die Schutz-
beſtimmungen ſind ſo umfaſſend, daß
fie der Landwirtſchaft die Verpflich-
tung auferlegen, wirklich nur in dem
unbedingt notwendigen Amfang von
ihnen Gebrauch zu machen, damit un-
nötige Störungen des Wirtſchafts⸗
ablaufs unterbleiben. Am beſten wäre
es, wenn der Rechtsſchutz durch Not.
verordnung fobald als möglich über-
flüſſig wird, weil der wirtſchaftliche
Schutz durch Maßnahmen der Wirt-
ſchaftspolitik wieder Produktionskraft
und Ertrag der Landwirtſchaft ſichert.“
Es iſt hier unmöglich, auf die Fülle
der Preſſe⸗Kommentare für die anderen
agrarpolitiſchen Maßnahmen der
Reichsregierung einzugehen. Eine ſehr
gute Zuſammenſtellung über die bis
zum 3. März ergriffenen Maßnahmen
bringt die „NS. Landpoft“ Folge
Das Archiv
10 vom 5. März unter dem Titel
„Hitlers Bauernpolitik marſchiert“, von
Dr. Hermann Reiſchle.
Wir möchten hier auch auf die
Rundfunfrede des Staatsſekretärs
Herrn von Rohr vom 22. 2. hinweiſen,
die in der Zeitſchrift „Reichsland⸗
bund“ Nr. 8 vom 25. 2. veröffentlicht
iſt. Herr von Rohr hat in dieſer Rund ;
funkrede in großen Zügen über die be
abſichtigten Maßnahmen der Reichs-
regierung geſprochen. Er führte u. a.
aus, daß auf agrarpolitiſchem Gebiet
zunächſt die Reichsregierung Wufräu-
mungsarbeiten zu leiſten habe. Dazu
gehöre vor allem die Zuendeführung
der Amſchuldung, und zwar nicht nur
im Gebiet der Oſthilfe, ſondern auch
noch darüber hinaus. Die Amſchuldung
bedeute keine Bereicherung des Be⸗
ſitzers, fondern eine Auszahlung an die
Gläubiger. Es ſei erforderlich geweſen,
die Welle der Zwangsverſteigerung
anzuhalten durch Verhängung eines
Vollſtreckungsſchutzes bis zum 31. 10.
Der geſamte Mittelſtand hätte ein
großes Intereſſe an dieſem Vollftrek ·
kungsſchutz, denn auf den Zwangsver⸗
ſteigerungen hätten die kleinen Gläu-
biger immer das Nachſehen gehabt. Es
miiffen zunächſt Maßnahmen in der
Zwiſchenzeit ergriffen werden, um Die-
jenigen landwirtſchaftlichen Betriebs-
zweige, die noch einen offenſichtlich ge-
funden Zug zeigen, vor dem allgemei-
nen Strudel der Verelendung zu be⸗
wahren. Vor allem gehöre die Ge-
treideſtützung hierher. Herr von Rohr
ging dann beſonders auf die Be⸗
kämpfung der Arbeitsloſigkeit durch
die Landwirtſchaſt ein, und er kündigte
an, daß die Reichsregierung den Bau-
ern, die zuſätzliche Hilfskräfte einftel-
len, geldliche Anterſtützungen zuteil
werden laſſe. Weiter behandelte Herr
von Rohr dann die Preisgeſtaltung
der landwirtſchaftlichen Produkte, die
vor allem für den ſtädtiſchen Verbrau⸗
cher von ganz großer Bedeutung ſei.
In der „Kreuz⸗ Zeitung“ vom
28. 2. hat der geſchäftsführende Prä-
ſident des Reidslandbundes, Graf v.
Kalckreuth, einen Artikel „Agrarpoli⸗
tiſche Notwendigkeiten“ veröffentlicht,
Das Archiv
der ebenfalls eingehend die zu ergrei-
fenden Maßnahmen für die Landwirt-
ſchaft behandelt. Er führt u. a. aus:
Die Regierung des nationalen Zufam-
menſchluſſes hätte ſich vor allem zur
Aufgabe gemacht, die kataſtrophalen
Folgen der 14jährigen Mißwirtſchaft
der Nachkriegszeit zu überwinden.
Dieſe Verſprechungen hätten die Re-
gierungen vorher auch ſchon gemacht,
die neue Reichsregierung habe aber
durch die eingeleiteten agrarpolitiſchen
Maßnahmen in erfreulicher Weiſe be⸗
wieſen, daß ſie die Verſprechungen
durch die Tat einlöſen wolle. Durch
den erfolgten bzw. unmittelbar bevor
ftebenden Abruf der Handelsverträge
mit Holland, Schweden und Südſlawien,
ſowie durch die Reviſion des deutſch⸗
franzöſiſchen Tarif⸗Abkommens fei in
der Tat ein Teil des Nattenkönigs
von Zollbindungen beſeitigt worden.
Vor allem käme es nun darauf an, daß
bei den ſchwebenden Handelsvertrags-
Verhandlungen die Landwirtſchaft
nicht etwa erneut mit Zollbindungen
belaſtet wird. Die Einführung von
Einfuhr⸗Kontingenten ſei bei all den
Produkten unentbehrlich, deren Zölle
noch für längere Zeit gebunden ſeien.
Bei allen landwirtſchaftlichen Produk-
ten, bei denen Deutſchland mindeſtens
z. Z. noch einen gewiſſen Zuſchuß⸗
Bedarf habe, würden Zollerhöhungen
die notwendige elaſtiſche, den eigenen
Bedürfniſſen angemeſſene, einfuhr-
regelnde Wirkung verfehlen. Man
müßte deshalb alſo die Einfuhrmenge
nach dem vorhandenen Bedarf regeln.
Die Lage der Landwirtſchaft ſei in den
vergangenen Jahren gerade dadurch
außerordentlich verſchlechtert worden,
daß man glaubte, den fog. Neben⸗
produkten nur eine geringe Aufmerk-
ſamkeit widmen zu ſollen. Von großer
Bedeutung ſei es, daß die Wirkung
der goll- und handelspolitiſchen Maß⸗
nahmen durch innere wirtſchaftliche
Abſatzmaßnahmen unterſtützt und un⸗
terbaut würden. Am dieſe Maßnahmen
alle zur Wirkung zu bringen, ſei es
unerläßlich geweſen, durch Erweiterung
des Vollſtreckungsſchutzes in ſachlicher
und zeitlicher Beziehung eine Atem-
707
pauſe zu ſchaffen. Dieſe Atempauſe
miiffe dazu ausgenutzt werden, eine all-
gemeine Amſchuldung der Landwirt-
ſchaft durchzuführen.
Zu dem durch das Kabinett Schlei-
cher hervorgerufenen Gegenſatz Indu⸗
ſtrie — Landwirtſchaft nimmt in der
„Berliner Börſenzeitung“
Generaldirektor Dr. E. Pietrkowſfki
Stellung. Er geht von der Forderung
des Reichsminiſters a. D. Graf Ka⸗
nitz aus, die Landwirtſchaft und die
Induſtrie müßten zuſammenarbeiten.
Die Induſtrie ſei gerne bereit, in die
hier gebotene Hand einzuſchlagen, um
ſo mehr, als ſie einen wirklichen realen
Gegenſatz in den Intereſſen zwiſchen
Induſtrie und Landwirtſchaft nicht feft-
ſtellen könne. Es gäbe einfach keinen
Gegenſatz zwiſchen Binnenmarkt und
Exportmarkt. Ein geſunder Export.
markt könne nur auf einem kräftigen
Binnenmarkt mit einer rentablen Land-
wirtſchaft beſtehen. Auf keinen Fall
dürften aber Störungen der Ausfubr-
Intereſſen ſtattfinden, da dies zu
ſchwerſten Rückſchlägen für den Bin⸗
nenmarkt und damit für die Landwirt-
ſchaft führen würde. Pietrkowſki führt
dann weiter aus, daß die Wiederher-
ſtellung der Rentabilität in erſter
Linie eine Preisfrage wäre und damit
eine Abſatzfrage. So würde z. B. jede
Exportſchädigung ſofort auf die land⸗
wirtſchaftliche Veredlungsproduktion
zurückſchlagen, da 3 Millionen Men⸗
ſchen im Export beſchäftigt ſeien. Die
Kaufkraft für die landwirtſchaftlichen
Produkte kämen hauptſächlich durch
den Export zuſtande. Die Landwirt-
ſchaft könne der Induſtrie den Abſatz⸗
ausfall nicht erſetzen. Der Abſatz der
Landwirtſchaft könne nur ſteigen, wenn
die Kaufkraft der Induſtriebevölkerung
wieder wachſe. And dies könne nur
durch vermehrten Export kommen. Un-
ſchließend nimmt auch Dr. Hillmann,
geſchäftsführendes Vorſtandsmitglied
des Verbandes der Deutſchen Land-
maſchineninduſtrie, zu demſelben Punkt
Stellung. Auch er führt aus, daß die
Kriſe der Landwirtſchaft in erſter Linie
eine Kriſe des Abſatzes ſei. Er macht
verſchiedene Vorſchläge, wie man der
708
Landwirtſchaft helfen könne, ohne die
Belange der Induſtrie zu ſchädigen.
1. Verbeſſerung der landwirtſchaft⸗
lichen Technik und Rationalifie-
rungs maßnahmen.
2. Standardiſierung Agrar-
erzeugniſſe. :
3. Abmachungen mit den Cinfubr-
ländern, die die Einfuhr den
deutſchen Marktverhältniſſen ent-
ſprechend zeitlich regeln.
4. Verbeſſerung des landwirtſchaft⸗
lichen Abſatzweſens durch Hebung
der Qualität.
5. Erleichterungen für die Landwirt⸗
ſchaft in den Zinſen, Krediten,
8 Steuern und ſozialen
en.
6. Ausgeftaltung des landwirtſchaft⸗
lichen Bildungs. und Beratungs-
weſens.
7. Verminderung der Handels. und
Verarbeitungsſpannung.
Das „Berliner Tageblatt“
vom 28. 2. veröffentlicht die Rede des
Auffichtsrats⸗Vorſitzenden Karl Fried-
rich von Siemens, die dieſer in der
5 der Siemens &
Halske AG. hielt. Von Siemens ging
ebenfalls auf den Gegenſatz zwiſchen
Exportinduſtrie und Landwirtſchaft
ein und führte u. a. wörtlich aus: „Ich
kann nicht vorübergehen an der Er-
klärung einer Wirtſchaftsgruppe, des
Bundesvorſtandes des Reichslandbun⸗
des, die ausdrücklich als auf einſtim⸗
migen Beſchluß gefaßt, bezeichnet wird.
Sie ftellt wohl das tiefſte bis jetzt er ⸗
reichte Niveau des Intereſſenkampfes
dar, beſonders wenn man den Kreis
der Beteiligten berückſichtigt, von denen
viele ſicherlich ſtolz auf Abſtammung
und Kinderſtube ſind und den Anſpruch
eines hohen und alten Bildungsgrades
für ſich erheben. Dinge, die im Leben
Verpflichtungen auferlegen“. An an-
derer Stelle ſagte er: „Aber ebenſo
ſicher iſt es auch, daß wir für einen
auch nur beſcheidenen Beſchäftigungs⸗
grad unſerer großen Bevölkerung nicht
auf den Export verzichten können, der
uns auch die Austauſchmittel liefern
muß für das, was die heimiſche Erde
uns verſagt, um unſere Kinder einmal
der
Das Archiv
in die Lage zu verſetzen, frei von aus ⸗
ländiſcher Verſchuldung und Abhängig ·
keit zu leben, und um den Wohlſtand
des Volkes und damit ſeine Lebens⸗
haltung einmal wieder zu erhöhen. Ich
warne vor der Aberhebung, daß die
Welt in irgendeinem größeren Maße
auf die deutſche Prod n angewieſen
iſt, wie vor kurzer Zeit erſt von einem
der neuen politiſchen Staatsſekretäre
als Beweis für die Angefährlichkeit
des heutigen einſeitigen Weges be⸗
hauptet worden iſt. Für die von ihm
zum Beweis u. a. angeführte Elektro-
technik muß ich leider fagen, daß die
Welt auch ohne deutſche Produkte aus-
kommen kann.“ And zum Schluß ſagte
er: „Die Ankündigung der neuen Rich-
tung unſerer Handelspolitik und die
bisher ſchon getroffenen Maßnahmen
haben, wie einwandfrei feſtſteht, ihre
Wirkung ſchon ausgeübt; es bleibt dem
Anternehmer wohl nichts übrig, als den
harten Weg weiterer Zuſammen⸗
ſchrumpfung fortzuſetzen, nachdem er in
letzter Zeit glaubte, daß der Druck
dieſer Laſt nunmehr bald von ihm ge-
nommen würde.“
Es iſt nun Äußerft intereſſant, daß
im Gegenſatz zu dieſer Anbelehrbarkeit
der Induſtrie immer weitere Teile der
Wiſſenſchaft ſich auf den Standpunkt
des Binnenmarktes ftellen. So iſt das
Februar⸗Heft der „Geo-
politik“ ganz auf die Behandlung
der Neu⸗ Orientierung der Volksſtruk⸗
turen in allen Ländern eingeſtellt. Ich
möchte hier folgende Aufſätze aus die⸗
ſem Heft anführen: Karl Helbig „Be⸗
völkerungsprobleme von Niederlän⸗
diſch⸗Indien“, Albrecht Haushofer „Die
ländliche Entvölkerung in Großbri-
tannien“, „Das Abſterben der Städte“,
Friedrich Burgdörffer „Stadt oder
Land“, Eliſabeth Pfeil „Die deutſchen
Juden als Beiſpiel für das Ausfter-
ben bei Verſtädterung“, Hans Harm-
ſen „Verſtädterung und Entvölkerung
Frankreichs“ und zum Schluß von
Hans Harmſen „Das bevölkerungs⸗
politiſche Programm Muſſolinis, Ent-
völkerung der Städte und Verländ⸗
lichung“. Sämtliche Aufſätze führen an,
daß die ſtarke Induſtrialiſierung und
Das Archiv | 709
die damit verbundene Verſtädterung
den Tod eines Volkes bedeutet und
deshalb alles getan werden müſſe, um
dem Volke auf dem Lande wieder grö⸗
ßere Lebensmöglichkeiten zu geben, was
nur A eine folgerichtige VGinnen-
marktspolitik möglich fet.
Auf dem Gebiete des Siedlungs-
weſens möchte ich auf den Artikel in
der „NS. Landpoſt“ Folge 7 vom
12. 2. von A. Ruf (Siedlung) ganz be-
fonders hinweiſen. Die Siedlung fei
Verwurzelung des Menſchen mit Grund
und Boden. Anſer deutſches Volk ge⸗
deihe nur, wenn es in breiteſter Maſſe
mit dem heimatlichen Boden auf das
engſte verbunden ſei. Die Sorge des
Staates müſſe in erſter Linie der
ſchwer ringenden Bauernſchaft gehören.
Die zweite Sorge des Staates aber
gehöre der wohlbedachten Siedlung, die
den Segen der Scholle allen jenen zu⸗
gänglich mache, die danach ſtreben und
ihrer würdig ſeien. Der wichtigſte Teil
der Siedlung fei die bäuerliche Sied-
lung. Aber auch der Induſtriebevöl⸗
kerung miiffe man auf eigenem Grund
und Boden eine Heimftdtte errichten,
die ihr neben ihrer ſonſtigen Tätigkeit
ländliche Beſchäftigung verſchafft. Die
ländliche Siedlung müſſe vor allem der
in landwirtſchaftlicher Arbeit aufge⸗
wachſenen Jugend, Bauernſöhnen und
landwirtſchaftlichen Arbeitern zugäng-
lich gemacht werden. Für die Heim⸗
ſtätten⸗Siedlung könne ſich aber jeder
melden, der Luft habe, die Rechte und
Pflichten eines Eigenheimbeſitzers auf
ſich zu nehmen. Als Landquelle käme
der überſchuldete Großgrundbeſitz in
Frage, dann die kultivierbaren Moor,,
Od- und Waldländereien. Der Sied⸗
lung fehlt aber die Wirkungsmoͤglich⸗
keit, wenn der Staat nicht dafür ſorge,
daß ſich die Arbeit des Siedlers wie
die des Bauern auch lohnt. — In der
„Deutſchen Tageszeitung“
Nr. 43 vom 12. 3. unterſuchte M. W.
von Schickfus⸗Breslau die Frage, ob
Mangel an Siedlungsland vorhanden
wäre und kommt zu dem Ergebnis, daß
z. B. in Schleſien Güter in überreich⸗
lichem Amfang angeboten werden. Die
Siedlung mache von dieſer Lage des
Gütermarktes nach Anſicht des Ver⸗
faſſers aus dem Grunde keinen genü-
genden Gebrauch, weil fie für Gied-
lungsgüter aus Gründen der An⸗
rentabilität der bäuerlichen Wirtſchaft
nicht die gleichen Preiſe wie auf dem
freien Gütermarkt zahlen könne und
dürfe. Der Verfaſſer kommt zu dem
Schluß, daß im Intereſſe der Siedlung
öffentliche Gelder zum Ankauf von
Land aufgebracht werden müſſen. Es
gehe nicht an, die Siedlung allein auf
dem Rücken der Gläubiger oder
früheren Befitzer zu betreiben.
Oberlandwirtſchaftsrat Dr. Lehn⸗
hardt⸗ Dresden beſchäftigt fi in der
„Sächfiſchen Landwirtſchaſtlichen Zeit⸗
ſchrift“ Nr. 1 mit Gegenwartsfragen
der ländlichen Siedlung. Im abgelau-
fenen Jahre ſei bereits ein merklicher
Rüdihritt in der Siedlungstätigkeit
eingetreten. Zunehmende Kapital. und
Kreditſchwierigkeiten und Mangel an
geeignetem Siedlungsland als Folge
der mit der Oſthilfe einhergehenden
Landſperre hätten den Rückſchritt maß-
gebend beeinflußt. Am ſchwierigſten
ſeien die Siedlungsverhältniſſe in den
dicht bevölkerten Induſtriegegenden.
Da müßten Möglichkeiten geſchaffen
werden, um die Siedlungswilligen aus
dieſen Gegenden nach Gegenden zu
bringen, wo Siedlungsland in genü-
gendem Maße vorhanden ſei. Der
Kaufpreis für eine Vollbauernſtelle von
60 Morgen, infolge der fogenannten
Ausbauſiedlung, dürſe ohne Inventar
nicht mehr als 18 000 bis 24 000 Mark
betragen. Auch dürfe der Rentenlauf
nicht vor dem 5. Januar einſetzen. Lei⸗
der begehen auch heute noch immer ein
Teil der Siedler einen betriebswirt⸗
ſchaftlich ſehr ſchweren Fehler, über
ihre finanzielle ee ar hin;
aus Inventaranſchaffungen zu tätigen,
die für den Betrieb einfach nicht trag-
bar ſeien. Für den Siedlerbetrieb ſei
erſt dann wieder eine Exiſtenzſicherheit
gegeben, wenn wenigſtens die grund-
legenden Vorausſetzungen für eine all.
mähliche Geſundung und einen wirt⸗
ſchaftlichen Wiederaufſtieg der geſam⸗
ten deutſchen Landwirtſchaft geſchaffen
wären. Roland Schulze.
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Ichrıft für Vent (ches Hauerntum
S - erausgeberA Walther darre
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorſpruh ggg 711
Adolf Hitler / Bauerntum und nationale Revolution.. 712
R. Walther Darré / Nomade und Bauer . 716
Arnold W. Trumpf / Die Genoſſenſchaften. 724
Dr. Richard Wagner / Staatspolitik und Geopolitik... 730
Karl Scheda / Folgerungen aus Ruhlands Lehren.. 733
Robert Dünges / Confederazione nazionale fascista degli
agricol torte. 738
Karl Motz / Liberaliſtiſche Donauraumpol litik... 741
Das Mh 2 2. 745
Neues SchrifttuununsnnnnU nnn 750
AnſchriftenverzeichniQss sss un UůꝛU m Un. 754
Jedes Heft RM. 150 - Vierteljährlich 3 Hefte RM. 3.60
zuzüglich Beſtellgeld. Beſtellungen durch den Verlag oder bei ſeder Poſtanſtalt.
Poſtvertrieb ab Detmold
Drulſche Agrarpolitil
Monatsichrift für Deutſches Bauerntum
Hauptichriftleitung Dr. Hermann feilchle
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„deitgefchichte” Verlag und Vertriebs⸗Geſellſchaft m. b. h., Berlin W15
meinekeſtraße 20
geſt 10 April 1933
vorſpruch
„Die Vernichtung diefes Standes in unferem Volke würde zu den
denkbar ſchwerſten Konſequenzen führen. Die Wiederherftellung der Rens
tabilität der landwirtfchaftlihen Betriebe mag für den Konſumenten hart
fein, das Schickſal aber, das das ganze Volk träfe, wenn der Bauer zu⸗
grunde ginge, wäre mit diefer Härte gar nicht zu vergleichen. Nur im
Zufammenhang mit der unter allen Umftänden zu erreichenden Renta⸗
bilität unſerer Zandwirt{dhaft kann die Frage des Vollſtreckungsſchutzes
bzw. einer Entfchuldung gelöft werden.
Würde dies nicht gelingen, müßte die Vernichtung unſerer Bauern
nicht nur zum ZJuſammenbruch der deutfchen Wirtſchaſt überhaupt, fons —
dern vor allem zum Zuſammenbruch des deutfchen Volkskörpers führen.
Seine geſunde Erhaltung ift aber auch die erſte Vorausſetzung für das
Blühen und Gedeihen unſerer Induftrie, für den oͤeutſchen Binnenhandel
und für den deutjchen Export. Ohne das Gegengewicht des deutſchen
Bauerntums hätte der kommuniſtiſche Wahnſinn ſchon jetzt Deutfchland
überrannt und damit die oͤeutſche Wirtſchaſt endgültig vernichtet. Was
die Geſamtwirtſchaſt einſchließlich unſerer Exportwirtſchaft dem geſun⸗
den Sinn des deutfchen Bauern verdanken, kann überhaupt durch kein
Opfer geſchäſtlicher Art irgendwie abgegolten werden. Es muß daher
auch der weiteren Befiedlung des oͤeutſchen Bodens in Zukunft die höchſte
Sorge gelten.”
Adolf hitler
in ſeiner Regierungserfldrung vom 23. März 1933
Aoͤolf Hitler:
Bauerntum und nationale Revolution
Wenn wir heute wirklich wieder unter unferer alten ſchwarz⸗weiß · roten Flagge
und unter dem Symbol der neuen deutſchen Erhebung in Deutſchland tagen
können, dann hat an dieſer geſchichtlichen Wendung unſeres Schickſals der
deutſche Bauer vielleicht den größten Anteil. Man redet ſo
viel von den Motiven, die im einzelnen das Handeln von Negierungen be⸗
ſtimmen können und überſieht dabei manchmal ja nur zu leicht, daß alle Hand-
lungen in beſtimmten Seiten von einer einzigen Wurzel ausgehen,
daß auch die Handlungen der Zeit, die hinter uns liegt, von einer einzigen
Wurzel ausgegangen find, und daß genau fo die Handlungen der Zeit, die
nun vor uns liegt, von einer Wurzel ausgehen müſſen.
Es ſind in den Jahrzehnten hinter uns oft Entſchlüſſe gefaßt worden, die
in ihrem geſamten Zuſammenwirken am Ende zu einem Refultat führen muß⸗
ten, das man von vornherein vorausſehen konnte, und es find auch in Deutſch⸗
land immer Propheten geweſen, die das Refultat genau vorhergeſehen haben.
Es gab in Deutſchland ſchon vor der Revolution Männer, die das End⸗
ergebnis dieſer Entwicklung genau vorhergeſagt haben, die dieſes Ergebnis
genau kommen ſahen, und es hat vom Tage der Revolution an in Deutſchland
Hunderttauſende von Männern gegeben, die im öffentlichen Leben oder poli⸗
tiſchen Leben ſtanden oder beſtimmten, die genau vorher prophezeiten, wohin
dieſe Entwicklung führen mußte, nur aus der Erkenntnis, daß die Tendenzen,
die allen dieſen Handlungen zugrunde lagen, von vornherein Tauſende von
Entſchlüſſen falſch bewegen, falſch beeinfluſſen mußten.
Wenn ich nun für die Nationale Regierung hier ſpreche, dann möchte ich
von der Tendenz reden, die dieſe Nationale Regierung bewegt.
Wir bezeichnen uns heute als Regierung der nationalen Nevolution, der
nationalen deutſchen Erhebung. Wir wollen damit ſagen, daß dieſe Negierung
ſich ganz bewußt als eine Vertretung der deutſchen Volksintereſſen anfieht und
fühlt, und zwar nur der deutſchen Volksintereſſen. Damit aber muß dieſe
Regierung auch eine Vertretung des deutſchen Bauerntums ſein. Denn ich
kann nicht für die Intereſſen eines Volkes eintreten, wenn ich am Ende nicht
in dem Stand die wichtigſte Stütze ſehe, der nun tatſächlich die Zukunft der
Nation an ſich bedeutet.
Bauerntum und nationale Revolution 713
Wenn ich über alle wirtſchaftlichen Einzelerſcheinungen der Seit, über alle
politiſchen Wandlungen hinwegſehe, bleibt am Ende doch immet weſentlich
die Frage der Erhaltung des Volkstuns an ſich. Dieſe Frage wird
nur günſtig beantwortet werden können, wenn die Frage der Erhaltung
des Bauerntums geldft iſt. Denn, daß unſer Volk ohne Städter be-
ſtehen könnte, das wiſſen wir aus der Geſchichte, daß es ohne Bauern beſtehen
kann, iſt unmöglich.
Alle Schwankungen ſind am Ende zu ertragen, alle Schick.
ſalsſchläge find zu überwinden, wenn ein gefundes Bau⸗
erntum vorhanden iſt. Wenn ein Volk und folange ſich ein
Volk auf ein geſundes Bauerntum zurückziehen kann, wird
es immer und immer wieder aus dieſem Bauerntum heraus
neue Kraft ſchöpfen. |
And glauben Sie mir, dieſe Erhebung, die hinter uns liegt, wäre überhaupt
nicht möglich geweſen, wenn wir nicht immer — Gott fet Lob und Dank —
einen beſtimmten Prozentſatz unſeres Volkes auf dem Lande gehabt hätten.
Denn wenn wir heute ganz nüchtern dieſe Erhebung Überſehen, müſſen wir
feſtſtellen, daß von den Städten aus dieſe Erhebung nicht mög⸗
lich geweſen wäre. In den Städten hätten wir nicht dieſe Ausgangsſtellungen
erobern können, die uns auch in unſerem Handeln das Gewicht der Legalität
gegeben haben. Da ſind in manchen Gebieten — wir können ruhig ſagen —
bis zu 95 v. H., wenn auch in verſchiedenen Lagern, aber doch bis zu 95 v. H.
für die nationale Erhebung eintretende Bauern geweſen. Denen verdankt im
Grunde genommen das deutſche Volk die Erneuerung, ſeine neue Erhebung
und damit einen Amſchwung, der zur allgemeinen Geſundung der deutſchen
Verhältniſſe führen ſoll. Dieſe allgemeine Geſundung hat auch
diesmal wieder ihten Ausgang genommen vom Voden, von
der deutſchen Erde, vom deutſchen Bauern.
Jede Regierung, die die Bedeutung eines ſolchen tragenden Fundaments
nicht erkennt, kann nur eine Regierung ſein für den Augenblick. Sie kann
einige Jahre haufen, aber fie wird nicht, unter gar keinen Amſtänden, dau⸗
ernde oder ſogar ewige Erfolge erzielen können. Dieſe bedingen
immer und immer wieder, daß man die Notwendigkeit der Erhaltung des eige⸗
nen Lebensraums, der Sicherung des eigenen Lebens und Erhaltung, und ſo⸗
mit eines eigenen Bauerntums begreift.
Eine ſolche Erkenntnis wird, ich möchte ſagen, als Leitgedanke dienen unſe⸗
tem ganzen Handeln und allen Entſchlüſſen immer wieder vorangehen. And
man wird mit einem ſo grundſätzlich richtigen Leitgedanken niemals den Boden
unter den Füßen verlieren, immer wieder doch und zu allerletzt das Richtige
treffen, auch wenn vorübergehend Menſchen, die wir ja alle find, das eine oder
714 Adolf Hitler
andere Mal vielleicht nicht gerade das ausſchließlich und allein Richtige ge-
wahlt haben.
Ich glaube daher, daß, indem dieſe Nationale Regierung ihre Miſſion in
der Erhaltung des deutſchen Volkstums ſieht und dieſes deutſche Volkstum
in feiner Erhaltung angewieſen ift auf die Erhaltung des deutſchen Bauern⸗
tums, daß, indem dieſe Regierung ſich dann verpflichtet zur Erhaltung des
deutſchen Bauerntums, daß fie dann niemals grundſätzlich falſche Entſchlüſſe
faffen kann. Sie kann vielleicht das eine oder das andere Mal im Mittel
irren, im Grundſätzlichen wird ſie nicht irren.
Es iſt das allerdings auch eine Frage des Mutes, nicht nur die Dinge
zu ſehen, wie ſie ſind, ſondern auch zu benennen, wie ſie ſind, und damit der
Mut zu einer gewiſſen Unpopularität. Man wird naturgemäß
nun mit vielen übernommenen, wenn auch nicht langfriſtigen Aberliefe⸗
rungen brechen müſſen. Man wird in vielen Fällen gegen die öffentliche
Meinung, das Werk unſerer Demokratie, Stellung nehmen müſſen.
Man wird das aber um fo mehr und eher tun können, je
mehr der eine Block der Nation ganz geſchloſſen hinter der
Regierung ſteht.
Etwas ift unmöglich: daß am Ende ein Regiment gegen alle Nichtungen
fechten kann. Wenn dieſes Regiment ſchon für die Erhaltung des deutſchen
Volkstums und damit für die Erhaltung des deutſchen Bauerntums eintritt,
dann muß auch gerade dieſes deutſche Volkstum ſich unbedingt hinter die Ne⸗
gierung ſtellen. Das gibt dann auch der Regierung die Stabilität, die ſie
braucht, um Entſchlüſſe zu treffen, die im Augenblick ſchwer zu verteidigen find,
die aber getroffen werden müſſen und deren Erfolg im erſten Moment ver⸗
blendeten Volksgenoſſen nicht gleich ſichtbar werden kann, von denen man aber
weiß, daß ſie einmal doch zur Rettung der geſamten Nation beitragen werden.
Wenn der deutſche Bauer nunmehr glücklich einen fo gro⸗
Ben Zuſammenſchluß gefunden hat, dann wird er gerade
dadurch auch in Zukunft das Handeln der Regierung uner-
hört erleichtern, indem er ſeine gewaltigen Volksmaſſen
hinter fie ftellt, das Handeln der Regierung etleichtern zu
ſeiner eigenen Selbſterhaltung.
Ich glaube, daß in dieſer Nationalen Regierung kein Mann fist, der nicht
von dieſem aufrichtigen Wunſche nach dieſer engſten Zuſammenarbeit erfüllt
iſt. Wir ſehen mit der Erfüllung dieſer Aufgabe zugleich die Rettung
des deutſchen Volkes für die Zukunft, und zwar nicht für das
Jahr 1933 oder 1934, ſondern für die ſernſten Zeiten.
Wir möchten heute diejenigen Entſchlüſſe treffen und in den nächſten Jahren
durchführen, von denen wir wiſſen, daß auch ſpätere Generationen ſie als
grundſätzlich richtig erkennen werden, daß ſpäterhin die Generationen feſtſtellen
Bauerntum und nationale Revolution 715
werden: es war höchſte Zeit, daß man die Kraft bekam, dieſe Entſchlüſſe zu
treffen, denen wir, im höchſten Sinne des Wortes genommen, die Rettung
der deutſchen Nation überhaupt verdanken.
Wir find bereit, dieſen ſchweren Kampf dafür auf uns zu nehmen. Wir
haben die allgemeinen politiſchen Vorausſetzungen dafür geſchaffen. Durch das
Ermächtigungsgeſetz iff zum erſten Male vernunftentſprechend die
Rettungsaktion für das deutſche Volk vielleicht gelöſt worden von den nur
parteimäßig eingeſtellten Abſichten und Rüdfichten unſerer parlamentariſchen
Vertretung. Wir werden damit tatſächlich, nunmehr von dieſer Feſſel befreit,
das tun können, was eben bei klarſter Vernunft und bei kälteſtem Nachdenken
für die Zukunft der Nation notwendig iſt.
Es find nun dieſe rein gefegmäßigen Vorausfetzungen geſchaffen. Es iſt
aber noch eine große Vorausſetzung notwendig, nämlich, daß an dieſem Han-
deln, das vom Parlament nun nicht mehr gehemmt werden kann, um ſo mehr
das Volk ſelbſt lebendigen Anteil nimmt, das Volk ih nun nicht
einbildet, weil das Parlament nicht mehr hemmend in die Entſcheidung treten
kann, braucht auch die Nation nicht Anteil zu nehmen an der Geſtaltung unſe⸗
res Schickſals.
Im Gegenteil, wir wollen, daß gerade das deutſche Volk durch die Bei⸗
ſeiteſtellung des augenblicklich nicht fähigen Inſtruments einen fo lebendi⸗
geren Anteil nimmt, daß das deutſche Volk mehr oder weniger nunmehr
wieder losgelöft wird von dieſer Beengung feines ganzen Denkens, von dieſer
Vorwegnahme ſeiner Stellungnahme im einzelnen, daß gerade das deutſche
Volk ſich jetzt auf fic ſelbſt befinnt, lebendig mitarbeitet und hinter die Ree
gierung tritt.
Es muß ſo kommen, daß, wenn wir nach vier Jahren wieder an die deutſche
Nation appellieren, wir uns nicht an ein Volk wenden, das vier Jahre lang
geſchlafen hat, ſondern das in dieſen vier Jahren endlich aus feiner pare
lamentariſchen Hypnoſe erwacht iſt, daß unſer Volk dieſe Erkennt⸗
nis beſitzt und zum Verſtehen der ewigen Lebens vorausſetzungen und Lebens⸗
notwendigkeiten ſich aus dieſer Chloroformierung wieder freigemacht hat.
Ich glaube, daß die Arbeit, die vor uns liegt, ſicherlich die ſchwerſte iſt,
weil wir nach einer mindeſtens 15jährigen Zeit des Außerachtlaſſens der natür⸗
lichen Lebensvorausſetzungen nun wieder mit ganz primitiven Vernunfts⸗
grundſätzen beginnen müſſen. Da im übrigen diefe Zeit außerdem eine un-
erhörte Intereſſenverflechtung vorgenommen hat und man kaum überhaupt
irgendeinen Schritt tun kann, ohne daß man ſich an Korruption ſtößt
und mit Korruption ſich auseinanderſetzen muß, mit geiſtiger
Korruption und mit materieller Korruption.
Es iſt eine ungeheure Aufgabe; allein gelöſt werden muß
fie, und daher wird dieſe Aufgabe gelöſt.
716 R. Walther Darre
Wenn das deutſche Volk Hinter ſich min Jahrtauſende Hefist, zwei Jahr⸗
tauſende, die wir ſelbſt kennen, Jahrtauſende wechſelvollen Schickſals, dann
kann es nicht der Wille der Vorſehung ſein, daß Jahrtauſende vor uns ge⸗
kämpft wurde, damit ein Volk ſich plötzlich nun ſelbſt den Lebensfaden abe
ſchneidet und in die Jahrtauſende der Zukunft nicht mehr hineingeht. Dieſes
große Ringen der Vergangenheit wäre zwecklos geweſen, wenn nun plötzlich
dieſes Ringen für die Zukunft aufgegeben werden würde. Was wir ſelbſt an
Opfern brachten für die Erhaltung des Deutſchen Reiches, war ſchwer. Die
Generation, die den Weltkrieg durchfocht, hat Anerhörtes gelitten. Allein,
wir dürfen das nicht allein rechnen, wir müſſen auch rechnen das, was Gene -
rationen ſchon vor uns geleiſtet, vor uns gelitten und geſtritten
haben. Wir müſſen rechnen die Geſamtſumme der Opfer, die vor uns bereits
gebracht worden ſind, nicht deswegen, damit eine Generation vor dem Schick⸗
ſal kapituliert und tauſend Generationen damit auslöſcht, ſondern in der
Hoffnung, daß jede Generation ihrerſeits auch in ihrer ewigen Ge⸗
ſchlechterfolge ihre Pflicht erfüllt.
And jetzt wendet ſich dieſe Pflicht an uns. Wir haben 15 Jahre lang uns
ſchwer verſündigt, ausnahmslos, die einen bewußt, die anderen unbewußt, die
einen aktiv, die anderen nicht aktiv, durch Duldung. And wir müſſen zuſammen
bewußt dieſe Zeit überwinden.
And darum kann eine Aufgabe nicht ſo groß fein, als daß
ſie eben auch gelöſt werden muß und damit gelöſt werden
kann. Es gilt auch hier der ewige Grundſatz, daß dort, wo
ein Wille durch abſolut gar nichts gebeugt werden kann,
daß dort der Wille abſolut die Not beugen wird.
R. Walther Darre:
Womade und Bauer
Wir werden ruhig ſagen können, daß das Denken des Nomaden, d. h.
die Vorgänge innerhalb ſeines Bewußtſeins, ſich lediglich mit dem Ablauf
hintereinander gereihter Bilder beſchäftigt; fein Bewußtſein nimmt nur „Bil⸗
der“ auf. Da nun jedes Bild eine zweidimenſionale Fläche iſt, ſo „empfindet“
das nomadiſche Bewußtſein oder das nomadiſche Sehen zunächſt auch nur die
ihm „bewußt“ werdende „Oberfläche“ der Gegenſtände. Das nomadiſche
Sehen iſt mithin ein „Auf⸗die⸗Dinge“ Sehen, iſt ein ſich ausſchließlich auf die
Nomade und Bauer | 717
Oberfläche der Dinge richtendes Sehen, alſo ein „Oberflähen”-Sehen, mithin
ein echtes „oberflächliches Sehen“. Notwendigerweiſe muß diefes oberflächen-
hafte Sehen auch ein Denken heranbilden, das an der Oberfläche der Dinge
haften bleibt und in der Oberfläche deren eigentliches Weſen erblickt. Ein
ſolches Denken empfindet dann höchſtens nur die Veränderung in der Ver⸗
ſchiebung des Vildeindruds im Bewußtſein und neigt dazu, die Veränderung
der Dinge, wie auch das Weſen diefer Dinge, allein von der Oberfläche aus,
d. h. in der Anordnung oder Amordnung, kurz im Nebeneinander oder Hinter⸗
einander zu ſehen; niemals ſetzt ſich dieſes Denken aber mit dem Weſen der
Dinge auseinander, denn mit dem Weſen der Dinge hat der Nomade nichts
zu tun. Man könnte ein ſolches Denken, da es nur an der Oberfläche haſtet
und fi in einer flächenhaften Bewußtſeins ebene bewegt, als das „flächenhafte
Denken“ oder das „Oberflächen⸗Bewußtſein“ bezeichnen. Dieſes flächenhafte
Denken oder Oberflächen⸗Bewußtſein wird auf wiſſenſchaftlichem Gebiet für
alle jene Wiſſenszweige Begabung mitbringen, die kein räumliches Denken
vorausſetzen oder aber ſich ausſchließlich auf dem Papier erledigen laffen;
dazu gehört z. B. das geſamte Zahlenweſen; die Chemie, mit Ausnahme der
neueſten Atomtheorien, die wieder ein räumliches Denken vorausſetzen; auch
jene Analytiker gehören hierher, die ſich mit der Atomiſierung der Körper
begnügen; ohne die Analyſe als Leitfaden für einen Wiederaufbau zu be⸗
nutzen; ebenfalls läßt ſich die Sternenkunde hier einordnen. Bezeichnender⸗
weiſe haben die Araber ja auch im Mittelalter, trotzdem ihnen die am beſten
ausgerüfteten Univerfitäten der Welt zur Verfügung ſtanden, wohl die eben
genannten Wiſſenſchaften mit Verſtändnis getrieben, aber der Menſchheit
ſonſt nicht gerade Neues geſchenkt. — Auf philoſophiſchem Gebiet wird das
flächenhafte Sehen und Denken, das Oberflächenbewußtfein, zur Sophiſterei
neigen, d. h. ſich in Spitzfindigkeiten und Klügeleien erſchöpfen. Dieſes Denken
beſchäftigt ſich ja nicht mit dem Weſen der Dinge, ſondern nur mit ihrem
Zueinander und Nebeneinander und bleibt an der Oberfläche haften; es wird
folgerichtig ſchließlich dazu übergehen, im „Spielen mit Begriffen“, d. h. in
der fortwährenden Amſtellung der Begriffe, das Weſen der Philoſophie zu
empfinden, wodurch es letzten Endes — zweifellos ohne das zu beabſichtigen
— die Philoſophie in ſich ſelbſt auflöft.
Echtes bäuerliches Denken iſt grundſätzlich anders. Der Bauer bewegt ſich
nicht über die Dinge hin, ſondern wurzelt an Ort und Stelle. Die ihn in ſeinem
Leben umgebenden Dinge ſind Größen, die er ſtändig von den verſchiedenſten
Seiten aus kennenlernt. Dadurch erhalten die Dinge für ihn eine ganz andere
Bedeutung, als ſie es etwa für den Nomaden tun würden. Für den Bauern
bekommen die Dinge unter ſich ein feſtes Verhältnis und — was ſehr weſent⸗
lich iſt — auch ein mehr oder minder feſtes Verhältnis zu ihm. Der einfache
kinematographiſche Ablauf der Empfindungswelt, wie ſich die Erſcheinungs⸗
718 R. Walther Darre
bilder in dem zum flächenhaften Denken verurteilten Oberflächen⸗Bewußtſein
der Nomaden darſtellen, iſt beim Bauern grundſätzlich abgeſtoppt.
Trotzdem lief das bäuerliche Denken urfprünglich aber auch noch in der
flächenhaften Ebene eines reinen Oberflächen⸗Bewußtſeins weiter. Nun tritt
aber beim Bauern etwas Neues hinzu. Er ſieht ja nicht nur die Dinge, wie
fie find, d. h. er blickt nicht nur auf fie, ſondern er beobachtet auch ihr Werden
und Vergehen. Am dieſes zu begreifen, genügt ihm das Sehen auf die
Dinge nicht. Er muß verſuchen, die Dinge von ihrem Weſen her zu er⸗
faſſen. Damit wendet er ſich grundſätzlich ab von einer Betrachtungsweiſe, die
lediglich auf die Dinge fieht und beginnt nunmehr in die Dinge zu feben. —
Aus einem Saatkorn wird dem Bauern eine Pflanze, und aus der Pflanze
wird ihm Ernte und daraus wieder neues Saatkorn. Er ſelbſt fühlt ſich plöß-
lich mit ſeiner Perſon ebenfalls in das Kommen, Werden und Gehen der
Dinge eingegliedert; der Großvater gab den Hof ſeinem Vater; von dieſem
erhielt er ſelbſt ihn, und er wird ihn einſt an den Sohn übergeben. Aus der
Anendlichkeit kommt ſein Geſchlecht, und die Anendlichkeit ſchreitet es weiter.
So tritt zur flächenhaften Ebene des Oberflächen⸗VBewußtſeins eine lotrechte
Ebene hinzu und öffnet das Verſtändnis für das Weſen der Dinge. Aus
der Notwendigkeit des Bauern, ſich mit dem Weſen der Dinge auseinander⸗
zuſetzen, wird der Weg der Erkenntnis beſchritten, reift das flächenhafte Den⸗
ken zum Bewußtſein des von drei Größen beſtimmten Raumes heran. Zu
dem Oberfldden-Gewuftfein tritt entwicklungsgeſchichtlich die Fähigkeit hin⸗
zu, das Weſen der Dinge in ihrem Werden und Vergehen zu erfaſſen; das
Gefühl für die organiſchen Zufammenhänge des Lebens war
damit geboren.
Natürlich haben an dieſer Entwickelung Geſchlechter gewirkt, um ſolche Er⸗
kenntniſſe in dem Erfahrungsſchatz ihrer Raffe zu verankern. Aber wenn etwas
den bäuerlichen Entwicklungsgang der Nordiſchen Raſſe beweiſen kann, fo
iſt es ihr bezeichnender Hang, „den Dingen aufden Grund zugehen“,
um daraus die Geſetze für die weitere Entwickelung der Dinge abzuleiten.
Echtes Bauerntum iſt daher auch immer philoſophiſch eingeſtellt, und jeder
echte Bauer iff von Natur aus ein Philoſoph. Was aber der weſentlichſte
Zug an einer Philoſophie aus bäuerlichem Antergrund ſein dürfte, iſt eben
ihre Beſchäftigung mit dem Weſen der Dinge, d. h. mit den organiſchen Zu⸗
ſammenhängen und Geſetzen auf dieſer Welt. Eine bäuerliche Philoſophie tft
durchaus immer eine Erkenntnisphiloſophie, die niemals an der Oberfläche
der Dinge haften bleibt. Hier liegt der Schlüſſel zu der Tatſache, daß nur die
Nordiſche Raſſe die Menſchheit in der echten Erkenntnisphiloſophie voran-
gebracht hat; zu dieſem Ergebnis kommt man jedenfalls auf Grund der Aber⸗
lieferungen aus der Geſchichte der indogermaniſchen Kulturen. Wie weit die
Fäliſche Raſſe und die Dinariſche Raſſe als echt bäuerliche Raſſen an dieſer
Nomade und Bauer | 719
Begabung ebenfalls beteiligt find, wagt der Verfaſſer nicht zu entſcheiden,
möchte es aber für die Fäliſche Raffe vermuten und für die Dinariſche mit
Einfchränkungen annehmen; entſchieden abftreiten muß er es jedoch der Weſti⸗
{den Raſſe und der Oſtiſchen Raffe, während man für die Oſtbaltiſche Raffe
den Verdacht ausſprechen könnte, daß ſie ſich offenbar noch in einer zwiſchen⸗
ſtufigen Entwickelung befindet.
Es liegt ein unendlich feiner Sinn in der Sage vom Sündenfall. Der
Menſch verliert das Paradies, als er vom Baum der Erkenntnis gekoſtet hat.
Solange der Menſch — wie das Tier ja immer — nur im flächenhaften
Denken dahinlebte, ſich feine Nahrung fuchte und den Geſetzen der Natur
unterworfen blieb, war fein Bewußtſein nirgends beunruhigt. Er lebte dahin,
wurde geboren, liebte und ſtarb und fühlte kein Bedürfnis, ſich mit den orga⸗
niſchen Zuſammenhängen diefer Welt auseinanderzuſetzen. Als aber eine
Gruppe von Menſchen anfing, ſich vom Oberflächen⸗Bewußtſein zum Bewußt ⸗
fein der organiſchen Zuſammenhänge umzuſtellen und auf dieſe Weiſe nicht
nur zum räumlichen Denken kam, ſondern auch, was damit zuſammenhängt,
zu einem Bewußtſein ihres eigenen Daſeins als Organismus in dieſem
Raume, waren diefe Menſchen auch unweigerlich dazu verdammt, auf dem
Wege der Erkenntnis weiter-, d. h. vorwärtszufchreiten. Damit trat eben der
Menſch aus dem Paradies, d. h. aus dem Zuſtand des Anbewußten hinaus;
rückwärts konnte er nicht mehr. Wer anfängt, in die Dinge zu fehen und ihre
Lebensgeſetze zu überſehen beginnt, muß notwendigerweiſe ſo lange forſchen,
bis er das Weſen der Dinge erfaßt hat.
In dem Maße, wie ſich der Geſichtskreis der Nordiſchen Naſſe zu erweitern
begann und immer neue Erkenntniſſe ihren Erfahrungsſchatz bereicherten, mußte
dieſe Raffe ihrem bäuerlichen Streben, dem Weſen des Neuen auf den Grund
zu gehen, folgen, ob fie wollte oder nicht. — Es mochte noch Ruhe herrichen,
ſolange die Naſſe auf altererbter Scholle ſaß und nur ein Ahnen die Bruſt
bewegte, daß „weit da hinten“ Dinge ſein mußten, die ſich ihrer Erkenntnis
noch entzogen und einer Erforſchung wert waren. Meiſterhaft haben Frenſſen
und nachher andere Bauerndichter ſolche nordiſchen Bauern vor uns hingeſtellt.
Später, als nordiſche Wanderzüge in Amwelten gerieten, die der Nordifchen
Raffe fremd und unbekannt waren, ſetzte ſich der bäuerliche Erkenntnistrieb
langſam mit dem Neuen auseinander; herrliche Blätter der Philoſophie ſind
dadurch der Menſchheit geſchenkt worden; ob wir nun an die Inder, die Grie⸗
chen oder die Germanen denken. Als dann ſpäter die Welt durch Verkehrs-
mittel anfing bekannt zu werden, brach ſich der Trieb der Nordiſchen Rafe
zur Erkenntnis hemmungslos Bahn und ſtürmte auf dieſem Wege unaufhalt⸗
ſam vorwärts; er folgte ſeinem entwicklungsgeſchichtlich bedingten inneren
Muß.
Wie ſehr hat man doch der Nordiſchen Raffe dieſen Trieb zur Erkenntnis
720 R. Walther Darre
verdacht! Man fühlte ſich durch dieſe Menſchen beunruhigt. Sie geben
ſich nie mit der Oberfläche der Dinge zufrieden, nehmen die Dinge nicht ein-
ſach hin, wie ſie find, ſondern verſuchen immer in ſie hineinzudringen und ſie
dann weiterzuentwickeln. Der flächenhaft denkende Menſch mit dem Ober⸗
flächenbewußtſein empfindet lediglich die von der Nordiſchen Raffe ausgelöſte
Bewegung unter den Dingen der ihm vertrauten Amwelt. Er folgert — da
ihm jede Bild⸗Ablöſung in feinem Bewußtſein nur durch die Tätigkeit der
eigenen Fortbewegung verſtändlich iſt —, daß die von der Nordiſchen Naſſe
ausgehende Beunruhigung feines Daſeins auch auf eine gleiche Arſache bei der
Nordiſchen Naſſe zurückgehen müſſe. Er überträgt alſo das, was bei ihm eine
Veränderung der Bewußtſeinseindrücke auslöſen würde, nämlich die eigene
Fortbewegung, auf die Nordiſche Raſſe und folgert nun ganz unbewußt aus
den Geſetzen ſeiner Empfindungswelt heraus: da ich eine durch die Nordiſche
Rafe ausgelöſte Beunruhigung meines Daſeins erlebe, fo muß die Nore
diſche Raſſe eine beſonders unruhige und bewegliche Raffe fein. Auf
den Gedanken, daß die Veränderung eines Bildeindruckes bei einem an Ort
und Stelle verbleibenden Beſchauer auch dadurch ausgelöft werden kann, daß
die Erſcheinung von innen heraus verändert wird, kommt er offenbar gar nicht
von alleine.
Nun kann man aber eine Erſcheinung nicht von innen heraus ändern, wenn
man ſie nicht vorher auf ihr Weſen hin unterſucht hat. So iſt es einerſeits
ganz natürlich, daß jede von einem nordiſchen Menſchen ausgelöſte Amwelt⸗
veränderung eine eingehendere Beſchäſtigung dieſes nordiſchen Menſchen mit
dem Weſen der veränderten Dinge zur Vorausſetzung hatte, während anderer⸗
feits gerade dieſe Tatſache dem Menſchen mit dem Oberflähen-Bewußtfein
am unbegreiflichſten iſt; denn er käme niemals auf den Gedanken, das Weſen
der Dinge zu erforſchen oder verändern zu wollen. Auf dieſe Weiſe wird der
Menſch mit dem Oberflächen⸗Bewußtſein gerade durch die Nordiſche Naſſe
am meiſten beunruhigt. So kommt er dazu, in der Nordiſchen Raffe lediglich
diejenige Raſſe zu erblicken, die feine Unruhe auslöſt, d. h. das ihm vertraute
Bild der Wirklichkeit in Bewegung verſetzt und abzuwandeln beginnt. Hierin
wurzelt letzten Endes jene tragiſche Verdrehung der Tatſache, daß die boden⸗
ſtändigſte Raffe der Welt, die aus ihrem Bauerntum heraus der Welt den
Trieb zu Erkenntnis ſchenkte, zu einer „unruhigen, beweglichen Naſſe“ ge-
ſtempelt worden iſt.
Anter gewiſſen Amſtänden wird der Menſch des ausſchließlichen Ober⸗
flächenbewußtſeins gelegentlich aber auch den in organiſchen Zuſammenhängen
denkenden Menſchen für beſonders rückſtändig halten. Das fei an einem Bei⸗
ſpiel erläutert. Wenn Henry Ford ein Volksautomobil erſann und baute,
ſo wird der entwicklungsgeſchichtlich und organiſch denkende Menſch darin
einen Beitrag zur Entwickelung des Verkehrsweſens erblicken und zweifel⸗
Nomade und Bauer | 721
los einen neuen Zuftand in der Entwicklungsgeſchichte des Verkehrsweſens
feſtſtellen; dagegen iſt es ihm im Grunde ſehr gleichgültig, wer mit einem
Gord ſpazierenfährt, denn diefe Frage hat ja mit dem Weſen des GFord-
wagens gar nichts zu tun.
Ganz anders wird aber der im flächenhaften Denken befangene Menſch
dieſer Frage gegenübertreten. Sieht er z. B. heute in Afrika einen Neger⸗
häuptling mit einem Ford fahren, nachdem dieſer ſich vorher vielleicht durch
eine Sänfte fortbewegt hatte, ſo iſt ihm das ein Fortſchritt ſchlechthin.
Das Wort „Tortſchritt“ iſt in dieſer Beziehung fehr lehrreich. Ein Ober⸗
flächen⸗Bewußtſein, das nur in Bildern zu denken verſteht und mit ſeinem
Denken notwendigerweiſe an der Oberfläche haften bleibt, iſt gewohnt, eine
Bildveränderung lediglich durch die Tätigkeit der eigenen Fortbewegung zu
erleben, kommt alſo gar nicht auf den Gedanken, eine Bildveränderung aus
dem Weſen der Sache heraus zu erwarten. Aus dieſem Grunde iſt für jeden
Nomaden eine Bildveränderung, die ihm wertvoll dünkt, gleichzeitig ein Fort⸗
ſchritt; worin ganz wörtlich zum Ausdruck kommt, daß ihm der Entwickelungs⸗
gedanke fremd, die Hinbewegung zum Gegenſtand ſeiner Bewunderung aber
natürlich iſt. Es iſt im Grunde ſehr unweſentlich für die Fragen der Ver⸗
kehrstechnik, ob ein Neger oder Indianer jetzt auch mit einem Automobil fah-
ren können, denn ſie haben das Automobil weder erfunden, noch werden ſie es
nach menſchlichem Ermeſſen weiter entwickeln können. Aber dem nomadiſchen
flächenhaften Denken iſt bereits die Tatſache, daß es zwei voneinander ver⸗
ſchiedene Bilder erlebt — nämlich erſt einen zu Fuß gehenden Neger und dann
einen mit einem Automobil fahrenden Neger, wobei es offenbar dem Neger
Nr. 2 beſſer geht als dem Neger Nr. 1 —, grundſätzlich ſchon ein Tortſchritt,
weil es ja auf Grund feiner Natur derartige Bildveränderungen auch nur
durch Fortſchreiten erleben kann.
Wenn min der organiſch und entwicklungsgeſchichtlich denkende Menſch
einen Negerhäuptling, der mit einem Tord ſpazierenfährt, immer noch für
einen Neger anſieht und gar nicht auf den Gedanken kommt, dem Neger das
Automobilfahren als Kulturhöhe anzurechnen — weil der Neger ja im Grunde
für das Vorhandenſein des Automobils nicht verantwortlich gemacht werden
kann —, ſo empfindet der Nomade eine ſolche Denkweiſe als ſehr rückſtändig.
Uhnliches gilt auch z. B. für den Fall, daß heute ein Indianerhäuptling den
Frack zu tragen verſteht und eine amerikaniſche Univerfität aufſucht. Einem
„oberflächlichen“ Denken iff das natürlich ein „Tortſchritt“, während im
Weſen der Sache der Indianer weder etwas mit dem Frack noch mit der Uni-
verſität zu tun hat. Das wird ein Menſch mit ausſchließlichem Oberflächen⸗
Bewußtſein allerdings nie begreifen, denn er verſteht nur die Oberfläche zu
beurteilen, nicht aber das Weſen der Dinge; wenn die Oberflächen ſich gleich
werden, iſt ſeiner Meinung nach auch das Weſen der Dinge gleich geworden.
722 R. Walther Darré
Der Nomade lebt dem Tage, der Bauer der Zukunft. Es
bat für den Nomaden keinen Zweck, ſich um das Morgen zu kümmern, denn
das Jetzt, das Heute, das Augenblickliche ſteht vor ihm und muß ausgenutzt
werden. Amgekehrt hat es für den Bauern keinen Zweck, ſich um das Heute
groß zu kümmern, denn dieſes iſt immer nur das Ergebnis feiner geſtrigen
bzw. früheren Maßnahmen, und ſein Sinn muß ſich vom Heute bereits wieder
auf das Kommende einſtellen, das er zu meiſtern hat und das er nicht, wie es
der Nomade kann, dem „lieben Gott“ überlaſſen darf. Der Nomade iff Gata-
liſt, der Bauer muß fagen: „Hilf dir ſelbſt, ſo hilft dir Gott!“ — Aber dieſes
„Auf⸗das⸗Morgen⸗blicken“ ift das, was dem auf das Heute gerichtete Denken
allen Nomadentums ſo entgegengeſetzt wie nur möglich und dem Nomaden
in der tiefften Seele verhaßt iſt. Warum ſoll ſich auch der Nomade über das
Morgen aufregen? Er iſt durchaus der Menſch der Wirklichkeit und ſchätzt
es nicht, beim Abgraſen geſtört zu werden. Der Nomade würde denjenigen,
der dieſe Wirklichkeit abändern wollte, für wirklichkeitsfremd, ja für verrückt
anſehen und dieſes, von ſeiner biologiſchen Entwicklung aus, auch durchaus
mit vollem Recht. Der Nomade kann ja weiterwandern, wenn ihm etwas
nicht mehr paßt. Aber der Bauer kann nicht wandern, und das
Morgen wird ſo, wie er es anfaßt und heute einleitet. Daher
iſt der echte Bauer, wie überhaupt jeder echte ſeßhafte Menſch — das gilt
ſogar in gewiſſer Beziehung für einige farbige Stämme — immer der Menſch
des Morgen, der vorausſchauenden Sorgfalt für das ihm anvertraute Gut und
durch ſein Pflichtgefühl notwendigerweiſe eine unbequeme und beunruhigende
Geſtalt für alle gedankenlos Dahinlebenden; der faule Knecht hat noch immer
dem tatkräſtigen Bauern geflucht, der ihn zur Arbeit herangezogen hat.
Der nomadiſch denkende Menſch iſt aber auch durch und
durch ungeſchichtlich. Ein ſeßhafter Menſch, ein Bauer im
beſonderen, braucht aber die Erfahrungen der Vergangen-
heit, um feine Maßnahmen für die Zukunft treffen gu kön⸗
nen; wenn er das nicht tut, iſt er ein Narr. Es iſt ein Beweis für das ſehr
bäuerliche und organiſche Denken bei Goethe, wenn dieſer einmal ſagt:
Wer nicht von dreitauſend Jahren
Sich weiß Rechenſchaft zu geben,
Bleib im Dunkeln unerfahren,
Mag von Tag zu Tage leben.
Was aber ſoll der Nomade mit Erinnerungen an abgegrafte Weideflächen
oder an abgegeſſene Tiſche anfangen? Ja, es wäre geradezu eine biologiſche
Anverantwortlichkeit, wenn ihn die Natur mit rückwärtsſchauendem Blick aus⸗
geſtattet hätte. Vorwärts muß der Nomade, falls er am Leben bleiben will,
und er wäre ein Narr, wenn er ſich mit der Vergangenheit belaſten wollte.
Der Bauer leitet ſein Tun von den Notwendigkeiten in ſeinem Betriebe
Nomade und Bauer | 723
ber, d. h. aus Erkenntnis heraus. Dieſe Erkenntnis iſt dann dem Bauern
Richtſchnur für alle ſeine Maßnahmen, und er iſt dazu erzogen, perſönliche
Anbequemlichkeiten zurückzuſtellen, wenn es die Notwendigkeit in feinem Gee
triebe erfordert. |
Das grübleriſche Bauerntum der Nordiſchen Naffe ift gewohnt, das Tun
am Denken zu prüfen. Hat dieſes nordiſche Bauerntum aber erſt einmal
aus einer Erkenntnis im Denken die Notwendigkeit einer Ausführung erkannt,
dann wird auch an die Ausführung herangegangen, ſei dieſe nun mit per⸗
ſönlichen Anannehmlichkeiten verknüpft oder nicht. Der Bauer läßt ſich ja auch
nicht durch das Wetter oder ähnliches abhalten, das zu tun, was er für not⸗
wendig erkannt hat. Daher iſt der nordiſche Menſch einerſeits durchaus ein
Grübler, ein ſchwerfälliger Menſch, andererſeits aber auch der Menſch der
Tat, während der Nomade, der ſich von Ding zu Ding hinbewegt, weit eher
der Menſch der Tätigkeit genannt werden könnte, ohne daß er dazu neigt, feine
Tätigkeit mit einem vernünftigen Gedanken in Einklang zu bringen. Nietzſche
hat dieſe Art von Tätigkeit einmal ſehr treffend gekennzeichnet: „Es iſt das
Unglüd der Tätigen, daß ihre Tätigkeit faft immer ein wenig unvernünftig
iſt. Man darf z. B. bei dem geldſammelnden Bankier nach dem Zweck ſeiner
raſtloſen Tätigkeit nicht fragen: fie iſt unvernünftig. Die Tätigen rollen,
wie der Stein rollt, gemäß der Dummheit der Mechanik.“
Der nordiſchen Tat entſpricht alfo die nomadiſche Tätigkeit (Betriebſamkeit);
dem nordiſchen Grübeln würde die nomadifche Indolenz entſprechen. Der nore
diſche Grübler iſt oft nur ſcheinbar träge und ſchwerfällig, während vorkom⸗
mende Trägheit beim Nomaden immer wirklich iſt.
Die Tat ändert die Zuſtände der Dinge immer, die Tätigkeit braucht das
noch lange nicht zu tun. Daraus ergibt ſich hier wieder der ſcheinbare Wider⸗
ſpruch, daß der im Grunde ſeßhafte Menſch, alfo der Bauer, der Veränderer
des Weltbildes iſt, während der bewegliche tätige Menſch nichtbäuerlicher
Herkunft die Dinge zwar zerſtören kann und dadurch das Weltbild wohl nega⸗
tiv ändert, aber die Dinge nicht eigentlich verändert oder weiterent⸗
wickelt; man vergleiche, was im Abſchnitt I von Frenſſen über die Ahlen
und Kreien angeführt worden iſt. Der im Erſcheinungsbild unbewegliche
Moltke war ein Tatmenſch durch und durch, und die Vorſtellung eines täti⸗
gen geſchäftigen Feldherren wäre für uns noch heute eine Luſtſpielgeſtalt. Der
gierig gegen Europa anſtürmende Attila einerſeits und der aus Erkenntnis
und Grüblertum heraus nach Amerika aufbrechende blonde, helläugige Ko⸗
lumbus, ſowie der aus gleichen Gründen die Bezwingung der Luft ver⸗
ſuchende Graf Zeppelin andererſeits find vollkommene Gegenſätze. Sie
handeln auch aus jo vollkommen verſchiedenen Arſachen heraus, daß irgend-
welche Verwechſelungen ihrer Gründe unmöglich iſt. Wer die Nordiſche
Raffe als Nomadenraſſe empfindet, hat ihr eigentliches Weſen noch nicht be⸗
724 Arnold W. Trumpf
griffen; Jörn Ahl ift ein Bauer und ein ſehr nordiſcher Menſch, doch nie⸗
mals ein Nomade.
Vielleicht iſt es geſtattet, hier eine Zwiſchenbemerkung einzufügen, die die⸗
fem Bilde über die Nordiſche Naſſe einen lebendigen Farbton einfügen könnte.
Wurde oben erwähnt, daß die Nordiſche Naſſe im Bauerntum ihre Erziehung
zum raumbewußten und organiſchen Denken erhielt, ſo haben wir mit dieſer
Erkenntnis vielleicht auch den Schlüffel in der Hand, um das Nätſel zu löſen,
daß nur die Nordiſche Raffe die eigentliche Schöpferin einer wirklich eben-
mäßigen, den Raum beherrſchenden körperhaften Kunſt geweſen iſt; dies gilt
ſowohl für die in den Raum hineingeſtellte Bildhauerkunſt, wie auch beim
Bilde in der Naumbeherrſchung der Fläche. Jedenfalls iſt ein Verfiegen des
nordiſchen Blutes in der Kunſt offenfichtlid) immer am leichteſten daran feft-
zuſtellen, daß die Beherrſchung des Raumes und ſeiner Beziehungen zum
Gegenſtand nachläßt.
Hängt es damit vielleicht auch zuſammen, daß bei uns in Deutſchland
ſchöpferiſche Tierzüchter oder bäuerliche Gegenden mit hochentwickelter
Tierzucht immer auffallend deutlich noch ihren Zufammenhang mit nordiſchem
(fäliſchem?) Bauernblut zeigen? In dem noch ſehr nordiſch beſtimmten Eng-
land ſind tierzüchteriſche Fragen genau ſo wie in Nordamerika einer allge⸗
meinen Aufmerkſamkeit ſicher; fie werden dort in den Tageszeitungen fo aus⸗
führlich beſprochen, wie bei uns feſſelnde Fragen auf anderen Gebieten. Tat⸗
ſächlich verlangt auch nichts einen inbildlich ſo ſicheren Blick für Körperformen
und Bewegungsausdruck, wie gerade ſchöpferiſche Tierzucht; ein geift-
reicher Pferdekundiger (Hippologe) wies bereits vor einem halben Jahrhun-
dert darauf hin, daß die Fähigkeit, edle Pferde zu züchten, in dem Maße ab⸗
nehme, wie der gute Geſchmack in der Baukunſt.
Der vorftehende Abſchnitt iſt dem im Jahre 1929 bei J. F. Leb-
manns Verlag, München, erſchienenen grundlegenden Werk von
N. Walther Darré: „Das Bauerntum als Lebensquell der Nor-
diſchen Raſſe“ entnommen.
Arnold W. Trumpf:
Die Genoſſenſchaſten
Agrarliberalismus oder bäuerliche Schickſalsgemeinſchaft?
Die verfloſſenen vierzehn Jahre einer korrupten Wirtſchaftsepoche haben
zwangsläufig diejenigen Organiſationen des Landbaues nicht verſchont ge⸗
laſſen, die von der Arväterzeit her dem deutſchen Bauern in ſeinem wirtſchaft⸗
Die Genossenschaften | 725
lichen Daſeinskampf um die Scholle Hilfe und Stütze waren: die Genoſſen⸗
ſchaften. Ihre Rückſchläge und Mißerfolge ſtehen vielerorts im Brennpunkt
der Kritik. Die meiſten Kritiker jedoch waren und ſind jene Vertreter einer
liberal⸗kapitaliſtiſchen Wirtſchaftsauffaſſung, denen die bodenſtändigen Ge⸗
noſſenſchaften gerade zum Opfer fielen. Sie fühlen ſo wenig von dem Bauern
als Träger der Genoſſenſchaften, daß ihr Arteil für die Erkenntnis der tieferen
Zuſammenhänge wertlos und abwegig iſt.
Es iſt ſchon eine Angelegenheit des Bauerntums ſelbſt und ſeiner Führung,
mit ernſteſter Selbſtbeſinnung aus den bitteren Lehren der vergangenen Jahre
die Schlußfolgerungen für die zukünftige Arbeitsweiſe in den Genoſſenſchaften
ſelbſt zu ziehen.
Die geiſtigen Schäden
Ein hemmungsloſes Erwerbsſtreben, unter Ausnutzung jeder fic) bietenden
Gelegenheit des Einzelunternehmers auf Koſten des anderen ſeit Beendigung
des Krieges, gefördert durch die moraliſchen Auswirkungen der Inflation,
täufchten auch dem Landvolke jene Nützlichkeits moral vor, die vom Ein⸗
zelmenſchen zum Maß aller Dinge gemacht wurde. Die Genoſſenſchaft als
Gemeinſchaftsbewegung der durch Blut und Boden ſchickſals verbundenen
Bauern im Dorfe wurde der Tummelplatz eigenſüchtiger Intereſſen auf Koſten
aller und zum Schaden des einzelnen. Sie wurde zur inhaltloſen Form in ein⸗
ſeitiger, ſpekulativ⸗händleriſcher Richtung herabgewürdigt. Die Genoſſenſchaft
regte nur noch den Inſtinkt nach Streben eines ſofortigen, unmittelbaren Bors
teils an. Man betrachtete ſie gegenüber dem im Wettbewerb ſtehenden Handel
lediglich als Objekt feiner angeblichen, perſönlichen, händleriſchen Pfiffigkeit.
Nicht von ungefähr bildete ſich die Forderung, tüchtige, aus dem Bank- und
Getreidegeſchäft der Städte ſtammende „Fachleute“ in erſter Linie in die bäuer⸗
lichen Genoſſenſchaften als Geſchäftsführer zu beſtellen. Man huldigte eben
nur einer Moral: „eine mit allen Waſſern getaufte Geriſſenheit in der Ge⸗
ſchäftsgebarung“. Hierin ſah man das Heil genoſſenſchaftlicher Betätigung.
Je mehr die Organe der Genoſſenſchaft ſich ſelbſt bei der Verteilung der Be⸗
triebsmittel durch Inanſpruchnahme von Großkrediten (heute pu ihrem eigenen
Schaden!) bevorzugten, ftatt als Männer des Vertrauens ihrer Mitglieder
Zurückhaltung zu üben, deſto mehr entwickelten fic die ſogenannten Geſchäfts⸗
hrergenoſſenſchaften“, bei denen der Vorſtand, weil innerlich nicht mehr Herr
einer Entſcheidung, alles andere als führte, vielmehr als willenloſes Werkzeug
n den meiſten Fällen geführt wurde. Viele landes fremde Geſchäftsführer
waren dann auch ſo „tüchtig“, die Genoſſenſchaft als Objekt ihrer perfönlichen
Vorteile willen zu mißbrauchen. Grundſätzlich find daher die gei⸗
ſtigen Verfallserſcheinungen im Genoſſenſchaftsweſen
Teilerſcheinungen einer korrupten Wirtſchaftsepoche ge⸗
weſen. Bei den vorgekommenen moraliſchen Anſauberkei⸗
ten, der Untreue und Verantwortungsloſigkeit in der
Führung ſieht man ſchließlich nur in den Spiegel eines
allgemeinen wirtſchaftlichen Verfalles.
Materielle Schäden
Die materiellen Verluſte in den Genoſſenſchaften, vornehmlich bei Spar⸗
und Darlehnskaſſen und Warengenoſſenſchaften, ſind hauptſächlich auf drei
Arſachen zurückzuführen:
726 Arnold W. Trumpf
1. Fehler in der Kreditverteilung und Kreditbeurteilung,
2. ein überſetztes ländliches Geld⸗ und Kreditweſen,
3. die Deflationskrife als Schickſal.
Der verfloſſene Agrarliberalismus der Aereboeſchen Ara entwickelte die
Lehre von der „Intenſivierung und Rationalifierung” des bäuerlichen Be⸗
triebes. Er regte die Kreditfreudigkeit um ſo mehr an, als die Inflation die
flüffigen Betriebsmittel im Landbau vernichtet hatte. Man fragte weder von
der Seite der kreditſuchenden Bauern, noch der kreditgebenden .
nach dem Wirtſchaftserfolg aus Leihkapital und Zinfendienſt. Die Belei⸗
hungs möglichkeit war die Nichtſchnur des Handelns. Man ſtempelte
den Grund und Boden zur Ware, aber aud hier nicht nur der Geld-
geber, ſondern auch der durch den Agrarliberalismus getäuſchte „Landwirt“.
reditfähigkeit bzw. Beleihungs möglichkeit war Haupte
ſache, Kreditwürdigkeit Nebenſache. Die Genoſſenſchaft verlor
den Charakter als Dorffaffe, die allen tn mit Heinen und mittleren
Betriebskrediten im Geldausgleich des Dorfes helfen foll, fondern wurde eine
einſeitige Kreditbank, die über eigene Mittel aus der Dorfwirtſchaft hinaus
in erſter Linie mit fremden Bankkrediten des genoſſenſchaftlichen Mittelbaues
(Verbandskaſſen), dieſe mit der ſeinerzeit marxiſtiſch verſeuchten „Preußen⸗
kaſſe“, arbeitete. Gefördert wurde dieſe von marxiſtiſchem Einfluß abhängige
Kreditpolitik nach oben durch die durch die verbrecheriſch aufgezogene e
tion vernichteten Spareinlagen als die wertvollſten Betriebsmittel der Ge⸗
noſſenſchaften. Die heutigen Verluſte der Genoſſenſchaften aus notleidend
1 Krediten ſtammen in faft allen Fällen aus einzelnen Gro fe
rediten, nicht aus vielen Kleinkrediten! In dem Augenblick,
als die Dorfkaſſe ihren Rahmen als dörfliche Selbſthilfeeinrichtung ſprengte
und zur verdienen wollenden „Bank“ mit fremden Mitteln wurde, verlor ſie
den Boden unter den Füßen und beklagt heute ihre Verluſte. Im Zuge des
Liberalismus lag es, die bodenſtändigen Dorfkaſſen und Genoſſenſchaften als
überlebt und für unzeitgemäß anzuſehen. Es entſtanden an Stelle von Kaͤmp⸗
fern für den berufsſtändiſchen Gedanken die „Syndizi“, die nach großen Kreis⸗
und Wirtſchaftsorganiſationen mit hauptamtlicher Leitung ſtrebten. Die Or⸗
ganiſationsfehler haben ſich bitter gerächt. Die Experimente haben den Bauern
viel Geld . Niemand wollte es hören, daß, wenn man die Aberſichtlich⸗
keit über die Leiſtungsfähigkeit der Mitglieder, die man zu betreuen hat, ver⸗
liert, die Genoſſenſchaft eines Tages „ kommt. Man ee:
den Fernabſatz und ließ ſich an den Abnahmeſtellen von geriffenen Abnehmern
über das Ohr hauen. Eine weitere Arſache der Verluſte aus falſcher Kredit⸗
freudigkeit und Kreditfehlleitung war die Ausdehnung der öffentlichen Spar⸗
kaſſen als Bankeinrichtungen mit einer von Jahr zu Jahr zunehmenden Grün⸗
dungstätigkeit von Geſchäfts⸗ und Annahmeſtellen am gleichen Ort der Gee
noſſenſchaftskaſſen. Es entſtand der Wettbewerb von Geldgebern faſt auf
jedem Dorfe. Anfängliche Bedenken der Kreditgewährung wurden in der Zeit
der Flüſſigkeit der Zahlungsmittel aus Angſt, den Kunden an den konkurrie⸗
renden Geldgeber zu verlieren, zurüdgeftelt! Amſatz war die Cofung!
Wenn heute der Bauer unter den Zinslaſten ſeufzt, die ſeine Verſchuldung
beſchleunigt haben, ſo wird immer vergeſſen, daß bei der Jagd um den Spar⸗
groſchen — auch die dem Lande weſensfremden Großbanken waren ja ſeiner⸗
zeit durch Zweigſtellen, beſſer Saugſtellen, auf dem Lande vertreten — der
_ EEE — . — — — — — — — — .. — ————— — —— —— 1
Die Genossenschaften | 727
Sinsfuß für Spareinlagen durch den Überſetzten Wettbewerb von Geldanftal-
ten in die Höhe getrieben wurde. Das bodenſtändige Kapital wurde künſtlich
teurer, je höher die Spareinlagen verzinſt wurden. Zinſen für Spareinlagen
von 10% (1) waren noch vor einigen Fahren keine Seltenheit. Schließlich hat
die Auswirkung der Kriſe, die Vernichtung des Wirtſchaftserfolges der Bau⸗
ernhöfe die Genoſſenſchaften als Schickſalsträger betroffen.
Geiſtige und ethiſche Erneuerung
Es wurde feſtgeſtellt, daß die menſchlichen Werte im Genoſſenſchaftsweſen
verkümmerten. Sie zu wecken, iff Vorausſetzung für die Reformation genoſſen⸗
ſchaftlicher Selbſthilfe. Führung und Inhalt der Genoſſenſchaften werden zu⸗
künftig von jenem Geiſt getragen fein müſſen, der das durch Blut und Voden
verwurzelte Bauerntum durch die Genoſſenſchaften ſchickſalsverbunden empfin⸗
den und erkennen läßt: „Einer für alle, alle für einen“. Der Gorden
rung des Nationalſozialismus „Gemeinnutz vor Eigenmitz“ hat nunmehr die
Tat zu folgen. Wo fände ſich wohl ein beſſeres praktiſches Betätigungsfeld
für dieſe Geſinnung als gerade in der Genoſſenſchaftsarbeit. Dem heroiſchen
Kampf der nationalſozialiſtiſchen Bewegung, den Liberalismus in allen ſeinen
Spielarten für immer zu überwinden, haben die ländlichen Genoſſenſchaften
durch Pflege einer genoſſenſchaftlichen Geſinnung (völkiſch) ſtatt der bisherigen
Törderung einer einſeitigen Nützlichkeitsmoral (liberal) zu folgen. Sie ſollen
die Pflegeſtätte des Amſchmelzungsvorganges von der Form zum Inhalt völ-
kiſcher Geſinnung werden. Hier zeigen ſich die Zukunftsaufgaben der Genoſſen⸗
ſchaften in ihrer ganzen Größe. Der Landwirt ſoll auch in ſeinem bisherigen
wirtſchaftlichen Denken über die genoſſenſchaftliche Geſinnung wieder zum
Bauern völkiſcher Prägung werden. Zukünftige Genoſſenſchafts⸗
arbeit iſt demnach Ausmerzung agrarliberaliſtiſcher Den⸗
kungsweiſe und Pflege echter deutſcher Bauernpolitik.
Führerfrage
Zur Durchführung dieſer Aufgabe ſtoßen wir auf die Führerfrage. Soll
letztere ein Problem bleiben, oder iſt es nicht des Schweißes der Edlen wert,
es zu löſen? Wenn auch feſtſteht, daß Führer geboren und nicht erſt erzogen
werden, ſo iſt trotzdem zu ſagen, daß wiederum der Agrarliberalismus manch
echte Führernaturen verſchüttet hat, die wir freilegen müſſen. Die Möglichkeit
der Erwerbung des techniſchen Rüftzeuges muß in planmäßiger Weiſe für die
durch Ausleſe feſtgeſtellten Führer geſchaffen werden (Führerſchulen). Wir
wollen zukünftig den Führer nicht nach dem hinter ihm ſtehenden Grundbeſitz
im Bauernſtande beurteilen, ſondern nach ſeiner Charakterſtärke und nach ſei⸗
nem ausgeprägten Verantwortungsbewußtſein. Genoſſenſchaften ſind nun
einmal keine Eitelkeitseinrichtungen. Jeder Bauer, der heute an führende
Stelle in ſeinen Organiſationen geſtellt iſt, muß jederzeit bedenken, daß er
ſpäter nur danach gewogen wird, wie er ſeinem Berufsſtande zu dienen ver⸗
mochte. Das iſt der tiefere Sinn des Lebens eines völkiſchen, d. h. edlen
Menſchen. Heute verſtehen ſich Führer und Geführte ſehr oft nicht mehr, aber
Agrarpolitik Heft 10, Bg. 2
728 Arnold W. Trumpf
die Schuld liegt vorwiegend bei den erfteren, die ſich entweder dem bäuerlichen
Element entfremdeten oder als ſogenannte „Syndizi“ nie einen Hauch von
bäuerlichem Denken und Fühlen verſpürten. Die fogenannte neutrale Ein-
ſtellung im Genoſſenſchaftsweſen wurde bis zur fterilen Objektivität als ſtän⸗
diges Lippenbekenntnis immer wieder gepredigt. Man verabfdumte jedoch
nicht, mit getarnter Harmloſigkeit liberale und kapitaliſtiſche Parteipolitik in
den Spitzenſtellungen mit einer Verfilzung ſondergleichen zu treiben. Soll es
noch deutlicher geſagt werden? Einen geſunden Kampfgeiſt als ewige Erneue⸗
rungsquelle jeglicher organifatoriſcher Arbeit haben die Genoſſenſchaften in
den letzten Jahren nicht verſpürt. Gewiß find die Genoſſenſchaften an kauf⸗
männiſche Grundſätze gebunden, und ihre Beachtung iſt die Vorausfetzung
mit für den wirtſchaftlichen Erſolg, ſie können ſich aber nur der ethiſchen
Größe genoſſenſchaftlicher Arbeit unterordnen, nicht aber wie bisher über ſie
herrſchen wollen (dienen und nicht verdienen). Wir haben es erlebt, daß Ver⸗
antwortungsloſigkeit in der Führung den Segen der Selbſtverwaltung zum
Fluch verwandelte. Das Ergebnis iſt die heutige Vertrauenskriſe im Genoſ⸗
ſenſchaftsweſen. Die Folgerung iſt, daß eine planmäßige Säuberung des
Genoſſenſchaftsweſens von ſolchen Führern vorgenommen wird, die das Ver⸗
trauen des Bauern heute nicht mehr verdienen, beſſer geſagt, nie verdient
haben.
Organiſatoriſche Grund forderungen
Aber den organiſatoriſchen Aufbau der ländlichen Genoſſenſchaften iſt zu
gen, daß zu grundſätzlichen Anderungen kein Anlaß beſteht. Die durch
eichsmittel krampfartig aufgezogenen Zwecksgründungen, vor allem eine
überſpitzte Zentraliſierung genoſſenſchaftlicher Abſatzorganiſationen, werden zu
liquidieren ſein, wenn die wirtſchaftliche Daſeinsberechtigung fehlt. Die Ver⸗
luſte aus Fehlgründungen berechtigen zu dieſer Forderung. In dem Vertei-
lungsvorgang deutſcher Agrarerzeugniſſe auf dem deutſchen Markt wird nach
allen Lehren ein leiſtungsſähiger und zuverläſſiger Handel zukünftig mehr ein⸗
halten fein. Die genoſſenſchaftlichen Verkaufsorganifationen in Bedarfs⸗
gebieten haben auf Grund ausreichenden Lehrgeldes nicht jene Daſeinsberech⸗
tigung gehabt, die den genoſſenſchaftlichen Abſatzorganiſationen in Aberſchuß⸗
en ohne weiteres eingeräumt werden muß. Die Erfolge der letzteren
erechtigen zum weiteren Ausbau, wie überhaupt der Erfaſſungsvorgang der
Agrarerzeugniſſe im Unters und Mittelbau das genoſſenſchaftliche Selbſthilfe⸗
recht des Bauern bleiben muß. Im übrigen iſt alles, was nicht organiſch
wächſt und Stein auf Stein ſetzt, für die zukünftige genoſſenſchaftliche Organi⸗
ſationsarbeit abzulehnen. Im Anterbau des Genoſſenſchaftsweſens werden die
Genoſſenſchaften zukünftig nicht größer ſein dürfen, als ſie die Leiſtungsfähig⸗
keit der Mitglieder hinſichtlich der Inanſpruchnahme des Betriebskredites aus
Waren- und Geldverkehr überſehen können, und nicht kleiner, als fie zur
Deckung der Betriebsunkoſten unbedingt an einen beſtimmten Geſchäftsumfang
gebunden ſind. Ein dringendes Zeiterfordernis bleibt der Abbau des über⸗
ſetzten Geld- und Kreditweſens auf dem Lande. Die öffentlichen Sparkaſſen
werden an Orten, an denen leiſtungsfähige genoſſenſchaftliche Dorfkaſſen vor⸗
handen ſind, ihre Geſchäftsſtellen zurückzuziehen haben. Ferner iſt zu fordern,
Die Genossenschaften | 729
daß in Zukunft die einfeitige behördliche Bevorzugung öffentlich⸗ rechtlicher
Sparkaſſen zum Nachteil der Spar- und Darlehnskaſſen aufhört. Für den Ab⸗
bau der Zinslaſten wird man der Senkung der ſachlichen und perfonellen Aus⸗
gaben in den Spitzen in erſter Linie mehr Rechnung tragen müſſen. Hier
dürften die Bilanzen mancher genoſſenſchaftlicher Zentralgeſchäftsanſtalten
einſchließlich der Deutſchen Zentralgenoſſenſchaftskaſſe noch einer gründlichen
Nachprüfung unterzogen werden.
Schlußbemerkung
Die Staatsführung wird immer nur die grund ſätzlichen
Vorausſetzungen für den Wirtſchaftserfolg unferer deut-
ſchen Bauernhöfe ae Wohle des deutſchen Volkes ſchaf⸗
en können. Nicht in der Lage iſt ſie, jedem einzelnen zu
elfen. Dies bleibt auch in „ Aufgabe genoſſen⸗
chaftlicher Selbſthilfe: „Vereint iſt auch der Schwache
mächtig.“ Bei all den aufgezeichneten ißerfolgen im
ländlichen Genoſſenſchaftsweſen, die zweifellos an die
Opferbereitſchaft der ö manch harte Anforde⸗
rungen ſtellten, darf aber an dieſer Stelle nicht vergeſſen
werden, daß die Genoſſenfchaften in den harten Krifen-
jahren ihren Mitgliedern Hilfe und Stütze waren. Ohne
{te wäre die Not noch härter geweſen, ja tauſende unferer
eutſchen Bauernfamilien wären vor der Zeit zugrunde
gegangen. Die Geſamtorganiſation des deutſchen land-
wirtſchaftlichen Genoſfenfchaftswefens in all ihrer Viel-
eſtaltigkeit der erwerbswirtſchaftlichen Betätigung mit
beute 40 000 Genoſſenſchaften und 3 Millionen in ihnen
organiſierten Bauern iſt eine der tragenden Säulen des
ländlichen Berufsſtandes, ja fie iſt das Rückgrat im wirt-
ſchaftlichen Tageskampf des Bauerntums). Dieſe Säule
als Träger unter das Dach der neuen großen bäuerlichen
Einheitsorganiſation zu ſtellen, muß das Werk eines ein⸗
heitlichen Willens und Wollens des deutſchen Bauern-
tums für die Regierung Adolf Hitlers vollenden.
) Nach der Statiſtik des Reichsverbandes find etwa 2,1 Milliarden Reichs.
mark den genoſſenſchaftlich organiſierten Bauern als Darlehn zur Verfügung ge⸗
ſtellt worden. Hiervon ſtammen etwa 1,6 Milliarden aus ſelbſt aufgebrachten
Spareinlagen und Guthaben in lfd. Rechnung! Damit kommt die wirtſchaftliche
Bedeutung der genoſſenſchaftlichen Selbſthilfe des Bauern eindeutig zum Aus-
druck.
2
Dr. Richard Wagner:
Staats politik und Geopolitik
Geopolitiſche Einwirkungen
Die junge geopolitiſche Wiſſenſchaft hat ſich in a Seit fo ſtark ent-
widelt, daf Kor Wiſſensgebiet weite Kreiſe der Intelligenz, aber auch
der breiten ſſe des Volkes . haben. Die Erkenntnis, daß die
Geopolitik eine ſehr ernſthafte Wegweiſerin für die geſamte Staatspolitik
ſein kann, ſetzt ſich durch. Setzt ſich um ſo mehr in einer Zeit durch, in der
ein organiſcher Aufbau des Staates angeſtrebt und durchgeführt wird. Der
Staat, der die Seßhaſtigkeit ſeiner Bewohner, die Vermählung mit dem
Boden zur Vorausſetzung hat, regelt alle Beziehungen der Menſchen, die in
dem feſtumgrenzten Naum leben, und ſtellt an die Gemeinſchaft den Grund⸗
[as der ſtaatsbürgerlichen Pflicht. Dieſer Staat, als Organismus aufgefaßt,
5 5 unterworfen, die ſich in Einflüſſen verſchiedenſter Art gel-
end machen.
Wie das Leben des Menſchen von Amwelt, Klima, Boden und Lage abe
hängig iſt, wie ein der Natur und den Lebensbedingungen entgegengeſetztes
. den Organismus zerſtören kann, kann eine Staatspolitik, die gegen
die Lebensbedingungen der Nation verſtößt, deren Antergang herbeiführen.
Die Geopolitik vermittelt die Kenntnis der Lebensbedingungen für einen
Staat, geist Einwirkungen der verſchiedenſten Art. Sie beſchäftigt fid aber
auch mit dem Staat als lebenden Organismus, mit der Einſtellung der
Staatsbürger zum Staatsbegriff, mit der Ausſchal geopolitiſcher Einflüſſe
bei der Staatengeſtaltung und endlich mit den mannigfaltigen Möglichkeiten
der Verwiſchung der Staatsgedanken ſelbſt.
In dieſem Aufſatz will ich mich mit den geopolitiſchen Einwirkungen im
allgemeinen befaſſen.
Die Natur in ihrer mannigfaltigen Krafteinwirkung iſt nicht nur mit⸗
beſtimmend für die Staatenbildung, ſondern oft erzwingt ſie dieſe ſogar.
Der Engländer James Fairgrieve hat ein Buch geſchrieben „Geographie
und Weltmacht“, in dem zwar das Wort „Geopolitik nicht erwähnt iſt, das
aber all dieſe Fragen klar und erſchöpfend behandelt.
Die Erzwingung der Staatenbildung durch die Natur geſchieht auf der
Erdoberfläche überall dort, wo der Kampf gegen eine feindliche Natur den
Zuſammenſchluß der in einem beackerten Raum wohnenden Menſchen er⸗
fordert. Ein klaſſiſches Beiſpiel für die Staatenbildung auf obenbezeichneter
Grundlage iſt das Land Agypten. Der Nil brachte eine Menge fruchtbaren
Schlamm und Feuchtigkeit in das von der Sonne durchglühte Land und gab
alah die Bedingungen für die Schaffung einer überaus fruchtbaren Ebene. Die
rbeit vieler zehntauſender Menſchen ſchuf Kanäle und Schöpfvorrichtungen
zur gleichmäßigen und gerechten Verteilung des Schlammes und der ſſer⸗
mengen, ſchuf Deiche und Dämme zum Schutz gegen Hochwaſſer.
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|
Staats politik und Geopolitix 731
Die erſten echten Staaten entſtanden in ſonnenreichen, aber regenarmen
Gebieten, durch die ein oder mehrere Ströme floſſen, weil hier die Voraus⸗
ſetzung für die Seßhaftigkeit vorhanden war, die Bildung eines Bauerntums
ermöglichte, das auf der Grundlage „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“ die
techniſchen Maßnahmen unter der Leitung eines ſtrengen Herrſchers zur Be⸗
wäflerung und zur Bekämpfung des Hochwaſſers durchführte.
Gerade bei der Staatenbildung in Agypten war es nicht die n
der Bewohner, ſondern die oben mehrfach erwähnten geographiſchen Verhält⸗
niſſe und die Schutzlage Agyptens, die den großen Tortſchritt ermöglichten.
Weitere Beiſpiele der Staatenbildung ſind Meſopotamien, das Gebiet in
Pendſchab (Nordindien), in China das Gebiet des Gwangho.
Auch in Europa gibt es allerdings erft ſpäter ein Beiſpiel der Staaten⸗
bildung, das die Natur erzwingt, die Niederlande. Das Bewußtſein der
Holländer, ihren Staat gewiſſermaßen dem Waſſer abgerungen zu haben,
drückt ſich aus in dem Satz: „Gott hat die Welt gemacht mit Ausnahme der
Niederlande, welche die Holländer ſelbſt geſchaffen haben.“ Noch heute arbei⸗
ten die Holländer mit vollem Erfolg an der Gewinnung neuen Bauernlandes.
Ein weiterer Faktor, der die Staatenbildung weſentlich fördert oder hemmt,
iſt das Klima. In den Regionen der Arktis und in der ſubtropiſchen Zone
konnten fic) keine echten Staaten bilden. Nicht der Volkscharakter iſt daran
ſchuld, ſondern das Klima.
Die geiſtige und politiſche Führung liegt heute noch überall in den Ge⸗
bieten mit 5— 15 Grad Jahresmitteltemperatur mit einem deutlichen Opti⸗
nn hr der Nähe der 10 Grad Jahresiſotherme. (New Dork, London, Berlin,
Im Nahmen eines Aufſatzes iſt es unmöglich, dieſe Einflüſſe geopolitiſcher
Art auf die Staatenbildung umfaſſend darzuſtellen. Nach der kurzen Dar⸗
ſtellung des geopolitiſchen Einfluſſes der Flußläufe und des Klimas ſtellt
Du usb der Mineralien auf die Staatsbildung den nächſtwichtigſten
r. |
Vor allem find es Eifen und Kohlen, deren Beſitz gerade in unſerer Zeit
die Macht eines Staates weſentlich erhöhen, auch wenn Elektrizität und Ol
eine immer größere Rolle ſpielen werden.
Andere ſtaatenbildende und fördernde Mineralien find die Edelmetalle
und Edelſteine, Salpeter, Kali und Erdöl.
Der Beſitz eines Staates an Mineralien iſt nicht immer ſein Glück. Er
erregt den Neid der Nachbarn, und wenn der Staat ſelbſt nicht ſtark genug
iſt, wird er vom Stärkeren geſchluckt. Starke Staaten im Beſitz reicher Mine⸗
talien erhöhen dadurch ihre Macht. Staaten, die keine Mineralſchätze befigen,
find kaum Angriffen von Gegnern ausgeſetzt, auch wenn fie ſchwach find.
Amfaſſend iſt die Einwirkung der Geopolitik auf die Staaten. Nicht nur
die tote Natur, ſondern auch die Tierwelt und die Pflanzenwelt, die großen
Einflüffe waldreicher Gebiete, die Bedeutung der Gebirge, der Binnen⸗
waſſerſtraße und der Meere beſtimmen die Staatenbildung, ihre Erhaltung
und ihre rung.
Vorausſetzung für unfere Erkenntniſſe iſt aber, daß wir den Staat als
lebendigen Organismus auffaſſen.
732 Dr. Richard Wagner, Staatspolitik und Geopolitik
Dieſe Auffaſſung iſt durchaus nichts Neues. Schon aus dem Jahr 494
v. Chr. kennen wir eine Fabel von Menenius Agrippa von dem Magen und
den rebellierenden Gliedern. |
Von den Geopolitikern find es der Deutſche Nagel und beſonders der
Schwede Kjellen (T 1922), der in feinem Werk „Der Staat als Lebensform“
klar nachgewieſen hat, daß der Staat nichts Abſtraktes, Totes und Starres
iſt, ſondern daß er lebt, lebt wie ein Weſen und abhängig iſt von ſeinen orga⸗
1 — Lebensbedingungen. Darüber müſſen wir uns von vornherein
r fein.
Wir bauen einen organiſchen Staat auf, in dem nicht das Wohlergehen
der einzelnen Individuen maßgebend iſt, ſondern die Erhaltung und Törde⸗
rung der Nation.
Die Einwirkungen geopolitiſcher Art auf die Staatenbildung, die von der
flanzenwelt ausgehen, mit Ausnahme der Wälder, die eine beſondere
tellung einnehmen, ſind mehr bindender oder friedlicher Art.
Es fehlen zwar in der Geſchichte nicht Konflikte, die um den Beſitz von
Pflanzen ausgebrochen find, jedoch find dieſe Neibungen viel ſeltener, da man
Pflanzen auch anderwärts anbauen kann. Wichtig für die Geopolitik find
Pflanzen, die zu Nahrungs- und Genußzwecken, zu Gewürzen, zur Herftel-
lung von Bekleidung und Baumaterialien und zu induſtriellen Zwecken ver⸗
wendet werden.
Eine beſondere Stellung bei der Betrachtung der Pflanzenwelt im Hinblick
auf die Geopolitik nehmen die großen zuſammenhängenden Waldgebiete ein.
Sie verhindern eine Staatenbildung ſehr lange, aber für vorhandene Staaten
ſind ſie ein guter Grenzſchutz und beeinfluſſen die klimatiſchen Verhältniſſe
entſcheidend. Ein intereſſantes Beiſpiel für das Aufhaltsvermögen großer
Wälder iſt die Verbreitung des Islams. Man kann von einem Steppen und
Wüſtencharakter des mohammedaniſchen Bekenntniſſes ſprechen.
Den Gebirgen kommt ſogar eine dreifache geopolitiſche Bedeutung zu. Sie
find entweder Staatsgrenzen, ihre Verkehrserſchwerung bedeutet eine Kultur⸗
und 5 Gebirgsländer wirken im allgemeinen ungünftig für
ſtaatliche Zuſammenſchlüſſe. Eine militäriſche Bedeutung haben die ſogenann⸗
ten Pforten oder Durchbrüche bei Gebirgen. Sie können gut verteidigt werden
und bilden trotzdem kein Hindernis für den Verkehr. Wo gute ka die Ge⸗
birge leicht überwindbar machen, bilden ſich Sattelſtaaten. Der Paß wirkt,
ähnlich einer Flußbrücke, verbindend.
Als letzte geopolitiſche Einwirkungen wären die Binnenſtröme und die
Meere zu behandeln. Da dieſe Einflüſſe gerade in der gegenwärtigen Politik
und im Verſailler Vertrag eine große Rolle geſpielt haben, würden dieſe Ein⸗
flüſſe Gegenſtand eines beſonderen Aufſatzes ſein.
Noch einmal ſoll die Aufſatzreihe, die heute begonnen hat, in ihren Fort.
ſetzungen angedeutet werden. Zunächſt wurden und werden die geopolitiſchen
Einwirkungen auf die Staaten und auf die Bewohner der Staaten dargeſtellt.
Vorausſetzung iſt immer, daß wir den Staat als lebendigen Organismus aufe
faſſen. And erſt, wenn wir uns über die geopolitiſchen Einwirkungen auf die
Staatenbildung klar geworden ſind, wollen wir uns mit dem Staat ſelbſt, mit
dem Staat als lebenden Organismus befaſſen. Dahin gehören felbitverftänd-
lich auch Probleme, die ſich mit außenpolitiſchen Fragen, wie Mandates
ſyſtemen und überſtaatlichen Gedanken befaſſen.
Kael Scheoͤa:
Folgerungen aus Ruhlands Lehren
Heute, wo das Ziel aller vaterlandstreuen Deutſchen, eine nationale
Regierung, endlich erreicht iſt, mögen die Staatsmänner die Lehren Rub-
lands wohl beachten. Der Grundzug ſeines Weſens war den Menſchen und
Tatſachen gegenüber ſtrengſte Wahrhaftigkeit, die keine Anklarheit duldete
und keine Phantaſtereien. Darum war fein Streben, die Wahrheit zu ere
forſchen, auch ſo erfolgreich. Gegenüber den immer wiederkehrenden Ver⸗
ſuchen von Theoretikern und Praktikern unſerer Volkswirtſchaft, die engliſche
wirtſchaftliche Entwicklung als vorbildlich für Deutſchland hinzuſtellen, muß
das Verderbliche dieſes Vorgehens aufs ſchärfſte gekennzeichnet werden. Das
berühmte Werk des Adam Smith über den Reichtum der Nationen hat,
wie ſchon ſein Titel ſagt, einen durchaus mammoniſtiſchen Charakter, der
aber dem Weſen des britiſchen „Krämervolkes“ im höchſten Grade entſpricht.
Hatte doch der größte engliſche Lyriker Lord Byron den Briten ins
Stammbuch geſchrieben, daß „ſie die eine Hälfte der Menſchheit
geſchlachtet, die andere Hälfte geprellt hätten“. Thomas
Carlyle war der erſte Brite, der die Lehren des Adam Smith und ſeiner
Schule als „Anheilswiſſenſchaft“ (dismal science) bezeichnete und
die verheerende Wirkung dieſes „kosmopolitiſchen Individualis⸗
mus“, der die Selbſtſucht zur Triebfeder der ganzen Volkswirtſchaft machte,
ſcharf kennzeichnete. Carlyles Freund und ſchottiſcher Landsmann John
Nuskin hatte nach langen, eingehenden Studien dasſelbe Urteil wie Carlyle
über die britiſche Volkswirtſchaftslehre gewonnen. Aber John Ruskin ſagt
Conrads „Handwörterbuch der Staatswiſſenſchaften“, das ihn vorher
übergangen hatte, in der 3. Auflage folgendes: „Die geſchichtliche Bedeutung
von John Ruskin iſt eine dreifache. Zunächſt hat er mitten in einer Welt,
die faſt ganz von den materiellen Intereſſen beherrſcht wurde, das Banner
des Idealismus aufgepflanzt. Dann hat er im Leben des engliſchen Volkes
der Kunſt eine Stätte zurückerobert; und endlich hat er die landläufigen Kate⸗
gorien der theoretiſchen Nationalökonomie vom ſittlichen Standpunkte
aus einer Reviſion unterzogen, deren Entwicklungslinien für unſere deutſche
Wiſſenſchaft maßgebend werden ſollten.“ Als Ruskin Ende 1860 im Corn⸗
hill⸗ Magazine ſeine Aufſätze gegen die Freiwirtſchaftslehre veröffent-
lichte, entſtand im Publikum wie in der Preſſe gegen ihn die geöhte Ent-
rüftung, die derartig überhand nahm, daß ſich ſchließlich der Verleger der
Zeitſchrift weigerte, dar weitere Aufſätze Nuskins zu veröffentlichen. Bei
der erwähnten großen Bedeutung Ruskins iſt dies Verhalten kennzeichnend
für den engliſchen Geiſt. Thomas Carlyle konnte daher auch mit Recht ſagen,
„daß es wahre Freiheit des Geiſtes nur in Deutſchland
gäbe“, und darum hat er auch mit Recht das Wort geprägt: „Die Zu⸗
kunft Deutſchlands iſt die Zukunft der Welt!“ In jenem
734 Karl Scheda
öffentlichen Skandal iſt Thomas Carlyle fa 8 als En: für John Rustin
getreten. Er ſchrieb ihm: „Ich las Ihre Artikel mit Wolluft, mit Jauchzen
und oftmals mit hellem Gelächter und Braviſſimo⸗Nufen. Ein ſolches Ding,
plötzlich an einem Tag in eine halbe Million vernagelter, britiſcher Hirn⸗
kaſten geſchleudert, wird viel Gutes tun. 500 bewundere an vielen Stellen die
luchsäugige Schärfe Ihrer Logik, die glühende Beißzange, mit der Sie gewiſſe
geſchwollene Baden und aufgeblaſene ‘te anpaden. Gebarren Gie die
nächſten ſieben Jahre bet dieſer Arbeit! ... Inzwiſchen freut es mich, daß =
mich von nun ab mit Ihnen in einer Minorität von zwei Stimmen
Carlyle erwartete auch von Deutſchland die Bildung eines neuen, lebens.
fähigen geſellſchaftlichen Organismus, der die troſtloſe e der
engliſchen Nationalökonomie ablöſen ſollte. Ans iſt ja Carlyle noch bekannt
als der Schöpfer einer großen Lebensbeſchreibung Friedrich des Großen, über
die Fürſt Bismarck ihm zum 80. Geburtstag ſchrieb, „daß er den Deutſchen
unſeren großen Preußenkönig in ſeiner vollen Geſtalt wie eine lebendige
Bildſäule hingeſtellt habe.“ Der von ſeinem Helden begründete Orden
Pour le mérite war die verdiente Belohnung für ſein herrliches Werk und
ſeine ſtets bewährte Freundſchaft für Deutſchland.
In England hatte jedoch 1842 bereits der Kapitalismus mit der Abſchaffung
der Kornzölle ſeinen höchſten Triumph erlebt. Denn dies war, wie Marx
ſelbſt ſpäter erklärte, ein glänzender Sieg des Kapitals, um die Arbeit aus-
zurauben und auszubeuten, was zwangsläufig früher oder ſpäter zur Nevolu⸗
tion führen müſſe. And nur aus dieſem Grunde war Marx auch für den Frei⸗
handel. Die Kapitaliſten in Mancheſter, deren dae die Abſchaffung
der Kornzölle bewirkt hatte, waren mit der größten 1 und
Heuchelei hierbei vorgegangen. Ihr Führer Dr. Bo . dieſem kapi⸗
taliſtiſchen Vorgehen ſogar eine religiöſe Weihe mit den Worten: „Jeſus
Chriſtus iſt der Freihandel; der Freihandel iſt Jeſus Chri⸗
ſtus!“ And die britiſche Geiſtlichkeit ließ ſich für dieſen Schwindel ein⸗
5575 und verhalf dem brutalſten Kapitalismus zum Siege, indem ſie im
amen Gottes Schulter an Schulter für den ausſchweifendſten Kapitalismus
und ſeine Ausbeuterintereſſen kämpfte.
Leider gibt es auch heute bei uns noch viele falſche Propheten, die in der
redlichſten Abſicht, die Leiden unſeres Volkes zu beſeitigen, falſche Wege
vorſchlagen, die in Wahrheit nur zum Verderben gereichen müſſen. Hierzu
gehört vor allem die Irrlehre, daß die wahren und gerechten Preiſe nur
durch das freie Spiel der wirtſchaftlichen Kräfte von Angebot und Nachfrage
K erzielen ſeien. Angebot und Nachfrage ſind keine realen
atſachen. Wir wiſſen, daß an den Getreidebörfen z. B. das Mehrfache
der Welternte in „Papiergetreide“ angeboten und gefragt wird von
Spekulanten, die niemals eine Warenlieferung zur Befriedigung der volks⸗
wirtſchaftlichen Bedürfniſſe bezwecken, fondern nur Gewinne im Haſardſpiel
um das tägliche Brot. Die Lehren der britiſchen Wirtſchaftsgeſchichte ſollten
eindringlichſt warnen, dem Beiſpiele Englands zu folgen. Die
der Kornzölle hat dort den Bauernſtand völlig vernichtet. An Stelle der Gee
meindefluren und Bauerndörfer find Schlöſſer mit Wildparks und Villen mit
Gärten getreten. Das Gold der ſtädtiſchen Kapitaliſten hat das
platte Land ganz aufgefreſſen. England hat das Brot dem
Golde geopfert. Die engliſche Jahresernte reicht heute nicht einmal
Folgerungen aus Ruhlands Lehren 735
mehr für die Ernährung des engliſchen Volkes auf zwei Monate. In einem
England ungünſtigen Kriege, der z. B. mit Amerika droht, iſt mit Sicher⸗
it eine Hungersnot zu erwarten, die das Ende Englands herbeiführen würde.
nd die organifierten Arbeitermaſſen, die dann an ihrem eigenen Leibe er⸗
ahren würden, daß die Jagd nach dem Golde fie um das tägliche
rot betrogen hat, werden blutige Abrechnungen mit den
Ka pitaliſten halten.
Anſere Gelehrten haben, wie Adam Smith ſelber, nicht erkannt, daß zu
ſeiner Zeit bereits die engliſche Volkswirtſchaft durch Vernichtung des Mit⸗
telſtandes ſchwer erkrankt war. Ja, fie lehren ſogar, daß jener Krankheits-
guftand eine höhere Entwicklungsſtufe, die von Deutſchland nachzuahmen fei,
darſtelle. Und die Vernichtung des Mittelſtandes erklären fie als eine zwangs⸗
läufige, unvermeidliche Folge der Technik und widerſprechen deshalb nicht den
verderblichen Bemühungen der Kapitaliſten wie der Marxiſten, den angeb⸗
lich unvermeidlichen Antergang des Mittelſtandes zu beſchleunigen. Ruhland
iſt demgegenüber unermüdlich in der Verkündung der Wahrheit, daß allein im
echten Mittelſtande, der organiſchen Vereinigung von Kapital
und Arbeit in einer Perſon, die Löſung der ſozialen Frage und der
dauernde Friede aller Bürger zu finden ſei. Er beweiſt, daß es nur eine
Löſung der ſozialen Frage gibt, und das iſt die Verhütung des Ge⸗
genſatzes zwiſchen Arbeit und Kapital als Gegenſatz zwi⸗
ſchen verſchiedenen Perſonengruppen. Eine wahre und geſunde
Sozialpolitik kann daher nur in einer energievollen Mittelſtandspolitik be⸗
ſtehen. And da die Geſchichte aller Völker und Zeiten uns
beweiſt, daß ſich der gewerbliche Mittelſtand in den Städ⸗
ten nur bei dem Beſtehen eines kräftigen und gefunden
Bauernſtandes halten kann, fo ift Ruhlands Schlußfolge⸗
rung unwiderlegbar: „Der Kern der ſozialen Frage iſt die
Agrarfrage!“ |
Nun gibt es viele, die das Heil der Wirtſchaftspolitik zwar in hohen
Schutzzöllen gegen das Ausland erblicken, aber im Inland nach der Lehre von
Adam Smith und ſeiner Freiwirtſchaftsſchule das freie Spiel der wirtſchaft⸗
lichen Kräfte fordern. Wir haben bereits darauf hingewieſen, daß Angebot
und Nachfrage im großen Amfange fingierte Faktoren find, demgegenüber
Vorrat und Bedarf als reale Faktoren ſtehen. Die Lehre aber, daß Vorrat
und Bedarf die gerechten Preiſe bilden, wird ſchon dadurch widerlegt, daß
bei einer individuellen Volkswirtſchaft, wo von Millionen Anterneh⸗
mern jeder nach ſeinem Gutdünken und Eigennutz handelt, keiner von ihnen
Vorrat und Bedarf kennen kann. Adam Smith hat ja die Irrlehre von der
Intereſſenharmonie bei freiem Spiel der Wirtſchaftskräfte auf die falſche
„ gegründet von der Gleichheit aller Menſchen. Dieſe Irrlehre
hat in hrheit zum Kampfe Aller gegen Alle geführt, wobei der Kapital-
kräftigere den Schwächeren einfach vernichtet. Ruhland betont daher mit
Recht, daß ſelbſt die mittelalterliche Leibeigenſchaft und ſogar die antike
Sklaverei noch Lichtblicke bieten gegenüber dem kapitaliſtiſchen Syſtem, das
ſich auf dem Trugbilde angeblich freier Konkurrenz aufbaut.
Dem Leibeigenen und dem Sklaven mußte doch fein Herr unter allen Am⸗
ſtänden das Exiſtenzminimum gewähren. Beim kapitaliſtiſchen Syſtem des
freien Spiels der wirtſchaftlichen Kräfte beſtimmt aber der wirtſchaftlich
736 Karl Scheda
Stärkere feine Gegenleiſtung ohne Rückſicht auf das Eriftenz-
minimum der anderen Partei. Deshalb fordert Ruhland mit Recht
die Beſeitigung der kapitaliſtiſchen Grundſätze der freien Preisbildung und
des angeblich freien Vertrages über Leiſtung und Gegenleiſtung. Denn ſie
ſind alle nichts weiter als liberale Heucheleien mit dem
gewollten Zweck zu verſchleiern, daß alle dieſe Freiheiten
in Wirklichkeit nur die wirtſchaftlichen Werkzeuge des
Kapitalismus ſind, um ſich in aller Form Rechtens einen
wucheriſchen Mehrwert aus dem Arbeitsprodukt des Volks-
ganzen anzueignen. Ebenſo verlangt Ruhland die Beſeitigung des
durchaus gemeinſchädlichen Grundſatzes, daß für die Preisbildung
der Waren das Konſumentenintereſſe entfdheidend fet.
An Stelle dieſer falſchen Grundſätze ſollen daher nach Ruhland folgende auf
Gerechtigkeit und Billigkeit beruhende Grundſätze treten:
1. Der Preis der Arbeitserzeugniſſe wird grundſätzlich nach der Höhe der
Produktions- oder Reproduktionskoſten, alſo nach dem Buch⸗ oder
Sachwert (justum prätium) feſtgeſetzt.
2. Die Aufrechterhaltung dieſer Preisgrundlage erfolgt durch den Zu⸗
ſammenſchluß der beteiligten Produzentengruppen.
3. Nicht das Konſumentenintereſſe ijt der Leitſtern, ſondern der Grund-
ſatz: „Jeder redlichen Arbeit ihren gerechten Lohn!“
Erſt dieſe Ausſchaltung der Preisdifferenz fichert die wahre wirtſchaftliche
Freiheit und Selbſtändigkeit des einzelnen ſowie die harmoniſche Entwick⸗
lung der einzelnen Erwerbsſtände im Verhältnis zueinander.
Ruhland verlangt deshalb Syndikatsbildung auf der ganzen
Linie des Erwerbslebens. Das Syndikat ſchafft eine planmäßige
Ordnung der Produktion und der Preisbildung für alle angeſchloſſenen Ein⸗
zelwirtſchaften. Mit den Verkaufskontoren der Syndikate fällt auch die ſo
ſchädlich wirkende Börſe weg. Das Kapital, das heute die Arbeit beherrſcht
und ausbeutet, wird dann wieder der Diener der nationalen Arbeit.
Die heutige Syndikatstendenz zur Vertruſtung der Produktion wird gründ-
lichſt beſeitigt.
Der verfügbare Naum geſtattete nur eine kleine Skizze des srobartigen
Planes Nuhlands für eine neue, volksorganiſche Rechts⸗ und Wirt
ſchaftsordnung zu geben. Eine beſonders wichtige Folge derſelben iſt der
Wegfall des unter der heutigen kapitaliſtiſchen Wirtſchaftsordnung ſtets
wirkſamen Anreizes, den Lohn der Hilfsarbeiter ſo niedrig als
möglich zu halten. Bei der freien Konkurrenz wird der Warenpreis des
Produzenten durch die anderen Produzenten diktiert. Er wird dadurch ge⸗
zwungen, ſeine Produktionskoſten möglichſt zu verbilligen und damit auch
die Lohnſätze feiner Hilfsarbeiter möglichſt tief * halten.
Hierdurch entſteht der verderbliche Intereſſengegenſatz zwiſchen Arbeitgebern
und den Hilfsarbeitern derſelben Berufsgruppe, der zum volksvernich⸗
tenden Klaſſenhaß und Klaſſenkampf führt. Nach Ruhlands
volksorganiſcher Wirtſchaftsordnung wird dem ſelbſtändigen Produzenten
ſein Geſamtarbeitsertrag gewährleiſtet nach dem „geſellſchaftlichen
Koſtenwert“, dem „Buch- oder Sachwert“. Erfolgt dann die Syn⸗
dizierung der Produktion nicht nach den heutigen privatwirtſchaftli⸗
chen Verhältniſſen, ſondern nach allgemeinen volks wirtſchaftlichen
Folgerungen aus Ruhlands Lehren 737
Grundſätzen, Dann iff die Feſtſetzung auch guter, ausgiebiger
Arbeitslöhne im eigenen Intereſſe des Anternehmers und
ſomit eine Selbſtfolge der neuen Wirtſchaftsordnung.
Ruhland war, wie alle genialen Menſchen, durchaus beſcheiden. Wiederholt
führte er den Ausſpruch des Fürſten Bismarck an, „daß die Reviſionen
der Geſchichte noch viel genauer ſeien als die der Oberrech⸗
nungskammer“. Ruhland glaubte auch, daß ebenſo über ſeine Lebens⸗
arbeit der unbeſtechliche Richter, die Zeit, entſcheiden würde zwiſchen den
Leiſtungen, die nur vorübergehende Bedeutung hatten und feinen Wahr⸗
heitserkenntniſſen von dauerndem Wert. Seit faſt 20 Jahren ruht dieſer treue
Sohn unſeres Volkes in feiner letzten Ruheſtätte in Bad Tölz. Die Gelehr⸗
ten verſchweigen pflichtwidrigerweiſe die Ergebniſſe feiner Lebensarbeit. Am
ſo mehr haben die praktiſchen Staatsmänner die Aufgabe
und die Pflicht, ſich mit Ruhlands Ideen vertraut zu ma-
chen und feſtzuſtellen, welche derſelben für den Wieder
aufſtieg unſeres gequälten Volkes von Bedeutung ſind.
Die Geſchichte beweiſt, daß individualiſtiſche Zeiten und Verhältniſſe
immer nur verhältnismäßig kurze Zeiträume zwiſchen organiſchen Geſell⸗
ſchafts⸗ und Wirtſchaftsordnungen bilden. So iſt heute eine neue, den jetzigen
Verhältniſſen angepaßte Organiſation unſerer nationalen Arbeit eine Lebens⸗
base. Hierfür liegt bisher, nachdem der freiwirtſchaftliche Kapitalismus des
m Smith und der Marxismus überwunden find, nur ein Plan vor, der
Plan Ruhlands.
Gegenüber den Anhängern der ſogenannten „Freiwirtſchaft“ fei hervor-
gehoben, daß bereits in der Kaiſerlichen Botſchaft vom 17. November 1881,
die unſere Sozialgeſetzgebung einleitete, Fürſt Bismarck ſelber die Anſicht
ausgeſprochen hat: „Es iſt eine der höchſten Aufgaben jedes Ge-
meinweſens, das auf denſittlichen Fundamentendeschriſt⸗
lichen Volkslebens ſteht, den engeren Anſchluß an die
realen Kräfte des Volkslebens durch das Zufammenfaſſen
desſelben in der Form korporativer Genoſſenſchaften
N Schutz und ſtaatlicher Förderung zu fin⸗
den.“ Dieſe körperliche Eingliederung jedes einzelnen in
die non. aufder ganzen Linie unferes
Erwerbslebens bei innigſter V. der ſittlichen
Freiheit der Arbeit: das bedeutet nach Ruhland auch heute
noch die eigentliche Löſung unferer ſozialen Fragel
Robert Dünges:
CONFEDERAZIONE NAZIONALE FASCISTA
DEGLI AGRICOLTORI
(Faſchiſtiſcher Nationalverband der Landwirte) *)
Statuten
Abſatz I
Gründung und Aufgaben
Art. 1 |
Auf Grund des Art. 41 der Beſtimmungen zur Anwendung des Geſetzes
vom 3. April 1926, N. 563, betr. geſetzliche Regelung der kollektiven Arbeits-
verhältniſſe wird ein Verband höheren Grades mit dem Namen:
CONFEDERAZIONE NAZIONALE FASCISTA AGRICOLTORI
gegründet. Ä
Der Verband, der das Eigentum nicht nur als abfolute Herrſchaft des
Menſchen über die Sachen betrachtet, ſondern als eine geſellſchaftliche Auf⸗
gabe, und die landwirtſchaftliche Produktion nicht als ein Mittel zur Be⸗
reicherung, ſondern als Pflicht gegenüber dem Volke, macht es ſich zu ſeiner
ſteten Aufgabe, die Beziehungen zwiſchen den eigenen Verbänden und denen
der Arbeiter zum Zwecke einer Zuſammenarbeit zu beeinfluſſen.
Der Generalverband hat ſeinen Sitz in Rom und iſt für das ganze Gebiet
des Königreiches zuſtändig. Er übernimmt, juriſtiſch anerkannt, in den von
Geſetzen, Beſtimmungen der Regierung und den vorliegenden Statuten
. Grenzen die nationale Vertretung aller ihm angeſchloſſenen
erbände.
Art. 2
Der Generalverband beſteht aus:
a) den Verbänden erſten Grades der Landwirte und ee eh
1 die ähnliche oder mit der Landwirtſchaft verbundene gkeit
ausüben;
b) den nationalen Verbänden (Federazioni Nazionali di categoria);
c) den Verbänden, Vereinen und Anterſtützungsinſtituten, die auf Grund
des Art. 4 des Geſetzes vom 3. April 1926, N. 563, gegründet worden
ſind.
Die Verbände zu a und die Inſtitute zu e können ſolche fein, deren Zuftän-
digkeit ſich auf eine oder mehrere Provinzen, auf eine oder mehrere Regionen
oder auf das ganze Gebiet des Königreiches erſtreckt.
*) Als Beitrag zur Frage der berufsſtändiſchen Gliederungen veröffentlichen
wir im Nachſtehenden eine Abertragung der Statuten des faſchiſtiſchen National-
verbandes der Landwirte.
Confederazione nazionale fascista degli agricoltort 739
Art. 3
Zuſtändigkeit des Generalverbandes
Dem Generalverband ſteht die Aufgabe zu, die Intereſſen der Landwirt⸗
ſchaft zu nn. und im Einklang mit den höheren der Nation zu ſchützen.
Für die Erreichung ſeiner Ziele liegt dem Generalverband ob:
a) die gewerkſchaftliche Eingliederung aller im Verband zuſammengeſchloſ⸗
ſenen Anternehmungen nach den Zielen der Nation und gemäß den Ane
ordnungen der zuſtändigen Regierungsſtellen zu regeln:
b) in bezug auf Staatsgeſetze und die Notwendigkeit, daß die vertretenen
Tätigkeiten größte Wirkſamkeit im Intereſſe der nationalen Wirtſchaft
haben, Leitſätze feſtzuſetzen, die von allen abhängigen Verbänden in ge⸗
werkſchaftlichen Fragen, die im ganzen oder zum Teil die zuſammen⸗
gel eſchloſſenen Kategorien angehen, beachtet werden müſſen;
c) Richtſchnur zu geben und Verordnungen zur Zuſammenfaſſung der
Initiativen der abhängigen e auszuführen, damit eine ein⸗
heitliche Tätigkeit derſelben und die beſte Zuſammenarbeit zwiſchen
ihnen und den anderen Faktoren der Produktion erzielt wird;
d) die in den von ihm abhängigen Verbänden zuſammengeſchloſſenen Mite
glieder vor den politiſchen und Verwaltungsbehörden, vor den entſpre⸗
chenden gewerkſchaftlichen Vereinigungen und anderen Verbänden der
Arbeitgeber, vor dem Arbeitsgericht und zuletzt vor Vereinen und Ver⸗
bänden geſetzlich zu vertreten, die die Mitglieder intereſſierende Ziele
haben. Nach vorheriger Zuſtimmung der Regierung kann die Vertretung
der Mitglieder und der zuſammengeſchloſſenen Verbände auch außer⸗
halb des Königreiches von der Confederazione übernommen werden;
e) ſich auf Verlangen der Parteien für eine gütliche Beilegung der Streit⸗
fragen und fälle einzuſetzen, die zwiſchen den abhängigen Vereinigungen
nn 1 8 dieſen und anderen gewerkſchaftlichen Organiſationen ent⸗
te
f) die wulſchftichen, techniſchen und juriſtiſchen Fragen von Allgemein-
intereſſe zu ſtudieren; unter den Landwirten das Pflichtbewußtſein
gegenüber der Nation zu fördern und im ganzen Volke für Verbreitung
der Kenntnis der nicht nur wirtſchaftlichen Wichtigkeit der Landwirt ⸗
ſchaft einzutreten;
g) kollektive e Arbeitsverträge aufzuſtellen, die die vertretenen Arbeitgeber-
intereſſen angehen; den von ihm abhängigen Verbänden bei der Abfaſ⸗
ſung von Verträgen ihrer Zuſtändigkeit behilflich zu ſein und ſie zu
erſetzen, wenn die Verträge Allgemeincharakter oder beſondere Wichtig⸗
keit für die angeſchloſſene Mitgliedſchaft haben, oder falls die Vereini⸗
gungen ſelbſt nicht zu einem Ergebnis kommen;
h) eigene Vertreter 5 wählen oder vorzuſchlagen für alle Organe, Bere
einigungen und Verſammlungen mit den zuſammengeſchloſſenen Unter
nehmungen betreffenden Intereſſen oder Dienſten, wo dieſe Vertretun⸗
gen gefordert oder erlaubt find
i) onl den Geſetzen Kandidaten zu den Parlamentswahlen vorzu⸗
gen
k) die zugehörigen Verbände 8. ermächtigen, Schritte beim Arbeitsgericht
i een wenn die Verſuche einer gütlichen Einigung geſcheitert
e
9
740 Robert Dünges, Confederazione nazionale fascista degli agricoltori
) die Gründung von neuen gewerkſchaftlichen Verbänden oder Anter⸗
ſtützungsinſtituten zu fördern, wenn es als notwendig oder als zur Ein⸗
nn von Mitgliedern oder zur Erreichung der Ziele des Art. 1
2 des Geſetzes vom 3. April 1926, N. 563, gelegen erachtet wird;
m) die Erhöhung des landwirtſchaftlichen 1 und die Minderung der
Herſtellungskoſten zu erreichen, indem er die Bodenumgeſtaltung, den
Erhalt und Erweiterung des Torſtbeſitzes, die zootechniſche Verbeſſe⸗
rung, die Vervollkommnung der Bearbeitungsmethoden, die qualitative
Verbeſſerung der Produkte, die Verbeſſerung der landwirtſchaftlichen
Induſtrien, den guten Abſatz und den Agrarkredit fördert, auch durch
Gründung beſonderer Organiſationen und immer unter Beachtung der
Vorſchrift des Art. 22 des Kgl. Geſetzes vom 1. Juli 1926, N. 1130;
n) zum Studium und Verwirklichung der Verordnungen beizutragen, die
zu einer beſſeren Zuſammenarbeit mit den anderen Faktoren der natio⸗
nalen Wirtſchaft beſtimmt find;
o) in Zuſammenarbeit mit den entſprechenden gewerkſchaftlichen Verbän⸗
den der Arbeitnehmer die Maßnahmen zur weiteren Entwicklung der
vaterländiſchen Erziehung und dem wirtſchaftlichen Wohlergehen der
Arbeiter zu ftudieren;
p) all die anderen Aufgaben und Funktionen zu erfüllen, die ihm von Ge⸗
ſetzen, Verordnungen und Verfügungen der zuſtändigen Staatsbehörde
anvertraut werden.
Abſatz II
Von den zugehörigen Vereinigungen
Art. 4
Zugehörige Vereinigungen, Beſtimmungen für die Zulaſſung
Am als Mitglied zu dem Generalverband zugelaſſen zu werden, müſſen die
noch nicht anerkannten Vereinigungen und Anterſtützungsinſtitute an den
Vorſtand des Generalverbandes einen von den eigenen Satzungen und einem
Bericht über den Arſprung und die von der Gründung bisher entfaltete Tä-
tigkeit begleiteten Antrag richten, nebſt der Mitgliederliſte und einer Aufftel-
lung der mit einem Amt betrauten Perſonen.
Beſagter Antrag muß eine ausführliche Erklärung enthalten, daß die vor⸗
liegenden Statuten ſowie ſämtliche Beſchlüſſe und Anordnungen, die vom
Generalverband herausgegeben werden, beachtet werden.
Dem Generalverband ſteht es zu, die Annahme des Antrages von der Ne⸗
viſion der Satzungen oder anderen Förmlichkeiten abhängig zu machen.
Der Antrag wird der Verbands⸗Kommiſſion vorgelegt, wenn er angenom-
men wird, fo muß der Vorſtand des Generalverbandes vom Korporations⸗
miniſterium die geſetzliche Anerkennung der gewerkſchaftlichen Vereinigung
rn die Zuſchreibung der juriſtiſchen Perſon für Anterſtützungsinſtitute er⸗
itten.
Wenn der Antrag abgelehnt wird, fo unterrichtet der Verband das Korpo⸗
rationsminiſterium davon, indem er die genauen Gründe angibt, die zu der
Ablehnung geführt haben. Es ſteht der in Frage kommenden Vereinigung zu,
gemäß dem Geſetze bei dem genannten Miniſterium Berufung einzulegen.
Karl Motz, Liberalistische Donauraumpolitik 741
Wenn nach feds Monaten von dem Datum der Antragſtellung der Gene⸗
ralverband nicht ſeine Entſcheidung mitgeteilt hat, ſo bedeutet das, daß der
Antrag nicht angenommen worden iſt, und es ſteht jetzt der Vereinigung zu,
von der im vorigen Abſatz eingeräumten Berufung Gebrauch zu machen.
Art. 5
Gebührenerhebung
Die Gebührenerhebung ſteht nur den regelrecht eingeſchriebenen und ju⸗
riſtiſch anerkannten Verbänden zu. Sie find verpflichtet, dem Generalverband
ſämtliche Anterlagen, Mitteilungen und Daten zu liefern, die von ihm in
ſeinem Aufgabenbereich angefordert werden.
Art. 6
Dauer und Widerruf der Mitgliedſchaft
Die Einſchreibung bei dem Generalverband verpflichtet die Vereinigungen
zur zeitlich unbegrenzten Mitgliedſchaft.
Die Vereinigung, deren juriſtiſche Anerkennung widerrufen wird, ſcheidet
damit als Mitglied des Generalverbandes aus.
Art. 7
Verhältnis und Pflichten der Vereinigungen dem Generalverband gegenüber
Das Verhältnis der verſchiedenen den Generalverband bildenden Vereini⸗
gungen untereinander wird durch Anweiſungen des Generalverbandes geregelt.
— Alle den Generalverband bildenden Verbände find verpflichtet, dieſen über
alle befonders wichtigen Fragen zu unterrichten, insbeſondere aber über das,
was kollektive Arbeitsverträge angeht, die zwiſchen ihnen und den betreffenden
gewerkſchaftlichen Vereinigungen der Arbeitnehmer entſtehen.
Karl Motz:
Liberaliſtiſche Donauraumpolitik
Die verſchiedenen Pläne der „Donaukonföderation“, von denen in den lege
ten Jahren fo viel geſprochen wurde, beabfichtigen einen engeren Zuſammen⸗
ſchluß der europäiſchen Südoſtſtaaten, die an der Donau liegen. Das find
Rumänien, Jugoſlawien, die Tſchechoſlowakei, Ungarn
und Oſterreich. Schließlich wollte man auch noch Bulgarien hinzu⸗
nehmen. Der Leitgedanke war die Wiederherſtellung eines Staa⸗
tenfompleres, der ungefähr dem der ehemaligen öſter⸗
reichiſch⸗ungariſchen Monarchie entſprach. Man ſprach von
dem eigenen wirtſchaftlichen Geſetz, das in all dieſen Donauſtaaten zum Aus⸗
druck käme. Die außenpolitiſchen Kämpfe aber gingen im weſentlichen um die
742 Karl Motz
Frage, ob Deutſchland mit feinen 600 Kilometer Donauufer in dieſe
Föderation einbezogen werden ſollte oder nicht. Während bis zu dieſem
Punkte „wirtſchaftlich“ begründet wurde, hörte das an
dieſer Stelle plötzlich auf. Ohne Deutſchland hätte in einem ſolchen
Staatenkomplex das Schwergewicht von vornherein auf der franzöſiſchen
Gruppe der „Siegerſtaaten“ gelegen. Der Druck eines 70⸗Millionenvolkes von
Deutſchland und Oſterreich wäre aber der franzöſiſchen Linie in einem ſolchen
Zuſammenſchluß um fo gefährlicher geworden, als Millionen von auslands⸗
deutſchen Gruppen im weiteren Südoſten dieſem deutſchen Block hingugerech⸗
net werden müſſen. Wirtſchaftlich betrachtet liegt allerdings die Sache ſo, daß
ohne Deutſchland ein wirtſchaftlicher Ausgleich dieſes neuen Staatenbundes
gar nicht hätte geſchaffen werden können, da die erſtgenannten Gruppen über
einen unerhörten Aberſchuß an Agrarprodukten verfügen.
Es ſoll hier zunächſt nicht die Frage geſtellt werden, ob von unſerem natio⸗
nalſozialiſtiſchen Geſichtspunkt aus geſehen ein folder Ausgleich — eine Sta⸗
biliſierung der heute gegebenen ſozialen Schichtung Deutſchlands — wün⸗
ſchenswert iſt oder nicht. Ich möchte lediglich darauf aufmerkſam machen, da
ja tatſächlich das Problem gar nicht in erſter Linie als „Wirtſchaftsplan
aufgefaßt werden kann. Wenn man den Gedanken einer von nationalpolitiſchen
Zielſetzungen ungebundenen Wirtſchaft bejaht, dann hätte es in dieſem Punkte
nur eine Meinung geben können. Daß das nicht ſo war, iſt ein klarer Beweis
dafür, daß wirtſchaftliche Geſichtspunkte Eu nur das bekannte fromme
Mäntelchen für ganz andere Wünſche abgeben. Weil die politiſchen Wünſche
beiderſeits nach entgegengeſetzten Richtungen zogen, erfolgte — nur natür⸗
licherweiſe — ſchließlich praktiſch gar nichts.
Im Rahmen einer zukünftigen deutſchen Oſtpolitik ſpielt der europäiſche
Südoſten eine wichtige Rolle. Deshalb kann es nicht wundernehmen, daß
EN in der augenblicklichen Amwälzung auf allen Lebensgebieten unferes
olkes die Auseinanderſetzungen über dieſes grundſätzliche Gebiet wieder
beſonders „aktuell“ geworden ſind. Das iſt — nebenbei geſagt — auch der
Grund, der uns jetzt gerade zu einer grundſätzlichen Stellungnahme aus un-
ſerem weltanſchaulichen Geſichtswinkel heraus veranlaßt.
9 an kurzer Zeit fand ſich in einer einwandfrei nationalen Zeitſchrift etwa
olgendes:
„ .. die natürliche wirtſchaftliche Anziehungskraft, die die ſtärkſte Wirt⸗
ſchaftsmacht Mittel⸗ und Oſteuropas, Deutſchland, in erſter Linie als
zu gewinnender Abnehmer von Bodenerzeugniſſen, aber
auch als Lieferer induſtrieller Erzeugniſſe von welt⸗
berühmter Beſchaffenheit auf den Südoſten ausübt ...“, müſſe zur
treibenden Kraft der deutſchen Oſtpolitik gemacht und damit zur Durchkreuzung
der deutſchſeindlichen franzöſiſchen Oſtpolitik eingeſetzt werden.
In dieſer Feſtſtellung fordert der Verfaſſer — und mit ihm alle „nationalen
Wirtſchaftskreiſe“, die heute die wirtſchaftlich eingeſtellte Donauraumpolitik
wünſchen — aus politiſchen Gründen eine Entwicklung der
Wirtſchaftspolitik nach Südoſten. Wir verſtehen uns recht —
wenn die Wirtſchaft auf der einen Seite als abſolute Kraft ohne nationale
Bindung angeſehen wird, dann iſt uns immer noch dieſe Auffaſſung lieber.
And doch ſtecken in einer ſolchen Formulierung zwei Sünden wider
Tatſachen und Grunderkenntnifſe unſerer Weltanſchau⸗
Liberalistische Donauraumpolitik __ 743
ung. Der Aberſichtlichkeit halber wollen wir die Anhaltbarkeit dieſer zwei
direkten oder ſtillſchweigenden Behauptungen gleich unmittelbar aufzeigen:
1. Wenn wir den wirtſchaftlichen Tauſchverkehr mit den Donauftaaten im
vollen beabſichtigten Amfange ankurbeln, werden dieſe Staaten eine deutſch⸗
freundliche oder jedenfalls nicht franzöſiſch eingeſtellte Politik verfolgen.
Wenn das fo wäre, dann müßte alſo die Politik der wirtſchaft⸗
lichen Entwicklung folgen. An der gegenteiligen Tatſache iſt aber
bereits die „Weltwirtſchaftsidee“ zuſammengebrochen. Die Wirtſchaft iſt nur
ein Teil der Waffen im Lebenskampfe der Völker. Aberall, wohin wir auf
der Welt ſehen, muß ſie heute hinter wichtigeren Geſichtspunkten zurücktreten. So
wird z. B. in allen Staaten der Erde die nationale Unabhängigkeit von der Ein-
fuhr lebensnotwendiger Verbrauchsgüter erkämpft, entgegen allen Nentabilitäts⸗
berechnungen der Wirtſchaftler. Es iſt alſo umgekehrt: Die Politik folgt
nicht der Wirtſchaft, ſondern die Wirtſchaft bewegt ſich
notwendiger weiſe in jedem Staat auf den Bahnen, die ihr
die politiſche Notwendigkeit vorzeichnet. Dieſe Tatſache haben
es . an dem Beiſpiel unſerer Donaukonföderation auch oben bereits feſt⸗
geſtellt.
Das heißt mit anderen Worten: Auch wenn wir eine Wirtſchaftspolitik des
möglichſt umfangreichen Tauſches von Induſtriewaren gegen Agrarprodukte
des Südoſtens treiben würden, wäre deshalb noch lange nicht geſagt, daß
nun die Nachfolgeſtaaten auch eine deutſchfreundliche Politik treiben müßten.
Es iſt vielmehr bei Betrachtung der tatſächlichen Lage nach wie vor das
Gegenteil zu erwarten. Denn wichtiger als alle Wirtſchaftsrechnungen iſt
das große Geſpenſt „Revifion der Friedensverträge“, das über allen Nach⸗
folgeſtaaten ſchwebt. An dieſer Tatſache kommt kein Wirtſchaftler vorbei.
Die gemeinſame Angſt vor der Revifion treibt bisher die kleinen Staaten⸗
gebilde des Südoſtens unter die Fittiche derjenigen Großmacht, die ſie als
ſicherſten Garanten des heutigen Gebietszuſtandes anſehen. And das iſt eben
Frankreich. In dieſem Drang, unter den Schutz eines größeren Staates zu
flüchten, werden ſie beſtärkt durch ihre unmöglichen inneren Verhältniſſe, an
denen die Nachfolge⸗Siegerſtaaten beinahe ohne äußeren Anſtoß von innen
her zu zerbrechen drohen. Gegenüber etwa 70% Rumänen ſtehen in Numä⸗
nien etwa 30% z. T. feindliche Minderheits⸗ Volksgruppen. In Sugoflawien
gibt es nur etwa 57,9% Serben. Alles andere ſteht mehr oder minder gegen
den Staat. In der Tſchechoſlowakei gibt es gar nur 43,2% Tſchechen. Alle
anderen Volksgruppen werden unterdrückt und find zum großen Teil alles
andere als Freunde dieſes Staates.
Das find die politiſchen Triebſedern dieſer Staaten. Was hat dieſen Tate
ſachen gegenüber die rein wirtſchaftliche Seite zu bedeuten? And es wäre ja
auch unfinnig zu behaupten, daß etwa wirtſchaftliche Intereſſen heute die
Nachfolgeſtaaten mit Frankreich verbänden. Kredite ſind ja bekanntlich vom
anzöſiſchen Rentner nicht mehr zu erwarten. Da Frankreich nahezu autark
ſt, denkt es auch gar nicht daran, etwa aus den Südoſtſtaaten in nennens⸗
wertem Amfang Lebensmittel einzuführen. Die Tatſache aber, daß Frankreich
von Monat zu Monat wie der Jude Shylock kommt, um ſeine Zinſen ein⸗
gutreiben, iſt eher geeignet, die kleine Entente aus dem franzöſiſchen Fahr⸗
waſſer herauszudrängen, als eine freundſchaftliche Bindung darzuſtellen. Die
Agrarpolitik Heft 10, Bg. 3
744 Karl Motz, Liberalistische Donauraumpolitik
Bindungen find fomit im wefentlichen . Natur. Die franzöfiſche
Wirtſchaftspolitik aber hat dieſen Ta
Es iſt ſomit vollſtändig irrig, eine politiſche Ausgabe wie die der deutſchen
Oſtpolitik durch Vergleich von Ernteſtatiſtiken in Angriff ua 1 wollen.
Denn es ſtehen dieſen Dingen wichtigere Geſichtspunkte gegenüb
2. Die zweite grundſätzlich alſche e die in der beat
Gormulierung der Linie nach Südoften enthalten iſt, kann etwa fo zuſammen⸗
gefaßt werden:
Da wir ein Induſftrieſtaat find, liegt auch für uns ein folder Austauſch
von Induſtriewaren gegen Agrarprodukte in unſerem Intereſſe.
Die Gründe, die eine ſolche Auffaſſung widerlegen, find ſchon fo oft aus⸗
einandergeſetzt worden, daß hier eine kurze Zuſammenfaſſung genügt. Die
deutſche Landwirtſchaft kann die Auslandskonkurrenz auf die Dauer aig
aushalten, da ihre Produktions⸗ und Raumverhältniffe zu ungünſtig
Sie muß aber erhalten werden, da das . e Deutſchtum Tröger und
Treuhänder jahrtauſendealter Erbwerte unſeres Volkstums iſt und w
ſchaftlich geſehen nur die Sicherung der Ernährung aus eigener Scholle pie
politiiche Unabhängigkeit vom Auslande gewährleiſtet.
Wer die völkiſche Zielſetzung anerkennt, daß die Siche⸗
rung des Beſtandes des deutſchen Volkes die ufgabe der
deutſchen Politik ſein muß, kann infolgedeſſen in der libe⸗
raliſtiſchen „Donauraumpolitik“ nicht die Zukunftslinie
der deutſchen Außenpolitik ſehen. Das ſoll natürlich nun nicht
heißen, daß es falſch hake an der Zuſammenarbeit mit den Südoſtſtaaten zu
arbeiten. Gegenteil. Deutſchland wird es fider freudig begrüßen, wenn
es mit ſeinen näheren und weiteren Nachbarn im Südoſten zu guter und
allen Beteiligten nützlicher Zuſammenarbeit kommt. And das iſt ja auch noch
zu ſagen, daß die Intereſſen, die die kleinen Nachfolgeſtaaten mit Frankreich
verbinden, wie oben bereits angedeutet, immer geringer werden. Der Weg
zu einem vollen Zuſammenklang wird aber erſt nach der
Klärung der großen politiſchen rage offen ſein. Hüten
wir uns deshalb mit den Feinden der neuen Staatsidee von
„Blut und Boden“ zuſammenzugehen, indem wir dem
Schlag wort „Donauraum“ nachlauſen, wie unſere Vor-
jahren vor 1000 Jahren der Kreuzzugsidee und das letzte
ahrhundert der Weltwirtſchaftsilku ion. Als Feinde be⸗
zeichnen wir diejenigen, die ſich auch heute noch nicht abgewöhnen können,
nach der Methode des volksfremden Liberalismus in der Höhe der Ausfuhr-
ziffern unſerer Exportinduſtrie das weſentlich anzuſtrebende Ziel der deut⸗
ſchen Wirtſchaftspolitik zu ſehen und diejenigen, für die grundſätzlich eine
andere als nationale Zielſetzung den Leitſtern ihres politiſchen enkens abe
gibt. Anſere Oſtraumidee aber knüpft an an die Tradition der deutſchen Oſt⸗
koloniſation über die Jahrhunderte hinweg als neue Raumpolitif eines
lebensgeſetzlich richtigen Staatsgedankens. —
Das Archiv
Noch nie war bisher eine Berichts
zeit ſo angefüllt von Ereigniſſen, wie
die vergangene. Das deutſche Volk iſt
in eine Epoche von gigantiſcher poli-
tiſcher Geſtaltung getreten. Noch iſt es
unmöglich, den Wert und die Wichtig⸗
keit der einzelnen Geſchehniſſe gegen-
ſeitig abzuwägen, zu erfaſſen und zu
begreifen, denn es bleibt dem Betrach-
ter keine Zeit zum geruhſamen Nach-
denken. And doch müſſen wir ſchon jetzt
einzelne Handlungen herausſchälen und
fie wegen ihrer Bedeutung für die Zu⸗
kunft feſtzuhalten verſuchen. Das agrar-
politiſche Ereignis, welches für die Zu⸗
kunft von ausſchlaggebender Bedeu⸗
tung für das deutſche Bauerntum ſein
wird, iſt die Bildung der Reids-
führergemeinſchaft des deut⸗
chen Bauernſtandes unter der
Führung von R. Walther Darre.
Dieſer Zuſammenſchluß wird für die
Zukunft die Grundlage einer einheit-
lichen Standesorganiſation für den
deutſchen Bauern bilden und wird aus
dieſem Grunde die politiſche Geſchichte
des deutſchen Volkes maßgebend be⸗
einfluſſen.
Es iſt natürlich, daß ein ſolcher Zu⸗
ſammenſchluß in der geſamten Preſſe
eine lebhafte Behandlung gefunden
hat. Ich werde deshalb nachfolgend ein-
gehender als fonſt dieſe Preſſeſtimmen
behandeln.
Zunächſt iſt die beachtenswerte Sate
fade feſtzuſtellen, daß die rein partei-
mäßig eingeſtellte Preſſe der
Deutſchnationalen Volks-
partei, vor allem die dem Hugen-
berg⸗Konzern angehörigen Erzeugniſſe,
keinerlei Kommentar zu dieſem bedeu-
tenden Ereignis veröffentlichen. Zum
Teil wurde die Nachricht in dieſen
Blättern ſogar in gekürzter Form und
an möglichſt unauffälliger Stelle ge⸗
bracht. Inwieweit hier eine Abſicht
vorliegt, iſt nicht meine Aufgabe näher
zu unterſuchen.
3°
Am bei der demokratiſchen Preſſe
anzufangen, führe ich zunächſt einige
Stellen aus dem Kommentar der
„Vofſiſchen Zeitung“ vom 5. 4.
1933 über die Reichsführergemeinſchaft
der deutſchen Bauern an. Sie ſchreibt:
„‚Gleichſchaltung,, wie der neue Aus-
druck lautet, und Vereinheitlichung
find die Ziele, die in dieſen Wochen bei
der Amgeſtaltung des öffentlichen Le⸗
bens verfolgt werden. Die ſtaatlichen
und nichtſtaatlichen Körperſchaften fol-
len vom ſeltenen Geiſt beſeelt ſein, und
ſie ſollen durch die Zuſammenfaſſung
ihren Willen kraftvoller durchſetzen kön⸗
nen, oder doch dem Willen der Regie⸗
renden leichter zugänglich ſein.“ —
„Die Vereinigung der Deutſchen chriſt⸗
lichen Bauernvereine, deren Präſident
der kürzlich in Haft genommene, von
jeher viel umſtrittene Miniſter a. D.
Hermes war, wird alſo in abſehbarer
Zeit als ſelbſtändige Organiſation ver-
ſchwinden. Ihr Zweck war urſprünglich,
ein bäuerliches Gegengewicht gegen die
im Landbund beſonders wirkſam ver⸗
tretenen Intereſſen des Großgrundbe⸗
fies zu fein. Hinzu kam die konfeſſio⸗
nelle Bindung; die Organiſationen der
Vereinigung wurzeln im katholiſchen
Deutſchland, und der Spitzenverband
ſtand dem Zentrum nahe. Im Gegen-
ſatz zu der kleineren „Deutſchen Bau⸗
ernſchaft“ gehörte die Vereinigung je⸗
doch ſeit langem zur „Grünen Front“,
deren Vorkämpfer der Landbund iſt,
und ihre Politik unterſchied ſich nicht
weſentlich von der des Landbundes.“
Das „Berliner Tageblatt“
vom 5. 4. ſchreibt u. a.: „Rein zahlen⸗
mäßig geſehen ſtellt die neue Organi-
ſation eine impoſante Macht dar. Der
Reichslandbund hat (nach früheren
Mitteilungen) 1,7 Millionen landwirt-
ſchaftliche Betriebe als Mitglieder or.
ganiſiert; die Bauernvereine, die bis.
her, unter der Führung von Hermes,
der Zentrumspartei naheſtanden, wei⸗
746 Das Archiv
fen einen Mitgliederbeftand von 580 000
Betrieben auf. Die deutſche Bauern-
ſchaft wird ungefähr 60 000 Betriebe
organifiert haben, und ebenſo groß mag
der Mitgliedsbeſtand des Baperiſchen
Bauernbunds ſein. Insgeſamt ergibt
ſich damit eine Mitgliederzahl von weit
über zwei Millionen — immer nach
landwirtſchaftlichen Betrieben, alſo nicht
nach Einzelperſonen gerechnet.“ — „Die
geſtern im Grundſätzlichen geſchaſfene
Einheitsorganiſation iſt dazu berufen,
die Erbſchaft jener kartellartigen Ver⸗
einigung der großen agrarpolitiſchen
Verbände anzutreten, die, im Früh⸗
jahr 1929 von Schiele und Hermes,
Brandes und Fehr geſchaſfen, unter
dem Namen „Grüne Front“ bekannt
geworden iſt. In einem Punkte aller-
dings wird fi Der neue Verband von
jener wenig glüdlichen Inſtitution des
Vier ⸗Präfidenten⸗Kollegiums grundfäg-
lich unterſcheiden: nämlich darin, daß
er nicht mehr von der Oppofition gegen
die ſtaatliche Agrarpolitik Leben und
Bedeutung erhält. Die Zeiten, in denen
ein hemmungsloſer Kampf gegen die
wirtſchaftspolitiſchen Maßnahmen des
Staates den alleinigen Inhalt der Ver⸗
bandstätigkeit abgeben konnte, find
wohl jetzt ein für allemal dahin.“ —
„Wenn jetzt unter veränderten Verhält-
niſſen der Wille zur berufsſtändiſchen
Einheit erſolgreich zum Durchbruch
kommt, ſo glauben wir, dieſe Entwick⸗
lung unbedingt begrüßen zu können,
vor allem in der Hoffnung, daß ſich in
der neuen Organiſation das Schwer
gewicht der bäuerlichen Maſſen gegen-
über den grofagrarifd-feudalen Ein-
flüſſen durchſetzen wird, die bisher viel-
fach in der Agrarpolitik, ſpeziell in der
Siedlungspolitik, dominierten.“
Das „Hamburger Fremden
blatt“ (demokratiſch) vom 5. 4. nimmt
u. a. folgendermaßen Stellung zu die;
ſem Ereignis: „Die neugeſchaffene Ein-
heitsfront der deutſchen Bauern wird
auch eine Neuorientierung der geſam⸗
ten Agrarpolitik notwendig machen. In
der Vergangenheit haben die Wünſche
des oſtelbiſchen Großgrundbeſitzes eine
ſehr viel wirkſamere politiſche Vertre-
tung gefunden als die Lebensintereſſen
der Bauern, für die der Stand der
Vieh ⸗ und Milchpreiſe bedeutungs voller
iſt als die der Getreidepreiſe und die
auch auf die billigen eiweißhaltigen
Kraftfuttermittel des Weltmarktes,
zum mindeſten in einigen Reichsgebie⸗
ten, nicht verzichten können.“ — „In
Wahrheit beſteht ja kein Gegenſatz zwi⸗
ſchen Stadt und Land. Hier die Brücken
zu ſchlagen, die der inneren Serriffen-
heit des deutſchen Volkes und künſt⸗
lich aufgebauſchten Mißverſtändniſſen
zum Opfer gefallen find, ift die wich⸗
tigſte Aufgabe der Gegenwart.“ —
„Möge die Einigung der Landwirt-
ſchaft unter Führung des Kanzlers der
Beginn zu ihrer organiſchen Cinglie-
derung in die Geſamtheit der deutſchen
MWirtihaft fein, die einen gefunden
Bauernſtand als Kraftquelle ebenſo
braucht wie eine lebensfähige Induftrie
und einen Handel, der Deutſchland den
alten Platz wirtſchaftlicher Weltgel⸗
tung zurücdkerobern kann. Wir wollen
endlich füreinander und nicht mehr
gegeneinander arbeiten.“
Weiter ſchreibt die demokratiſche
„Deutſche Bauernzeitung“
vom 9. 4.: „Zu dieſer Preſſenotiz iſt
manches zu ſagen. Zunächſt muß hier
mit aller Klarheit feſtgeſtellt werden,
daß die Deutſche Bauernſchaft an den
Verhandlungen beteiligt war und ſich
grundſätzlich zu loyaler Sujammene
arbeit bereit erflärt bat. Infolge vor-
läufig nod nicht ganz durchſichtiger
Machenſchaften unſerer wirtſchaftspoli⸗
tiſchen Gegner, insbeſondere aus dem
Lager der ſogenannten Chriſtlichen
Bauernvereine, iſt erreicht worden, daß
die Deutſche Bauernſchaft in der Reichs.
führergemeinſchaft bis jetzt nicht ver-
treten iſt. Aber die Zuſammenhänge
wird noch beſonders zu reden ſein. Wir
möchten aber hier in aller Offentlich⸗
keit feſtſtellen, daß die beteiligten natio ·
nalſozialiſtiſchen bäuerlichen Führer,
unter ihnen beſonders Herr Darré
und Herr Willikens, ſich gegen die
Bauernſchaft voll und ganz loyal ver-
halten haben.“ — „Trotz der vorläufig
durchgeſetzten Zurückdrängung der Deut-
ſchen Bauernſchaft wird ſie ihrerſeits
ehrlich an der Verwirklichung der Ein-
Das Archiv
heitsorganiſation mitarbeiten, folange
fie den Glauben haben kann, daß die
tragenden Kräfte in dieſer Organifa-
ag wirklich bäuerliche Agrarpolitik
wollen.“
Das chriſtliche Gewerkſchaftsblatt
„Der Deutſche“ vom 6. 4. ſchreibt
folgendes: „Sieht man fic dieſe Mit⸗
teilung des Reichslandbundes ganz ge⸗
nau an, dann beſteht ihr Kern in der
Mitteilung, daß der organiſatoriſche
„Zuſammenſchluß des geſamten deut⸗
ſchen Bauerntums', der als kurz bevor-
ftebend angekündigt wurde, vorerſt nicht
zuſtande gekommen iſt, fondern bis
Ende des Jahres vertagt wurde. Was
man gebildet hat, iſt eine Art Kartell,
das aber nicht die ſelbſtändige organi-
ſatoriſche Baſis der einzelnen Verbände
beſeitigt. Auffällig iſt es, daß in der
Vorankündigung mehr landwirtſchaft⸗
liche Verbände genannt wurden, die
an den Verhandlungen teilnehmen foll-
ten, als in der Reichsführergemein⸗
ſchaft vertreten find. Man kann das
verſchieden deuten. Entſcheidend für die
weitere Entwicklung der beabſichtigten
Gemeinſchaftsorganiſation Landbund —
Chriſtliche Bauernvereine — National-
fozialiſten werden natürlich DPerfonal-
ragen und agrarpolitiſche Grundſätze
ein. Wir würden es bedauern, wenn
es einem gewiſſen Typ des Großgrund⸗
beſitzes, der bisher mit Erfolg ſeine
Intereſſen immer wieder durchzuſetzen
verſtand, gelingen ſollte, die Vertagung
zur Erringung von neuen Madtpofi-
tionen zu benutzen. Wir können nicht
annehmen, daß eine derartige Ent-
wicklung im Sinne der von den Natio-
nalſozialiſten betriebenen Politik liegt.“
Das rheiniſche Organ des Zentrums,
die „Kölniſche Volkszeitung“,
geht in ihrer Nummer vom 6. 4. mit
einem längeren Artikel auf die Eini-
gung der deutſchen Bauernſchaft ein.
Sie ſchreibt, daß die Zielſetzung der
Reichsbauernſchaft einer berufsftdndi-
ſchen Tradition entſpreche, die eben ſo
deutſch, wie chriſtlich ſei. Bleibe dies
Leitmotiv des Aufbaues und der Ar-
beit des Einigungswerkes der deut⸗
ſchen Bauernſchaft, dann dürfe die
Hoffnung beſtehen, daß ſich hier ein
747
Stück echter berufsſtändiſcher Ordnung
praktiſch verwirkliche. Dieſe müßte nicht
nur zu einer einheitlichen Standes ver⸗
tretung des gefamten deutſchen Bau⸗
erntums, ſondern auch zu einer Am⸗
bildung der Landwirtſchaftskammern
in der Art hinführen, daß die bislang
von ihnen ausgeſchloſſenen landwirt⸗
ſchaftlichen Arbeitnehmer in ihnen eine
vollgültige Vertretung neben den land⸗
wirtſchaftlichen Betriebsunternehmern
erhielten. An anderer Stelle ſchreibt
die Zeitung: Darré habe einem Ver⸗
treter der NSK. gegenüber ſich dahin⸗
gehend geäußert, daß nach dem Zu⸗
ſammenſchluß des deutſchen Bauern⸗
tums die nationalſozialiſtiſchen Bau-
ern, beſonders der agrarpolitiſche Ap⸗
parat der NSDAP., die Aufgabe hät-
ten, den Bauerngedanken und den
Staatsgedanken aus Blut und Boden
rein zu erhalten. Dieſe Aufgabe dürfte
eine gemeinſame aller der Organifatio-
nen ſein, die ſich zum Einigungswerk
zuſammengeſchloſſen hätten und im ge⸗
meinſamen Berufsſtand Bauerngedan⸗
ken und Staatsgedanken zu pflegen
hätten.
Die liberale „Deutſche Berg-
werkszeitung“ vom 6. 4. ſchreibt
u. a., daß perſonelle Veränderungen
und die Tatſache, daß die bisherige
Baſis für die in der „Grünen Front“
vereinigten Verbände nicht mehr gege-
ben wäre, die Notwendigkeit des neuen
Zuſammenſchluſſes der bäuerlichen
Organiſationen gegeben hätte. Im
Zuge der nationalen Revolution ſei
auch innerhalb der verſchiedenen agrar.
politiſchen Organiſationen eine „Gleich-
ſchaltung“ erreicht, die den Gegenſatz
zwiſchen Landwirtſchaft und offizieller
Regierungspolitik ebenſo hinweggefegt
habe wie die vielfachen Gegenſätze, die
zwiſchen den evangeliſchen Landbünden
und den katholiſchen Bauernvereinen
erijtiert hätten. Dieſe neue bäuerliche
Einheitsfront ſei nicht nur für die
Wirtſchaftspolitik, ſondern ganz allge⸗
mein politiſch ein Ereignis von größter
Bedeutung.
Die ebenfalls liberale „KNölniſche
Zeitung“ vom 5. 4. bringt unter
der Rubrik ,Randnoten” u. a. folgen-
748
den Kommentar zur Bauerneinigung:
„Die einheitliche freie wirtſchaftspoli⸗
tiſche Organiſation der deutſchen Land-
wirtſchaft iſt, rein rational geſehen, ein
organiſatoriſcher Fortſchritt.“ — „Nach⸗
dem die deutſche Landwirtſchaft aus dem
privatwirtſchaftlichen Sektor ausgeſchie⸗
den iſt und in eine ftaatlid-planwirt-
ſchaftliche Konſtruktion eingebracht wor-
den iſt, ſcheinen die überlieferten Ge⸗
genſätze der Größenklaſſen und Be⸗
triebsarten einſtweilen verſchwunden
zu ſein. Außerdem ſcheint das anfeu⸗
ernde und einigende Weſen des Na⸗
tionalſozialismus die früheren ſtarken
landsmannſchaftlichen und konfeſſionel⸗
len Anterſchiede überbrücken zu können.
Trotzdem wird bis zu einer endgül-
tigen Verſchmelzung noch ein langer
Weg fein, denn alle Organiſationen
haben einen ganz erheblichen bürofra-
tiſchen Apparat ſowohl in den Sentra-
len wie im Lande draußen, der zum
Teil auf gegenſeitige Bekämpfung oder
doch Wettbewerb eingerichtet war.“ —
„Aber die Willensrichtung der kom ;
menden Einheitsorganiſationen im ein-
zelnen etwas zu ſagen, iſt natürlich ſehr
ſchwer. Wird ſie den Staat noch zu
weiterem Ausbau der Plan- und
Zwangswirtſchaft drängen, dergeſtalt,
daß wir geſetzlich vorgeſchriebene und
polizeilich gehütete Beſtellungspläne
erleben werden? Wird ſie die Siedlung
fördern? Daß gewiſſe öſtliche Kreiſe,
die bislang im Landbund maßgebend
waren, Gegner der Siedlung ſind und
eher einem Pächterſyſtem zuneigen,
kann nicht beſtritten werden. Im eigent⸗
lichen Weſen der Nationalſozialiſtiſchen
Partei liegt die Bejahung der innern
Koloniſation auf bäuerlicher Eigen⸗
tumsgrundlage. Wir glauben nicht,
daß ſie durch den öſtlichen Grundbeſitz
von dieſem Weſenskern abgedrängt
werden wird. Es iſt im Gegenteil zu
hoffen, daß die eindeutige Führung
der Nationalſozialiſten jetzt klarere
Bahnen in der Frage der Siedlung
ſchaffen und manchen Großgrundbeſitzer,
der bei ihr geradezu eine Lebensver-
ſicherung zu nehmen glauben konnte,
enttäuſchen wird.“
Das Archiv
Die „Kieler Neueſten Nach
richten“ vom 6. 4. ſchreiben u. a.:
„Das Ringen des deutſchen Bauern-
tums um feine einheitliche Zuſammen⸗
faſſung und um feine einheitliche Füh⸗
rung iſt jetzt endlich von Erfolg ge⸗
krönt worden. Unter dem neuen Re-
gime geht jetzt alles von ſelbſt, was
früher unter dem alten Syſtem aus⸗
ſichtslos erſchien.“ — „Jetzt iff man
einen großen Schritt vorwärtsgekom⸗
men. Im Laufe dieſes Jahres ſoll die
große einheitliche Organiſation durch-
geführt werden. Die zu dieſem Zweck
gebildete Reichsführergemeinſchaft des
deutſchen Bauernſtandes iſt unter ein⸗
mütiger Zuſtimmung der hauptſächlich
in Frage kommenden Verbände ins
Leben gerufen worden. Sie wird ſich
durchſetzen, und ſie wird das vollenden,
was Millionen Deutſcher auf dem
Lande ſo heiß und innig herbeigeſehnt
haben und herbeiwünſchen: ein einiges
Bauerntum.“ — „Die Einigung des
deutſchen Bauerntums bildet aber auch
weiterhin einen bedeutſamen Schritt in
der Entwicklung zum Ständeſtaat. Durch
die korporative Durchgliederung des
Bauernſtandes vom einzelnen Land-
wirt bis zur Spitze der Reichsführer⸗
ſchaft wird eine einheitliche Standes-
vertretung des geſamten Bauerntums
geſchaffen, die eine der tragenden Säu -
len des deutſchen Ständeſtaates ſein
wird, deſſen Entwicklung ſich mehr und
mehr ankündigt.“
Die „Deutſche Tageszei⸗
tung“ vom 5. 4. ſchreibt u. a.: „Auch
das deutſche Bauerntum hat darum auf
feine Einheitsorganiſation warten müſ⸗
ſen, bis „die Zeit erfüllet war“; und
es muß offen anerkannt werden, daß
die elementare Kraft der nationalſozia⸗
liſtiſchen Bewegung mit ihrem Zuge zu
deutſcher Einheit auch für den Durch-
bruch des Einheitsgedankens im deut-
ſchen Landvolke beſtimmend geweſen
iſt. Es iſt deshalb auch nur natürlich,
daß dem Leiter des agrarpolitiſchen
Apparates der NSDAP., Darre,
der Vorſitz der Reichsführergemein⸗
ſchaft angetragen und Adolf Hit ⸗
ler gebeten wurde, die Schirmherr⸗
ſchaft über dieſe neue Gemeinſchaft des
Das Archiv.
deutſchen Bauernſtandes zu überneh⸗
men; ebenſo wie es andererſeits na-
türlich und zweckdienlich erſcheint, daß
die Federführung der Reichsführer⸗
gemeinſchaft in die Hände des Grafen
Kalckreuth, als Führer des orga⸗
niſatoriſch vorzüglich durchgebildeten
Reichs ⸗Landbundes, gelegt worden iſt.“
— Sn ihrer Ausgabe vom 6. 4. ver-
öffentlicht Präfident Lind einen Auf⸗
ſatz unter dem Titel „Der Bauer horcht
auf!“, in welchem er u. a. auch auf die
Bauernvereinigung eingeht. Folgender
Abſatz iſt beachtenswert: „Schon das
eindeutige Bekenntnis des Herrn
Reichskanzlers Hitler zum deutſchen
Bauerntum und die Betonung der
Staatswichtigkeit dieſes Standes hat
den geſamten Bauernſtand erkennen
laſſen, das jetzt im neuen Deutſchland
der Bauer ſeiner Bedeutung gemäß
geachtet wird und zu Ehren kommt.
Ein langer und ſchwerer Rampfab-
ſchnitt liegt hinter uns; zu allen Zei⸗
ten und auf allen Wegen hat der
Bauer verſucht, ſich politiſch und ins⸗
beſondere auch ſtaatspolitiſch Geltung
zu verſchaffen. Diefer Kampfwille
wurde verſchiedentlich ausgenutzt, und
die Bauernfront wurde zu einem poli-
tiſchen Serrbild, die Stoßkraft wurde
zerſtört. Erſt unter der Führung von
Adolf Hitler und unter der Auswir⸗
kung einer 14jährigen, den Bauernbe⸗
fi zerſtörenden Politik ermannte ſich
der Bauer zu dem Gelbfterbaltungs-
kampf, der die Erfolge des 5. März
zeitigte.“
Der „Zeitungsdienſt
NReichslandbundes“ vom 5.
April veröffentlicht einen Artikel „Der
Einſatz des Bauernſtandes“, deſſen
Schlußabſatz folgendermaßen lautet:
„Dadurch iſt der Zuſammenſchluß der
wirtſchaftspolitiſchen Organiſationen
der Landwirtſchaft, deſſen organiſato⸗
riſche Durchführung auch in den ein⸗
zelnen Ländern und Provinzen mit
Energie erfolgen wird, zu dem politi-
ſchen Willensträger des deutſchen
Bauernſtandes geworden, der in eng⸗
fter Zuſammenarbeit mit der Natio⸗
nalregierung die wichtigſte Aufbau-
arbeit zu leiſten hat, die Fundierung
749
des neuen Staates in Herz und Seele
des deutſchen Bauerntums. Von hier
aus wird ſich der Kraftſtrom ergießen,
den die Nationalregierung braucht,
um die ſchweren Entſchlüſſe, vor die ſie
der Ernſt der Gegenwart ſtellt, ſo zu
faſſen, daß ſie die Zukunft der Nation
ſichern.“
Das nationalſozialiſtiſche „Frank
furter Volksblatt“ vom 5.
April ſchreibt: „Wir ſagen darum:
„Gott ſei Dank, daß dieſe ſchmähliche
Zeit des deutſchen Bauerntums endlich
hinter uns liegt!“ — „Wir freuen uns
deſſen aber um fo mehr, als der Ver⸗
traute Adolf Hitlers, Walther
Darré, mit dem Vorſitz der Reids-
führergemeinſchaft betraut wurde; denn
es drängt uns, in dieſer Stunde das
Bekenntnis abzulegen, daß die nun⸗
mehr erlangte Einigung einzig und
allein das Verdienſt Adolf Hitlers und
des Nationalſozialismus iſt. Ohne daß
er die Macht in Deutſchland eroberte,
hätte ſich darin nichts geändert, wäre
= alten Trott weitergeſchritten wor-
en.“
Das parteioffizielle agrarpolitiſche
Organ der NSDAP., die „Natio
nalſozialiſtiſche Landpoſt“,
behandelt die Bildung der Reichsfüh⸗
rergemeinſchaft des deutſchen Bauern-
ſtandes in ihrer Nummer vom 9. 4.
ſehr eingehend. Wir führen folgende
beachtenswerte Stellen an: „An dieſem
Wendepunkt gilt aber auch nach dem
Führer Adolf Hitler Glückwunſch
und Gruß aller Mitarbeiter im agrar-
politiſchen Apparat dem Anterführer
R. Walther Darré! Wenn er
bei Abernahme feines hohen Führer.
amtes in der neugebildeten Reichsfüh⸗
rergemeinſchaft erklärte, daß, wie bis⸗
her, ſein ganzes Denken und Fühlen
der Wiedererweckung eines wahren
deutſchen Bauerntums gelten werde, ſo
wiſſen gerade wir, wie tiefernſt es die⸗
ſem Manne um die Geſtaltung dieſer
ſeiner Lebensaufgabe iſt. Welch harter,
aber auch ſtolzer Weg für den Front
ſoldaten Darré, der ganz aus
fich heraus, ohne Mittel und „Kon⸗
nexionen“, ſeine Idee vom Blut und
Boden innerlich erlebt und mit einer
750
beinahe phantaſtiſch anmutenden Gider-
heit und Organiſationsgabe geſtaltet
hat. Wie allen politiſchen Kämpfern
Adolf Hitlers iſt auch Darrs nichts
geſchenkt worden und nichts erſpart gee
blieben. Es iſt erſt ſehr kurze Zeit her,
daß feine politiſchen und weltanſchau⸗
lichen Gegner ihn in der gemeinſten
Weiſe durch die Goſſe ſchleiften. Aus
innerer Gewißheit, eine geſchichtliche
Aufgabe zu haben, hat ihm aber keinen
Augenblick die Kraft gemangelt, ohne
nach rechts und links zu blicken, ſeinen
Weg zu geben! Diefer Tag, der 4. April
1933, war ſein Lohn. Gebe Gott ihm
die Kraft, ſtark zu bleiben und die
große Kuppel zu Ende zu bauen, die
dereinſt über einem geeinigten neuen
Bauernſtand ſich wölben fol im Drit-
ten Reiche Adolf Hitlers.“ —
„Was der Tag von Potsdam für die
geſamte deutſche Nation war, das iſt
der 4. April für den deutſchen Bauern
geworden. Endlich haben ſich die Füh-
rer der Verbände zuſammengefunden
und eine geſchloſſene Reichsführer.
gemeinſchaft, die nun die Aufgabe der
Bildung einer geſchloſſenen, umfaffen-
den Gauernftands-Organifation begrün-
den ſoll, gebildet.
Ohne den Nationalſozialismus und
ohne feinen Bauernführer R. Wal⸗
ther Darré wäre dieſer Zufam-
Neues Schrifttum
menſchluß niemals zuſtande gekommen.
Darre war es, der den Bauern wie-
der ſeiner eigentlichen Aufgabe näher-
brachte und ihm mit einer rückſichtsloſen
Offenheit das Verderbliche des Libera⸗
lismus zum Bewußtſein brachte und
den Gedanken von Blut und Boden in
die Seele des deutſchen Bauern hinein-
gebdmmert hat. Darré hat immer
wieder betont, daß nicht wirtſchaftliche
Maßnahmen allein den deutſchen Bau⸗
ern erretten können, ſondern dazu ſei
die Eingliederung des Bauerntums in
den Staat, als Grundlage des gefam-
ten Volkes, erforderlich. — Aus dieſem
Grunde iſt es nur eine Selbſtverſtänd⸗
lichkeit, wenn neben der Schirmherr
ſchaft Adolf Hitlers die Führung
der neuen Reichsführergemeinſchaft des
deutſchen Bauerntums R. Walther
Darre übertragen worden iſt und
fomit dem agrarpolitiſchen
Apparat der NS DAP. maß
gebend Einfluß eingeräumt
worden iſt.“
Es iſt mir leider wegen Platzmangel
nicht mehr möglich, auf die übrigen
agrarpolitiſchen Ereigniſſe und wich⸗
tigen erſchienenen Artikel einzugehen.
Ich werde dies, ſoweit es unbedingt
notwendig tft, in der nächſten Num⸗
mer der „Deutſchen 5 nach;
holen. land Schulze.
Neues Schrifttum
1. Allgemeines, Geſchichte, Statiſtik,
Grundbeſitz, Vereinsweſen, Abſchätzung;
Mech. d. Landw.
Dopſch, Alf.: Die freien Marken
in Deutſchland. Ein Beitrag z. Agrar⸗
u. Sozialgeſch. d. Mittelalters. Brünn,
Wien uſw.: Rohrer 1933. 124 S. 4,—.
Engelbrecht, This, H., Dr.: Die
Arheimat der Indogermanen. E. prä-
biltor. geogr. Studie. 30 S. Glückſtadt:
Selbſtverlag 1933. 1.50.
Geldern⸗Criſpendorf, G. v.:
Die Grundſteuerreinerträge d. Acker-
landes in Schleſien (2 kartogr. Darſt.
m. erl. Text). Breslau: Marcus 1933.
16 S., 1 Kte. Gr. 8. — Zur Wirt.
ſchaftsgeogr. d. dt. Oſtens. H. 4. 2,—.
Haaſe, Alfons u. Herb. Brieſe,
Dr., Dipl.⸗Ldw.: Die low. Einheits⸗
werte d. Prov. Nieder- u. Oberſchle⸗
ſien (2 kartogr. Darſt. m. erl. Text).
A. Mitw. von A. Krinner. Breslau:
Marcus 1933. 35 S., 1 Kte. Gr.-8°. —
Z. Wirtſchaftsgeographie d. Oſtens.
H. 5. 3,—
Neues Schrifttum
Jugend im Volk ohne Naum. Zil-
der u. Zeugniſſe aus d. freiwill. Ar⸗
beitsdienſt. Gef. u. hrsg. von H. Lüſt.
Heilbronn: Salzer 1933. 47 S., Abb.
8°. 1,—. = Taten mit Gott. 9. 2.
Kläbe, Helmut: Die Erſchließung
d. Moore z. low. Nutzung. E. agrar ⸗
politiſche Anterſ. Leipz.: Buske
1933. 115 S. Gr.-8°. = Anterſuch. z.
Wirtſchafts⸗ u. Sozialpolitik d. Gegen-
wart Gd. 2. 4.80; Subſkr.⸗Pr. 4.30.
Kreutzfeldt, H. Dr.: Das Schick⸗
ſal d. Landwirtſchaft — das Schickſal
Deutſchlands! Berlin: C. Heymann
1933. 41 S. 2,—.
Michels, Frz.: Huttrop. Zur
Geſchichte der Großbauernſchaft u. d.
Hofes. Eſſen 1932: Fredebeul u. Koe⸗
nen. 260 S., 4 Taf., 1 Kt. 6.—. Aus:
Beiträge z. Geſch. von Stadt u. Stift
Eſſen. H. 50.
Nebesky, Georg: Wichtige Zah⸗
len a. d. Landw. E. agrarpol. Hand-
büchlein. Stuttgart: Almer (1933). 30
S. RI1.-8°, —. 35.
Raab, Frdr. Prof. Dr.: Deutſchl.
wirtſch. Lage. Arſachen u. Bekämpfungs⸗
möglichkeiten d. Arbeitsloſigkeit. Ber ⸗
lin: Der dt. Forſtw. 1933. 30 S. 8°.
Aus: D. dt. Forſtw. Bd. 14 1932 Nr.
72—74. —, 50.
Schafft Arbeit u. Brot! Das Ar⸗
beitsbeſchaffungsprogramm d. Landge⸗
meindeverbandes. (Vorw.: Dr. [Gün⸗
ther! Gereke Preſſel.)
Landgemeindeverl. ([Komm.: O. Klemm,
Leipzig] 1932.) 62 S. Gr.- 8. 1,—.
Stellrecht, Helmut: Der dit.
Arbeitsdienſt. Aufgaben, Organiſation
u. Aufbau. Berlin: Mittler 1933. XI,
158 S. Gr. 8. 3,50.
Wilbrandt, Hans: Das dtſche.
Agrarproblem. (Berlin W 35, Schöne⸗
8 Afer 32: Der dtſche. Volkswirt
1933.) 43 S. m. Fig. = Schriftenreihe
d. dt. Volkswirt 12. 1.50. Aus: D. dt.
Volkswirt 1932/33, Nr. 12— 15.
Deutſche Wirtſchaftskunde.
Ein Abriß d. dt. Reichsſtatiſtik. Bearb.
im Stat. Reichsamt. 2. Aufl. Berlin:
N. Hobbing 1933. XI, 418 S., Fig.,
1 Titelbl. Lw. 2,80.
751
2. Ländliche Siedlung; Bevölkerungs⸗
lehre, Landarbeiterfrage, Bauerntum;
Meliorationen
Bauernnot u. Bauernkultur.
Ergebniſſe d. dt. Volksbildnertag. in
Hubertendorf, nach d. derz. Stand d.
Verh. gemeinſam mit führenden Volks.
bildnern bearb. vom G. Ad. Witt.
Wien: Agrarverlag (Komm.: C. Fr.
50 Leipzig) 1932. 208 S. Gr.-8°.
Buſſe, Walter: Das italieniſche
Meliorationsweſen (Bonifica integrale).
H. 1. Berlin: Parey 1933. 4. = Ber.
üb. Landw. N. F. Sonderh. 74. l. M.
6 Kt.⸗Skizzen u. 20 Abb. 123 S. 13.50;
Abonn.⸗Pr. 11.50.
Goldenbagen, Karl, Probſt:
Siedlung u. Kirche in Mecklenburg.
Schwerin. M. e. Vorw. von Landes-
biſch. D. (F. M.) Rendtorff. Schwerin:
Bahn [1933] 61 S. 8°. 1,20.
Gröſſer, Max, Dr. P. S. M.:
Grundfragen d. dtſch. Auslandsſiedlg.
Dr. Konrad Theiß: Zuſammenſtellg.
von Auswanderergruppen. Freiburg:
Caritasverl. 1933. 24 S. Gr.-8° = Hei-
mat u. Scholle H. 4. —.60.
Hein, Joh. Doz. Dr.: Siedlung u.
Parzellierung mit ihr. Anternehmern
u. bef. Berückſ. d. Steuer u. Bewer⸗
tungsfragen. Berlin ⸗Charlottenburg 2
(Hardenbergſtr. 13): „Die Grundftüds-
Warte“. Verl. Rofenthal u. Drews
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Heinemann, Otto, u. Kurt Stü⸗
we: Die Bedeutung ldw. Melioratio-
nen in Oſtpr. im Rahmen e. allgem.
Arbeitsbeſchaffungs⸗Progr. Denkſchrift
d. Verb. Dt. Landesk.⸗Genoſſenſchaften,
Prov.-Gruppe Oſtpr. e. V. (3. Einf.:
Oberpräſ. a. D. v. Batocki) Königs⸗
berg: Gräfe u. Anzer (1933). 40 S. 1.—.
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[of] Volksvereinshaus 1933. 54 S.
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Heinen, Anton, Dr.: Der Bauer
u. fein Beruf. [M. -I Gladbach: Selbſt⸗
Verl.; [hſ.:] Volksvereinshaus 1933.
47 S. 8° = Bauernbüch. d. Volksver.
eins. Nr. 1. —, 60.
752 Neues Schrifttum
Hwang-Sfong, Dr.: Methode
u. Ergebniffe d. neueſten Bevölkerungs⸗
ſtatiſtik Chinas. Leipzig u. Berlin:
Teubner 1933. 77 S., 1 Kt.⸗Skizze. Gr.-
80. = Di. Stat. Zentralblatt. Erg.-9.
13. 5.—; ſ. Bezieh. d. Stat. Zentralbl.
3.80. Leipzig, Phil. Diſſ.
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Wir Katholiken u. Wohnbau mit Sied⸗
lung. Geiſtl. R. Pfr. Ludwig Pol -
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Die Entw. d. ſtaatl. Maßnahmen z.
Förderung d. Landarbeiterwohnungs⸗
baues u. deren Durchführung u. Ausw.
i. d. Prov. Sachſen. Leipzig: Jänecke
1932. 105 S., 2 Kt. Gr.-8°. — Arb. d.
u f. low. Betriebslehre Halle H. 40.
Wer kann ſiedeln? Berufskreiſe u.
Bauernſiedlg. m. e. Einf. v. M. Se ⸗
ring. A. Mitarb. hrsg. v. Joh.
Schauff. Berlin: Dt. Siedlungs-
verlag (Volckmar Leipz. W 1932. 86 S.
Gr.- Se. — Flugſchr. d. RNeichsſtelle f.
Siedlerberat. H. 5/6. —, 90.
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Siedlerſtelle. Obereigentum d. Sied-
lungsträgers u. Antereigentum d. Sied⸗
lers am Siedlungsgrundſtück. Münſter
(Weſtf.), Johannisſtr. 9: Wirtſchafts⸗
u. Sozialwiff. Verlag 1932. 46 ©. 8˙.
— Forſchungsſtelle f. Siedlungs- u.
Wohnungsweſen an d. Aniv. Münſter.
M.⸗Slg. Bd. 5. 1,90.
3. Das low. Anterrichts⸗ u. Bildungs-
weſen, Wirtſchaftsberatung
Eichler, Arthur, Dr.: Die Land-
bewegung d. 18. Jahrh. u. ihre Päd⸗
agogik. Langenſalza, Berlin, Leipzig:
J. Beltz 1933. 139 S. Gr.-8°. = Böttin-
ger Stud. z. Pädagogik. H. 20. 4,50.
5. Marktweſen (Abſatz), Handels-
| und Preispolitik
Borgmann, Luiſe: Zur Kritik d.
Roggenſtützungsaktion v. J. 1929/30.
IV, 50 S. Köln, Wirtſchafts⸗ u. fog.
Diſſ. 1932. | Ä
Kaiſer, H., Dipl.-Kfm. Dr.: Die
Preisfeſtſtellung an d. dt. Produkten⸗
börſen u. märkten u. die Fragen e.
Ref. d. Notierungsweſens. Gelnhau⸗
nn F. W. Kalbfleiſch 1932. 191 ©.
Reichardt, Fritz, Diplldw. Dr.:
Abſatzwerbung f. dt. (dw. Erzeugniſſe.
(Aufgaben, Erſolgsmöglichkeiten und
Grenzen.) M. 25 Abb. Berlin: Parey
1933. 95 S. 4%. = Ber. über Landw.
58 95 Sonderh. 73. 6.80; Abonn.⸗Pr.
Ritter, Kurt, Prof. Dr. u. Dr.
M. Guttfeld: Weltproduktion u. Welt-
handel an friſchen Südfrüchten. Zitrus⸗
früchte (Apfelſinen, Mandarinen, Zi-
tronen u. Pompelmuſen), Bananen u.
Ananas. Berlin: Parey 1933. 139 S.
4%. = Ber. üb. Landw. N. F. Sonderh.
68. 13.50; Abonn.⸗Pr. 12.—.
Samuel, Ludwig: Gemüſe, Obſt
und Südfrüchte im Dt. Reich. Verſor⸗
gungsbilanzen u. Verkehrsbeziehgn.
(Vorw. Fr. Baade), M. 118 Abb.
Berlin: Parey 1933. XXI, 492 S. 40.
Neues Schrifttum
— Berichte üb. Landw. N. F. Gonderh.
69. 28,50; geb. 31,—; Abonn.⸗Pr.
26,40; geb. 28,80.
Schilling, Kurt: Der Getreide-
zoll als Mittel d. dtſch. Agrarſchutzes.
104 S. Leipzig, Phil. Diſſ. 1932.
6. Kredit, Zins, Steuer, Monopole
Achterberg, Erich: Verſchuldung
ohne Ausweg. E. Betrachtung üb. d.
langfriſt. Kredit in Deutſchland. Frank⸗
Br = M.: Societät3-Vertl. 1933 45 ©.
oz H., u. Fr. Hennig, Re 15
anw.: Das dw. „
ren nach d. Verordnung v. 27. 9. 1832
nebſt Durchführungsbeſtimmungen.
Handkommentar. Berlin: Hobbing
1933. 271 S. — Dt. Wirtſchaftsgeſetze
Bd. 11. 10,—.
Meulenbergh, G.: Die Zins-
ſenkung f. die Landw. (Nur) Nachtr.
Mannheim uſw.: Bensheimer 1933. —
Slg. dt. Geſetze. Bd. 152. —, 80.
Ruge, Herm, H. Fleiſchmann u.
v. Schlebrügge: Das er Vermittlungs-
nn Sean: C. Heymann 1933.
VI, 239 ©. 8°.
Unold, 9. v., Forftaff.: Das
Problem d. Beſteuerung d. forſtw. Ge⸗
winns. E. Beitrag 3. Lof. 1 Schwie⸗
rigkeiten, die ſich b. Anw. d. dt. Ein⸗
kommenſteuergeſ. auf die ink aus
Forſtw. ergeben haben. Berlin: Der
dt. Forſtwirt. 1933. 102 S. 5.—. Mün⸗
chen, Staatswirtſch. Diff.
a Be wa und verantwortlich für den gefamten textli
Seſellſhaft a tat ra Straße 32. ze
b. H., Berlin W 35. Druck der Meyerſchen N
753
7. Genoſſenſchaftsweſen; Privat.
u. Sozialverſicherung; Verkehr
o pp, Ed. Dipl.-Volksw.: Sozia⸗
iferungsbeftebungen in d. Landw. in
Nachkriegszeit. 83 S. Würzburg.
N. u. ſtaatswiſſ. Diff. 1932.
Kehren, Oskar, Dipl.-Volksw.:
Die Rationalifierung d. dt. bw. Ge⸗
e u. ſein Arbeitsgeb.
S. München, Staatswiff. Diff. 1933.
1 Alfred, Dr.: Die Revifion
im Df. Genoſſenſchaftsweſen. Ihre Ge⸗
ſtaltung u. Wege e. Neform. Berlin:
L. Weiß 1933. 138 S. 8%, 5.80.
Saitzew, Manuel, Dr., Univ.-
Prof.: Die volksw. Aufgaben u. d. wirt⸗
ſchaftspolitiſche Behandlung d. Eifen-
bahnen. Ein Beitr. zur Beurteil. des
Wettbewerbes zw. Eiſenbahn u. Auto-
mobil. Bern: Librairie-Edition S. A.
1932. 92 S. Gr.-8°. 1.80
8. Verſchiedenes
Oelſen, E. S. v.: Währungen,
Maße, Gewichte d. ganzen Welt. 2.
Aufl. Wien: Seidel 1933. 93 S., 3
Tab. Kl.-8. 2,40; Lw. 3,—.
Saitze w, M. Prof., Dr.: Die
volksw. Aufgaben u. die wirtſchaftspol.
Behandlung d. Eiſenbahnen. Ein Bei⸗
trag z. Beurtlg. d. Wettbewerbes zw.
Eiſenb. u. Automobil. Vern: Librai-
rie-Edition S. A. 1932. 92 S. Gr.-8*.
Fr. 1,50.
n Inhalt: Dr. Hermann Reiſchle.
„Zeitgeſchichte Verlag und Vertriebs-
t in Detmold.
Anfchriftenverzeichnis der Mitarbeiter der Monatsſchrift
„Deutſche Agrarpolitik“, Heft April 1933
Reichskanzler Adolf Hitler, Berlin, Reichskanzlei.
R. Walther Darré, M. d. R., Berlin, Deſſauer Straße 16, II.
Arnold W. Trumpf, Generalſekretär des Hannoverſchen Landwirtſchaft⸗
lichen Genoſſenſchaftsverbandes, Hannover.
Richard Wagner, Diplom⸗Landwirt, Staatskommiſſar für Landwirt⸗
ſchaft, Darmſtadt.
Karl Scheda, Syndikus, Berlin.
Robert Dünges, Diplom⸗Landwirt, Elsheim (Rhld.).
Karl Motz, Miniſterium für Volksaufklärung und Propaganda, Berlin,
Wilhelmplatz.
Roland Schulze, Diplom-Landwirt, Schriftleiter, München, Herzog⸗
Wilhelm ⸗Straße 32.
. _—
— — iin
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7 Th 1
mn — — — u — — — ~~ - —
1
|| §
UFSCHE FT polit
u e r ‚pe 3 — g
HerausncherK Wag
=y
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorſprununnnn O 757
Hermann Reiſchle / Der Bauernführer R. Walther Darre . . . 758
Walter Bohm / Zur Erbhofbe wegung. 763
Heinz Konrad Haushofer / Die bayeriſchen Stammhöfſfe . . 771
Manfred von Knobelsdorff / Die neuen Aufgaben des v. Knobels⸗
dorffſchen Geſchlechts im völkiſchen Staatsleben . . . 780
Das bäuerliche Erbhofgefen. - nme 786
Das Arch 803
Neues Gehrifttum 2 2 2 ln 805
Titelbild: Phot. E. Lendvai-Dirdfen, Berlin
Jedes Heft RM. 150 - DPierteljährlih 3 Hefte RM. 3.60
zuzüglich Beſtellgeld. Beſtellungen durch den Verlag oder bei ſeder Poſtanſtalt.
Poſtvertrieb ab Detmold
arpolitif
Monatsichrift für Deutſches Sauerntum
Hauplſchriſtleitung Dr. Hermann Reilchle
Feitgeſchichte“ Verlag und Vertriebs⸗Geſellſchaft m. b. §., Berlin W35
ü—Un — ——.:. ¼.üä.... ⁵ Gr:. T——T—.. ee ee Zn
Deullche Agr
Lütowftraße 66
Heft 11 Ä Mai 1933
Handle als Deutſcher ftets fo,
daß Dich Dein volk zum vorbild
erwählen kann.
R. Walther Darré
Hermann Reiſchle:
Der Bauernführer R. Walther Darre
Der Führer und Reichskanzler Adolf Hitler ſprach in feiner kürzlichen Rede
vor dem Deutſchen Landwirtſchaftsrat, die ein einziges flammendes Be⸗
kenntnis zum Deutſchen Bauerntum war, die folgenden Sätze aus:
„And glauben Sie mir, dieſe Erhebung, die hinter uns liegt, wäre über⸗
haupt nicht möglich geweſen, wenn wir nicht immer — Gott ſei Lob und
Dank — einen beſtimmten Prozentſatz unſeres Volkes auf dem Lande
gehabt hätten. Denn wenn wir heute ganz nüchtern dieſe Erhebung über⸗
ſehen, müſſen wir feſtſtellen, daß von den Städten aus dieſe Erhebung
nicht möglich geweſen wäre. In den Städten hätten wir nicht dieſe Aus⸗
gangsſtellungen erobern können, die uns auch in unſerem Handeln das
Gewicht der Legalität gegeben haben. Da ſind in manchen Gebieten —
wir können ruhig ſagen — bis zu 95 vom Hundert, wenn auch in ver⸗
ſchiedenen Lagern, aber doch bis zu 95 vom Hundert, für die nationale
Erhebung eintretende Bauern geweſen. Denen verdankt im Grunde ge⸗
nommen das deutſche Volk die Erneuerung, ſeine neue Erhebung und
damit den Amſchwung, der zur allgemeinen Gefundung der deutſchen
Verhältniſſe führen ſoll. Dieſe allgemeine Geſundung hat auch diesmal
wieder ihren Ausgang genommen vom Boden, von der deutſchen Erde,
vom deutſchen Bauern.“
Mit dieſen prachtvollen Worten hat der Führer Adolf Hitler vor den Ver⸗
tretern der Landwirtſchaft aus ganz Deutſchland, alſo vor verſammeltem Offi-
zierkorps, ſeinem Anterführer R. Walther Darré fozuſagen den „Pour le
Mérite“ umgehängt. Denn wer die Eigenart des deutſchen Bauern ſo kennt
wie Adolf Hitler, dem iſt klar, welch ungeheure Schwierigkeiten überwunden
werden mußten, um zu dieſer nahezu völligen Durchdringung des Bauerntums
mit den politiſchen Ideen des Nationalſozialismus durchzuſtoßen. And gerade
weil dieſe Schwierigkeiten ſo unüberwindbar erſcheinen mochten, hat die
Offentlichkeit ein Intereſſe daran, den Kämpfer für den Gedanken von Blut
und Boden R. Walther Darre kennenzulernen.
Darré iſt zunächſt einmal, wie Adolf Hitler ſelbſt und wie fo viele hervor⸗
ragende Anterführer der Bewegung, Auslandsdeutſcher. Er iſt 1896 in Argen-
tinien geboren und entſtammt einer vor 250 Jahren aus Nordfrankreich nach
Der Bauernführer R. Walther Darré 759
Preußen überſiedelten Emigrantenfamilie. Seine Mutter entſtammt einem
alten ſchwediſchen Geſchlecht. Er wurde in Süddeutſchland erzogen und ſollte
nach dem Wunſche ſeines Vaters Nachfolger in deſſen blühendem Aberſee⸗
Handelshaus werden. Das Schickſal ſtellte jedoch Darré zunächſt vor eine
andere und gewaltigere Entſcheidung als die Berufsausbildung: Mit Millio-
nen junger Kameraden trat der 18jährige im Auguſt 1914 als Kriegsfreiwilliger
bei der Feldartillerie ein. Er ſtand, zuletzt als Reſerveoffizier eines Feldartillerie-
Regiments, vier Jahre an der Front und hat ausweislich feiner Stammrolle ſich
in dreizehn Großkämpfen an der Weſtfront in hohen Ehren geſchlagen. Hier
iſt er, Walther Darré, wie wir jungen Frontſoldaten des großen Krieges alle,
jenen „feurigen Weg“ gegangen, wie ihn Franz Schauwecker geſchildert hat,
er hat den „Kampf als inneres Erlebnis“ durchgekämpft, wie es Ernſt Jünger,
Diviſionskamerad von Darré, in jenem ſchmalen Bändchen mit dem gleich⸗
lautenden Titel als edelſtes Vermächtnis für alle Zeiten niedergelegt hat.
Die Regimentsgeſchichte weiß von dem Frontſoldaten Darré Rühmenswertes
zu berichten.
Am Kriegsende 1918 ſtand er dann vor der endgültigen Entſcheidung über
die Berufswahl. Entgegen dem Wunſche ſeines Vaters, von dem er an ſich
die weite Schau des hanſeatiſchen Kaufmanns überkommen hat, folgte er
ſeiner inneren Berufung, indem er an der Kolonialſchule zu Witzenhauſen das
Studium der Land- und Kolonialwirtſchaft abſolvierte, das er mit dem Grade
eines Diplomkolonialwirts abſchloß. Aus Neigung für tierzüchteriſche Fragen
und die Vererbungslehre im beſonderen arbeitete er anſchließend bei Fröhlich
in Halle mit großem Erfolg und ſchloß hier mit dem Diplomlandwirt ab.
Die bei Fröhlich erworbenen Kenntniſſe der Vererbungslehre ſollten noch eine
mal von nachhaltigſter Bedeutung für ſein ſpäteres Schaffen werden.
Während ihn die berufsübliche praktiſche Tätigkeit auf Landwirtſchaften in
Heſſen, Oberbayern und Oldenburg geführt hatte, ging er nunmehr zum oſt⸗
preußiſchen Stutbuch für Warmblut ⸗Trakehner⸗Abſtammung, wo er feine
züchteriſch⸗vererbungswiſſenſchaftlichen Kenntniſſe weiter vertiefen konnte. In
dieſe Zeit fallen auch bereits ſeine erſten ſchriftſtelleriſchen Arbeiten, die ſich
aus der vererbungswiſſenſchaftlichen Erkenntnis heraus ſchon mit raſſekund⸗
lichen Problemen auseinanderſetzten. Damals gehörte Darré bereits zu dem
noch kleinen und in der Öffentlichkeit gänzlich unbeachteten Kreis von Schrift⸗
ſtellern, die, mit wiſſenſchaftlichem Rüftzeug verſehen, den überaus harten
Boden für die völkiſchen Erkenntniſſe auflockerten. Während ſeiner Tätigkeit
beim Stutbuch wurde man auf den jungen Diplomlandwirt, der fo ganz ohne
Konnexionen ſeinen Weg ging, aufmerkſam. Im Jahre 1927 wurde er im
Auftrage des Reichsernährungsminiſteriums zum Studium der finniſchen
Tierzucht zur Landestierzuchtausſtellung in Lahtis entſandt. Im Anſchluß
daran benutzte er die Gelegenheit, das alteingeſeſſene oſtfinniſche Bauerntum
760 Hermann Reischle
in Karelien zu ftudieren. Er wurde als landwirtſchaftlicher Sachverſtändiger
der Deutſchen Geſandtſchaft in Riga zugewieſen mit dem Auftrage, die land⸗
wirtſchaftlichen Verhältniſſe der baltiſchen Staaten Litauen, Lettland, Eſtland
zu beobachten und außerdem den gegenſeitigen Austauſch landwirtſchaftlicher
Erzeugniſſe, wie Zuchtvieh, Saatgut uſw., zu fördern. Aus einer dienſtlichen
Angelegenheit heraus geriet er ſchließlich in einen Konflikt mit politiſch ein⸗
flußreichen Stellen und Perſönlichkeiten des damaligen amtlichen und halb⸗
amtlichen Deutſchland, in welchem ſeine völkiſche Einſtellung und ſaubere
Auffaſſung von Dingen des öffentlichen Lebens offenbar werden mußte. Dies
aber waren in jenen Jahren Eigenſchaften, die höheren Orts als nicht zeit⸗
gemäß empfunden wurden. Sehr bald trat auch ein, was kommen mußte: Die
Dienſtſtelle Darrés an der Geſandtſchaft mußte eingeſpart oder aus ſonſtigen,
ſelbſtverſtändlich mit ſeiner politiſchen Einſtellung in keinem Zuſammenhang
befindlichen Gründen eingezogen werden. Kurzum: Er ſaß auf der Straße und
ſollte, weil es ſo bequemer ſchien, auf irgendein totes Geleiſe geſchoben wer⸗
den. In dieſer Erkenntnis ſchlug er ein amtliches Angebot, ihn zu Studien-
zwecken nach Südamerika zu ſchicken, aus. Das hilfsbereite Einſpringen ſeines
Freundes Paul Schultze⸗ Naumburg, der ihm in feinem Haufe Gaſtfreund⸗
ſchaft gewährte, ermöglichte es ihm, nunmehr das zu Papier zu bringen, was
ihn in innerer Schau ſchon längſt bedrängte: ſein Bekenntnis zu den ewigen
Werten des germaniſchen Bauerntums. So ſchrieb er in einem Zuge fein
Erſtlingswerk nieder: „Das Bauerntum als Lebensquell der nordiſchen
Raſſe“, das 1929 in J. F. Lehmann Verlag, München, erſchien. Ich darf
wohl im Sinne Darrés dem Verleger Lehmann, der hier den Mut aufbrachte,
ein 500 Seiten umfaſſendes, ſtreng wiſſenſchaftliches und nicht zeitgemäßes
Werk eines gänzlich unbekannten Autors herauszubringen, vor der Öffentlich
keit Dank ſagen. Es wäre verlockend, hier aufzuzeigen, was Darré mit dieſem
ſeinem Buche gewollt hat, dazu wird jedoch ſpäterhin Gelegenheit ſein. Es iſt
ihm, das mag geſagt ſein, jedenfalls gelungen, den wiſſenſchaftlichen Beweis
von der Bedeutung der nordiſchen Naſſe für das Deutſche Volkstum zu er⸗
bringen. Gelungen aber iſt ihm vor allem der landwirtſchaftlich begründete
Nachweis aus der Kulture und Wirtſchaftsgeſchichte der alten nordiſchen
Völker, wie Hellenen, Spartaner, Römer und Germanen, daß dieſe ſchon in
früher Zeit Ackerbauer und nicht Nomaden geweſen ſind. Eine weitere Er⸗
kenntnis ſpricht Darré am Schluſſe ſeines Erſtlingswerkes aus, und zwar
dieſe: „Mögen es auch zunächſt biologiſche Gründe geweſen ſein, die die nor⸗
diſche Raffe in ihrer Herrlichkeit prägten, fo find es doch im weiteren Verlauf
ihrer Entwicklung ein klarer Wille und überſichtliche Zuchtgeſetze geweſen, die
fie zu ihrer Kulturhöhe geführt haben.“ Dieſe Erkenntnis bildet die Grund-
lage für das zweite Werk Darrés, das im Jahre 1930 ebenfalls in Lehmanns
Verlag erſchienen iſt: „Neuadel aus Blut und Boden“, in welchem er die
Der Bauernführer R. Walther Darré 761
praktiſchen volfs- und ſtaatspolitiſchen Folgerungen aus feiner wiſſenſchaft⸗
lichen Erkenntnis zieht. Im Titel dieſes Buches prägt er zum erſtenmal den
Zweiklang der Begriffe, die — damals ein Ruf ins Nichts — heute geradezu
zum Schlagwort im beſten Sinn geworden ſind. Sie ſind als Parole und
Feldgeſchrei ſtändig im tagespolitiſchen Kampf der nationalſozialiſtiſchen
Bauernbewegung der letzten Jahre erſchallt und ſtellen heute nichts mehr und
nichts weniger dar als das knapp formulierte Staatsgrundgeſetz des werden⸗
den Dritten Reichs.
Im Rückblick auf dieſe Kampfjahre iſt es nun hoch intereſſant zu verfolgen,
wie der unbekannte Schriftſteller Darré aus den gedanklichen Erkenntniſſen
ſeiner beiden Werke die praktiſchen Folgerungen zog und den politiſchen Weg
fand, ſie in der Wirklichkeit zu geſtalten. Daß an dieſer entſcheidenden Wende
ſeiner Laufbahn ein gütiges Geſchick ſtand und ihm die Hand reichte, wen
ſollte dies wundern bei einem Manne, der beſeſſen iſt von der inneren Ge⸗
wißheit, eine völkiſche Miſſion zu haben? Er lernte Adolf Hitler, der
damals im Frühjahr 1930 ſelbſt noch ein gegen Tod und Teufel um
ſeine Anerkennung Ringender war, im Hauſe Schultze⸗Naumburg kennen.
Am Schluſſe eines Geſprächs, das zur ſtundenlangen Zwieſprache zwiſchen
beiden Männern wird, erhält Darré das Angebot, nach München zu kom⸗
men und den Kampf um das Deutſche Gauerntum im Rahmen der national-
ſozialiſtiſchen Bewegung zu organifieren. Er greift ohne Bedenken und
freudig zu. Anbekannt tritt er als politiſcher Soldat der Bewegung im Som⸗
mer 1930 feinen Dienſt in der Reichsleitung an. Wer die volle Schwere dieſes
Kampfes um Geltung, der nun anhebt, erkennen will, muß wiſſen, daß dieſes
Ringen zunächſt nach innen und außen gerichtet fein mußte. Nach außen ſelbſt⸗
verſtändlicherweiſe deshalb, weil das nationalſozialiſtiſche Gedankengut bis
dahin im Kampfe gegen die wirtſchaſtlich ausgerichteten bürgerlichen und
Standesparteien auf dem flachen Lande ſo gut wie völlig unbekannt war. Nach
innen deshalb, weil die Bewegung, von den Städten ausgehend, in ihrer
Ideologie verſtändlicherweiſe zunächſt ſtädtiſch beſtimmt war. Aus klarer Ge⸗
ſchichtskenntnis und aus innerer Beherrſchung der Geſetzmäßigkeit des Orga⸗
niſatoriſchen tat Darré nicht das, was jeder angeſichts der Sachlage erwartet
hätte. Er ging nicht darauf aus, den beſtehenden landwirtſchaftlichen Organi⸗
ſationen einen neuen nationalſozialiſtiſchen Verein gegenüberzuſtellen. Aus
dem Grundſatz „Männer, nicht Maßnahmen“ bildete er vielmehr in aller
Stille eine neue bäuerliche Führerſchicht heran. Dieſer agrarpolitiſche Apparat
wurde ſtändig durchgeſiebt, immer wieder kam der im Kampf beſſer Bewährte
an die Stelle des Minderbewährten. Ein ſtändiger Ausleſevorgang ſchärfte
die Schlagkraft dieſes Führerkorps, das ſich in kämpferiſcher Gemeinſchaſt zu⸗
ſammenſchmolz. Mit dieſem Führerkorps trat Darré erſtmals in den hiſtori⸗
ſchen Herbſtwahlkampf 1930 ein. Von da an datiert ein ſtändig ſich ſteigernder
762 Hermann Reischle, Der Bauernführer R. Walther Darre
Einſatz im Kampf um Stimme und Seele des deutſchen Bauerntums. Neben⸗
her ging die fortgeſetzte geiſtig⸗-weltanſchauliche Schulung. Die „NS. Lande
poſt“ erſchien damals als unbekanntes Blättchen unter dem höhnenden Ge⸗
lächter der politiſchen Gegner. Eine Reihe von kurzgefaßten Broſchüren kam
aus ſeiner oder ſeiner engſten Mitarbeiter Feder heraus. Im Sommer 1932
erfolgte die Herausgabe der „Deutſchen Agrarpolitik“, Monatsſchrift für das
deutſche Bauerntum, ein entſcheidender Schritt zur Werbung für das geiſtige
Gedankengut der Bewegung.
Neben der geiſtigen Durchdringung ſeiner Mitkämpfer vergaß Darré aber
nicht den Wert der Sicherung praktiſcher Machtpoſitionen. Er drang erſt mit
einigen, dann mit immer mehr ſeiner Gefolgsleute in die Landwirtſchafts⸗
kammern ein, ſicherte ſich in raſchem Zugriff bereits im Frühjahr 1932 eine
Machtpoſition im Präſidium des Reichslandbundes und niſtete fic) von unten
her in die Antergliederungen der landwirtſchaftlichen Berufsverbände ein,
die er dergeſtalt zunächſt im politiſchen Kampf neutralifierte, um fie ſpäter
nüchtern und rückſichtslos als Waffe für ſich auszunützen. Er zerſchlug in
ganz perſönlichem Einſatz die Machtpoſition der Landvolkpartei an ihrer
Wurzel in Thüringen. Er warf ſich der Reaktion in ihren Hochburgen ent⸗
gegen und vergaß doch über dem Tageskampf im Lande draußen niemals, die
Früchte auch in diplomatiſch⸗taktiſchem Florettkampf an den Brennpunkten
der politiſchen Entſcheidungen einzuheimſen. Im Großkampfjahr 1932, begin-
nend mit Adolf Hitlers gigantiſchem Ringen um den Reichspräſidentenpoſten,
ſchoß die Saat von Darrés ſyſtematiſcher Arbeit in die Halme. In immer
großartigerem Ausmaße holte der agrarpolitiſche Sektor Boden auf, und bald
zeigte ſich, daß das Bauerntum nunmehr die ſtärkſten und ſicherſten Bataillone
hinter Adolf Hitler ſtellte. Dieſe Bataillone hielten nicht nur ſtand, als der
Führer im Hochſommer 1932 die Teilergreifung der Macht ausſchlagen
mußte, nein, dieſe Bataillone erzwangen auch durch ihren rückſichtsloſen Ein⸗
ſatz den Sturz der Zwiſchenkabinette vor der endgültigen Machtübernahme
am 30. Januar 1933. Die nach dem 30. Januar in ſeinem Arbeitsbereich not⸗
wendig werdenden Entſcheidungen hatte Darré gut vorbereitet. Deshalb iſt
auch der Gleichſchaltungsprozeß nirgends fo raſch und reibungslos vorange-
kommen wie im agrarpolitiſchen Bereich. Nicht nur die Führung des Reichs⸗
landbundes als der bisher größten ſtandespolitiſchen Vertretung iſt heute
völlig in nationalſozialiſtiſcher Hand. Darré ſteht vielmehr bereits ſeit Wochen
in ſeiner Eigenſchaft als Vorſitzender der Reichsführergemeinſchaft des deut⸗
ſchen Bauernſtandes an der Spitze des geſamten deutſchen Bauerntums über⸗
haupt. Darüber hinaus iſt vor kurzem die Führung von 40 000 ländlichen Ge⸗
noſſenſchaften in ſeine Hand gelegt worden, und es wird lediglich eine Frage
der formalen Anerkennung eines bereits beſtehenden Zuſtandes ſein, wenn
ihm demnächſt wohl auch die Führung der öffentlich- rechtlichen Säule der
Walter Bohm, Zur Erbhofbewegung 763
landwirtſchaftlichen Selbſtverwaltung übertragen wird. Damit wird er, gee
tragen vom felſenfeſten Vertrauen von 95 v. Hundert aller deutſchen Bauern
und anerkannt als ihr alleiniger Standes führer, in ihrem Namen ſeinen letz⸗
ten Anſpruch geltend zu machen haben.
Am Schluſſe dieſes kurzen Abriſſes über den Wiſſenſchaftler und Politiker
Darré ſoll ſtehen ein kameradſchaftliches Bekenntnis zu dem Menſchen, das
mir, wohl im Einverſtändnis mit allen feinen Mitarbeitern, herzliches Gee
dürfnis iſt. Der Menſch Darré kann nicht klarer und eindeutiger gekennzeichnet
werden als mit dem Begriff „Kamerad“, ſo wie wir ehemaligen Frontſoldaten
dieſen Begriff in unſerer durch Feuer und Blut gehärteten Schickſalsgemein⸗
ſchaft erlebt haben und in uns tragen.
Möge der Gott, an den er glaubt, ihn die Vollendung ſeines Werkes er⸗
leben laſſen. a
Walter Bohm:
Fur Erbhofbewegung
Seit R. Walther Darre fein grundlegendes Werk vom Bauerntum als
Lebensquell der nordiſchen Raſſe geſchrieben hat, greift die Erkenntnis immer
mehr um ſich, daß unſer Bauerntum der eigentliche Kern des deutſchen Volkes
iſt; und der Bauer ſteht heute im Mittelpunkt des ſtaatlichen Geſchehens in
allen volksdeutſchen Landen. Haben wir politiſch ſeit dem 30. Januar dieſes
Jahres unſer Volk dem Dritten Reiche einen guten Schritt nähergebracht, ſo
gilt es nun vor allem, an der Geſundung des deutſchen Volkes und damit
unſeres Bauerntums zu arbeiten. Die allernotwendigſten wirtſchaftlichen
Notverordnungen, den Bauern auf ſeiner Scholle zu erhalten, ſind inzwiſchen
erlaſſen worden. Aber wir treffen beim Bauerntum, um mit Darre zu reden,
„auf Probleme, die außerhalb aller Wirtſchaftlichkeit ſtehen
und die nur gemeiſtert werden aus einer Weltanſchauung
heraus, die klar zum Problem des Blutes und der Raffe
Stellung nimmt.“
Zu dieſen weltanfchaulichen Begriffen gehört auch das Grundeigentum ger⸗
maniſchen Rechts; denn: „Der germaniſche Begriff des Eigentums
tft von dem germaniſchen Grundgedanken der Familie als
einer Geſchlechterfolge gar nicht zu trennen. Dies hing ur⸗
ſächlich zuſammen mit dem germaniſchen Gottumsbegriff, wie überhaupt der
Weltanſchauung der Germanen. ... Genau fo, wie nun ſeit dem Zuſammen⸗
treffen der Germanen mit dem römischen Reiche der Cäſaren ein Kampf ftatt«
findet zwiſchen germaniſcher und ſpätrömiſcher Staatsauffaſſung und Staats.
verwaltungsauffaſſung, ſpielt ſich ein Ringen auf dem Gebiet des Eigentums⸗
764 Walter Bohm
begriffes ab. Dies ift natürlich, weil die Auffaſſung vom Staat und vom
Eigentum mehr oder minder in Wechſelwirkung zueinander ſtehen.“ (Darré,
Adelsbuch, S. 62.)
Die Erbhofbewegung nun will diejenigen Bauern auszeichnen, deren
Familien dem römiſchen Bodenrecht zum Trotz wenigſtens hundert, am beſten
aber zweihundert Jahre im Mannes- oder Weibesſtamm ihren Grund und
Boden, ihre Bauernhöfe, feſtgehalten, eigentümlich beſeſſen und ſelbſt bewirt-
ſchaftet haben. Die Auszeichnung dieſer alteingeſeſſenen Bauernfamilien ſoll
dadurch erfolgen, daß ihre Bauernhöfe von Geſetzes wegen und von Amts
wegen als „Erbhöfe“ bezeichnet werden. Sollte ſolch ein Hof aber neuer⸗
dings aus der Familie heraus veräußert werden, dann ſoll damit auch von
felbft die geſetzmäßige Bezeichnung des Hofes als „Erbhof“ erlöſchen. Aber
die Bewegung leſen wir zum Beiſpiel in den niederſächſiſchen Tageszeitungen
etwa folgendes:
„Um die Bezeichnung Erbhof
Lüneburg, 9. März. Die Anregung des Hofbauern Nobert Sponagel in
dem Marſchdorf Echem bei Lüneburg, alte Bauernhöfe mit der Bezeichnung
„Erbhof zu verſehen, iſt auf lebhaften Beifall in den Kreiſen der erbgeſeſſenen
Bauernſchaft geſtoßen. In der Zentralſtelle für ſächſiſche Familienforſchung in
Lüneburg wurde wiederholt über dieſe Bezeichnung geſprochen und beſchloſſen, an
die Landwirtſchaſtskammer heranzutreten, um für Höfe, deren Bauernfamilien
nachweislich länger als 200 Jahre dort anſäſſig find, dieſen Ehrentitel zu erlan⸗
gen. Robert Sponagel hat inzwiſchen viele Zuſtimmungserklärungen auch aus
anderen Gebieten erhalten. Unter anderen hat ein Paſtor aus Huſum in Schles⸗
wig-Holftein bereits im gleichen Sinne gearbeitet. Die Bezeichnung Erbhof“ fol
auch gelten, wenn der Hof ſich in weiblicher Linie vererbt. Nach Anſicht Sponagels
bietet ſich deshalb dem Familienforſcher eine unerſchöpfliche Fundgrube, da oft
der alte Name des Hofes noch erhalten iſt, der Bauernname aber mehrmals durch
Einheirat gewechſelt hat. Nachdem die Landwirtſchaftskammer Schwerin im
vorigen Jahre einen ähnlichen Beſchluß auf Auszeichnung alter Bauerngeſchlechter
gefaßt hat, wird wohl auch die Landwirtſchaftskammer Hannover poſitiv zum
„Erbhof“ Stellung nehmen.“
In der „Nationalſozialiſtiſchen Landpoſt“ hat inzwiſchen Dr. Wilhelm
Schaare eingehend zur Erbhoffrage Stellung genommen, und in der öſter⸗
reichiſchen Preſſe hat Dr. G. S., Linz a. D., über die Bewegung in Kärnten,
Niederöſterreich, Bayern und Tirol, beſonders aber an Hand des oberöſter⸗
reichiſchen Erbhofgeſetzes über die diesbezüglichen Beſtrebungen in Ober⸗
öſterreich berichtet. Wir drucken im nachfolgenden das genannte oberöfterrei-
chiſche Geſetz ab, um ſodann grundſätzlich zu dieſem Geſetz und der ganzen
Bewegung Stellung zu nehmen:
„Geſetz vom 19. Dezember 1931,
betreffend die Kennzeichnung altererbten bäuerlichen Beſitzes
in Oberöſterreich.
Der oberöſterreichiſche Landtag hat beſchloſſen:
8 1.
Zur ehrenden Hervorhebung von Beiſpielen treuen Feſthaltens an ererbtem
bäuerlichen Beſitze wird die Bezeichnung Erbhof“ geſchaffen, die ausſchließlich
jene für den Anterhalt einer Familie hinreichenden landwirtſchaftlichen, mit einem
— a ee — — — — —— — . ̃ —— ·˙¹ðeñ[— ̃ am — m ——— —_—, — — — — ri
Zur Erbhofbewegung | 765
Wohnhaus verſehenen Beſitzungen führen dürfen, die feit mindeſtens 200 Jahren
innerhalb derſelben Familie im Mannes oder Weibesſtamme übertragen wore
den find und von dem Eigentümer ſelbſt bewohnt und bewirtſchafiet werden.
§ 2.
Das Redht, die Bezeichnung „Erbhof“ zu führen, wird von Amts wegen oder
über Anſuchen des Eigentümers bei Nachweis der Vorausſetzungen des § 1 von
der Landesregierung verliehen und ſchließt die Befugnis in ſich, dieſe Bezeichnung
ſichtbar am Wohngebäude zu führen.
Aber die Verleihung des Rechtes iſt eine Arkunde auszufertigen. Abſchriften
dieſer Arkunden find nach Gerichtsbezirken und Gemeinden geordnet im Landes-
regierungsarchiv zu hinterlegen. i
§
Das Recht zur Führung der Bezeichnung ‚Erbhof‘ ift über anläßlich der Ver⸗
leihung von der Landesregierung zu ſtellendes Anſuchen in der Aufſchriſt des
Gutsbeſtandsblattes des Grundbuches aufzunehmen.
81.
Das Recht zur Führung der Bezeichnung ‚Erbhof‘ bleibt inſolange aufrecht,
als die Vorausſetzungen des 8 1 fortbeſtehen.
Fallen dieſe Vorausſetzungen ſort, hat die Landesregierung das Erlöſchen
dieſes Rechtes feſtzuſtellen und das Grundbuchgericht zum Zwecke der bücher⸗
lichen Löſchung zu verſtändigen. ‘
§
Das Grundbuchgericht hat die Landesregierung zu verftändigen, wenn ein
Wechſel im Grundbuche eintritt oder erhebliche Teile des Grundbuchkörpers ab-
getrennt werden. § 6
Die unbefugte Führung der Bezeichnung Erbhof“ iſt von der politiſchen Be⸗
zirksbehörde als Verwaltungsübertretung mit Geld bis zu 1000 S. oder mit
Arreſt bis zu zwei Wochen zu beſtrafen. Auch kann im Erkenntniſſe die Verpflich-
tung zur Entfernung einer allfällig zu Anrecht erfolgten äußeren Bezeichnung als
„Erbhof“ ausgeſprochen werden. Dieſer Ausſpruch iſt im Wege der politiſchen
Exekution vollſtreckbar. 37
Das Geſetz tritt mit dem Tage der Kundmachung in Kraft.
Der Landeshauptmann
Dr. Schlegel.
Der Landesamtsdireltor
Attems.“
(Vgl. Landesgeſetzblatt für Oberöſterreich vom Jahre 1932. 9. Stück. Nr. 16.
Ausgegeben und verſendet am 25. Jänner 1932.)
Soweit das oberöſterreichiſche Geſetz. Wir haben dazu im einzelnen folgen⸗
des zu bemerken: Pr
u
Es ſoll ehrend hervorgehoben werden das treue Feſthalten des erbgeſeſſenen
Bauern und ſeiner Vorfahren am Erbhofe des Geſchlechts, und der Erbhof
ſoll nun dieſe ihm aus der Natur der Sache zukommende Bezeichnung auch
auf Grund des Geſetzes, auf Grund poſitiven Rechtes alſo, führen. Wir ſtim⸗
men der Abſicht des oberöſterreichiſchen Geſetzgebers durchaus zu; aber wir
766 Walter Bohm
halten es für gut, wenn auch dem Bauern, der doch nebft feinen Vorfahren
das Verdienſt der Gründung und Erhaltung dieſes Erbhofes ſich erworben
bat, ein Ehrentitel wird und eine Anrede, die ihn aus der Zahl der Standes-
genoſſen rühmend hervorhebt, dieſe zu gleichem Eifer um die Erhaltung der
Scholle anzuſpornen.
R. Walther Darré ar im Adelsbuche ausdrücklich die Schaffung einer
wirklich vorbildlichen Oberſchicht, in der in jedem Falle das Verdienſt die
ausſchlaggebende Rolle ſpielt, in der aber auch adlige Haltung nicht fehlen
darf. And die alteingeſeſſenen deutſchgeborenen Hofbauern auf hundert ⸗ und
mehrjährigem Beſitz ſcheinen uns gerade recht, auf dem flachen Lande zur
Bildung dieſer Führerſchicht beizutragen. Sie find deutſchen Blutes, ſeit
Generationen iſt ihre Tüchtigkeit bewährt, ihr Verdienſt iſt die Erhaltung des
Bauerntums, des Lebensquells unſeres nordiſchen Blutes.
Wir ſchlagen daher vor, den mit Erbhöfen angeſeſſenen Hofbauern den
Titel „Freibauer“ mit der Anrede „Edler Herr“ zu verleihen, ein Titel, der
auch von der Hausfrau als „Freibäuerin“ mit der Anrede „Edle Frau“ zu
führen iſt. Der bisherige Hofbauer Hinrich Schulte zu Jakobshagen hätte
daher ein Recht auf die Briefanſchrift: Dem Edlen Herrn Hinrich Schulte,
Freibauern zu Jakobshagen; ſeine Frau wäre von ihren Leuten, in der Ge⸗
ſellſchaft, von den Behörden oder vor Gericht als „Edle Frau“ anzureden,
und er ſelbſt würde als Berufsbezeichnung den Titel „Freibauer“ führen,
4 1 — Schriftſtücke als „Hinrich Schulte, Freibauer zu Jakobshagen“ unter⸗
zeichnen.
Der Erbhof müßte u. E. die Größe des 8 Hofes ſächſiſchen
Rechts, die Größe des Edelhofes nach Ernſt ver (Würzburg) haben, 90
bis 300 Magdeburger Morgen oder 22,5 — 75 ha; der Erbhof müßte alſo ein
ee der eine reichliche Ackernahrung ſeinem Bauern ermöglicht, der
ſeinen Bauern ſo in die Lage bringt, außer der Beſorgung der eigenen Wirt⸗
ſchaft auch noch die bäuerlichen Ehrenämter in Gemeinde, Kirchſpiel und
Landkreis (Bezirk, Amtshauptmannſchaft uſw.) wahrnehmen zu können. Den
Hufnern und Kleinbauern bliebe die Möglichkeit, ſich zu Hofbauern herauf⸗
guarbeiten und dann auch — hundertjährigen Beſitz der Stammſtellen voraus-
geſetzt — für ihre Stellen die Bezeichnung „Erbhof“, für ſich den Titel „Frei⸗
bauer“ und die Anrede „Edler Herr“ zu erwerben, ſobald ſie nämlich ihre Hufe
oder Kleinſtelle durch Zukauf von Land auf die Größe von 90 Morgen (22,5
Hektar) gebracht und damit zum Vollhof gemacht hätten.
Wir ſind der Meinung, daß Titel und Anrede auch der Hofbäuerin zu⸗
ſtehen muß, weil ſie gemeinſam mit dem Hofbauern, ihrem Gemahl, alle
Sorgen, Laſten und Mühen um die Erhaltung des Hofes trägt, weil ihr alſo
das Verdienſt in demſelben Maße zukommt wie ihrem Eheherrn. Dazu kommt
folgendes: Jedes Geſchlecht ermüdet in der dritten, vierten Generation; über⸗
windet es dieſe Ermüdung, ſo hat daran die eingeheiratete Frau das größte
Verdienſt. Weiter: In jedem Geſchlecht lebt das Weib länger als der Mann.
So ſind die Karolinger im Mannesſtamme längſt erloſchen, im Weibes⸗
ſtamme hat jedes ehemalige Fürſten⸗ und Adelsgeſchlecht Karolingerblut. So
find auch die Welfen im Mannesſtamm längſt erloſchen, ſchon Heinrich der
Löwe hat nur noch im Weibesſtamme Welfenblut gehabt. Denn im Mannes⸗
ſtamm iſt das Geſchlecht ſchon im Jahre 1055 mit Welf III., Herzog von
Kärnten, ausgeſtorben. Dieſes letzten Welfen Tochter war mit Azzo von Eſte
Zur Erbhofbewegung | 767
verheiratet, und deren Sohn wurde mit dem Namen Welf IV. der Stifter
der heutigen Welfenlinie, der Herzöge von Braunſchweig und Lüneburg.
Heinrich der Löwe iſt alſo im Mannesſtamm Lombarde, ein Herr v. Eſte
geweſen, aber im Weibesſtamm war er nicht nur Welfe, er hatte auch das
Blut der Billunger und Brunonen (Braunſchweig⸗Brunswig) und Karls des
Großen und ſeines großen Gegners, Widukinds, Herzogs der Sachſen.
So lebt auch in allen alten Geſchlechtern der engliſchen Gentry das Königs⸗
blut der Plantagenets, ſo lebt noch heute in hunderteinundzwanzig alten Ge⸗
ſchlechtern Hamburgs durch die Töchter der im Mannesſtamme längſt aus-
geſtorbenen Familie Misler aus Frankfurt a. M. das Blut Philipp Melan-
chthons und der Reuchling, fo lebt im Weibesſtamm in viel hundert „Lutheri⸗
den“ Martin Luthers Blut, ſo hat Erich Ludendorff, deſſen wir uns aus dem
Weltkrieg erinnern, das ſchwediſche Königsblut der Waſa durch ſeine Ahn⸗
frau Virginia Eriksdotter, hat aber auch durch ſeine Großmutter Jeanette
v. Dziembowſki das Blut der polniſchen Schlachta.
Weil fo das Blut der alten Geſchlechter im Weibesſtamm ſtärker noch forte
gepflanzt wird wie im Mannesſtamm, darum ſind wir unbedingt dafür, daß
es keinen Anterſchied machen darf im hundert⸗ und mehrjährigen Befitz, ob
der Erbhof im Mannesſtamm oder im Weibesſtamm in der Familie erhalten
wur
de.
„Bekanntlich iſt die Einrichtung der Erbtochter, d. h. die Vererbung eines
Erbſitzes an eine Tochter, falls ein männlicher Erbe (beſſer: Sohn) nicht mehr
vorhanden iſt, ein uralter Brauch bei Indogermanen und Germanen. In Eng⸗
land hat ſich dieſer Brauch bis auf den heutigen Tag gehalten; d. h. beim
Ausſterben des Mannesſtammes werden Lohnbeſitz und Adelstitel auf eine
Tochter vererbt.. (N. Walther Darré, Adelsbuch S. 101).
Wenn Dibelius in ſeinem Englandbuch auf einen gewiſſen ſteriliſierenden
Einfluß der Erbtöchter hinweiſt, ein Einfluß, der auch in Sparta in der Ver⸗
fallszeit beſtanden hat, ſo ſcheint uns das ein pſychologiſches Phänomen zu
fein, das nur geiſtig zu überwinden iſt. Bis geſtern ſetzten junge Damen ihren
Stolz darein, Weltmeiſterſchaften im Sport zu erlangen, im Flugzeug allein
um die Erde zu fliegen und im Typ des ſterilen Girls ſich über die Männer
luſtig zu machen nach der Operettenmelodie aus der Dollarprinzeſſin:
„Ein Hampelmann, wigel, wigel, wag,
Das iſt mein Geſchmack!“
And Präſidenten und Staatsminiſter der untergehenden Zeit gaben ſich dazu
her, ſolchem Anfug durch Staatsempfänge einen offiziellen Anſtrich zu geben.
Seit aber die blutroten Fahnen mit dem ſchwarzen Hakenkreuz im weißen
Felde über Deutſchland wehen, ändern ſich auch die Lebensanſchauungen der
deutſchen Frauen. Das ſterile Girl und die Dame mit den zwei Kindern ver-
ſchwinden, und Weibtum und Mutterſchaft wird von den Frauen wieder als
ihr Beruf erkannt; Mann und Kind ſind der Traum unſerer jungen Mädchen
und nicht mehr Flugzeug, Auto, Bar und ähnlicher Anfug. And damit endet
auch die Sterilität der Erbtochter. Was aber ſchlechtes Erbgut, degeneriertes
Blut anlangt — R. Walther Darré weiſt warnend darauf hin —, fo wird
künftig durch Geſetz und geſetzliches Vorgehen die Erweckung untüchtigen
Lebens von vornherein unmöglich gemacht werden.
768 Walter Bohm
Und fo können wir in der Erbhoffrage die Erbtochter durchaus bejahen.
Die Übertragung des Erbhofes im Mannes oder Weibesſtamme kann nun
durch Erbgang, Kauf, Gutsübergabe oder Schenkung erfolgen; und es ſoll
auch den Altenteilern Titel und Anrede gewahrt bleiben, nur daß unſer Hin⸗
rich Schulte ſich dann Freibauer und Altbeſitzer zu Jakobshagen zu nennen hat.
82
Die Feſtſtellung, welcher Hof ein „Erbhof“ iſt, welchem Bauern und welcher
Bäuerin die Titel „Freibauer“ oder „Freibäuerin“ und die Anrede „Edler
Herr“ und „Edle Frau“ zuſtehen, ſollte erfolgen in der Regel auf Antrag des
zuſtändigen Kreishauptmanns (Landrats, Amtshauptmanns, Bezirkshaupt⸗
manns, Oberbürgermeiſters) durch Urteil des zuſtändigen Amtsgerichts
(Grundbuchrichters). Der Kreishauptmann hat die für ſeinen Antrag notwen⸗
digen Anterlagen von den Gemeindevorſtänden anzufordern. Dazu gehört
ſelbſtverſtändlich auch eine Ahnentafel zum Nachweis des deutſchen oder nor⸗
diſchen Blutes der betreffenden Bauernfamilie. Das Gericht hat die Unter-
lagen zu prüfen, nötigenfalls Ergänzungen zu verlangen, Zeugen zu verneh⸗
men, ſoweit keine Arkunden zu beſchaffen ſind und das Grundbuch zum Be⸗
weiſe nicht ausreicht und hat endlich durch Arteil feſtzuſtellen, daß — um auf
unſeren Hofbauern Hinrich Schulte zu Jakobshagen zurückzukommen — der
im Grundbuch der Gemeinde Jakobshagen gelegene Vollhof „Schultenhof“
ſeit mehr als hundert Jahren im Beſitz des deutſchgeborenen Hofbauern Hin⸗
rich Schulte und ſeiner Vorſahren iſt, daß ſomit genanntem Hofbauern der
Titel „Freibauer“ und die Anrede „Edler Herr“, ſeiner Ehefrau, der deutſch⸗
geborenen Anna Schulte, geb. Hennigs, der Titel „Freibäuerin“ und die An⸗
rede „Edle Frau“, ſowie dem Schulteſchen Vollhofe „Schultenhof“ in Jakobs⸗
hagen die Bezeichnung „Erbhof“ zuſteht.
Je eine Ausfertigung des Arteils ijt dem betreffenden Freibauern (Frei-
bäuerin) und dem Kreishauptmann zuzuſtellen. Das Arteil iſt im Kreisblatt
und im Landesgeſetzblatt zu veröffentlichen und an dem auf die Ausfertigung
des Arteils folgenden Sonntag in der Pfarrkirche des Sprengels, zu dem der
Hof gehört, von der Kanzel zu verleſen.
Erfolgt ein ablehnendes Urteil, fo kann der Antragſteller Berufung an das
Landgericht oder Reviſion bei dem Oberlandesgericht einlegen.
Wir find der Anſicht, daß das Verfahren zur Feſtſtellung der Erbhöfe und
zur Ehrung der darauf ſitzenden Bauern und Bäuerinnen von Amts wegen
erfolgen muß; denn der Bauer hat in der Mühe feines ſchweren Berufes
wenig Zeit für neue Dinge, namentlich wenn ſie außerhalb ſeines eigentlichen
Wirkungskreiſes und außerhalb der gewohnten ehrenamtlichen Tätigkeit in
Orts- und Kreisgemeinde liegen. Es liegt dem Bauern auch nicht, ſich ſelbſt
um eine Ehrung zu bewerben, jo gerne er fie als Anerkennung treuer Pflicht-
erfüllung wohl auch annehmen mag.
In der oberöſterreichiſchen Verwaltungspraxis wird dem Bauern die Ini⸗
tiative zur Erlangung der amtlichen Bezeichnung ſeines Hofes mit dem
Namen „Erbhof“ zugeſchoben. Dem Linzer „Morgenblatt“ zufolge hatte ſich
bis zum 12. Juni 1932 erſt ein einziger Bauer um die gedachte Auszeichnung
beworben. Ein anderes Beiſpiel aus Bayern: Es hat dort vom 22. Februar
1855 bis 23. März 1919 ein Erbgütergeſetz beſtanden, deſſen Zweck die Ein-
führung eines ſehr ſtrengen Anerbenrechts zur Schaffung von Erbhöfen war.
' Zur Erbhofbewegung 769
Aber obgleich es in Bayern Tauſende von alteingefeffenen Familien mit hun⸗
dertjährigem Beſitz gibt, haben in den 64 Jahren, in denen das Erbgüter-
geſetz in Kraft war, doch nur 4 Bauern ihre Höfe in die Erbgüterrolle aus-
tragen laſſen.
Bei unſerer Erbhofbewegung nun handelt es ſich in keiner Weiſe um An⸗
erbenrecht oder Erbfolgeordnung, ſondern nur um die Ehrung alteingeſeſſener
Bauerngeſchlechter; dieſe muß unbedingt von Amts wegen geſchehen.
Bei der Feſtſtellung, ob ein Hof die vorgeſchriebene Größe hat, wird man
ſich nicht zu ſtarr an das Maß 22,5 bis 75 ha zu halten haben. Vielmehr
werden auch größere Höfe und ebenſo auch Höfe, die die Mindeſtgröße nicht
ganz erreichen, ſofern man nach der Natur der Sache ihre Eigentümer als
Vollbauern, die Höfe als Bauernhöfe und die Betriebsweiſe als bäuerlich
anſprechen kann, zu berückſichtigen ſein. Auch kleinere Höfe kommen in Frage,
wenn mit ihnen Mühlenbetriebe, Weinberge, Gifcherei-, Forft-, Hutungs⸗,
Alm-, Butendeichs⸗ oder andere Gerechtigkeiten oder andere Betriebe des
landwirtſchaftlichen Gewerbes verbunden ſind, ſo daß man das Ganze einem
Vollhof gleichſetzen, in ſeinem Eigentümer einen Hofbauern ſehen kann.
Lehnt der Kreishauptmann es ab, beim zuftändigen Richter wegen eines
beſtimmten Hofes den Antrag auf Einleitung des „Erbhofverfahrens“ zu
ſtellen, ſo kann auch der Hofbauer den Antrag ſtellen, wenn wenigſtens der
Gemeindevorſtand die amtliche Erklärung abgibt, daß nach ſeiner Auffaſſung
der Hof und der Hofbauer den Anforderungen des Erbhofgeſetzes entſprechen.
In jedem Falle kann der Hofbauer im ſchwebenden Verfahren ſelber Be⸗
rufung oder Reviſion einlegen, wenn der Kreishauptmann (Bezirksamtmann)
dieſes ablehnt.
Der Freibauer hat das Recht, ee dem Namensſchild feines Hofes die Be⸗
zeichnung „Erbhof“ anzubringen. Er hat ferner das Nest und die Pflicht,
ſein Wappen dem Reichsheroldsamt zur Beſtätigung vorzulegen; und er muß
dem Erſuchen des Reichsheroldsamtes betr. etwa für notwendig befundene
Anderungen an ſeinem Wappen nachkommen.
8 3
Wegen Eintragung der Bezeichnung „Erbhof“ im Beſtandsverzeichnis
(Gutsbeſtandsblatt) des Grundbuches iſt zu verlangen, daß der Grundbuch⸗
richter dieſe Eintragung von Amts wegen vornimmt, ohne beſonderen Antrag;
ebenſo haben alle Behörden, beſonders das Standesamt, die Polizeibehörde
und das Pfarramt, betr. Freibauer und Freibäuerin von Amts wegen ihre
Regiſter, Seelenliſten und Bücher zu berichtigen. Beſonderer Anträge hierzu
ſoll es alſo nicht bedürfen; denn dieſe Anträge ſind dem Bauern beſchwerlich,
unterbleiben deswegen, und es würde dann der Zweck des Geſetzes unter Am⸗
ſtänden ganz oder teilweiſe nicht erreicht werden.
§ 4 und 5
Wenn die Vorausſetzungen wegfallen, unter denen der Hof als Erbhof be-
zeichnet, dem Hofbauern und der Hofbäuerin der Titel Freibauer bzw. Frei⸗
bäuerin mit dem Prädikat Edler Herr bzw. Edle Frau zuerkannt wurden, ſo
muß der Kreishauptmann beim Amtsgericht (Grundbuchrichter) den Antrag
auf Löſchung der gedachten Bezeichnung, Titel und Anreden ſtellen, und der
Richter hat nach entſprechender Prüfung in feinem Urteil dem Antrage ſtatt⸗
770 Walter Bohm, Zur Erbhofbewegung
ugeben, oder ihn abzulehnen. Der Kreishauptmann ſowohl wie der betroffene
ver haben das Recht der Berufung an das Landgericht, der Reviſion durch
das Oberlandesgericht. Iſt ein aberkennendes Arteil rechtskräftig geworden,
fo erfolgt ſeine Bekanntmachung in derſelben Weiſe wie vorher das zuerken⸗
nende Arteil. Alsdann muß der Grundbuchrichter von Amts wegen das
Grundbuch, ebenſo müſſen alle Behörden, beſonders aber Standesamt, Poli-
on und Pfarramt, ihre Regifter, Liften und Bücher entſprechend
erichtigen. s
6
Wer fih unbefugt Freibauer oder Freibäuerin nennt und Edler Herr oder
Edle Frau anreden läßt oder an ſeinem Hofe auf dem Namensſchild die Be⸗
zeichnung Erbhof führt, gegen den ſoll der Kreishauptmann Anzeige bei der
Staatsanwaltſchaft erſtatten.
87
Hier iſt nichts Beſonderes zu bemerken. Wegen Bekanntmachung und In⸗
krafttreten des Geſetzes werden immer die betr. Verfaſſungsbeſtimmungen zu
beachten ſein.
Soweit unſere einzelnen Bemerkungen zum oberöſterreichiſchen Erbhofgeſetz
vom 19. Dezember 1931 vom geſamtdeutſchen Standpunkt aus geſehen.
Im allgemeinen haben wir noch zu ſagen, daß wir durch unſere Zuſtim⸗
mung zu der gedachten Auszeichnung alteingeſeſſener Bauerngeſchlechter kei⸗
neswegs zurückſtellen unſere Beſtrebungen zur Schaffung eines deutſchen
Bodenrechtes, deren Richtlinien wir im Heft 7 der „Deutſchen Agrarpolitik“
zur Diskuſſion geſtellt haben, und daß wir durchaus aufrechterhalten die
Darréſchen Hegehofgedanken, die Abſicht, einen neuen deutſchen Adel aus
immer und immer wieder erprobtem Führertum in Verbindung mit Blut und
Boden erſtehen zu laſſen. Ebenſo erhalten wir durchaus aufrecht den Ge⸗
danken der deutſchen Bauerngilden in Verbindung mit der dort dargelegten
bäuerlichen Gerichts⸗ und Ehrengerichtsbarkeit. Wir behalten uns auch aus⸗
drücklich vor die Ehrung alter Familien, die in zähem Kampf größere Güter
durchgehalten und zum allgemeinen Beſten bewirtſchaftet haben, ähnlich zu
geſtalten der hier behandelten Ehrung erbgeſeſſener Hofbauern. Denn wir
wollen alles ſammeln, was irgendwie zur Bildung der angeſtrebten Führer⸗
ſchicht beitragen kann. Jedem — auch dem ärmſten und allergeringſten —
Volksgenoſſen, wenn er nur tüchtig iſt, wollen wir den Auſſtieg ermöglichen,
alles Antüchtige wollen wir aus der Führung ausmerzen.
In dieſem Sinne ſtellen wir die hier angedeuteten Richtlinien zur Aus⸗
. bevor wir darangehen, einen entſprechenden Geſetzentwurf auszu⸗
arbeiten.
Doch muß ſich die Ausſprache immer im Rahmen der von R. Walther
Darré im Bauernbuche und im Adelsbuche feſtgelegten Richtlinien halten.
Denn die Fernziele ſind feſtgelegt. And über nationalſozialiſtiſche Grundſätze
darf ebenſowenig diskutiert werden wie über das in uns ſelber liegende Grund⸗
geſetz von Blut und Boden. And wir wollen auch als Landwirte — und jeder
Bauer muß Landwirt ſein —, als Agrartechniker alſo, deren Kunſt ange⸗
wandte Naturkunde iſt, immer der Worte eingedenk ſein, die Paul Schultze⸗
Naumburg dem Adelsbuche vorangeſtellt hat:
„Es wird eine Zeit kommen, in der man erkennt: der Menſch lebt nicht von
Pferdekräften und Werkzeugen allein. Es gibt auch Güter, die er daneben
Heinz Konrad Haushofer, Die bayerischen Stammhöfe 771
nicht entbehren will und kann. And er wird haushalten lernen, und er wird
das eine nicht zu gewinnen ſuchen, um mit ihm alles andere zu verlieren.
Denn, wenn der Menſch alles gewonnen hätte, was ſich mit ſeiner Technik
gewinnen läßt, dann würde er zu der Erkenntnis kommen, daß das ſo maßlos
erleichterte und einfach gemachte Leben auf der entſtellten Erde eigentlich nicht
mehr lebenswert iſt, daß wir zwar alles an uns geriſſen, was unſer Planet
herzugeben hatte, daß wir aber bei dieſer Wühlarbeit ihn und damit uns
ſelbſt zerſtört haben. Sorge ein jeder an ſeinem Teile, daß die Amkehr kommt,
ehe es überall für immer zu ſpät iſt.“
Heinz Konrad Haushofer:
Die bayerifhen Stammhöfe
An und für ſich iſt jede Familie uralt, und ein Stammbaum wäre, wenn
er nicht beſondere Leiſtungen regiſtrieren würde, das alltäglichſte. Auch die
5 Mehrzahl unſerer Siedlungen iſt uralt, ohne daß dieſes Alter
etwas Beſonderes bedeuten würde. Die reine Tatſache eines Familienſtamm⸗
baumes oder das Alter einer Siedlung find noch nicht Agrargeſchichte: indem
Augenblick, in welchem aber eine Ahnenreihe und die Ent-
wicklung einer Siedlung zuſammenfallen, ſteht vor uns
die Agrargeſchichte in ihrer abſoluteſten Form auf. Der
bäuerliche Altbeſitz gehört deshalb zu den beachtenswerteſten Erſcheinungen
der Agrarpolitik.
Von den geiſtigen Werten, die ſowohl in der Tatſache der Erhaltung des
Beſitzes enthalten ſind, als auch beiſpielgebend nach allen Seiten ausſtrahlen,
ſoll zunächſt nicht geſprochen werden. Sie verſtehen ſich für uns ſelber, ſollten
aber bei einer wiſſenſchaftlichen Bearbeitung des Altbeſitzes nicht zur Vor⸗
ausſetzung n werden. Zunächſt gehen wir alſo bewußt nicht von der
Seite des Volkstums, des Familienzuſammenhalts oder der bäuerlichen Kul⸗
tur aus, ſondern von den agrarpolitiſchen und betriebswirtſchaftlichen Grund-
lagen. Es wird ſich dabei zeigen, daß wir zu viel ſchwerer wiegenden Schluß⸗
folgerungen kommen, trotzdem oder eben weil die Aufgabe von der theore⸗
tiſchen Seite angepackt werden muß, als wenn wir uns durch den Reiz ſchöner
alter Höfe oder einzelner Familiengeſchichten feſſeln laſſen. Es handelt ſich
alſo hier um das Allgemeine und nicht um das Beſondere.
Die Stammhöfe find anerkannt vom Bayeriſchen Landwirtſchaftsrat und
vom Bayeriſchen chriſtlichen Bauernverein, deren Urmaterial dem Verfaſſer
in dankenswerter Weiſe zur Verfügung geſtellt wurde. Aber wir ſchrieben
ſchon früher (Sept. 1932) an dieſer Stelle darüber: „Welche Gelegenheit für
den Staat, aus der Altbeſitzehrung vielleicht die größte ſtaatliche Anerkennung
für den ſtändiſchen Grundſatz des Bauerntums zu machen! Nichts geſchahl
Die Anerkennung ſolcher Stammhöfe blieb nach wie vor ein Privatunter-
nehmen der betreffenden Organiſationen, denen dafür die Anerkennung aller
772 Heinz Konrad Haushofer
ficher ift. Hier iſt eine Aufgabe für den Staat, deren Symbolkraft nicht einmal
geldlich unterſtützt werden müßte, um große Wirkung zu haben.“
Gedacht muß aber auch noch des Mannes werden, auf deſſen Anregung
a das ganze Werk der Altbeſitzehrungen in Bayern begonnen hat, um von
pern aus in eine Anzahl deutſcher und öſterreichiſcher Länder auszuſtrah⸗
len: des Freiherrn von 2 reyberg. Aus der agrarpolitiſchen Tradition der
Freiherren von Freyberg ſei an eine der älteren bedeutendſten Quellen zur
bayeriſchen Agrargeſchichte erinnert, an die Almordnung des Herrn Pangratz
von Freyberg für das Sachranger Tal in Oberbayern aus dem Jahre 1558.
Die wirtſchaftspolitiſche Bedeutung diefer Almordnung erhellt daraus, daß
Pangratz von Freyberg verſuchte, die Bauern der Herrſchaft Aſchau vor der
Verflechtung in die aufblühende, aber für den Bauern gefährliche Verkehrs⸗
und Kreditwirtſchaft der Renaiſſance zu bewahren. Die wirtſchaftspolitiſche
Geſchichte des Hauſes Freyberg führt weiterhin ſchon im 19. Jahrhundert zur
Frage des Altbeſitzes; denn Freiherr von Freyberg hielt im bayeriſchen Land-
tag zu der berühmten Brentanoſchen Enquete über die Vererbung des bäuer⸗
lichen Befitzes in Bayern das Referat, das gegenüber der bekannten Brentano⸗
ſchen Einſtellung die unbedingt erforderliche Korrektur brachte. Die Frage des
bäuerlichen Altbeſitzes hat alſo in Bayern bereits eine umkämpfte geiſtes⸗
geſchichtliche Tradition.
Was die Stellung der bayeriſchen Agrarpolitik zur Beſitzerhaltung anlangt,
ſo iſt wohl anzunehmen, daß ſie während des frühen und Hochmittelalters eine
ohne weiteres bejahende Stellung eingenommen hat. Aber wahrſcheinlich ſchon
im Spätmittelalter und nachweislich mit der Renaiffance beginnt ſich eine
andere Strömung abzuzeichnen. Seitdem die Einheitlichkeit einer ausſchließlich
ländlichen Volkswirtſchaft mit der Entwicklung des Städteweſens und der
volkswirtſchaftlichen Arbeitsteilung zu Ende ging, ſehen wir die zwei Ten⸗
denzen in der bayeriſchen Agrarpolitik nebeneinander herlaufen: auf der einen
Seite die Forderung nach Erleichterung des Kredites, Möglichkeit der Mobi⸗
liſierung der Werte und ſcheinbarer individueller Freiheit; auf der anderen
Seite das Verlangen nach Bindungen wirtſchaftlicher Art, Kreditreſtriktion,
Beibehaltung des Hoffußes uſw., bis herauf in die neueſte Zeit. Es geht z. B.
aus der Geſchichte der bäuerlichen Verſchuldung in Bayern hervor, eine wie
alte Verwurzelung die Probleme der Auseinanderſetzung zwiſchen Boden
und Kapital haben. Zum mindeſten alſo ſeit der langſamen Auflöſung des
kanoniſchen Zinsverbotes, etwa im 14. und 15. Jahrhundert, mußte um die
Erhaltung eines Beſitzes in der Familie gekämpft werden. Es iſt aber auch
gewagt, wenn angenommen würde, daß dem Bauern zu irgendeiner früheren
Zeit, und ſei es auch nach der bajuvariſchen Landnahme, die Erhaltung ſeines
Hofes durch die Allgemeinheit gewährleiſtet geweſen ſei; die früheſten Quellen
laſſen ebenſolche Möglichkeiten, von Haus und Hof zu kommen, erkennen, wie
die ſpäteren ſeit Ausbreitung des Geld- und Kreditweſens. Es waren
ſtets eigenſte menſchliche Qualitäten die inneren Voraus-
ſetzungen für die Erhaltung eines bäuerlichen Familien-
beſitzes; ohne dieſe war auch die ſtrengſte Agrargeſetz-
gebung nicht in der Lage, einen Bauern auf der Scholle zu
halten. Später, im 18. Jahrhundert, war das Syſtem der Vererbung
großer, geſchloſſener Höfe heftigen Angriffen ausgeſetzt, während unter Marie
milian III. Joſef, dem letzten der altbayeriſchen Wittelsbacher, die notwen⸗
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Die bayerischen Stammhöfe 773
digen Reformen mit einem großen Verſtändnis für die Weiterbildung des
hiſtoriſch Gewachſenen durchgeführt wurden, ſchien mit dem ſpäteren Ein⸗
dringen halb gewerblicher Wirtſchaftsvorſtellungen auch in die Landwirtſchaft
die Zertrümmerung der geſchloſſenen altbayeriſchen Höfe zum Paradeſtück der
Agrarpolitik werden zu wollen. Wie die Anſätze dazu durch die Romantik
der deutſchen Agrarpolitik unter Adam Müller wieder abgebogen wurden,
führt uns in eine Zeit, die der heutigen Generation noch gegenwärtig iſt: die
Ideenkämpfe der Brentanozeit, die heute unendlich ſchärfer und mit vermehr⸗
ten Fronten weiter ausgetragen werden.
Die Zahl der eingetragenen Stammhöfe geht nunmehr hoch in das zweite
Tauſend. Zufallsergebniſſe dürften ſchon bei einer ſolchen Zahl ausgeſchloſſen
fein. Aber auch die Erfcheinung des Altbeſitzes ſelbſt iſt angeſichts einer ſolchen
Zahl von Betrieben keine Zufallserſcheinung mehr. Es erhebt ſich hier ſofort
die äußerſt ſchwer zu beantwortende Frage, wie groß der Prozentſatz des
Stammbeſitzes überhaupt in der bayeriſchen Bauernſchaft ijt. Denn es iſt gue
nächſt nur ein, wenn auch bedeutender, Bruchteil der bayeriſchen Bauernſchaft,
der in den anerkennenden Verbänden organiſiert war. And ſelbſt in dieſem
Teil geht erfahrungsgemäß die Kenntnis der eigenen Familiengeſchichte ſelten
über den Argroßvater der jeweils lebenden Generation hinaus. Es helfen uns
aber hier die wenigen ganz durchforſchten Orte weiter. Aberall, wo ein Ort
durch die verdienſtliche Arbeit eines Ortsgeiſtlichen oder eines Gamilienfor-
ſchers genau bearbeitet wurde, ſehen wir eine außerordentliche Verdichtung
des Altbeſitzes, ſo daß hier oft ein Dutzend oder ſogar Dutzende von Altbeſitz⸗
fällen in einer Gemeinde nachgewieſen werden können. Dieſer Amſtand läßt
den Schluß zu, daß der bisher anerkannte Altbeſitz wirklich
nur ein geringer Bruchteil des wirklichen Altbeſitzes iſt.
Die obere Streuungsgrenze wird kaum anders zu ziehen fein als durch die Aus⸗
ſage, daß ein Aberwiegen des Altbeſitzes über „walzende Höfe“ wohl nir⸗
gends anzunehmen iſt. Dies iſt alles, was ſich über den Anteil der Stamm⸗
höfe an der Geſamtlandwirtſchaft wird ausſagen laſſen. Jedenfalls aber iſt
der Anteil erheblich größer, als bisher angenommen wurde, läßt ſich aber
zahlenmäßig nicht faſſen. Allgemein geſehen iſt das maſſenhafte Auftreten des
Altbeſitzes aber inſofern von der größten Bedeutung, als aus der indi⸗
viduellen Erſcheinung des einzelnen Stammgutes tatſäch⸗
lich und nicht nur als Phraſe der Begriff des Stammlan-
des heraus wächſt.
Fälle wie die obengenannten, bei denen in einzelnen Gemeinden eine
außerordentliche Häufung des Altbeſitzes eintritt, müſſen naturgemäß Une
regelmäßigkeiten im geographiſchen Verbreitungsbild des Altbeſitzes hervor⸗
rufen. Trotzdem iſt aber die Karte der Verbreitung von größtem Intereſſe.
Als erſtes fällt die faſt vollſtändige Leere der Rheinpfalz auf. Die Kennzeich⸗
nung der Arſachen kann hier nicht beſſer erfolgen als mit einem Wort: „Code
civil“. Doch ſcheint ſich auf den größeren Hofgütern ſeit Beginn des vorigen
Jahrhunderts eine bäuerliche Tradition zu feſtigen.
Auffallend iſt weiter eine gewiſſe Leere in Franken. Sie iſt in erſter Linie
hiſtoriſch⸗politiſch begründet. Zur Kennzeichnung diene die Außerung einer
1 Landwirtſchaftsſtelle: „Bei der geſchichtlichen Entwicklung des
uernſtandes, der jahrhundertelang in völliger Hörigkeit den ..- Grafen und
den .. Rittern unterworfen war, hat ſich irgendein bäuerliches Selbſtgefühl
Agrarpolitik Heft 11, Bg. 2
774 Heinz Konrad Haushofer
niemals zu entwickeln vermocht, fo daß jede Tradition, jedes Standesbewußt⸗
— und damit auch jede Achtung und Ehrung vor überliefertem Befitz voll⸗
ändig unbekannte Dinge bleiben mußten. Die kurze Zeit von drei Genera-
tionen, wo der Bauer frei ijt, hat nicht genügt, eine Löſung dieſer alten Bin⸗
dungen zu bewirken. Es iſt oe anzunehmen, daß im Laufe der kommenden
Geſchlechter allmählich eine Anderung eintreten wird, und dann könnte es ſehr
wohl möglich ſein, daß durch kluge Pflege des alten Erbtums eine gewiſſe
Erziehung zum bäuerlichen Adel von Erfolg begleitet ſein kann.“
n der Oberpfalz fällt eine außerordentliche Verdichtung des Altbeſitzes
auf. Dieſe iſt gleichfalls keine Zufälligkeit, ſondern iſt, wie aus den Berichten
der betreffenden Landwirtſchaftsſtellen hervorgeht, in erſter Linie auf die ziel⸗
bewußte Koloniſationsarbeit der Klöſter, wie Speinshardt und Waldſaſſen,
zurückzuführen. Von den Klöſtern wurden nur fähigſte Familien angeſiedelt,
und die äußere und innere Verkehrslage der Höfe und das Verhältnis der
Kulturarten zueinander zeugt noch heute von glänzender Siedlungstechnik.
Geiſtig ſtehen die Altbeſitzfamilien meiſt über dem Durchſchnitt der Stiftländer.
Die größte Dichte der Stammhöſe findet ſich endlich, wie nicht anders zu
erwarten war, in Südbayern und am ausgeſprochenſten im Alpenvorland. Hier
fällt namentlich der Chiemgau und der Iſarwinkel auf. Bemerkenswert iſt
eine faft vollftändige Leere um München, Augsburg und Nürnberg. Wir er⸗
innern uns in dieſem Zuſammenhang daran, daß der engliſche Staatsmann
Sir Samuel Pepys in ſeinen Memoiren im Jahre 1669 ſchrieb: „Die alte
Regel ſei, eine Familie hielte ſich fünfzig Meilen von London hundert Jahre,
hundert Meilen von London zweihundert Jahre, ferner oder näher von London
mehr oder weniger Jahre.“ In einem ähnlichen Zuſammenhang ſteht auch die
Leere in den Bezirken Garmiſch⸗Weilheim⸗Starnberg. Im Werdenfelſer
Land uy die jahrhundertelange Handelſchaft mit der folgenden Erbteilung des
Grundbeſitzes und endlich die modernſten Entwicklungen des Grundſtücks⸗
marktes dafür verantwortlich, teilweiſe auch in Weilheim und Starnberg. Es
würde zu weit gehen, die Zuſammenhänge von Siedlungsſtruktur, Verkehrs⸗
lage, Altbeſitz und Volkstum darzuſtellen, die jedem Kenner der betreffenden
Bezirke ohne weiteres geläufig find. Es ſoll nur an die beſonderen Qualitäten
des Rekrutenerſatzes gerade dieſer Bezirke erinnert werden, in denen die
Stammhöfe eine fo große Rolle ſpielen. Das beſondere Vorwiegen Alt⸗
bayerns zeigt ſich noch deutlicher bei der Eintragung der Altbeſitze nach dem
heſten urkundlichen Nachweis der Familie auf dem Hof. Gerade in den
hen Jahrhunderten, alſo im 15. und 16., wird das Zurücktreten Nord-
bayerns, aber auch Schwabens, offenbar. Im 17. Jahrhundert erſcheint
Schwaben ſtark neben den drei altbayerifchen Kreiſen, und im 18. Jahrhun-
dert beginnen die drei fränfifchen Kreiſe in die altbayeriſche Größenordnung
hineinzuwachſen. Gerade beim Zeitpunkt des früheſten Nachweiſes iſt natür⸗
lich zu berückſichtigen, daß die Familie ſchon erheblich länger auf dem Hof
itzen kann, ehe ſie urkundlich erwähnt wird. Trotzdem iſt das Eintreten des
Itbefißes in die Beurkundung in dieſer gewiſſen Reihenfolge: Altbayern,
Schwaben, Franken, kein Zufall, ſondern eine Folge der politiſchen Entwicklung
der betreffende Gebiete. Es zeigt ſich deutlich, daß die Erhaltung und Wohlfahrt
des Bauernſtandes mit einer einheitlichen und kräftigen Herrſchaft, wie ſie in
Altbayern gegenüber den übrigen zerſplitterten Herrſchaften vorhanden war,
durchaus Hand in Hand geht, wobei geiſtliche Herrſchaſten, wie Kempten oder
— — . — — . eee F ²˙¹•⁴¹1 ²˙ m „„„„FFFE C A — a
Die bayerischen Stammhöfe 775
die großen Stifte, in ihrer Auswirkung den Wittelsbachern etwa gleichzuſetzen
find. Es beſtätigt ſich alſo das, was Brentano, diesmal zu Recht, in feiner
Schrift „Warum herrſcht in Bayern bäuerlicher Grundbeſitz?“ feſtgeſtellt
hatte. Die allgemeinen hiſtoriſchen Geſichtspunkte in der Frage des bäuer⸗
lichen Altbeſitzes find alſo die gleichen, die ſeinerzeit zu der bayeriſchen Agrar-
enquete von 1894 geführt haben und die in den zahlreichen Denkſchriften
dieſer Zeit ausführlich ausgewertet wurden. Die Frage des bäuerlichen Erb-
rechtes ſchien lange Zeit zu ſchlafen. Es ſind aber genug Anhaltspunkte dafür
vorhanden, daß ſie wieder brennend geworden iſt. Dabei wird der ganze
Fragenkreis um die Stammhöfe äußerſt wertvolles Material liefern können.
Im beſonderen iſt es eine Reihe von Fragen, die ſich bei der Bearbeitung
der Stammhöfe ſofort erhebt, die teilweiſe auch in der Offentlichkeit geſtellt
wurden und die unbedingt geklärt werden müſſen. Dieſe Fragen find die
folgenden:
1. Iſt zwiſchen den in 200jährigem Familienbeſitz anerkannten Betrieben
und den durchſchnittlichen Betrieben ein Anterſchied in der land-
wirtſchaftlichen Kultur feſtzuſtellen? (Beſonders: Beſteht ein Anter⸗
ſchied in den Erträgen, in der Betriebsorganiſation überhaupt? Nehmen die
Betriebsleiter anerkannte Stellungen in der Landwirtſchaft ihres Bezirks ein?
Beteiligen fie fi insbeſondere im Organiſationsweſen uſw.?) 2. Wenn ein
Anterſchied gegenüber dem Durchſchnitt der Betriebe beſteht, a uf welche
Gründe iſt er zurückzuführen? (Wirtſchaftliche Tüchtigkeit des Be⸗
Det ev. Vorbildung; günſtige Verkehrslage oder Abgelegenheit; beſondere
egünftigung der Betriebe durch Arrondierung, Böden uſw.) 3. Erſcheint ſomit
das Feſthalten des bäuerlichen Familienbeſitzes als eine hiſtoriſche
Zufälligkeit, oder iſt ſie durch ſachliche und perſönliche
Gründe bedingt? 4. Erſcheint der alte bäuerliche Familienbeſitz als
ein Vorteil oder Nachteil für a) die betreffenden Befitzerfamilien
(Lebensſtandard)? b) für den Stand der landwirtſchaftlichen Kultur der be-
nn en e) für den Stand der landwirtſchaftlichen Kultur im
ganzen Bez
Es find dies die Fragen, welche einer Rundfrage bei den bayeriſchen Land»
wirtſchaftsaußenſtellen zugrunde gelegt wurden. Die Nundfrage iſt mit Ob⸗
jektivität, aber auch mit Liebe zum Gegenſtand bearbeitet worden. Von einigen
Landwirtſchaftsſtellen wurden die im Bezirk vorhandenen Stammhöfe einzeln
durchanalpfiert, fo daß es ſich durchaus nicht um allgemeine ſtimmungsmäßige
Eindrücke handelt.
Großenteils gehören die Stammhöfe zu den beſten Be⸗
trieben des Bezirks, und zwar trotzdem irgendwelche Begünſtigungen
egenüber anderen Betrieben im allgemeinen als weſentliche beſitzerhaltende
mente nicht in Frage kommen. Sie liegen zum mindeſten über den Durch⸗
ſchnitt. Die Betriebe zeichnen ſich durch eine ſolide, durchdachte und aus⸗
geglichene Betriebsorganiſation aus. Es handelt ſich zum größten Teil um
größere Höfe, in Altbayern mit einer Größe von an oder über 100 Tagwerke,
meiſt mit a Waldbeſitz. An einer Landwirtſchaftsſtelle wurde an
Hand der Betriebe der Schüler feſtgeſtellt, oe alle Betriebe mit
größerem Wald beſitz ſich ſeit über 100 Jahren in den Fa⸗
milien befinden. (Dieſer Amſtand wirft ein bezeichnendes Licht auf
alle die Verſuche, die Standortsfrage bei den einzelnen Kulturarten mechaniſch
2
776 Heinz Konrad Haushofer
und ohne Rüdficht auf den Einzelbetrieb zu löſen!) Wo es die klimatiſchen
Verhältniſſe geſtatten, herrſcht gemiſchte Wirtſchaft vor; eine irgendwie
ſpezialiſierte Wirtſchaft iſt äußerſt ſelten, Konjunkturwirtſchaft wird nicht
getrieben. Zu der ſehr ſoliden und ruhigen Wirtſchaftsführung kommt vielfach
ein oft ausgeſprochen zurückgezogenes Leben. Wenn auch oft zahlreiche Ehren⸗
ämter im landwirtſchaftlichen Organiſationsweſen auf den Altbefitzer fallen,
iſt er doch weit entfernt von jeder Organiſationsmeierei. Viele ſind ausge⸗
ſprochene Einzelgänger, Sparſamkeit und einfache bäuerliche Lebenshaltung
ſind ſehr ausgeprägt. Betriebswirtſchaftlich werden alle dieſe Eigenſchaften
folgendermaßen von einer unterfränkiſchen Landwirtſchaftsſtelle beurteilt:
„Die ruhige und beſonnene Art, in der die Inhaber Wirtſchaftskriſen über⸗
dauern, neue landwirtſchaftliche Erkenntniſſe beurteilen und im Einklang mit
dem Betriebskapital auswerten, ohne dauernden Amſtellungen oder der Sucht
nach Höchſterträgen zu verfallen, ſind geradezu vorbildlich für den Durchſchnitt
der landwirtſchaftlichen Betriebe.“ |
Die Frucht diefer Art von Wirtſchaftsführung ift die faft allgemein feft-
geſtellte geringere Verſchuldung oder Schuldenfreiheit. Soweit Schulden vor⸗
handen find, find fie in den allermeiſten Fällen auf Geſchwiſteraus zahlungen
zurückzuführen, oder auf feſtſtellbares Anglück im Stall und dgl., faſt niemals
auf das Aufrechterhalten einer Lebenshaltung, die mit dem geſchwundenen
Einkommen nicht im Verhältnis ſteht. Im allgemeinen iſt der perſönliche
Lebensſtandard nicht höher als der der anderen Betriebe. Die VBildungsfähig⸗
keit wird als meiſt ſehr günſtig bezeichnet. Die Durchprüfung der Leiſtungen
der Söhne der Altbeſitzer auf einzelnen Landwirtſchaftsſchulen ergab durch⸗
weg überdurchſchnittliche Leiſtungen. Der Beſuch der Landwirtſchaftsſchulen
durch die Söhne der Altbeſitzer iſt gleichfalls ein weitaus überdurchſchnitt.
licher. Von einigen Landwirtſchaftsſtellen werden die Familien der Altbeſitzer
„förmlich als beſonderer Raſſetyp“ gekennzeichnet. Die Nachteile
der Wirtſchaftsgeſinnung werden jedoch nicht verſchwiegen: Eine ausgeprägte
Abneigung gegen gewagtere Amſtellungen und Unterneb-
mungen, ſoweit ſie einen ſpekulativen Charakter haben.
Unter anderem wird berichtet: „Doch beſtätigen unſere Fälle die alte Erfah⸗
rung, daß rühriger und namentlich an die vom Fortſchritt in der Landwirt⸗
ſchaft gebrachten Neuerungen anpaſſungsfähiger die Beſitzer ſind, die ſich nicht
ins warme Neſt ſetzen können, ſondern ſich ihr Neſt erſt bauen müſſen.“ Es
wird auch, beſonders aus Schwaben, der Vermutung Ausdruck gegeben, daß
einem tüchtigen Wirtſchafter das Tätigkeitsfeld auf dem ererbten Hof eher zu
eng werde. Das geringere Bedürfnis nach Weiterentwicklung wird als aus⸗
geſprochener Nachteil angegeben. Alles in allem macht ſich alſo auch die größere
Tüchtigkeit nicht immer in beſſerer Technik bemerkbar. Wenn die Art der
Betriebsführung alſo auch im allgemeinen vorbildlich iſt, iſt ſie es nicht ohne
weiteres, was den techniſchen Fortſchritt anbetrifft.
Setzt man die ſämtlichen berichteten Züge zuſammen, ſo erhält man ein
ziemlich einheitliches Bild vom Wirtſchaftstyp des baye-
riſchen Altbeſitzes. Die Frage nach dem Vorteil oder Nachteil des
Altbeſitzes für die Beſitzerſamilie, für den Betrieb und die Nachbarſchaft ijt
von einigen Landwirtſchaftsſtellen negativ beantwortet worden. Doch hat ſich
bei einer Nachprüfung dieſer Antworten ergeben, daß ſie faſt durchweg aus
Bezirken ſtammen, in denen nur ganz wenige Altbeſitzfälle vorhanden ſind.
Die bayerischen Stammhöfe 777
Ebenſo wurde die Erhaltung des Altbefiges nur in denjenigen Bezirken als
90 Zufälligkeit bezeichnet, in denen nur ganz wenige ſolcher Betriebe
find. Aberall da, wo eine größere Anzahl von Stammhöfen eine eingehendere
Aberprüfung zuließ, wurde feſtgeſtellt, daß eine hiſtoriſche Zufälligkeit als
Grund der Erhaltung des Hofes in der Familie in allerletzter Linie in Frage
komme. Vererbte perſönliche Tüchtigkeit und gute Erziehung wurden als die
letzten Arſachen der Erhaltung bezeichnet. Außere Gründe kommen inſofern
dazu, als in vielen Gegenden die Mehrzahl der Stammhöfe entweder Einzel-
böfe find oder in Weilern liegen, daß die Verkehrslage erheblich ſchlechter iſt
als gewöhnlich, daß die Gründe arrondiert ſind, oder daß die alten Höfe des
Dorfkerns heute noch über die beſten Gründe aus der erſten Beſiedlung ver⸗
fügen. Während im allgemeinen die günſtigen charakterlichen Eigenfchaften
dieſer Anſätze zu einer bäuerlichen Ariſtokratie hervorgehoben werden, werden
aber die Kehrſeiten auch hier nicht verſchwiegen. Beſonders durch Verwandt⸗
ſchaftsheiraten erſcheinen mancherorts förmlich Degenerationserſcheinungen.
Wie ja überhaupt eine gewiſſe indirekte Folge des beſitzerhaltenden Denkens
das Aberwiegen ausgeſprochener Verſtandesheiraten iſt, durch die eine gewiſſe
Kapitalauffriſchung vorgenommen wird, oder womöglich der Hoferbe ſchon vor
der Hochzeit ſichergeſtellt wird.
Im großen ganzen aber ſcheint das Erhalten des Beſitzes zweifellos einen
Vorteil für die Beſitzerfamilie zu enthalten, wenn andererſeits auch auf
manche Gewinnmöglichkeit oder auch Bequemlichkeit im Intereſſe der oben
geſchilderten Betriebsführung verzichtet werden muß. Für den Betrieb ſelbſt
erſcheint die jahrhundertlange 55 der Familie gleichfalls als Vor⸗
teil, wenn auch auf manche Neuerung Verzicht geleiſtet werden muß. Denn
der Verluſt an Erſahrungen beim Beſitzwechſel, der gleichzeitig auch ſtets
einen Verluſt an Kapital bedeutet, iſt bei weitem größer als die Nachteile
einer etwas veralteten Technik. Von den Landwirtſchaftsſtellen wurde der
Vorteil für den Betrieb vielfach nur als bedingt angegeben. Vom Standpunkt
der reinen Agrartechnik aus geſehen, mag dies auch ohne weiteres zutreffen.
Aber wir haben in den letzten Jahren deutlich genug demonſtriert bekommen,
daß agrarpolitiſch ebenſo wie betriebswirtſchaftlich im bäuerlichen Betrieb ein
gewiſſes Maßhalten in der Technik und ein geringerer Einſatz von fremdem
Kapital dem umgekehrten Vorgang bei weitem vorzuziehen iſt. Denn es darf
ja nicht vergeſſen werden, daß für eine bäuerliche Agrarpolitik größtmögliche
Produktion vom privatwirtſchaftlichen ebenſo wie vom volkswirtſchaftlichen
Standpunkt noch lange nicht unbedingtes Ziel iſt, ſondern daß die Erhaltung
des Familienbetrieborganismus, auch evtl. auf Koſten der Produktionsſpitzen,
wenn dies e richtig iſt, weit wichtiger iſt. In dem Augen⸗
blick, in welchem z. B. bei einer dauernd rückläufigen Bevölkerungsbewegung
mit ſchrumpfenden Märkten gerechnet werden müßte, würde dieſer Geſichts⸗
punkt von eminenteſter Bedeutung. Der Vorteil für die Nachbarſchaft bzw.
die Landwirtſchaft des Bezirks wird teilweiſe gleichfalls als bedingt angegeben.
Bedingt, ſoweit es ſich um das rein Techniſche handelt, unbedingt, ſoweit der
beiſpielgebende Einfluß einer geſchloſſenen Familie, einer unerſchütterlichen
Tradition von Rechtlichkeit, Arbeitſamkeit und Verläſſigkeit in Frage kommt.
Alles in allem iſt alſo die Rolle des bäuerlichen Altbeſitzes in
Bayern auch in der augenblicklichen Wirtſchaftslage als
durchaus poſitiv zu bewerten, beſonders nachdem gerade die Land⸗
778 Heinz Konrad Haushofer
wirtſchaftsſtellen bei der oben genannten Grageftellung zu einer unvorein-
genommenen Stellungnahme geradezu prädeſtiniert waren.
Zur Ergänzung der Berichte der Landwirtſchaftsſtellen wurde an die be⸗
arbeiteten Betriebe ein Fragebogen geſchickt, mit welchem Betriebsweiſe und
größe, innere und äußere Verkehrslage, Familiengefüge und Weitervererbung
erhoben werden.
Aus der Beantwortung des Fragebogens ergibt ſich im weſentlichen eine
Beſtätigung der Berichte der Landwirtſchaftsſtellen. Aus den Zahlen über
die Stärke der Familien wird ſich ein außerordentlich hoher Durchſchnitt der
Geſamtmenſchenzahl je Hof ergeben, außerdem auch unter dieſen ein fehr
hoher Prozentſatz von Familienangehörigen. Die Bedeutung der Familien-
wirtſchaft für die Erhaltung des bäuerlichen Befiges ſpringt faft aus jedem
Fragebogen in die Augen. Die Frage nach einem vorhandenen Hoferben
konnte im allgemeinen bejahend beantwortet werden. Ein ſehr hoher Prozent-
ſatz der Erben hat, ſoweit ſie das entſprechende Alter erreicht hatten, eine
Landwirtſchaftsſchule beſucht. Hinſichtlich der Berufe abgefundener Geſchwiſter
ergibt ſich, daß die weitaus größte Mehrzahl der weichenden Geſchwiſter in
der Landwirtſchaft geblieben iſt. In den übrigen Fällen iſt eine Verprole⸗
tariſierung nur in geringem Prozentſatz feſtzuſtellen. Die Spanne der ane
gegebenen Berufe umfaßt neben hohen Staatsſtellen, Lehrern und Pfarrern,
hauptſächlich Handwerker und Beamte des unteren Dienſtes.
Alles in allem ließe ſich aus der Bearbeitung des bayeriſchen Altbeſitzes
für jeden Landwirt ein kurzer Katechismus zuſammenſtellen über das Thema:
„Wie kann ſich meine Familie, zwar ohne jemals reich zu werden, aber in
Ehren und Sicherheit durch die europäiſche Kulturgeſchichte hindurch erhal⸗
ten?“ Wir haben zwar natürlich keinen urkundlichen Nachweis dafür, daß
die eine oder andere Familie auf ihrem Hof bis zur bajuvariſchen Landnahme
zurückzuführen wäre. Wohl aber haben wir den Nachweis, den Profeſſor
Ranke erbracht hat, daß die Beſitzverhältniſſe in Oberbayern teilweiſe ſeit
der Zeit nach der Beſitzergreifung unverändert geblieben find, und es be⸗
ſtehen keine Bedenken dagegen, anzunehmen, daß es auch die erſten Beſitzer⸗
familien ſind, die in die beurkundete Zeit heraufreichen. Das von Nanke auf⸗
geſtellte leitende Prinzip der bayeriſchen VGefiedlung beſagt: Ein Hof ſollte
für die Ernährung der Familie eines freien Mannes ausreichen und mit
der in dieſer Familie ſamt ihren Dienſtboten zur Verfügung ſtehenden Ar⸗
beitskraft bewirtſchaſtet fein. Hier leuchtet auf einmal die fo heiß⸗
umſtrittene Frage der optimalen Betriebsgröße auch für
unſere Zeit auf: Dieſe Frage iſt verſucht worden, von ſeiten der Buchfüh⸗
rung zu beantworten; man kann dieſer Frage aber auch hiſtoriſch von der
Seite des bäuerlichen Altbeſitzes aus beikommen. Wenn man ſich zunächſt vor⸗
ſtellt, welche Schickſalsſchläge und wirtſchaftlichen Verſuchungen im Laufe
der Zeit an einem Stammhof vorübergegangen find; und wenn man dann
feſtſtellt, daß in jedem Wirtfchaftsgebiet gerade eine beſtimmte Größenklaſſe
behauptet werden konnte, fo find wir der Feſtſtellung eines Betriebsgrößen⸗
optimums ſehr nahe. Wir ſind uns aber auch andererſeits darüber klar, daß
es undenkbar iſt, ausſchließlich Stammgüter haben zu wollen. Wie es bereits
an anderer Stelle ausgedrückt worden iſt: „Als Ideal der Beſitzverteilung
galt und ſollte auch heute gelten: Es muß eine lückenloſe Stufenleiter von
Beſitzgrößen vorhanden ſein, die der Befähigung der Bauernfamilien das
Die bayerischen Stammhöfe 779
Heraufarbeiten zu Wohlſtand, wenn nicht in einem, fo doch in mehreren Gee
ſchlechtern ermöglicht; andererſeits muß bei einem gewiſſen erreichten Größen⸗
optimum die Gewähr für ein tüchtiges Geſchlecht gegeben ſein, ſich Jahr
derte auf dem Hofe halten zu können.“
Die Stammhöfe ftellen aber noch einen weiteren agrarpolitiſchen Anſatz⸗
punkt dar: den Bauernſtand bilden nicht die zufälligen jeweiligen Cingel-
individuen, die Landwirtſchaft treiben, ſondern für einen Stand wefentlich
iſt die 5 von Beſitz und Erfahrung, das heißt, materieller und geiſti⸗
ger Tradition. Die Grundlage unſerer agrarpolitiſchen Schule iſt die Aufe
faſſung des Bauernbetriebs als eines Organismus, der durch jahrhundert⸗
lange Selektion entſtanden iff. Die Kontinuität dieſer Selektion war aber
nur möglich durch das Vorhandenſein eines Standes, der dieſe Entwicklung
trug. Die Verpflichtung aber, den empiriſchen, hiſtoriſch gewordenen Bauern-
betrieb durch eine geeignete Agrarpolitik zu erhalten und damit die Fortdauer
des organiſchen Selektionsprozeſſes zu gewährleiſten, hört in dem Augenblick
auf, in welchem kein tragender Bauernſtand mehr vorhanden iſt, ſondern nur
der einzelne Landwirt! And in dieſem Lichte geſehen, gewinnt die Durch⸗
leuchtung des Altbeſitzes allerhöchſte Bedeutung. Denn hier kann der
chlüſſige Nachweis geführt werden, inwieweit noch ein
auernſtand vorhanden iſt.
Daß er in Bayern noch da iſt, davon konnten die vorliegenden Tatſachen
überzeugen, und gerade die nicht verſchwiegenen Schattenſeiten dieſer ſtändi⸗
ſchen Bindung haben dieſe Aberzeugung gefeſtigt.
Wenn aber heute von ſtändiſcher Erneuerung geſprochen wird, ſo kann
dazu vom Standpunkt der bayeriſchen Stammhöfe aus nur geſagt werden:
hic Rhodus, hic saltal Aber die ſozialen Pflichten des Grund-
beſitzes beſteht allgemeine Abereinſtimmung. Anderer⸗
ſeits iſt es aber klar, erf dieſe Pflichten nur durch prak-
tiſche Bindungen innerhalb des Volkskörpers aktiviert
werden können. Hier ſind die Stammhöfe ein Anſatzpunkt und Eckſtein
für die agrarpolitiſche Theorie ebenſo wie für die kommende Praxis. Als
erſtes ergeben ſich folgende Schlußfolgerungen:
Die Anerkennung als Stammhof kann auf die Dauer
unmöglich freien Organiſationen vorbehalten bleiben,
das heißt, von einer Mitgliedſchaft abhängig ſein. Sie iſt Sache des
Staates oder des Berufsſtandes.
Das Anerkennungsweſen für die Stammhöfe bedarf einer einheit ⸗
lichen Regelung für das ganze Reich.
Nur der Staat oder der Berufsſtand kann die gewal-
tige menſchliche Leiſtung des Altbeſitzes in der Geſchichte
entſprechend anerkennen, fet es nun im Rahmen eines Agrar⸗
rechtes oder durch beſondere Pflege.
Manfred von Knobelsdorff:
Die neuen Aufgaben des v. Knobelsdorffſchen Geſchlechts
im völkiſchen Staatsleben
(Zum 16. Geſchlechtstag 1933)
Redaktionelle Vorbemerkung. Ein Zufall machte
uns mit einem Antrag bekannt, den ein Mitglied des v. Rnobels-
dorffſchen Geſchlechts zum Familientag einbringt. Wir bringen den
Antrag, ohne zu ſeinen Einzelheiten Stellung zu nehmen oder uns
mit ihm in allen Punkten gleichzuſetzen, deshalb, weil es ein ent⸗
ſprechender Beweis dafür iſt, wie mächtig der revolutionäre Ge-
danke von Blut und Boden Raum gewinnt und ſich durchzuſetzen
beginnt. Beſonders wichtig und wertvoll ſind die Stellen, die den
Zuſammenhang von der Lebensdauer der Familien und ihre Ver-
wurzelung aufzeigen.
Heinrich v. Sybel prägte einmal die Worte, daß eine Nation, welche den
lebendigen Zuſammenhang mit ihrem Arſprung verloren habe, ſo ſicher dem
Verdorren nahe wäre, wie ein Baum, den man von ſeinen Wurzeln getrennt
habe. Wenn wir anſtatt des Wortes „Nation“ das Wort „Geſchlecht“ ſetzen,
ſo treffen dieſe Worte Heinrich v. Sybels auf das Knobelsdorffſche Geſchlecht
zu, weil ſich dieſes durch eine zwangsläufige Entwicklung immer mehr von
ſeinem Arſprung entfernt hat, und weil es ſeine Stammeswurzeln nicht mehr
in der deutſchen Muttererde verankert ſieht.
Wir haben den heiligen Boden der Vorväter verloren. Gerade die ſtarke
Bodenverbundenheit, das rein Bäuerliche unſeres Geſchlechts war die ewig
unverſiegbare Quelle unſerer Kraft. Dieſe Kraft gab den Geſchlechtern den
Ewigkeitsbegriff. Die gewaltige Natur, welche die Vorväter umgab, zwang
ſie zur äußerſten Anſpannung im Lebenskampf. So bildete Blut und
Boden ein für immer untrennbares Ganzes. Die gewonnene Ackernahrung
diente dazu, der Familie und dem dazugehörigen Gefinde die Ernährungs-
grundlage zu geben.
Schon im 17. Jahrhundert begann die allmähliche Entwurzelung unſeres
Geſchlechts, welche im liberaliſtiſchen Zeitalter des 19. Jahrhunderts er⸗
ſchreckende Formen annahm. Zwar konnten noch verſchiedene agrarpolitiſche
Maßnahmen der preußiſchen Könige dieſer Landverminderung Einhalt ge⸗
bieten, aber der Enterbungsprozeß ließ ſich nicht mehr aufhalten. Der Begriff,
daß der Boden zur Geſchlechtererhaltung nötig wäre, wich immer mehr einer
rein wirtſchaftlich kapitaliſtiſchen Denkungsweiſe, welche in erſter Linie auf
die Ausnutzung des Ackers gerichtet war. Bei dieſem Ringen war in den
meiſten Fällen das jüdiſche Leihkapital der Gewinner.
Wie ſieht es aber nun heute um das v. Knobelsdorffſche Geſchlecht aus?
Zwar haben wir noch einen Geſchlechtsverband mit verſchiedenen Satzungen,
Die neuen Aufgaben des v. Knobelsdorffschen Geschlechts 781
der die einzelnen Mitglieder loſe zuſammenhält. Wir haben auch einige Fa⸗
milieneinrichtungen. Es gibt einen Familienrat, der aus drei Männern be⸗
ſteht: dem Oberhauptmann, dem Obmann oder Hiſtoriographen, und deren
Stellvertreter: dem Hauptmann, Kuſtos und dem Anterſchatzmeiſter, alſo ein
Sechsmännerkollegium. Es gibt auch einige ſonſtige Maßnahmen, denen man
namentlich bei der üblichen gedanklichen Einſtellung des Liberalismus, welcher
den Begriff des Führertums und das Traditionelle treffen wollte, die An⸗
erkennung nicht verſagen ſoll, aber niemand wird abſtreiten können, daß der
gemeinſame Bluts gedanke, wie ihn die Arväter einſt beſaßen, verloren-
gegangen iſt. Dit Mitglieder tragen nur noch äußerlich den gleichen Namen,
aber blutsmäßig bedingt kennen ſie die Einheit nicht mehr. Sie fühlen ſich
als Vetter und Baſen verſchiedener Linien, verſchiedener Häuſer mit verſchie⸗
denen Intereſſen, verſchiedenen Aufgaben und Zielen. Das mag hart ſein,
auszusprechen, iſt aber wahr. Wieviel Anglück, Not und Elend unſeres Ge-
ſchlechts wäre verhindert worden, wenn niemals dieſer gemeinſame Bluts⸗
gedanke eingeſchlafen wäre! Wieviel bäuerlicher Grundbeſitz wäre nicht aus
+ geil gekommen, wenn man immer zuerſt an das Geſchlecht gedacht
tte
Gegenüber dem 17. Jahrhundert — wenn wir zunächſt einmal dieſes Jahr⸗
hundert zum Vergleich heranziehen — war der Rückgang des bäuerlichen
Eigenbeſitzes ungeheuerlich. Die ſchleſiſchen Linien mit den Häuſern Schloin⸗
Buchelsdorf⸗Zeisdorf, den Häuſern Altgabel und Ober⸗Poppſchütz beſitzen
heute keinen Morgen Land mehr. Sie ſind völlig bodenlos. Man muß ſich
hierbei nur einmal die Tatſache vergegenwärtigen, daß ein Mann, nämlich
Johann Tobias Frhr. v. Knobelsdorff aus dem Hauſe Hirſchfelde⸗Herwigs⸗
dorf, geboren 1648 im ehemaligen Fürſtentum Sagan, 18 Güter beſaß, um
die Not zu erkennen. Der letzte Grund und Boden aus diefen Linien wurde
nach dem Tode des kinderloſen Prott von deſſen älterem Bruder Ernſt Frhr.
v. Knobelsdorff 1922 an den Frhrn. v. Blomberg verkauft.
Bei den brandenburgiſchen Linien ſteht es hinſichtlich des Eigenbeſitzes nur
in etwas beſſer. Allein die v. Knobelsdorff⸗Brenkenhoff können ſich noch rüh⸗
men, Grundbeſitz ihr eigen nennen zu dürfen, aber auch deren Beſitz iſt ſtark
zuſammengeſchrumpft. Mansfelde, ein altes Erbgut, mußte vor kurzem unter
dem Druck der wirtſchaftlichen Lage an eine Siedlungsgenoſſenſchaft verkauft
werden. Heute beſitzen die v. Knobelsdorff⸗Brenkenhoff nur noch die Häuſer
Rauden und Schmelzdorf ſowie das Gut Pehlitz in der Neumark.
Die oſtpreußiſchen Linien, deren Stammväter einſt in der Ordensritterzeit
vom Deutſchen Orden für ihre dieſem geleiſteten Solddienſte mit Land
abgefunden wurden, hatten ganz beſonders unter der Bedrängnis zu
leiden. Hier rächte ſich bei den Enkeln die Entwurzelung ſo ſtark, daß
ſie geradezu ein Muſterbeiſpiel dafür wurde, welche Folgen eine ſolche
Entwicklung für ein urſprünglich bodenſtändiges Geſchlecht nehmen kann.
Beſonders die Häuſer Sauerbaum und Groß⸗Kleeberg bei Seeburg und Allen⸗
ſtein wurden durch ſtändige Aufteilung der ererbten Bauernhöfe in ſoundſo
viele Anteile unter den Geſchwiſtern durch Eingriffe der Geiſtlichkeit und
durch falſche Wirtſchaftsmaßnahmen der verfloſſenen Regierungen ſchwer ge⸗
troffen. Die aus Oſtpreußen weichenden, total verarmten Bauernſöhne zogen
nun ab in die im Weſten aufblühenden Induſtrieſtädte, wo fie ſich, um eine
Ernährungsgrundlage zu ſuchen, im Proletariat der Großſtädte verloren.
782 Manfred von Knobelsdorff
Wie weit mußte 175 alſo unſer Geſchlecht vom eigentlichen Adelsbegriff
in germanifdem Sinne entfernen. Der Adelsbegriff verband ſich ja
gerade mit dem Eigentumsbegriff von Grund und Boden, denn Adel t
nichts weiter als die, welche auf ihrem Erbgut ſaßen. Statt Adel gebrauchte
man auch das Wort Odel, althochdeutſch: Aodal, welches in dem Worte Odel
Vater, d. h. das vom Vater ererbte Stammgut, enthalten war. Blut und
Boden waren eben beim Adelsbegriff nicht voneinander zu trennen.
Mit dieſer grauenhaften Entwurzelung hielt der Geburtenrückgang Schritt.
Ein ehemals nordiſch⸗germaniſches Geſchlecht, welches in der Scholle ver⸗
ankert war, mußte in den Städten allmählich entarten und entnorden. Man
bedenke doch, daß noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts das deutſche Volk ein
Bauernvolk war, welches ohne Gefahr für ſich ſelbſt Menſchen an fremde
Länder abgeben konnte. So konnten auch Auswanderungen einzelner Mit⸗
glieder unter dem Druck bäuerlichen Notſtandes nach Nordamerika, Holland
und Rußland den Geſamtbeſtand des Geſchlechtes nicht ſchwächen.
Dieſer Geburtenſchwund fällt bei unſerem Geſchlecht ſofort ins Auge, wenn
wir uns einmal in die umfangreichen Stammtafeln der vorigen Jahrhunderte
vertiefen. Wenn bei den Vorvätern vier Kinder die Regel waren, zehn Kin⸗
der aber durchaus keine Seltenheit, ſo haben die heute durch Raum und Not
bedrängten v. Knobelsdorffs gewöhnlich 055 mehr als höchſtens zwei Kinder.
Ja manche Ehen find ſogar kinderlos. „Eine Ehe ohne Kinder iſt wie eine
taube Ahre“, ſagte der germaniſche Bauer.
Zwar hat ſich die Zahl der v. Knobelsdorffs ſcheinbar gegenüber dem ver-
floſſenen Jahrhundert gehalten:
Ende 1883 wurden 259 Stammes- und Geſchlechtsgenoſſen gezählt, davon
98 männlich und 161 weiblich,
Ende 1900 lebten 254 Stammesgenoſſen, davon männlich 97, weiblich 157,
Ende 1913, alſo kurz vor Ausbruch des Krieges, 270 Mitglieder, davon
104 männlich und 166 weiblich,
Ende 1928 ige 105 „ 254 Mitglieder, davon 88 männlich und
66 weibli
Rein geburtenmäßig hat ſich alſo der Rückgang gegenüber dem Jahre 1883
nicht ſo vollzogen, wie es auf Grund des Aderlaſſes im Weltkriege angenom⸗
men werden könnte. Ein Beweis für die Richtigkeit der Darreichen Auf ⸗
faſſung (ſiehe „Das Bauerntum als Lebensquell der Nordiſchen Raffe”,
S. 466), daß der Antergang eines Adels nicht auf eine Entnordung durch
Kriege zurückgeführt werden kann und daß der Adel ſich auch nicht durch Kämpfe
aufgerieben habe. Im Weltkriege 1914 — 1918 fielen 16 v. Knobelsdorffs.
Jedoch iſt der zahlenmäßige Nückgang gegenüber den früheren Jahrhun⸗
derten auffallend groß. Auch kann die heutige Zahl nicht darüber hinweg⸗
täuſchen, daß die Sterblichkeitsziffer geringer iſt, d. h. die einzelnen Mit⸗
glieder des Geſchlechts ſind an Lebensjahren älter als früher. Wenn wir da⸗
gegen z. B. die für eine Neubildung von Familien zukünftige Generation der
ſchleſiſchen v. Knobelsdorffs heranziehen, ſo müſſen wir erſchüttert feſtſtellen,
daß ſie nur noch aus 7 Söhnen und 5 Töchtern beſtehen. Das bedeutet
gegen die Zahl aus dem Jahre 1883 bei demſelben Lebensalter einen Verluſt
von nahezu 50 %. Auch hat die kleine Zeitſpanne allein genügt, um den oſt⸗
preußiſchen v. Knobelsdorffs einen weiteren Geburtenſchwund zu bringen.
Die neuen Aufgaben des v. Knobelsdorffschen Geschlechts 783
Zählten dieſe damals 18 Söhne und 18 Töchter, fo beſitzen fie heute nur noch
12 Söhne und 9 Töchter. Am beſten haben ſich die brandenburgiſchen Linien,
beſonders die v. Knobelsdorff⸗Brenkenhoff, gehalten, welche trotz der Blut⸗
verluſte des Krieges die Zahl ihrer Söhne und Töchter nicht nur behaupten,
ſondern ſogar erhöhen konnten. Jedoch bleibt dieſe 1928 mit 13 Söhnen und
18 Töchtern weit hinter den Zahlen der früheren Jahrhunderte zurück. Immer⸗
hin iſt dieſes Verhältnis der v. Knobelsdorff⸗Brenkenhoff ein Beweis dafür,
daß, je mehr Grundbeſitz ſich in einer Familie befindet, deſto größer auch die
Kinderzahl ſein muß. Auffallend bleibt die eigenartige Verhältniszahl von
Söhnen und Töchtern.
Das v. Knobelsdorffſche Geſchlecht, deſſen urkundliches Erwähnen mit der
Kirche in Knobelsdorf bei Saalfeld 1181 beginnt, hat nahezu ein Jahrtauſend
feiner Lebensdauer vollendet. Das iſt, wenn man die ungeheuren Lebens-
kämpfe des deutſchen Volkes betrachtet, immerhin eine Tat, denn wieviele
Familien ſind in ihrem Mannesſtamm erloſchen! Anſere Aufgabe iſt es aber
nun, auch dafür zu ſorgen, daß dieſes Geſchlecht, dem wir angehören, ein
weiteres Jahrtauſend leben kann.
Ein großes völkiſches Reich iſt im Entſtehen begriffen. Der Baumeiſter
dieſes Staates iſt Adolf Hitler. In einem ſolchen Reiche wird der Boden
nicht mehr Spekulationsobjekt ſein, und die Geſchlechter, wenn ſie ein hohes
völkiſches Endziel verfolgen, werden nicht mehr durch die Machenſchaften
gewiſſenloſer Einzelner entwurzelt werden können. Der Bauer wird die Säule
diefes völkiſchen Staates ſein. Es wird aber auch ein neuer Adel entſtehen,
denn kein völkiſcher Staat kann auf die Dauer ohne einen Adel ſein. Dieſer
neue Adel wird ſich aber nicht allein auf den alten Geburtsadel ſtützen. Er
wird ſogar, wenn dieſer alte Adel die neuen Flammenzeichen nicht erkennen
will, über ihn hinweg eines Tages zar Neuordnung gehen.
Der Adelsbegriff verbindet ſich auch ausſchließlich mit dem Leiſtungsprinzip.
Im neuen Staat wird man nicht fragen: „Ward ihr von geſtern, ſondern was
ſeid ihr von heute? Die Geburt entſcheidet nicht mehr wie in der alten
Standesherrſchaft. Niemand wird aber verkennen, daß ſich in einem ſo alten
Geſchlecht, wo ſich der Gedanke von Pflug und Schwert erhalten hat, wie in
dem unſrigen, auch eine gute Erbmaſſe angeſammelt hat, welche dem völkiſchen
Staate hervorragende Männer ſchenken könnte. Wir haben bereits dem preu⸗
ßiſchen Staate eine Reihe tüchtiger Männer geſchenkt, aber dieſe Tatſache
darf die Nachkommen nicht dazu führen, ſich nur in der Vergangenheit ſonnen
zu wollen. Im Gegenteil, unſere Aufgabe muß es jetzt ſein, bei der Einrich⸗
tung des neuen völkiſchen Staates aktiv mitzuarbeiten und alle kleinlichen
Meinungsverſchiedenheiten zurückzuſtellen.
Wir miiffen das Hochfreie unſeres germaniſchen Bauerntums wieder in
uns erwecken. Gerade weil in unſerer Familie ſich der Induſtriearbeiter mit
dem Offizier, der Bauer mit dem Politiker zuſammenfindet, verwiſchen ſich
bei uns ſchon äußerlich die Standesvorurteile, welche die Einheit des deutſchen
Volkes zerriſſen hatten. Wir müſſen aber auch den Geſchlechtergedanken wie⸗
der aufleben laſſen. Jeder von uns iſt ja nur ein Glied in der langen Kette
ſeiner Generation. Wir können aber auch nur weiterleben, wenn wir den
Eigennutz in uns töten. Gemeinnutz geht immer vor Eigennutz.
Anſere neuen Aufgaben erſtrecken ſich auf Jahrhunderte, denn das neu auf⸗
zubauende Dritte Reich wird länger wie das ſtolze Reich der Römer und
784 Manfred von Knobelsdorff
Griechen, länger wie das Reich der Hobenftaufen und Hohenzollern dauern
. wenn wir es endlich begreifen, eine neues Menſchengeſchlecht heran⸗
zubilden.
Ein junges, tatenfrohes, kämpferiſches Bauerngeſchlecht möge ſich in den
Anfängen eines ſolchen Staates entwickeln. Wir find ein altes Koloniſations⸗
geſchlecht. Wenn ich je etwas Großes in unſerer Familiengeſchichte vor meinem
geiftigen Auge fab, dann war es immer und immer wieder jener gewaltige
ufbruch der Ahnen in ihren Wanderungen des 12. und 13. Jahrhunderts,
um Neuland für das Geſchlecht zu ſuchen. Mit Kind und Kindeskegel und
ihrer Wagenburg zogen ſie dann durch die unwirtlichen Gegenden, von
Thüringen nach Meißen, vom Bistum Meißen nach Schleſien, von Schleſien
ſchließlich nach Oſtpreußen und Brandenburg, immer in öſtlicher Richtung,
den zurückweichenden Slawen nach, um für Deutſchlands Größe aufzu, bauen“.
Darum heißt heute der Befehl: Knobelsdorffs an die Front! Es gilt, jetzt
wieder zu zeigen, daß wir einem alten Bauern- und Koloniſationsgeſchlecht
angehören.
Die min hier folgenden Vorſchläge ſollen nicht wörtlich aufgefaßt werden,
ſondern nur als eine Anregung dienen. Sie mußten ausgeſprochen werden,
weil wir uns mitten in einem Aufbau befinden. Sie wurden aus heißer, ehr⸗
licher Liebe zum eigenen Geſchlecht und in weiterem Sinne aus Liebe zum
deutſchen Volk und Vaterland geſchrieben, denn das Beſtehen eines Staates
iſt von ſeinen Geſchlechtern abhängig.
1. Obwohl § 21 eine Anderung der Satzungen nahezu unmöglich macht,
weil nachweislich die Mehrheit aller Mitglieder erſten Grades bei einem
Geſchlechtstage perſönlich anweſend ſein müſſen, ſtehe ich auf dem Standpunkt,
daß eine Anderung der Satzungen erfolgen muß, denn ungewöhnliche Zeiten
erfordern ungewöhnliche Maßnahmen. Dann könnte man ja, ſtaatspolitiſch
gedacht, wenn man jede Anderung als einen Rechtsbruch bezeichnet, von ſoge⸗
nannten Rechtsbrüchen ſprechen. Der von den Geſchlechtsgenoſſen gewählte
Familienrat muß mehr Macht haben. Das Sechsmännerkollegium muß eine
TFührerausleſe darſtellen.
2. Ohne die Einwilligung eines ſolchen Familienrates darf in Zukunft kein
in v. Knobelsdorffſchen Händen befindlicher bäuerlicher Beſitz verkauft werden.
Bei allen Entſchuldungsvorgängen find zweckdienliche Schritte bei der Regie-
rung zu unternehmen, daß nicht durch eine voreilige Entſcheidung Verluſt von
Grund und Boden eintritt. Dieſer Anordnung fügen ſich alle v. Knobelsdorffs,
welche Grund und Boden beſitzen oder noch erwerben.
3. Der Familienrat hat das Recht, Einſpruch gegen die bäuerliche Miß⸗
wirtſchaft eines v. Knobelsdorff zu erheben, denn der Väter Boden iſt heilig
und gehört dem deutſchen Volke. Bei ſchweren Fällen hat der Familienrat
das Recht, den älteſten Sohn zugunſten des nächſtfolgenden zu enterben.
Wenn keine Söhne mehr vorhanden ſind, fo treten nicht die Töchter oder deren
angeheiratete Eheleute an die Stelle des Eigentümers, ſondern der nächſte
verwandte Vetter.
4. In der Nachfolge des Erbhofes bzw. Gutes tritt grundſätzlich das An⸗
erbenrecht wieder ein. Töchter können v. Knobelsdorffſchen Grundbeſitz nicht
erben. Auch kann die Auszahlung einer Mitgift nur in einer ſolchen Höhe
erfolgen, daß eine wirtſchaftliche Belaſtung für den Grundbeſitz nicht eintritt.
Jedoch haben die Töchter grundſätzlich auf dem Hof ihrer Brüder oder ihres
Die neuen Aufgaben des v. Knobelsdorffschen Geschlechts 785
Vetters unbeſchränktes Heimatrecht (z. B. in Niederſachſen, wo den Töchtern
ſtets ein Zimmer zur Verfügung ſteht).
5. Die militäriſch⸗politiſche Ertüchtigung (Pflug und Schwert) der heran⸗
wachſenden Generation gehört in den Pflichtaufgabenkreis eines Familien-
rats. Entweder es gibt einen politiſchen Adel oder es gibt keinen (Treitſchke).
Sofern ſich die v. Knobelsdorffs nicht in der Armee, Marine oder Polizei
befinden, haben fie ſich einer militärifchen oder politiſchen Organiſation an⸗
zuſchließen (Schutzſtaffel der NSDAP., SU. oder Stahlhelm).
6. Die Gattenwahl der jüngeren v. Knobelsdorffs iſt für die Erhaltung
eines Geſchlechts von einſchneidender Bedeutung. Mitglieder, welche ohne
Nachkommen ſterben, haben ihr Vermögen der Geſamtheit zuzuwenden und
nur den etwaig geſetzlichen Erben eine kleine Rente auszuſetzen. (Siehe das
Geſchlecht von Bünaul)
Die Gattenwahl wird wie folgt geregelt: Jeder v. Knobelsdorff hat vor
ſeiner offiziellen Verlobung bzw. ſeiner Verheiratung die Genehmigung des
Familienrates einzuholen. Braut und Bräutigam haben vor der Verlobung
ein ärztliches Gutachten einzuſenden. Zwei Bürgen haben dafür zu ſprechen,
daß auf Grund erbbiologiſcher Ahnenforſchung keine Bedenken gegen die Gat—
tenwahl vorliegen. Bei aufgedeckten, weniger ſchweren Erbleiden werden die
Beteiligten auf die Geſahren aufmerkſam gemacht, welche auf Grund von
Vererbungsgeſetzen bei der Nachkommenſchaft entſtehen können. Bei aus⸗
geſprochen ſchweren Erbleiden wird die Genehmigung der Verheiratung jei-
tens des Familienrates im Einverſtändnis mit dem Elternpaar verweigert.
Ferner wird die Heirat verſagt, wenn ſich durch Forſchung ab 1. Januar 1800
farbiges oder fremdraſſiges Blut in der Ahnenfolge befindet.
An dieſer Maßnahme wird ſich kein Menſch ſtoßen können, wenn immer
wieder der Geſchlechtergedanke in Betracht gezogen wird. Fehler find vor-
gekommen. Fehler find aber niemals dazu da, daß fie verewigt werden, fon:
dern man muß die Fehler abſtellen. Das Geſchlecht will ſich aufarten und
aufnorden, und nicht etwa entarten oder entnorden. Von uns hängt es ab,
wie das nächſte Geſchlecht ſein wird.
7. Die Ehre iſt das Höchſte, was ein Menſch beſitzt. Wer im Kampfe
ſeinen Schild verlor, war bei den Germanen ehrlos. Wer ſein Wappenſchild
daher befleckt, darf auch ein ſolches nicht mehr tragen, und wenn er hundertmal
durch einen Zufall der Natur als Adliger geboren wurde. Ich ſchlage deshalb
vor, daß, wer ſich gegen das Nationalvölkiſche vergeht, außerhalb des Gee
ſchlechtsverbandes geſtellt werden muß. Ein ſolches Mitglied verliert ſeine
Stimmberechtigung. Später gibt es vielleicht ein Geſetz, daß ein ſolcher Kno—
belsdorff, welcher ſich an den Traditionen der Väter verſündigt, ſein Wap⸗
penſchild nicht mehr zu tragen berechtigt iſt. Ich bin überzeugt, daß im Dritten
Reich ein Adel, der ſich nicht auf dem Prinzip von Ehre aufbaut, gar nicht
ſein wird.
8. Der Erwerb von Grundbeſitz für die geſamte v. Knobelsdorffſche
Familie, welche heute in ihren Mitgliedern überallhin in Deutſchland ver-
ſtreut iff, muß das höchſte Ziel fein. Sollte im Dritten Reich im großen
Rahmen eine Oſtkoloniſation durchgeführt werden, fo müßte der v. Knobels⸗
dorffſche Familienrat bei der völkiſchen Regierung alle Schritte verſuchen, um
alle entwurzelten Geſchlechtsgenoſſen wieder auf deutſchem Boden anſäſſig zu
machen. Opfer müſſen hierbei von der Geſamtheit gebracht werden. Auch bin
786 Das bäuerliche Erbhofgesetz
ich der Anficht, daß der Geldbeutel hierbei nicht das Ausſchlaggebende fein
wird, ſondern ganz allein die Tat einer Perfönlichkeit. Ich erinnere daran,
daß Friedrich der Große in Anerkennung der Verdienſte ſeines Adels in
ſeinem politiſchen Teſtamente die Worte prägte: „Es kann wohl einen reiche⸗
ren, aber niemals einen treueren Adel geben“, womit der große König aus⸗
drücken wollte, daß Reichtum niemals das Entſcheidende fein kann. Nur als
ein Geſchlecht werden wir wieder ſtark, nicht aber als einzelne Geſchlechts⸗
genoſſen. Die geringen Mittel des v. Knobelsdorffſchen Geſchlechtsvermögens
können bei der Bodengewinnung oder bei der Erwerbung des eiſernen Inven⸗
tars vielleicht herangezogen werden. Denken wir an Muſſolinis große Agrar⸗
tat, der aus den Pontiniſchen Sümpfen 400 000 Morgen Land machte und in
kurzer Zeit über 1000 Bauernhöfe gründete.
Es wird die vornehmſte Zukunftsaufgabe des neuen Staates fein, neue
Bauerngeſchlechter auf eigener Scholle zu gründen.
Düſſeldorf, den 1. Mai 1933.
Das bäuerliche Erbhofgeſetz
Wir geben hier das vom Preußiſchen Staatsminiſte
rium verabſchiedete Geſetz wieder, das bekanntlich von
dem Preußiſchen Juſtizminiſter Kerrl in Zuſammen ;
arbeit mit feinen Mitarbeitern, Min.⸗Dir. Freisler
und Min. ⸗Rat Wagemann einerſeits und R. Walther
Darré, Werner Willikens und Herbert Backe anderer-
ſeits, vorgelegt worden iſt. Angeſichts der revolutio-
nären Bedeutung dieſes Geſetzes werden wir noch in
der kommenden Nummer eingehend Stellung nehmen.
Wir bringen in Zuſammenhang damit noch einige an-
dere, in dieſes Gebiet einſchlagende Arbeiten. H. N.
Die unlösbare Verbundenheit von Blut und Boden iſt die unerläßliche Vor⸗
ausſetzung für das geſunde Leben eines Volkes.
Die bäuerliche Bodenverfaſſung früherer Jahrhunderte fiherte in Deutſchland
dieſe aus dem natürlichen Lebensgefühl des Volkes heraus geborene Verknüpfung
auch geſetzlich. Der Bauernhof war das unveräußerliche Erbe des angeſtammten
Bauerngeſchlechts.
Artfremdes Recht drang ein und zerſtörte die geſetzliche Grundlage dieſer bäuer-
lichen Verfaſſung.
Trotzdem bewahrte der deutſche Bauer mit geſundem Sinn für ſeines Volkes
Lebensgrundlage im Wege der Sitte in vielen Gauen des Landes den Bauernhof
von Geſchlecht zu Geſchlecht ungeteilt.
Anabweisbare Pflicht der Regierung des erwachten Volkes ift die Sicherung
der nationalen Erhebung durch geſetzliche Feſtlegung der in deutſcher Sitte be⸗
wahrten unauflöslichen Verbundenheit von Blut und Boden durch das
Das bäuerliche Erbhofgesetz | 787
Bäuerliche Erbhofrecht.
IJ. Grundgedanken
81
Anerbenrecht
Der in der Erbhöferolle des zuſtändigen Amtsgerichts eingetragene land- und
forſtwirtſchaftliche Beſitz (Erbhof) vererbt ſich nach Anerbenrecht.
icc Eigentümer eines Erbhofs heißt Bauer. Mehrere Erbhöfe hat ein Bauer
nicht.
Der Bauer hat nur ein Kind, welches den Erbhof übernehmen kann; das iſt der
Anerbe.
Die Miterben werden bis zur wirtſchaftlichen Selbſtändigkeit vom Hofe ver-
forgt. Geraten fie unverſchuldet in Not, jo können fie auch in ſpäteren Jahren noch
auf dem Hofe Zuflucht ſuchen (Heimatzuflucht).
Iſt der zur Eintragung in die Erbhöferolle geeignete Hof nicht eingetragen, ſo
beſteht das Recht zur Abernahme kraft Anerbenrechts.
82
Der Vauer
Einen Erbhof kann als Bauer nur befigen, wer deutſcher Staatsbürger und
deutſchen oder ſtammesgleichen Blutes iſt.
Deutf oder ftammesgleichen Blutes ift nicht, wer unter feinen Vorfahren im
Mannesſtamme oder wer unter ſeinen übrigen Vorfahren bis ins zweite Glied
eine Perſon jüdiſcher oder farbiger Herkunft hat. Eine in Zukunft erfolgende Ehe⸗
ſchließung mit einer derartigen Perfon macht die Nachkommen dauernd unſähig,
als Gefiger eines Erbhofes Bauer zu fein.
83
Der Erbhof
Der Erbhof muß mindeſtens zur Ernährung und Erhaltung einer bäuerlichen
Familie ausreichen (Ackernahrung). Er darf nicht ſo groß ſein, daß ſeine Bewirt⸗
ſchaftung nicht mehr von einer Hofſtelle aus ohne Vorwerke erfolgen kann; nähere
mmungen über die Höchſtgrenze kann der Juſtizminiſter im Einvernehmen mit
dem Miniſter für Landwirtſchaft, Domänen und Forſten für einzelne Wirtſchafts⸗
gebiete erlaſſen. ;
§
Unerbenfitte und Eintragung
Die Eintragung in die Erbhöferolle erfolgt, wenn die vorhergehenden Beſtim⸗
mungen dies zulaſſen, in den Landſchaften mit Anerbenſitte (Anlage I) von Amts
1 in den Landſchaften ohne Unerbenfitte (Anlage II) auf Antrag des Eigen-
mers.
Anerbenfitte iſt die überwiegende Gewohnheit der bäuerlichen Bevölkerung, den
zu einer Ackernahrung ausreichenden land und forſtwirtſchaftlichen Beſitz durch
Abergabevertrag, Teſtament, Vereinbarung unter den Miterben oder in anderer
Weiſe ungeteilt auf einen Erben, den Anerben, gegen billige Abfindung oder Ver⸗
ſorgung der übrigen Erben zu „ Wird feſtgeſtellt, daß dieſe Anerbenſitte
in einzelnen Bezirken der in Anlage J verzeichneten Landſchaften nicht vorhanden
iſt, ſo können der Juſtizminiſter und der Miniſter für Landwirtſchaft, Domänen
und Forſten durch gemeinſame Verordnung auf Vorſchlag der landwirtſchaftlichen
Berufsvertretung dieſe Landesteile aus der Anlage I in die Anlage II überfüh-
ren. Wird feſtgeſtellt, daß in einzelnen Bezirken der in Anlage II verzeichneten
Landſchaften die Anerbenſitte beſteht, fo erfolgt in gleicher Weiſe die Aberführung
aus der Anlage II in die Anlage 1; die Aufnahme in die Anlage I hat zu erfolgen,
wenn die Preußiſche landwirtſchaftliche Hauptberufsvertretung dies verlangt.
Dieſes lautet:
788 Das bäuerliche Erbhofgesetz
85
Verfügungen unter Lebenden
Zur rechtsgeſchäftlichen Veräußerung eines Erbhofes oder eines Grundſtücks,
das zu einem Erbhofe gehört, iſt die Genehmigung des Anerbengerichts erforder-
lich, ſoweit nicht die Veräußerung zu Siedlungszwecken von Reich oder Staat er-
folgt. Eine ohne Genehmigung erſolgte Veräußerung iſt unwirkſam.
Aber die Genehmigung iſt unter dem Geſichtspunkt der Erhaltung der Einheit⸗
lichkeit und Leiſtungsfähigkeit des Erbhofes entſprechend dem Zwecke dieſes Ge⸗
ſetzes (8 63 Abſ. 2) zu entſcheiden.
Die Veräußerung von Einzelgrundſtücken kann unter der Auflage genehmigt
werden, daß das Entgelt zur Bezahlung von Hofesſchulden oder zum Ankauf von
anderen Grundſtücken für den Erbhof verwandt wird; die Erfüllung der Auflage
iſt ſicherzuſtellen.
Die Genehmigung zur Veräußerung des ganzen Erbhofes iſt zu erteilen, wenn
der Bauer den Hof einem Anerbenberechtigten übergeben will, und der Abergabe⸗
vertrag den Erbhof nicht über ſeine Kräfte hinaus belaſtet. Soll die Veräußerung
des Erbhofes an einen Familienfremden erfolgen, fo fol das Anerbengericht tun⸗
lichſt vor der Entſcheidung die ihm bekannten Miterben des Bauern hören.
Die Genehmigung iſt weiter zu erteilen, wenn jeder der Teile einen zu jelb-
ſtändiger Bewirtſchaftung ausreichenden Hof bildet und die Erwerber zu den An⸗
erbenberechtigten des § 12 gehören.
Die Entſcheidung des Anerbengerichts erfolgt durch den Vorſitzenden. Wird
innerhalb einer Woche ſeit Zuſtellung Einſpruch erhoben, fo entſcheidet das An-
erbengericht endgültig.
86
Verfügungen auf den Todesfall
Der Bauer kann in der Gorm eines Teſtaments oder einer vom Richter, Notar
oder Gemeindevorſteher beglaubigten Erklärung den Anerben unter den nach § 12
zum Anerben Berufenen auswählen. Die Urkunde kann zu den Akten des Anerben-
gerichts überreicht werden.
In gleicher Form kann er anordnen, daß dem Vater oder der Mutter des An-
erben über die Volljährigkeit, jedoch nicht über das 25. Lebensjahr des Anerben
hinaus, die Verwaltung und der Nießbrauch des Hofes nebſt Zubehör zuſtehen
ſoll unter der Verpflichtung, dem Anerben und deſſen Miterben gegen Leiſtung
angemeſſener und ihren Kräften entſprechender Arbeitshilfe angemeſſenen Unter-
halt auf dem Hofe zu gewähren.
Das Erbhofzubehör (§ 11) kann durch Verfügung von Todes wegen von den Erb-
hofgrundſtücken nicht getrennt werden, ſolange für dieſe das Erbhofrecht gilt.
Eine Verfügung von Todes wegen, durch die das Erbhofrecht ausgeſchloſſen
oder beſchränkt wird, bedarf der Form des öffentlichen Teſtaments oder des Erb-
vertrags. In eigenhändiger Form errichtete Teſtamente werden mit Inkrafttreten
des Geſetzes unwirkſam.
II. Die Erbfolge kraft Anerbenrechtes.
87
1. Erbrecht
Gehört zu einem Nachlaß ein Erbhof und ſind mehrere Erben vorhanden, ſo
fällt der Erbhof nebſt Zubehör kraft Geſetzes als Teil der Erbſchaft einem der
Erben, dem Anerben, zu. Die Miterben erhalten hierfür einen Anſpruch auf Ver⸗
ſorgung nach näherer Maßgabe der §§ 17 ff.
Das bäuerliche Erbhofgesetz 789
88
2. Nachlaßwerbindlichkeiten
Die Nachlaßwerbindlichkeiten einſchließlich der auf dem Hofe ruhenden Hypothe ;
ken, Grund- und Rentenſchulden, aber ohne die auf dem Hofe ruhenden fonftigen
Laften (Altenteil, Nießbrauch u. a.) find, ſoweit das außer dem Hofe nebft Su-
behör vorhandene Vermögen dazu ausreicht, aus dieſem zu berichtigen. Soweit fie
nicht in dieſer Weiſe berichtigt werden, iſt der Anerbe ſeinen Miterben gegenüber
verpflichtet, ſie allein zu tragen und die Miterben von ihnen zu befreien.
89
3. Teilung des übrigen Nachlaſſes
Verbleibt nach Berichtigung der Nachlaßverbindlichkeiten ein Aberſchuß, ſo iſt
dieſer auf die außer dem Anerben noch vorhandenen übrigen Miterben nach den
Vorſchriften des allgemeinen Rechts zu verteilen. Der Anerbe kann eine Beteili⸗
gung nur verlangen, inſoweit der hiernach auf ihn entfallende Anteil größer iſt
als der laſtenfreie Ertragswert (Bürgerliches Geſetzbuch § 2049 Abſ. 2) des Erb-
hofs.
8 10
4. Der Erbhof
Beſtandteile
Zum Erbhof gehören alle regelmäßig von der Hofftelle aus bewirtſchafteten
Grundſtücke, die dem Bauern zu eigen gehören. Eine Verpachtung oder ähnliche
vorübergehende Benutzung von Hofesgrundſtücken, z. B. als Altenteilsland,
ſchließt die Hofeszugehörigkeit nicht aus. Insbeſondere gehören zum Erbhof auch
die Grundſtücke, die an Perſonen verpachtet find, von denen dagegen Dienſtleiſtun⸗
gen für die Hofeswirtſchaft erwartet werden (Heuerlings- und Inſtſtellen, De⸗
putatland u. ä.).
Zum Hofe gehören außer den Gebäuden und ſonſtigen geſetzlichen Beſtandteilen
auch die Realgemeindeberedtigungen des Eigentümers.
§ 11
Hofeszubehör
Das Hofeszubehör umfaßt insbeſondere das auf dem Hofe für die Bewirtſchaf⸗
tung vorhandene Vieh, Wirtſchafts⸗ und Hausgerät einſchließlich des Leinen⸗
zeugs und der Betten, den vorhandenen Dünger und die für die Bewirtſchaftung
dienenden Vorräte an Früchten und ſonſtigen Erzeugniſſen fowie die auf den Hof
bezügliden Urkunden. ;
§ 1
5. Der Anerbe
Anerbenordnung
Zum Anerben find — wenn der Erblaſſer die Reihenfolge nicht anders beſtimmt
hat — in folgender Ordnung berufen:
1) die Söhne des Erblaſſers; an Stelle eines verſtorbenen Sohnes treten deſſen
Söhne und zu ns
2) der Vater des Erblaſſers;
3) die Brüder des Erblaſſers und deren Nachkommen im Mannesſtamme; indeſſen
nur, wenn auf Antrag des Erblaſſers das Bruderrecht (8 13) in die Erbhöfe-
4 N bie linge des Erblaff
mmlinge des Erblaſſers ſowie die Nachkommen von ſo s
5) die Mutter des Erblaſſers; . n
Agrarpolitit Heft 11, Bg. 3
790 Das bduerliche Erbhofgesetz
6) die Geſchwiſter des Erblaſſers und deren Nachkommen; und zwar vollbürtige
vor halbbürtigen, Brüder und Brudersſöhne vor Schweſtern, männliche Nach
kommen vor weiblichen;
7) die Großeltern ſowie danach die entfernteren Voreltern des Erblaſſers und
ihre Nachkommen. Der dem Mannesſtamme des Erblaſſers Näherſtehende
ſchließt den Fernerſtehenden aus. Im übrigen entſcheidet der Vorzug des männ-
lichen Geſchlechts und der Erſtgeburt.
Iſt der Hof dem Erblaſſer ganz oder zum größten Teil von ſeiten eines
Eltern- oder Großelternteils zugekommen, jo gehen die Erben, die ihr Recht
von dieſem Eltern- oder Großelternteil herleiten können, den übrigen Erben
vor;
8) der Ehegatte des Erblaſſers.
Ein Verwandter iſt nicht zur Anerbenfolge berufen, ſolange ein Verwandter
einer vorhergehenden Ordnung vorhanden iſt. Innerhalb der gleichen Ordnung
gilt der Vorzug des männlichen Geſchlechts und der Erſtgeburt. Durch nadfol-
gende Ehe anerkannte Kinder ſind ehelich. Für ehelich erklärte Kinder des Vaters
und uneheliche Kinder der Mutter folgen den ehelichen Kindern nach. An Kindes
Statt Angenommene find nicht zur Anerbfolge berufen.
Erbunwürdige (Bürgerliches Geſetzbuch §§ 2339 ff.), rechtskräftig zu Zuchthaus
Verurteilte und Nichtdeutſchblütige, dieſe unbeſchadet des § 40 Abſ. 4, ſcheiden als
Anerben aus, während Perſonen, die zur Zeit des Erbfalles entmündigt find, hin-
ter die Anerbenberechtigten der nächſten Ordnung zurücktreten, fofern die Wnfed-
boben it rechtskräftig abgewieſen oder nicht innerhalb der geſetzlichen Friſt er-
oben iſt.
Hat der Anerbe bereits einen Erbhof, ſo treten, wenn er Abkömmlinge hat,
dieſe unter Vorzug des männlichen Geſchlechts und der Erſtgeburt an ſeine Stelle.
Anderenfalls ſcheidet er von der Anerbfolge aus. Der Anerbe kann aber auch den an-
gefallenen Erbhoſ übernehmen, jedoch nur durch Erklärung gegenüber dem An⸗
erbengericht binnen 6 Wochen nach dem Erbfall und nur, wenn er in der Erklä⸗
rung in rechtsverbindlicher Form ſeinen bisherigen Erbhof der Erbengemeinſchaft
zur Verfügung ſtellt. In diefem Fall tritt der zur Verſügung geſtellte Hof an die
Stelle des angefallenen Hofs.
8 13
Bruder⸗ und Jügſtenrecht
Auf Antrag des Bauern kann in die Erbhöferolle eingetragen werden, daß nach
den Söhnen und Sohnesſöhnen des Erblaſſers zunächſt deſſen Brüder und Bru⸗
3 nach dem Rechte der Erſtgeburt als Anerben berufen fein ſollen (Bru⸗
errecht).
In gleicher Weile kann eingetragen werden, daß nicht der Altere, ſondern der
Jüngere vorgeht (Jüngſtenrecht).
Die Eintragung hat Wirkung bis zu ihrer Löſchung. Die Löſchung erfolgt,
wenn der Bauer fie beantragt.
§ 14
Auswahl des Anerben
Der Erblaſſer kann für den Fall, daß bei feinem Tode der Anerbe noch nicht
25 Jahre alt iſt, durch Verfügung von Todes wegen oder in einer durch Richter,
Notar oder Gemeindevorſteher beglaubigten Arkunde beſtimmen, daß ſein Vater
oder der Überlebende Ehegatte befugt fein foll, mit Genehmigung des Anerben-
gerichtes unter den Abkömmlingen den Anerben auszuwählen.
Die Auswahl erfolgt durch Erklärung gegenüber dem Anerbengericht. Sie wird
mit der Genehmigung wirkſam.
Das bäuerliche Erbhofgesetz 791
Die Befugnis erliſcht ſpäteſtens, wenn der geſetzlich berufene Anerbe das 25.
Lebensjahr vollendet; ſonſt mit dem Tode des zur Auswahl Befugten ſowie mit
der Wiederverheiratung des auswahlberechtigten Ehegatten.
Das Eigentum an dem Erbhofe nebſt Zubehör erwirbt im Falle der Ausübung
der Befugnis der ausgewählte Anerbe mit der Genehmigung der Wahl durch das
Anerbengericht, im Falle des Erlöſchens der Befugnis der geſetzlich berufene An⸗
erbe mit dem Zeitpunkt des Erlöfchens.
§ 15
Rechtserwerb und Verzicht
Der Anerbe erwirbt das Eigentum an dem Hofe nebſt Zubehör mit dem Er-
werbe der Erbſchaft.
Der Anerbe kann auf das Anerbenrecht verzichten, ohne im Übrigen die Erbſchaft
auszuſchlagen. Auf den Verzicht finden die Vorſchriften des Bürgerlichen Geſetz⸗
buchs über die Ausſchlagung der Erbſchaft entſprechende Anwendung; der Verzicht
iſt gegenüber dem Anerbengericht zu erklären. Die Friſt für den Verzicht beginnt
mit dem Zeitpunkt, in welchem der Anerbe von ſeiner Berufung zum Anerben
Kenntnis erlangt, wenn jedoch die Berufung auf einer Verfügung von Todes
wegen beruht, nicht vor der Verkündung der Verfügung. Steht der zum Anerben
Berufene unter elterlicher Gewalt oder unter Vormundſchaft, ſo iſt zum Verzicht
auf das Anerbenrecht die Genehmigung des Vormundſchaftsgerichts erforderlich.
Iſt der zum Anerben Berufene nicht deutſcher Staatsbürger, ſo gilt es als Ver⸗
zicht auf das Anerbenrecht, wenn er nicht innerhalb der im Abſ. 2 bezeichneten
Friſt die Verleihung der deutſchen Reichsangehörigkeit nachgeſucht hat.
Wird auf das Anerbenrecht verzichtet, ſo gilt der Anfall des Hofes an den Ver⸗
zichtenden als nicht erfolgt. Der Hof fällt an den nächſten als Anerben Berufenen.
Dieſer Anfall gilt als mit dem Erbfall erfolgt.
8 16
Hoffolgezeugnis
Dem Anerben iſt auf Antrag vom Vorſitzenden des Anerbengerichts ein Zeugnis
über ſeine Folge in den Erbhof auszuſtellen.
Auf das Zeugnis finden die Beſtimmungen des Bürgerlichen Geſetzbuches über
den Erbſchein entſprechende Anwendung. In dem Zeugnis find die Grundſtücke an-
zugeben, die zum Erbhof gehören. Das Grundbuchamt kann zum Nachweiſe des
Rechts des Anerben die Vorlegung eines ſolchen Zeugniſſes verlangen.
817
6. Verſorgung der weichenden Erben
Anterhalt, Berufsausbildung, Heimatzuflucht
Die weichenden Erben werden bis zu ihrer Volljährigkeit gegen Leiſtung an⸗
gemeſſener Arbeitshilfe auf dem Hofe angemeſſen unterhalten und erzogen. Sie
ſollen auch, ſoweit es Abkömmlinge des Erblaſſers find und die Mittel des Hofes
hierzu ausreichen, für einen dem Stande des Hofes entſprechenden Beruf ausge⸗
bildet und bei ihrer Verſelbſtändigung ausgeſtattet werden, insbeſondere um fid
eine Siedlungsſtelle zu beſchaffen.
Geraten ſie unverſchuldet in Not, ſo können ſie auch in ſpäteren Jahren noch
. angemeſſener Arbeitshilfe auf dem Hofe Zuflucht ſuchen (Heimat⸗
zuflucht).
Die Rechte aus Abſ. 1 ſind auf Antrag eines Berechtigten in das Grundbuch
einzutragen, ſoweit dies nach dem Reidsredht zuläſſig iſt.
3°
792 Das bäuerliche Erbhofgesetz
§ 18
Altenteil des Ehegatten
Der überlebende Ehegatte des Erblaſſers kann, wenn er auf alle ihm gegen den
Nachlaß zuſtehenden Anſprüche verzichtet, von dem Anerben lebenslänglich den in
ſolchen Verhältniſſen üblichen Anterhalt auf dem Hofe verlangen, ſoweit er ſich
nicht aus eigenem Vermögen unterhalten kann.
Der Anſpruch des Ehegatten erliſcht mit ſeiner Wiederverheiratung. Iſt in die⸗
fem Zeitpunkte der Wert feiner Zuwendungen an die Erbmaſſe durch den Unter-
halt auf dem Hof noch nicht aufgezehrt, ſo kann er den Aberſchuß von dem Bauern
zurückverlangen. 819
Streitfälle
Bei Streitigkeiten aus den §§ 17 und 18 trifft der Vorſitzende des Anerben-
gerichts die erforderliche Regelung unter billiger Berückſichtigung der Verhältniſſe
der Beteiligten ſo, daß der Hof bei Kräften bleibt. Er kann das Verſorgungsrecht
aufheben oder einſchränken, wenn der Verſorgungsberechtigte anderweit geſichert
iſt oder wenn dem Verpflichteten die Leiſtung nicht mehr zugemutet werden kann,
insbeſondere, wenn ſie die Kräfte des Hofes überſteigt.
Gegen die Entſcheidung des Vorſitzenden iſt binnen einer Woche ſeit Zuſtellung
der Einſpruch an das Anerbengericht zuläſſig. Deſſen Entſcheidung iſt endgültig.
Aber die Vollſtreckbarkeit der Entſcheidungen trifft die Ausführungsverordnung
Beſtimmung. 8 20
Rechte der Miterben bei Verkauf des Hofes
Veräußert der Bauer den Erbhof, fo können die gewichenen Erben verlangen,
von ihm ſo geſtellt zu werden, wie ſie geſtanden hätten, wenn beim Erbfall bereits
eine Teilung des geſamten Nachlaſſes nach den Vorſchriften des Bürgerlichen Ge-
ſetzbuchs ſtattgefunden hätte.
Die Vorſchrift im Abſ. 1 gilt finngemäß, inſoweit einzelne Grundſtücke, deren
Wert mehr als ein Fünftel vom Hofeswert ausmacht, veräußert werden, es ſei
denn, daß die Veräußerung zur Erhaltung des Hofes erforderlich war, oder daß
der Bauer bereits Grundſtücke im gleichen Werte zu dem Erbteil hinzuerworben
hat oder im Laufe des auf die Veräußerung folgenden Jahres hinzuerwirbt.
Die Vorſchriften im Abſ. 1 und 2 gelten nicht, wenn die Veräußerung an einen
anerbenberechtigten Verwandten erfolgt iſt. Sie finden jedoch auf den Erwerber
entſprechende Anwendung, wenn dieſer den Hof oder die Hofesgrundſtücke inner-
halb eines Zeitraumes von 10 Jahren an eine ihm gegenüber nicht anerbenberech⸗
tigte Perſon weiter veräußert.
Die vorſtehend beſtimmten Anſprüche verjähren in 3 Jahren. Sie beſtehen auch
a wenn der Erbhof vor der Veräußerung in der Anerbenrolle gelöſcht wor-
en iſt.
821
Erbloſung
Verkauft der Bauer den Erbhof an einen nicht anerbenberechtigten Verwandten,
ſo ſteht den Miterben in der Reihenfolge ihrer Berufung zum Anerben ein gefes-
liches Vorkaufsrecht zu.
§ 22
7. Vorſchriften für beſondere Fälle
Kleinbeſitz
Landwirtſchaftlicher Beſitz, der nicht die Größe einer Ackernahrung hat, kann auf
Antrag des Eigentümers mit Zuſtimmung der landwirtſchaftlichen Berufsvertre⸗
tung in die Erbhöferolle eingetragen werden.
Das bäuerliche Erbhofgesetz 793
Die Eintragung hat zur Wirkung, daß der Beſitz ſich nach Anerbenrecht vererbt.
Die Verforgung der weichenden Erben beſchränkt fid auf das im 817 Abſ. 1 Satz 1
bezeichnete Recht auf Anterhalt.
§ 22a
Zur Landwirtſchaft gehören auch der Weinbau und gartenbauliche Betriebe nach
näherer Beſtimmung des Juſtizminiſters und des Miniſters für Landwirtſchaft,
Domänen und Gorften.
8 23
Mehrere Erbhöfe
Hinterläßt der Bauer mehrere Erbhöfe, ſo können die als Anerben Berufenen
in der Reihenfolge ihrer Berufung je einen Erbhof wählen, ſo, daß niemand mehr
als einen Erbhof bekommt; § 12 Abſ. 4 gilt entſprechend.
Die Wahl erfolgt durch Erklärung gegenüber dem Vorſitzenden des Anerben⸗
gerichts; die Erklärung iſt in öffentlich ⸗ beglaubigter Form oder zur Niederſchrift
der Geſchäftsſtelle abzugeben. Der Vorſitzende des Anerbengerichts hat dem Wahl⸗
berechtigten auf Antrag eines nachſtehenden Wahlberechtigten eine angemeſſene
Friſt zur Erklärung über die Wahl zu beſtimmen. Erfolgt die Wahl nicht vor Ab⸗
lauf der Friſt, ſo tritt der Wahlberechtigte in Anſehung des Wahlrechts hinter
die übrigen Wahlberechtigten zurück.
Sind mehr Erbhöfe als Berechtigte vorhanden, ſo wird die Wahl nach den
gleichen Grundſätzen wiederholt, ſolange Höfe vorhanden find. Hierbei treten an
die Stelle eines bereits zur Wahl Gekommenen jeweils deſſen Abkömmlinge mit
dem Vorzug des männlichen Geſchlechts und der Erſtgeburt ein. Sind Wahlberech⸗
tigte in der nächſten Anerbenordnung nicht mehr vorhanden, ſo kommt die folgende
Ordnung nach den gleichen Grundſätzen zur Wahl.
Jeder Anerbenberechtigte erwirbt das Eigentum an dem von ihm gewählten Hof
nebſt Zubehör mit der Vollziehung der Wahl. Mit der Vollziehung der letzten
Wahl erwirbt zugleich der Nächſtberufene das Eigentum an dem übrigbleibenden
Hof nebſt Zubehör.
Die zur Verſorgung Berechtigten (88 17 und 18) können wählen, auf welchem
Hofe ſie den Anterhalt beziehen wollen. Die Pflicht zur Berufsausbildung und
Ausſtattung (§ 17 Abf. 1 Satz 2) wird von allen Höfen gemeinſchaftlich nach dem
Verhaltnis ihres Wertes getragen. Im Streitfall entſcheidet das Anerbengericht.
8 24
Geſamtgut ‘
Ein Erbhof kann nicht gum Gefamtgut einer ehelichen Gütergemeinſchaft gehören
oder ſonſt im Miteigentum mehrerer Perſonen ſtehen.
Gehört ein Hof beim Inkrafttreten dieſes Geſetzes bereits zum Geſamtgut oder
zum Miteigentum, ſo kann er als Erbhof erſt eingetragen werden, wenn er aus
dem Geſamtgut oder Miteigentum ausgeſchieden iſt.
825
Pflichtteil
Ein Pflichtteilsrecht beſteht nur gegenüber einer Verfügung von Todes wegen,
nicht aber gegenüber dem Geſetz.
Insbeſondere kann ein Pflichtteilsanſpruch gegenüber dem Anerben nicht geltend
gemacht werden.
794 Das bäuerliche Erbhofgesetz
III. Die Übernahme kraft Anerbenrechts
8 26
Zuläſſigkeit
Befindet ſich bei der Erbſchaft ein Hof, der zur Eintragung in die Erbhöſerolle
geeignet (88 1—3), aber bislang nicht eingetragen iſt, fo kann jeder Miterbe bei
der Erbteilung verlangen, daß ihm der Hof ungeteilt nach den Regeln des An⸗
erbenrechts zugewieſen wird. 9 27
Das Suweifungsverfahren
Erhebt einer der Miterben Einſpruch oder erklären ſich mehrere zur Abernahme
bereit, ſo entſcheidet auf Anrufen eines Beteiligten das Anerbengericht über die
Zuweiſung.
Die Zuweiſung ſoll nur an einen Anerbenberechtigten erfolgen, der die Gewähr
bietet, daß er den Hof ordnungsmäßig bewirtſchaften und ungeteilt erhalten wird;
der Abernehmer kann ſich zur Sicherſtellung durch entſprechende Eintragung im
Grundbuch erbieten. Unter mehreren danach Geeigneten hat der nach der Anerben⸗
folgeordnung des § 12 näher Berufene den Vorrang.
Die Entſcheidung des Anerbengerichtes erfolgt nach Anhörung der Beteiligten
durch begründeten Beſchluß. Spricht der Beſchluß die Zuweiſung aus, ſo ſoll er
die Hofſtelle, die zum Hofe gehörenden Grundſtücke und die Perſon des überneh⸗
menden Anerben bezeichnen. Gegen den die Zuweiſung ablehnenden Beſchluß ſteht
dem Anerben, gegen den die Zuweiſung ausſprechenden Beſchluß ſteht den Mit-
erben die Beſchwerde binnen einer Notfriſt von 2 Wochen an das Erbhofgericht
zu. Auch der Vorſitzende kann den Beſchluß innerhalb der Beſchwerdefriſt an-
fechten (§ 35 Abſ. 2); er fol dies tun, wenn der Beſchluß dem Zweck des Geſetzes
(§ 63 Abſ. 2) oder deſſen Grundgedanken nicht gerecht wird.
Wird der Zuweiſungsbeſchluß rechtskräftig, jo ſteht damit feſt, daß das Eigen-
tum an dem Hof mit dem Erbfall auf den Anerben übergegangen iſt. Der Hof iſt
von Amts wegen in die Erbhöſerolle einzutragen. Das Anerbengericht hat zugleich
auch das Grundbuchamt um die Eintragung des neuen Eigentümers zu erſuchen.
Anträge auf Zuweiſung find bevorzugt vor allen anderen Sachen vom Anerben⸗
gericht und vom Erbhofgericht zu erledigen. Dieſes kann für die Zeit bis zur
Rechtskraft der Entſcheidung geeignete, den einſtweiligen Zuſtand regelnde An⸗
ordnungen treffen. Sft ein Rechtsſtreit über das Erbrecht anhängig, fo kann jeder
der Beteiligten die Ausſetzung bis zur Erledigung des Verfahrens vor dem Un-
erbengericht und Erbhofgerichte beantragen.
§ 28
Wirkung
Auf die Übernahme kraft Anerbenrechtes finden die Vorſchriften über die Erb-
folge kraft Anerbenrechtes finngemäß Anwendung. Der Übernehmer hat die
Rechtsſtellung des Anerben; für die Miterben gelten die Vorſchriften über die
weichenden Erben.
IV. Die Anerbenbehörden und ihr Verfahren
8 29
Grundſatz
Zur Durchführung der beſonderen Aufgaben dieſes Geſetzes werden Anerben-
gerichte und ein Erbhofgericht gebildet.
In den durch dieſes Geſetz den Anerbengerichten und dem Erbhofgericht zur
Entſcheidung überwieſenen Angelegenheiten können die ordentlichen Gerichte nicht
angerufen werden.
Das bäuerliche Erbhofgesetz 795
1. Das Anerbengeridt
§ 30
Das Anerbengericht wird bei dem Amtsgericht für deſſen Bezirk gebildet. Der
Juſtizminiſter kann im Einzelfalle den Bezirk anders beſtimmen.
831
Das Anerbengericht beſteht aus dem Vorfigenden und zwei Beiſitzern.
Zum Worfigenden und ftändigen Stellvertreter wird vom Juſtizminiſter auf
Vorſchlag des Oberlandesgerichtspräfidenten ein Richter ernannt. Es find nur
Richter vorzuſchlagen, die mit den Erbgewohnheiten der bäuerlichen Bevölkerung
beſonders vertraut ſind und volles Verſtändnis für die Notwendigkeit der unge⸗
teilten Vererbung der Bauernhöfe haben (§ 63 Ab. 2). Die Ernennung erfolgt
regelmäßig für die Dauer des Kalenderjahres; ſie verlängert ſich jeweils für das
folgende Jahr, wenn nicht bis zum 1. Dezember dem Präfidium des Landgerichts
eine anderweite Verfügung zugegangen iſt.
Die Beifitzer und die erforderliche Zahl von Stellvertretern werden auf Vor⸗
ſchlag der landwirtſchaftlichen Berufsvertretung vom Oberlandesgerichtspräſiden⸗
ten ernannt. Es find nur Bauern vorzuſchlagen, die mit einem Erbhof oder, foe
lange ſolche noch nicht eingetragen find, mit einem nach den SS 1—3 zum Erbhof
geeigneten Bauernhof im Bezirke des Anerbengerichts angeſeſſen find.
Für die Rechtsverhältniſſe und die e der Beiſitzer gelten die für
die Schöffen beſtehenden Vorſchriften der §§ 31—33, 8 35 Nr. 1 u. 5, 8 51—56
des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes finngemäß mit der Maßgabe, daß es einer Mit-
wirkung der Staatsanwaltſchaft hier nicht bedarf und daß die Entſcheidung des
Landgerichtspräſidenten über die im § 55 Schlußſatz gegebene Aufſichtsbeſchwerde
endgültig ift. Wird das Fehlen einer Vorausſetzung für die Berufung zum Bei-
figeramt nachträglich bekannt oder fällt eine Vorausſetzung nachträglich fort, fo
enthebt der Oberlandesgerichtspräfident den Beiſitzer feines Amtes; vor der Ent⸗
ſcheidung iſt der VGeifiger zu hören. Die Entſcheidung des Oberlandesgerichts⸗
präfidenten ijt endgültig.
8 32
Die Beiſitzer üben während der beſchließenden Sitzung des Anerbengerichts das
Richteramt in vollem Amfange und mit gleichen Stimmrecht wie der Vorſitzende
aus. Die Vorſchriſten der 88 192— 198 des Gerichtsverfaſſungsgeſetzes über die
Beratung und Abſtimmung und die Vorſchriften der SS 41—48 der Zivilprozeß-
ordnung über die Ausſchließung und Ablehnung von Gerichtsperſonen gelten
finngemäß. Wird der Vorſitzende abgelehnt, jo bedarf es einer Entſcheidung nicht,
wenn er die Ablehnung für begründet hält oder ſich mit dem Eintreten ſeines
Stellvertreters einverſtanden erklärt; andernfalls entſcheidet das Landgericht. Die
Entſcheidung über die Ausſchließung oder Ablehnung eines Beiſitzers erfolgt durch
den Vorfigenden.
2. Das Erbhofgericht
8 33
Das Erbhofgericht wird beim Oberlandesgericht Celle gebildet. Es ift für ganz
Preußen zuſtändig.
8 34
Das Erbhofgericht beſteht aus einem Richter als Vorſitzenden, zwei weiteren
Richtern und zwei Bauern. Die ſämtlichen Mitglieder und ihre Stellvertreter
werden vom Juſtizminiſter ernannt; die Bauern auf Vorſchlag der landwirtſchaft⸗
lichen Berufsvertretung. Die §§ 31 und 32 finden ſinngemäß Anwendung.
7% Das bäuerliche Erbhofgesetz
§ 35
Das Erbhofgericht iſt zuſtändig zur Entſcheidung über das Rechtsmittel der
ſofortigen Beſchwerde in den Fällen der 88 27 und 40.
Das Erbhofgericht hat ferner zu entſcheiden, wenn der Vorſitzende des An⸗
erbengerichts deſſen Beſchluß anficht mit der Begründung, daß dieſer den Grund-
gedanken oder dem Zwecke des vorliegenden Geſetzes nicht gerecht werde.
8 36
Beim Erbhofgericht und bei den Anerbengerichten wird eine Geſchäftsſtelle ein
gerichtet. Ihre Obliegenheiten regelt die Geſchäftsanweiſung.
3. Verfahren und Koſten.
8 37
Das Verfahren vor dem Anerben- und Erbhofgericht wird in Anlehnung an die
Grundſätze des Verfahrens in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit
durch 5 Juſtizminiſters geregelt; dieſer kann auch eine Vorentſchei⸗
dung durch den Vorſitzenden zulaſſen und einzelne Mitglieder des Gerichts mit
der Erhebung von Beweiſen beauftragen. Das Erbhofgericht entſcheidet in der
Regel auf Grund der Akten ohne mündliche Verhandlung, indem es nachprüft, ob
der vom Anerbengericht feſtgeſtellte Sachverhalt die ergangene Entſcheidung recht⸗
fertigt. In Fällen, in denen es ihm zur Verwirklichung der Grundgedanken und
Zwecke (88 1 ff., 63) des bäuerlichen Erbhofrechts erforderlich erſcheint, kann das
Erbhofgericht von Amts wegen eine weitere Aufklärung des Sachverhalts und die
Erhebung geeignet erſcheinender Beweiſe herbeiführen.
§ 38
Koſten werden für die im öffentlichen Intereſſe erfolgende Eintragung in die
Anerbenrolle und für das zur Herbeiführung einer ſolchen Eintragung oder zu
ihrer grundbuchlichen Durchführung dienende Verfahren mit Einſchluß auch des
Verfahrens vor dem Anerben- und Erbhofgericht nicht erhoben; dies gilt ing-
beſondere auch für das Verfahren zur Abernahme kraft Erbhofrechts (88 26—28).
Im übrigen werden die Koſten in der Verordnung des Juſtizminiſters geregelt.
V. Die Erbhöferolle
1. Eintragung und Löſchung
39
In den Landſchaften mit Anerbenſitte (Anlage I) find alle zur Eintragung ge-
eigneten land- und forſtwirtſchaftlichen Beſitzungen von Amts wegen in die Erb-
höferolle einzutragen.
In den Landſchaften ohne Anerbenſitte und in den Fällen des § 22 erfolgt die
Eintragung nur, wenn der Eigentümer ſie ſchriftlich oder beim Anerbengericht
mündlich beantragt.
8 40
Vorausſetzung für die Eintragung iff, daß der Eigentümer deutſcher Staats-
bürger und deutſchen Blutes iſt (§ 2). Das Vorliegen dieſer Vorausſetzung wird
vermutet.
Beſtehen im Einzelfalle Bedenken, ſo iſt die Eintragung auszuſetzen und der
Sachverhalt aufzuklären. Ergibt ſich hierbei, daß im Mannesſtamme des Cigen-
tümers ein Vorfahr nicht deutſcher Art iſt, ſo iſt die Eintragung des Hofes in die
Erbhöferolle durch begründeten Beſchluß abzulehnen. Der Beſchluß iſt dem Eigen⸗
tümer zuzuſtellen mit dem Hinzufügen, daß er ſelbſt und ſeine Leibeserben nicht
das Recht haben, ſich Bauer zu nennen oder die Rechte für ſich in Anſpruch zu
nehmen, die das Geſetz dem Eigentümer eines Erbhofes zuweiſt.
Das bäuerliche Erbhofgesetz 797
Ergibt die Prüfung, daß der Mannesſtamm rein ift, daß aber unter den übri-
gen Vorfahren des Eigentümers bis hinauf zum 2. Glied (d. h. bis zu den Groß⸗
eltern einſchl.) eine Perſon nichtdeutſcher Herkunft iſt, ſo iſt der Hof zwar in die
Erbhöferolle einzutragen und damit unter den Schutz des Anerbenrechts zu ſtellen;
es iſt aber zugleich in die Spalte Bemerkungen der Vermerk aufzunehmen „Die
(folgt Vor und Zuname und nach Möglichkeit auch Geburts⸗ und Todestag der
Perſon nichtdeutſcher Herkunft) iſt nichtdeutſcher Herkunft. Die von dieſer Perſon
abſtammenden Eigentümer des Hofes bis ins zweite Glied haben daher nach dem
Geſetz nicht das Recht, ſich Bauer zu nennen oder die Rechte für ſich in Anſpruch
zu nehmen, die die Geſetzgebung den Bauern und Eigentümern eines Erbhofes zu⸗
weiſt.“ Abſchrift des Vermerkes iſt dem Eigentümer mit der Nachricht von der
Eintragung zuzuſtellen. Der Eigentümer hat in dieſem Falle und auch im Falle
des vorigen Abſatzes das Recht zur ſofortigen Beſchwerde.
Ergibt die Prüfung, daß der Eigentümer nichtdeutſcher Staatsbürger iſt, ſo iſt
er zum Erwerbe der deutſchen Reichsangehörigkeit innerhalb beſtimmter Friſt auf-
zufordern unter Hinweis auf die Nachteile, die die Nichteintragung als Anerben-
hof zur Folge hat.
841
Die Hofſtelle und die zum Erbhof gehörenden Grundſtücke ſind nach ihrer Be⸗
zeichnung im Grundbuche in die Erbhöferolle einzutragen.
Zugleich iſt das Grundbuchamt um die Eintragung des Erbhoſvermerks im
Grundbuch zu erſuchen (8 45). 32
Die Eintragung des Hofes in die Erbhöferolle iſt zu löſchen, wenn die geſetz⸗
lichen Vorausſetzungen für die Eintragung nicht oder nicht mehr vorliegen.
Stellt ſich nachträglich heraus, daß der Eigentümer nicht deutſcher Staatsbürger
iſt, ſo iſt ihm eine angemeſſene Friſt zu ſetzen, innerhalb deren er den Erwerb des
deutſchen Staatsbürgerrechtes (deutſche Reichsangehörigkeit) nachzuweiſen hat. Bei
fruchtloſem Ablauf der Friſt iſt die Eintragung zu löſchen.
Stellt ſich nachträglich heraus, daß der Eigentümer nichtdeutſchen Blutes iſt, ſo
iſt entſprechend dem § 40 Abſ. 3 und 4 zu verfahren.
8 43
In den Gallen, in denen die Eintragung nur auf Antrag des Eigentümers er-
folgt, iſt ſie auch zu löſchen, wenn der Eigentümer es beantragt.
8 44
Die Erbhöferolle iſt bei den Grundakten der Hofſtelle zu verwahren.
Grundbuchliche Behandlung
8 45
Die zum Erbhof gehörenden Grundſtücke ſind auf ein beſonderes Grundbuchblatt
einzutragen und tunlichſt zu einem Grundſtück zu vereinigen.
In der Aufſchrift des Grundbuchs wird der Erbhofvermerk eingetragen. Die
Eintragung erfolgt auf Grund des Erſuchens des Anerbengerichts (§ 41 bf. 2).
Nicht zum Erbhof gehörende Grundſtücke find nicht in das Grundbuch des Erbhofs
einzutragen.
8 46
Für die Abereinſtimmung zwiſchen der Erbhöferolle und dem Grundbuch iſt
dauernd zu forgen.
Das Grundbuchamt fol dem Anerbengericht Nachricht geben, wenn der Eigen-
tümer des Erbhofs ein anderes Grundſtück erworben oder wenn er ein zum Erbhof
gehöriges Grundſtück veräußert hat. Das Anerbengericht gibt dem Grundbuchamt
798 Das bäuerliche Erbhofgesetz
Nachricht, wenn der Erbhof oder wenn einzelne zu ihm gehörige Grundſtücke in der
Erbhöferolle gelöſcht find; in dieſem Falle ift auch der Erbhofvermerk im Grund-
8
buch zu löſchen. 3 47
Erwirbt der Eigentümer des Erbhofs ein anderes Grundſtück, das offenfidtlid
mit dem Erbhof eine wirtſchaftliche Einheit bildet, fo iſt es auf deſſen Grundbuch;
blatt einzutragen; in anderen Fällen iſt die Entſcheidung des Anerbengerichts her⸗
beizuführen.
2. Die Anlegung der Erbhöferolle
8 48
Die Gemeindevorſteher haben binnen 2 Monaten nach Inkraſttreten dieſes Ge⸗
ſetzes ein Verzeichnis der in ihrem Bezirk gelegenen, nach den 88 1—3 eintragunas-
fähigen Beſitzungen dem Landrat einzureichen. In das Verzeichnis find ſämtliche
land- und forſtwirtſchaftlichen Beſitzungen aufzunehmen, die mindeſtens zur Er-
nährung einer bäuerlichen Familie ausreichen (Ackernahrung) und deren Bewirt⸗
ſchaftung von einer Hofſtelle aus erfolgen kann. Beſtehen Zweifel, ob der Eigen⸗
tümer deutſcher Staatsbürger oder deutſchen Blutes iſt, ſo iſt dieſes beſonders zu
vermerken. Das Verzeichnis iſt am Schluß mit der Beſcheinigung zu verſehen, daß
es vollſtändig iſt und daß weitere eintragungsfähige Beſitzungen nicht vorhanden
nd.
: Der Landrat überſendet die Gemeindeverzeichniſſe binnen einem weiteren Mo-
nat dem zuſtändigen Anerbengericht. Er hat hierbei eine Liſte der ſämtlichen zu
feinem Kreiſe gehörigen Gemeinden beizufügen und bei den einzelnen Verzeich⸗
niſſen ſich darüber zu äußern, ob dieſe vollſtändig find oder ob noch eine Ergän⸗
zung von ihm angeordnet wurde. Dem Landrat ſteht frei, zu den einzelnen Num⸗
mern des Verzeichniſſes gutachtlich Stellung zu nehmen; er kann auch Einſpruch
gegen die Eintragung einer beſtimmten Befitzung einlegen.
In Stadtkreiſen überſendet der Bürgermeiſter das Verzeichnis unmittelbar dem
Anerbengericht mit der Beſcheinigung ſeiner Vollſtändigkeit.
8 49
Der Vorſitzende des Anerbengerichts ſtellt — nötigenfalls nach Vornahme wei-
terer Ermittlungen und Aufnahme geeignet erſcheinender Beweiſe — die gericht.
lichen Verzeichniſſe für den Bezirk des Anerbengerichtes auf. Er hat hierbei unter
Heranziehung auch des Eigentümerverzeichniſſes zum Grundbuch die Vollſtändig⸗
keit der Verzeichniſſe nachzuprüfen und dafür zu ſorgen, daß ſämtliche zu den ein-
zelnen Höfen gehörenden Grundſtücke nach ihrer Bezeichnung im Grundbuche bei
der betreffenden Hofſtelle in dem Verzeichnis vermerkt werden.
Das gerichtliche Verzeichnis wird durch Aushang an der Gerichtstafel einen
Monat lang öffentlich bekanntgemacht. Auch iſt jedem Gemeindevorſteher eine Ub-
ſchrift des ſeine Gemeinde betreffenden gerichtlichen Verzeichniſſes zuzuſtellen mit
der Aufforderung, ſie zu jedermanns Einſicht auszulegen und dies in ortsüblicher
Weiſe bekanntzumachen. Das Verzeichnis und alle Abſchriften find am Schluß mit
dem Hinweis zu verſehen, daß jeder Eigentümer, der in dem Verzeichnis zu An⸗
recht eingetragen oder zu Anrecht nicht eingetragen tft oder deſſen Grundſtücke
darin nicht richtig angegeben find, zur Einlegung des Einſpruchs beim Anerben-
“aba 18 einem Monat nach Beendigung des Aushangs an der Gerichtstafel
efugt iſt.
Ein Auszug aus dem Verzeichnis ſoll jedem in dasſelbe aufgenommenen Eigen-
tümer zugeſtellt werden mit der Aufforderung, wenn ſein Hof zu Anrecht in das
Verzeichnis aufgenommen ſei oder wenn die zum Hofe gehörigen Grundſtücke nicht
richtig, insbeſondere nicht vollſtändig angegeben ſeien, dieſes binnen einem Monat
nach der Zuſtellung durch Einſpruch beim Anerbengericht geltend zu machen. Der
Zuſtellung an den Eigentümer iſt ein Abdruck der hauptſächlichen Vorſchriften des
Das bäuerliche Erbhofgesetz 799
bäuerlichen Erbhofrechts nach näherer Beſtimmung des Juſtizminiſters beizufügen
unter Hinweis darauf, daß ein vollſtändiger Abdruck des Geſetzes beim Gemeinde⸗
vorſteher eingeſehen werden könne. Dem Gemeindevorſteher iſt eine angemeſſene
Anzahl von Geſetzesabdrucken zu überſenden.
8 50
Sind die Einſpruchsfriſten abgelaufen, ſo werden die Höfe, gegen deren Eintra⸗
gung Einſpruch nicht eingelegt iſt, in die Erbhöferolle eingetragen.
851
Aber die Einſprüche entſcheidet das Anerbengericht.
Dieſes hat die erforderlichen Ermittlungen anzuſtellen und die geeignet erſchei⸗
nenden Beweiſe aufzunehmen. Es ſoll vor der Entſcheidung den Eigentümer und
den Landrat hören.
Die Entſcheidung des Anerbengerichts iſt endgültig, wenn nicht der Vorſitzende
die Entſcheidung des Erbhofgerichts anruft. Der Vorſitzende ſoll die Entſcheidung
des Erbhofgerichts anrufen, wenn das Anerbengericht entgegen den Grundgedan⸗
ken und Zwecken des bäuerlichen Erbhofrechtes einem Einſpruch ſtattgegeben hat
oder wenn es ſich um eine Frage von grundſätzlicher Bedeutung handelt.
Iſt der Einſpruch zurückgewieſen, ſo erfolgt die Eintragung in die Erbhöferolle.
8 52
Im Jahre 1940 und danach im Zwiſchenraum von regelmäßig 10 Jahren hat der
Vorſitzende des Anerbengerichts ein Verzeichnis der eingetragenen Erbhöfe dem
Landrat zu überfenden. Dieſer prüft unter Zuziehung des Gemeindevorſtehers, ob
die Eintragungen in die Erbhöferolle noch zu Recht beſtehen und ob in der Ge⸗
meinde noch andere Beſitzungen vorhanden find, die zur Eintragung als Erbhof
geeignet, aber noch nicht eingetragen ſind.
Der Landrat teilt das Ergebnis ſeiner Prüfung dem Anerbengericht mit. Dieſes
entſcheidet nach Anhörung des Eigentümers und nötigenfalls nach Anſtellung wei⸗
terer Ermittlungen und Erhebung von Beweiſen über die Berichtigung des Ver⸗
zeichniſſes. Die Entſcheidung iſt dem Landrat und dem Eigentümer zuzuſtellen.
Ihnen ſteht binnen einem Monat nach Zuſtellung der Einſpruch zu. Aber den Ein-
ſpruch entſcheidet das Anerbengericht.
Die 88 50 und 51 gelten entſprechend.
§ 53
Der Vorſitzende des Anerbengerichts hat aud in der Zwiſchenzeit dafür zu for-
gen, daß die Erbhöferolle auf dem laufenden bleibt und daß alle zur Eintragung
pecraneten Höfe und zugehörigen Grundſtücke in die Erbhöferolle eingetragen wer⸗
en.
Vl. Abergangs⸗ und Schlußvorſchriften
1. Inkrafttreten und Außerkrafttreten
8 54
Inkrafttreten
Das Geſetz tritt am 1. Juni 1933 in Kraft.
Es hat Wirkung für die Erbfälle, die nach dieſem Zeitpunkt eintreten, ſoweit
nicht im Einzelfalle die Ausnahmevorſchrift im § 57 Platz greift.
855
Geltungsbereich
Das Geſetz gilt für den ganzen Staat.
Die nur für einzelne Provinzen oder kleinere Teile des Staates geltenden An⸗
erbengeſetze mit Einſchluß auch des Gewohnheitsrechts treten unbeſchadet der Aber.
gangsvorſchriſt im § 57 außer Kraft.
800 Das bäuerliche Erbhofgesetz
8 56
Außerkrafttreten
Außer Kraft treten insbeſondere die nachſtehenden Geſetze und Verordnungen:
1. Alteres Recht
a) Holftein:
1. Konſtitution König Friedrichs III für die Herrſchaft ee on 28.
April 1654 (Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum Bd. II S. 1132) er-
gänzt durch das Reffript König Friedrichs IV. vom 27. Juni 1707 (Corpus
Constitutionum Regio-Holsaticarum Bd. II S. 1156).
2. Die Fürſtliche Verordnung vom 15. März 1704 (abgedr. in der ſyſtemati⸗
ſchen Sammlung der für die Herzogtümer Schleswig und Holftein annoch gültig
königlichen, ſürſtlichen, großfürſtlichen und gemeinſchaftlichen Verordnungen
und Verfügungen Bd. II Abt. 2 S. 631). Mit Anderungen durch die Verord-
nung vom 15. Juni 1742 und das Reffript vom 11. Januar 1745 (Corpus Con-
stitutionum Regio-Holsaticarum Bd. I S. 154, 157).
3. Verordnung je die Plöner Diſtrikte, d. h. die Amter Plön und Ahrens⸗
boek vom Jahre 173
4. Amtsbefehl des Amtmanns zu Rendsburg für das Amt Rendsburg vom
11. November 1733 (Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum Bd. II S. 603).
5. Verordnung Chriſtians VI. für die Herrſchaft Pinneberg vom 20. Gep-
ro 1737 (Corpus Constitutionum Regio-Holsaticarum Bd. II ©. 1070).
6. Reſkript Chriftians VII. für das Stat Gegeberg vom 20. Sanuar 1766
(Chronologiſche Sammlung der königl. Verordnungen und Verfügungen für
die Herzogtümer Schleswig und Holſtein, Jahrgang 1766, S. 1).
7. Verordnung des Amtmanns Traventhal für die Amter Reinfeld, Reth-
wiſch und Traventhal mit Gieſchenhagen vom 18. Juni 1768.
8. Refolution Chriſtians VII. an den „ zu Preetz vom 17. Ok.
tober 1786 (Chronol. Sammlung, Jahrg. 1786 S. 162).
9. Regulativ Chriſtians VII. für die vormals Pioviden Amter vom 27. Fee
bruar 1789 (Chronol. Samml., Jahrg. 1789 S. 9
b) Schleswig:
1. Die Stapelholmer Konſtitution vom 27. Januar 1623 (Corpus statutorum
Slesvicensium, Schleswig 1794, Bd. I, S. 618). Abgeändert durch die Verord-
nung vom 8. Juni 1774 und vom 28. Juli 1784 (Esmarch, Samml. der Statute,
Verordnungen und Verfügungen, welche das Bürgerliche Recht des Herzog⸗
tums Schleswig betreffen, Teil II S. 148 und 152).
2. Verordnung Chriſtians VII. vom 14. April 1766 (Esmarch, Samml. der
Statute, VO. und Vfg., welche das Bürgerliche Recht des Herzogtums Schles⸗
wig betreffen, Teil II S. 127), ergänzt durch die Verordnung vom 26. März
1772 (Esmarch a. a. O. Teil II S. 133) und durch die Verfügung vom 22. Juni
1784 (Esmarch a. a. O. Teil II S. 144).
3. Verordnung Chriſtians VII. betreffend das Näherrecht in den Bonden⸗
gütern auf der Geeſt vom 18. Juni 1777 (Esmarch a. a. O. Teil II S. 140).
2. Neueres Recht
Geſetz betreffend das Höferecht im Kreiſe Herzogtum Lauenburg vom 21. Fe⸗
bruar 1881 (GSS. 19);
Landgüterordnung für die Provinz Brandenburg vom 10. Juli 1883 (GSS. 111);
Landgüterordnung für die Provinz Schleſien vom 24. April 1884 (GSS. 121);
Landgüterordnung für die Provinz ln 775 Ausnahme des
Kreiſes Herzogtum Lauenburg; vom 2. April 1886 (GSS. 1
Landgüterordnung für den Regierungsbezirk Kaſſel, mit 8 des Kreiſes
Rinteln; vom 1. Juli 1887 (GSS. 315);
Das bäuerliche Erbhofgesetz 801
Geſetz betreffend das Anerbenrecht bei Landgütern in der Proving Weſtfalen
und in den Kreiſen Rees, Eſſen (Land), Eſſen (Stadt), Duisburg, Ruhrort und
Mülheim a. d. Ruhr; vom 2. Juli 1898 (GSS. 139);
Höfegeſetz für die Provinz Hannover, in der Faſſung der Bekanntmachung vom
9. Auguſt 1909 (GSS. 662);
Höfegeſetz für den Kreis N e in der Faſſung der Bekannt-
machung vom 20. Juli 1910 (GSS. 115);
Waldeckiſches Geſetz über das Anerbenrecht bei land. und .
Beſitzungen vom 27. Dezember 1909 (Wald. Reg.⸗Bl. 1910 S
8 57
Vorhandene Anerbengüter
Das Außerkrafttreten der bisherigen Anerbengeſetze tritt für die ihnen bereits
kraft Eintragung oder kraft Gewohnheitsrechts unterworfenen Höfe, Landgüter
und anderen Anerbengüter erſt mit dem Zeitpunkt ein, in welchem über die Ein-
tragung des Hofes, Landgutes oder anderen Anerbengutes in die Erbhöferolle des
Bauerlichen Erbhofrechts endgültig entſchieden iſt. Die Entſcheidung über die Ein-
tragung eines gegenwärtig zum Geſamtgut einer ehelichen Gütergemeinſchaft ge-
hörenden Hofes kann endgültig erſt dann erfolgen, wenn der Hof nicht mehr zum
Geſamtgut gehört.
Auf Höfe, Land- und Anerbengüter, für die noch die bisherigen Anerbengeſetze
fortgelten, kann auch das Recht zur Übernahme kraft Anerbenrechts (§§ 26—28)
nicht ausgeübt werden.
§ 58
Rentengutsanerben- und Zwangsauflöſungsgeſetz
Das Geſetz betreffend das Anerbenrecht bei Renten- und Anſiedlungsgütern
vom 8. Juni 1896 (GSS. 124) und die im Zwangsauflöſunggeſetz vom 22. April
1930 (GSS. 125) 8 165 enthaltenen Vorſchriften über das Anerbenrecht bei
Waldgütern bleiben in Geltung. Sie ſchließen für ihren ſachlichen Geltungsbereich
die Anwendung des vorliegenden Geſetzes aus.
8 59
Außerkrafttreten der 88 26—28
In den Landesteilen mit Anerbenſitte (Anlage I) treten die 88 26—28 des vor-
liegenden Geſetzes betreffend die Abernahme kraft Anerbenrechtes außer Kraft
mit dem Zeitpunkte, in dem die Erbhöferolle als angelegt anzuſehen iſt.
Dieſer Zeitpunkt wird vom Juſtizminiſter im Einvernehmen mit dem Miniſter
für Landwirtſchaft, Domänen und Forſten durch Verordnung in der Preußiſchen
Geſetzſammlung bekanntgegeben. Er kann für die verſchiedenen Landesteile ver-
ſchieden ſein.
2. Abergangs⸗ und Ausführungsvorſchriften
§ 60
Staatsverträge
Dies Geſetz bleibt außer Anwendung, inſoweit ſeine Anwendung einem beſtehen⸗
den Staatsvertrage zuwiderlaufen würde.
8 61
Aberleitung
Die zur Überleitung in den Rechtszuſtand dieſes Geſetzes etwa noch erforder-
lichen Vorſchriften werden durch gemeinſchaftliche Verordnung des Juſtizminiſters
und des Miniſters für Landwirtſchaft, Domänen und Forften erlaſſen.
802 Das bäuerliche Erbhofgesetz
§ 62
Ausführung
Die Ausführung des Geſetzes erfolgt im Benehmen mit dem Miniſter für Land⸗
wirtſchaft, Domänen und Forſten durch den Juſtizminiſter.
Dieſer wird ermächtigt, die zur Durchführung erſorderlichen Nechtsverordnun⸗
gen und allgemeinen Verwaltungsvorſchriften zu erlaſſen. Er kann, ſoweit er es
zur Erreichung der Zwecke des Geſetzes für erforderlich erachtet, auch ergänzende
Vorſchriften erlaſſen und hierbei in Einzelheiten von den Vorſchriften dieſes Ge⸗
ſetzes abweichen.
3. Schlußvorſchriſt
§ 63
Auslegungsregel
Entſtehen bei Anwendung dieſes Geſetzes Zweifel, fo hat der Richter fo zu ent-
5 8 wie es den Grundgedanken (§§ 1 ff.) und dem Zweck des Geſetzes ent-
pricht.
Das Geſetz hat den Zweck, die Bauernhöfe vor Aberſchuldung und ſchädlicher
Zerſplitterung im Erbgange zu ſchützen, um ſie dauernd als Erbe der Familie in
der Hand freier Bauern zu erhalten. Zugleich will das Geſetz auf eine geſunde
Verteilung der landwirtſchaftlichen Beſitzgrößen hinwirken. Eine große Anzahl
lebensfähiger kleiner und mittlerer Bauernhöfe, möglichſt gleichmäßig über das
ganze Land verteilt, iſt für die Geſunderhaltung von Volk und Staat notwendig.
Iſt eine Frage zu entſcheiden, die in dieſem Geſetze nicht beſonders geregelt iſt, ſo
hat der Richter unter Berückſichtigung des Geſetzeszweckes ſo zu entſcheiden, wie
wenn er im Rahmen zwingenden Reichsrechts als ordentlicher und gewiſſenhafter
Geſetzgeber den Fall ſelbſt zu regeln hätte.
Anlage I
| (88 4 und 59)
Als Landſchaften mit Anerbenſitte (Bauerngebiet) gelten:
1. ſämtliche preußiſchen Regierungsbezirke mit Ausnahme nur von Aachen, Kaſſel,
Köln, Koblenz, Trier und Wiesbaden;
2. der Regierungsbezirk Kaſſel mit Ausnahme der Kreiſe Hanau und Gelnhauſen;
3. im Regierungsbezirk Wiesbaden der Kreis Biedenkopf;
4. im Regierungsbezirk Köln der Kreis Wipperfürth.
Anlage II
(8 4)
Als Landſchaften ohne Anerbenſitte (Zerſplitterungsgebiet) gelten:
die Regierungsbezirke
Aachen,
Koblenz,
Köln (ohne den Kreis Wipperfürth),
Trier,
Wiesbaden (ohne den Kreis Biedenkopf)
und vom Regierungsbezirk Kaſſel
die Kreiſe Gelnhauſen und Hanau.
Das Ardiv
Eine Veranſtaltung überſchattet in
ihrer äußeren Form und ihrem feeli-
ſchen Inhalt alle anderen Ereigniſſe im
Monat Mai, eine Veranſtaltung, die
zu einem wahrhaften Erlebnis des ge⸗
ſamten deutſchen Volkes wurde: der
Tag der nationalen Arbeit!
Jahrzehntelang war der 1. Mai von
den Marxiſten zu einem würdeloſen
Mairummel verfälſcht worden, zu
einem Tag, an dem die roten Hetzer
zum Kampf aller gegen alle aufriefen.
Nun hat das deutſche Volk eine wahr⸗
hafte Maifeier der Gemeinſchaft erlebt
und der deutſchen Arbeit vor der ge⸗
ſamten Weltöffentlichkeit die Würdi⸗
gung gezollt, die nur ihr gebührt.
Niemals hat die Welt ähnliche Maſ⸗
ſendemonſtrationen unter nationalen
Symbolen und Leitgedanken erlebt. In
allen deutſchen Gauen und Provinzen
ſammelten ſich die werktätigen Maſſen
zum Bekenntnis untrennbarer
völkiſcher Gemeinſchaft. Die
Krönung des Tages der nationalen Ar⸗
beit wurde der Aufmarſch der andert-
halb Millionen auf dem Tempelhofer
Feld in Berlin, bei dem der Führer
und Reichskanzler Adolf Hit-
ler die Ziele der Regierung der deut⸗
ſchen Revolution auf wirtſchaftspoliti⸗
ſchem Gebiete entwickelte. Von beſon⸗
derer Bedeutung war wiederum das
eindeutige Bekenntnis zum Bauern-
tum. Durch den jahrelangen Klaſſen⸗
kampf, ſo führte Adolf Hitler aus, ſei
das deutſche Volk in ſich zerfallen, ſeine
ganze Lebenskraft werde im innern
Kampf verbraucht. Es ſei notwendig,
daß die Klaſſen unſeres Volkes ſich
nahe kennenlernen, indem man die
Schranken einreiße und über das ganze
Volk hinweg ohne Stand und Beruf
eine Idee verkünde. „So wollen wir
denn in die Städte gehen, um das We—
fen und die Notwendigkeiten des deut-
ſchen Bauerntums zu erklären und
gehen auf das Land und zu unſerer In⸗
telligenz, um ihnen die Bedeutung des
deutſchen Arbeiters beizubringen. Wir
werden ſie alle belehren, daß es ohne
deutſchen Geiſt auch keine deutſche Seele
gibt, daß ſie alle zufammen eine
Gemeinſchaft bilden müſſen, Geiſt,
Stirn und Fauſt, Arbeiter, Bauer und
Bürger.“ Adolf Hitler erklärte, daß
die Regierung beſchloſſen habe, die Ar-
beitsdienſtpflicht noch in dieſem Jahre
einzuführen, um viele wieder zur ehren-
vollen Handarbeit zu führen. Es ſei un⸗
verrückbarer Entſchluß, jeden einzelnen
Deutſchen, er möge ſein, wer er wolle,
ob hochgeboren und reich, ob arm oder
Sohn von Gelehrten oder Sohn von
Fabrikarbeitern, einmal in ſeinem Le⸗
ben zur Handarbeit zu führen, damit
er ſie kennenlerne und auch leichter be⸗
fehlen könne, da er ſelbſt ſchon einmal
dann gehorchen gelernt habe. Es gebe
keinen Aufſtieg, ſo fuhr der
Kanzler fort, der nicht be-
ginne bei der Wurzel des na-
tionalen, völkiſchen und ſo⸗
zialen Lebens, beim Bauer!
Von ihm führe der Weg zum Arbeiter
und weiter zur Intelligenz.
Nachdem im verfloſſenen Monat un-
ter dem Porfi von R. Walther
Darré die Reichsführergemeinſchaft
des deutſchen Bauernſtandes gegründet
wurde, und damit der erſte Schritt zur
Verwirklichung einer langen Sehnſucht
des deutſchen Bauerntums, einer
großen Einheitsorganiſation des ge⸗
ſamten Bauernftandes getan iſt, wird
die berufsſtändiſche Neugliederung der
deutſchen Landwirtſchaft immer drin⸗
gender. Grundlegende Ausführungen
zu dieſer wichtigen Frage machte der
inzwiſchen auch zum Präſidenten der
deutſchen landwirtſchaftlichen Genoffen-
ſchaften gewählte agrarpolitiſche DBe-
auftragte Pg. R. Walther Darre auf
einer großen Kundgebung rhei—
niſcher Bauern in Köln. Das
Jahr 1933 ſei der Wendepunkt in der
804
Geſchichte des landwirtſchaftlichen Or-
ganiſationsweſens. Hier habe ſich in
der liberaliſtiſchen Zeitepoche ein Or-
ganiſationsapparat aufgebläht, der in
dieſer Form nicht aufrechterhalten wer⸗
den könne. Organiſationen, Geſetze,
Programme und Maßnahmen ſeien
nichts, wenn nicht verantwortungsbe⸗
wußte Führer dieſe Maßnahmen durd-
führten. In das landwirtſchaftliche Or.
ganiſationsweſen müſſe wieder der
Geiſt altpreußiſcher Sparſamkeit ein-
ziehen. Als eine Aufgabe der freiberuf⸗
lichen Organiſation nannte Darré die
wirklich ideelle Bildung des Bauern-
ſtandes durch die Bauernhochſchule.
Leider habe auch in den landwirtſchaft⸗
lichen Genoſſenſchaften entgegen den
alten Grundſätzen eine verderbliche
Subventionswirtſchaft Platz gegriffen.
Die Millionen, die z. B. aus dem Not-
programm in die Landwirtſchaft fließen
ſollten, ſeien zum großen Teil ſchon im
Verwaltungsapparat hängengeblieben.
Wir müſſen zurückkehren zu den be⸗
währten genoſſenſchaftlichen Grund-
ſätzen der Selbſthilfe, Gelbft-
verantwortung und Gelbft-
verwaltung. Von beſonderer Be⸗
deutung ſei auch die Reform des land-
wirtſchaftlichen Markt- und Börſen⸗
weſens und die Stärke der Vertretung
der Landwirtſchaft in den Preiskom⸗
miſſionen. Die Auswüchſe der Spefula-
tion und der Einfluß der VGorfianer
auf die Preiſe ſei in der liberaliſtiſchen
Epoche oft geradezu ausſchlaggebend
geweſen. In dieſer Richtung habe die
NSDAP. in Bayern und auch in
Württemberg durch ihre Staatskom⸗
miſſare beiſpielhaft gewirkt. Schließlich
müſſe auch eine Neugeſtaltung der
öffentlich⸗ rechtlichen Berufsvertretung,
der Landwirtſchaftskammern, durchge⸗
führt werden. Sie ſeien 1894 urſprüng⸗
lich gegründet worden, um gegen den
frondierenden Bund der Landwirte,
aus dem die Landbünde entſtanden
ſeien, ein ſtaatliches Gegengewicht zu
ſchaffen. Nachdem die freien berufs-
ſtändiſchen Organiſationen ſich geeinigt
hätten, und der Kanzler die Schirm-
herrſchaft übernommen habe, ſei der
damalige Sinn der Landwirtſchafts⸗
Das Archiv
kammern hinfällig geworden. Es ergebe
ſich nun eine grundſätzliche Arbeitstei-
lung auf verſchiedene Gebiete, wobei
beide öffentlich anerkannt werden ſollen.
Mit dieſer bedeutſamen Frage der
berufsſtändiſchen Neugliederung der
deutſchen Landwirtſchaft beſchäftigt ſich
in Nr. 195 der Berliner Börſen⸗
Zeitung auch Pg. Diplomland-
wirt von Zeppelin. Die ſeinerzeit
ins Leben gerufene „Grüne Front“ ſei
zum Scheitern verurteilt geweſen, da
ſie keinen feſten Rückhalt im Lande un⸗
ter den Bauern hatte. Sie ſei an ſich
ein ſchwaches Gebilde geweſen, von den
Gegnern der Landwirtſchaft wenig ge-
fürchtet. In ganz entſcheidenden Fra⸗
gen habe ſie kaum Erfolge erzielt. Vom
großen politiſchen Geſichtspunkt aus ſei
ſie eine Fehlkonſtruktion geweſen,
ein Gebilde, mit dem ſich eine Schlacht
nicht gewinnen ließe. Nun vollziehe ſich
der Umbau innerhalb der berufsftändi-
ſchen Organiſationen (Landbund, Bau-
ernvereine, Bauernſchaft) ſchnell und
reibungslos. Analog der Reichsführer⸗
gemeinſchaft des deutſchen Bauernſtan⸗
des ſeien bisher in Bayern, Württem-
berg, Baden, Heſſen, Rheinland und
den meiſten übrigen preußiſchen Pro-
vinzen Landesführergemeinſchaften ge⸗
bildet worden. Pg. von Zeppelin ver-
weiſt in 5 Artikel auf einen Auf-
ſatz von Dr. Kräutle in der Berliner
Börſen⸗Zeitung aus dem Jahre 1929,
worin dieſer Kenner unſeres landwirt-
ſchaftlichen Genoſſenſchaftsweſens genau
formulierte Aufgaben zur dringenden
Löſung empfohlen habe. In dieſen bald
5 Jahren ſeit 1929 ſei man leider in
dieſen entſcheidenden Punkten nur ganz
wenig vorwärtsgekommen. Schon im
Jahre 1929 habe man im Jahrbuch des
„RNeichsverbandes der deutſchen land⸗
wirtſchaftlichen Genoſſenſchaften“ über
die Mißſtände beim Getreideabſatz ge-
ſchrieben, daß die genoſſenſchaftliche
Konkurrenz auf den Märkten aufhören
müſſe. Dieſe Erklärung ſei, wie ſo oft,
auf dem Papier ſtehengeblieben. In
Württemberg habe Staatskommiſſar
Pg. Arnold in dieſer Hinſicht grund-
legende Maßnahmen eingeleitet, ins-
beſondere auch zur Beſeitigung des
Neues Schrifttum
ſchädlichen Konkurrenzkampfes zwiſchen
Darlehnskaſſe und Bezugs⸗ und Ab⸗
ſatzgenoſſenſchaft. Zeppelin beſchäftigt
ſich ſchließlich auch mit der Neuordnung
der Landwirtſchaftskammern, wobei er
auf die bürokratiſchen Aberſpannungen
bei einer Reihe von Landwirtſchafts⸗
kammern hinweiſt. Der Abſtand zwi⸗
ſchen Landwirtſchaftskammer und Pra-
xis müſſe in nächſter Zeit unter allen
Amſtänden überbrückt werden. Man
müſſe ſich darüber klar werden, inwie⸗
weit es möglich ſei, ein ſtärkeres Eigen⸗
leben in etwaigen Kreisgebilden zu
entwickeln, wobei allerdings das baye⸗
riſche Beiſpiel keine Nachahmung ver-
diene.
Auch die Grüne Wochenſchau
des Reichslandbundes äußert
ſich zur Frage der Neuordnung des
Bauernſtandes. Sie wendet ſich vor
allem gegen eine Denkſchrift, die von
dem deutſchnationalen Staatsſekretär
von Rohr verbreitet wird. Auch die
Ausführungen, die Herr von Rohr nach
den „Mitteilungen der deutſchnationa⸗
len Volkspartei“ vor der deutſchnatio⸗
nalen Reichstagsfraktion gemacht habe,
gingen von einer irrigen Vorausſetzung
aus. Die Neuordnung des landwirt-
ſchaftlichen Berufsſtandes ſei und könne
nicht Aufgabe des Reichsernährungs⸗
miniſteriums ſein, ſondern liege in den
Händen der freien Standesorganiſa⸗
tionen. Das dieſe ihre vordringlichſte
Aufgabe rechtzeitig erkannt und mit
Entſchloſſenheit angefaßt habe, beweife
die Bildung der Reichsführergemein⸗
ſchaft unter dem Vorſitz des Leiters
des Agrarpolitiſchen Apparates der
NSDAP. R. Walther Darré. Die
Reichsführergemeinſchaft beſitze das
Vertrauen des Reichskanzlers Adolf
805
Hitler. Das Verhalten des Staats-
ſekretärs von Rohr in der Frage der
berufsſtändiſchen Neuordnung rufe
höchſt überflüſſige Gegenſätze hervor,
die angeſichts der ſachlichen Leiſtungen
des Reichsernährungsminiſteriums auf
agrarpolitiſchem Gebiet um fo bedauer-
licher ſeien.
Nunmehr hat die Regierung auch die
Grundzüge eines landwirtſchaft⸗
lichen Entſchuldungsgeſetzes
bekanntgegeben. Das Geſetz ſoll die
Möglichkeit für eine allgemeine Ent⸗
ſchuldung der Landwirtſchaft ſchaffen
und eine allmähliche Verringerung der
Verſchuldung bis zur Mündelficher-
heitsgrenze, die von den Amtsgerichten
feſtgeſetzt werden ſoll, herbeiführen. Die
Entſchuldung ſoll im Gegenſatz zum
Oſthilfeverfahren nicht durch einen
bürokratiſchen Apparat zentral erfol-
gen, ſondern örtlich und individuell vor
ſich gehen, um nach Möglichkeit ein
freiwilliges Entſchuldungsverfahren
zwiſchen Gläubiger und Schuldner her-
beizuführen. Erſt im Falle der Nicht.
einigung iſt ein Zwangsvergleich durch
die zuſtändigen Amtsgerichte beabſich⸗
tigt. Die Zinſen für die Sculdver-
ſchreibungen der landwirtſchaftlichen
Kreditinſtitute ſollen allgemein auf
4 Prozent herabgeſetzt werden.
Bezeichnend iſt, daß während der
letzten Wochen im Rahmen der Gleich⸗
ſchaltungsaktionen der landwirtſchaft⸗
lichen berufsſtändiſchen Organiſationen
immer wieder die Betrauung Darrés
mit der Führung des Reichsernäh⸗
rungsminiſteriums gefordert wurde,
ein Beweis, wie tief das Vertrauen zu
dieſem Manne heute in den Bauern
wurzelt.
Roland Schulze.
Neues Schrifttum
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©. 5.—; Lw. 5.—, ©. 7.50.
Seupeiärifeleitung und verantwortlich für den
lin W, Friedrich ⸗Wilhelm Straße 18 UI.
Seſellſchaft m. b. ., Berlin W 33.
807
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Ciller, Allois]: Vorläufer des
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widlg. d. nation. Arbeiterbewegung im
dt. Grenzland. Wien: Ertl- Verl. 1932.
159 S., 3 Taf., 1 Kt. 8° [Fl. 2.40, S.
4.—; Lw. 3.40, ©. 5.50.
Hoffmann, Heinrich: Der Zri-
umph des Willens. Kampf u. Aufftieg
Adolf Hitlers u. ſeiner Bewegung. Mit
e. Geleitw. von Baldur von Schirach.
Berlin: „Zeitgeſchichte“ [1933]. 32 Bl.
mit Abb. 4°. —.50.
Imhof, Ernſt: Anſere Zukunft?
Ein Wort f. d. Aufbau von Weltwirt⸗
ſchaft u. Weltfrieden. 2. Aufl. Bern
[Aarberoer Str. 42]: Holenſtein &
Co. ak Komm. [1933]. 27 S. Gr.-8°.
1 —
Ohlemüller, Gerhard, Dr.: Na-
tionalſozialismus und Katholizismus.
2. verm. Aufl. Berlin: Verl. d. Evang.
Bundes 1933. 71 S. 8° [F] = Volks.
eee d. Evang. Bundes. H. 38.
Roften, Curt, Dr.: Das ABE des
Nationalſozialismus. Mit 41 Abb. u.
1 Taf. d. Parteiabzeichen. Berlin:
Schmidt & Co. G. m. b. H. in Comm.
1933. 226 S. Gr. - 8 [J. Lw. 6.80.
geſamten textlichen Inhalt: Dr. Hermann Reiſchle,
Verlag: „Seitgefchichte“ Verlag und Vertriebs-
Druck der Meyerſchen Hofbuchdruckerei in Detmold.
Boranzeige
Hermann Reiſchle
Reichsbauernführer Darre
der Kämpfer um Blut und Boden
Erscheint Mitte Juni. 48 S. Text, 10 S. Abbildungen. Preis Rm. 1.—
Blut und Boden: Das find die beiden Gedanken, die das Leben R.
Walther Darrés, des Reichsbauernführers und Leiters des agrarpolitiſchen
Amtes der NSDAB., beſtimmen. Blut und Boden: Beides Begriffe,
die ihm, dem Auslandsdeutſchen, in der ewigen deutſchen Sehnſucht nach der
Heimat beſonders tief im Herzen wurzeln mußten. Blut und Boden:
Beides Urwurzeln alles volkhaften Lebens überhaupt, die von Darre nicht
nur wieder entdeckt, ſondern durch ſeinen unabläſſigen Uberzeugungskampf
für das deutſche Bauerntum in das Bewußtſein dieſes wertvollſten Teiles
des deutſchen Volkes wieder eingefügt wurden. Hermann Reiſchle, einer der
Mitarbeiter Darrés, die mit ihm den Kampf um die Seele des Bauern⸗
tums geführt haben, berichtet hier aus der Kenntnis langer Jahre perſönlichſter
Verbundenheit von dem Mann, dem er dient und mit dem zuſammen er vor
Jahresfriſt die „Deutſche Agrarpolitik“ begründete. Das in 7 Abſchnitte:
1. Familie und Erziehung, 2. Der Frontſoldat, 3. Der Weg durch das
deutſche Dunkel, 4. Wiſſen und Wille, 5. Der politiſche Kämpfer, 6. Der
Aufbau beginnt, 7. Die Mitkämpfer gegliederte kleine Buch gibt daher ere
ſchöpfende, verſtändnisvolle und aus unmittelbarſter
Nähe erlebte Auskunft über die ſchickſalsvolle Perſön—
lichkeit des Reichsbauernführers und ſein großes Werk,
das berufen erſcheint, in ſtärkſtem Maße geſchichtsbildend
zu wirken. Da dieſe erſte Veröffentlichung über R.
Walther Darré die Lefer der „Deutſchen Agrarpolitik“
beſonders intereffieren wird und das Buch nur in be—
ſchränkter Auflage herauskommen ſoll, wird ihnen ſein
Erſcheinen ſchon jetzt angezeigt. In Kunſtdruckſteifdeckel
48 Seiten Text, 10 Vollbildſeiten koſtet es nur Rm. 1.—.
Rm
„ZEIT GESCHICHTE“
Verlag und Vertriebs-Gesellschaft m. b. H., Berlin W 35
r
—
— —
Agrarp olitif‘
8 Ei DBaugmufu
waltzper ar
ed by aki 1933
N
‚sa.
Inhaltsverzeichnis
Seite
Dorfprud B 809
R. Walther Darré / Nalionalsozialismus und Land frau . . 810
Paul Krannhals / Geiſtige Verwurzelung und Entwurzelung . 821
Karl Scheda / Zum Gedenken an Guſtav Ruhland. 830
Gerhard Kokotkiewicz / Schuldnernot — Glaubigernot . . . . 832
Adolf Oſtermayer / Der Irrtum von der „Rentabilität“ des
Bauern tun 840
J. Aumer / Vergleich der Entwicklung der induſtriellen und |
landwirtfchaftlihen Erzeugung. J... . 849
R. Trenkle / Förderung der arbeitsintenfiven 8
ein wichtiges Mittel zur Steuerung der Arbeitsloſigkeit. 855
Das Archiv Las ee ee ee et
Neues Schrifttum . . . . ee = OOO
Umſchlag⸗Bild: Phot. E. Lendvai⸗Dirckſen
Jedes Heft RM. 150 - DPierteljährlih 3 Hefte RM. 3.60
zuzüglich Beſtellgeld. Beſtellungen durch den Verlag oder bei jeder Poſtanſtalt.
Poſtvertrieb ab Detmold
DeutltheAor
arpolitif
Monatelchriſt für⸗Deutlches Sauernium
Hanptichriftleitung Dr. HermannKeilchle
„Zeitgeſchichte“ Verlag und Vertriebs⸗Geſellſchaft m. b. §., Berlin O35
Heft 12
Zütowftraße 66
Davon wie der junge Mann feine Mutter erlebt,
davon wie er ſeine Schweſter erlebt, ift nicht nur
allgemein feine Einftellung im ſpäteren Leben
zur Frau abhängig, ſondern davon iſt weſentlich
abhängig der Grundgehalt derjenigen Kräfte, die
ihm überhaupt erft die Vorausſetzungen ſchaffen,
um ein deutfcher Bürger und ein deutfcher Staats⸗
mann zu fein. R. Walther Darre
Juni 1933
R. Walther Darré:
Lationalſozialismus und Zandfrau
Vorbemerkung: Anläßlich einer Tagung des Reichs ;
verbandes der landwirtſchaftlichen Hausfrauenvereine während
der D. L. G.⸗Woche ſprach R. Walther Darré in feiner Eigen-
ſchaft als Amtsleiter der Reichsleitung der NSDAP. zu den
Landfrauen. Da den Ausführungen eine grundſätzliche Bedeu-
tung zuzumeſſen ijt, bringen wir fie nachfolgend zum Abdruck.
H. R.
Wenn heute auf dem Programm der Name meines langjährigen Mit⸗
kämpfers und Freundes, des jetzigen geſchäftsführenden Reichslandbund⸗Prä⸗
ſidenten Meinberg, ſteht, aber ich an dieſer Stelle heute ſpreche, ſo waren
daran einige Amſtände ſchuld, die ich glaube Ihnen als Einleitung erſt einmal
darlegen zu müſſen. Es iſt nicht ſo geweſen, daß, als man an mich herantrat,
heute hier das Referat zu halten, ich mich aus Ankenntnis der Bedeutung der
landwirtſchaſtlichen Hausfrauenvereine geweigert hätte, es zu übernehmen;
ſondern ich glaubte, daß die ſehr ereignisreiche Woche es mir techniſch gar
nicht ermöglichen würde, das Referat zu halten. So bat ich eben Meinberg,
an meiner Stelle einzuſpringen. Ich habe aber in dem Augenblick, als ich
feſtſtellen konnte, daß es mir möglich ſein würde, heute an dieſer Stelle zu
ſprechen, die Gelegenheit ergriffen, und dies hauptſächlich aus zwei Gründen.
Der eine Grund war ein perſönlicher, der andere betraf mich als Partei-
politiker. Wenn ich ſage perſönlich, ſo iſt es eigentlich lediglich die Bitte, daß
Sie, meine ſehr verehrten Damen, ſoweit Sie nicht Nationalſozialiſtinnen
ſind und in einem anderen Lager ſtehen, meinen Ausführungen und meiner
Arbeit ein gewiſſes Wohlwollen entgegenbringen. Ich ſage das deshalb, weil
ich das Pech gehabt habe, durch die parteipolitiſchen Kämpfe der letzten Zeit,
durch böswillige Verdrehungen und durch andere Amſtände gerade auf der
weiblichen Seite der nationalen Front ſehr in Mißkredit zu geraten. Da
wollte ich mich denn wenigſtens einmal perſönlich vorſtellen und bei dieſer
Gelegenheit die Bitte ausſprechen, nicht nur über mich zu urteilen auf Grund
der Arteile Dritter, ſondern Sie zu bitten, ſich einmal ſelber das durchzuleſen,
was ich nun wirklich über die Frauen geſagt habe. Ich glaube, es iſt nicht
ganz ſo ſchlimm, wenn Sie an die Sache ſelber einmal herantreten, wie es
mir in der Offentlichkeit vorgeworfen wird.
Nationalsozialismus und Landfrau 811
Das ift das Perfönliche, aber nun auch noch etwas Parteipolitiſches. Es
hat ein gewiſſes Erſtaunen ausgelöſt, daß ich, der ich ſonſt, ſoweit die männ⸗
liche Vertretung des Berufsſtandes in Frage kam, ziemlich eindeutig die
Gleichſchaltungsbeſtrebungen geführt habe, ohne ſie irgendwie zu überſpitzen,
auf dem weiblichen Gebiet des Berufsſtandes eine ganz andere Haltung ein⸗
genommen habe. Das iſt ſowohl von der einen Seite wie von der anderen
Seite mir übel vermerkt worden. Das iſt natürlich, denn wir wären ja nicht
in Deutſchland, wenn wir nicht Standpunkte hätten, die man erſt einmal
hundertprozentig verteidigen müßte. Aber ich habe mir die Verhältniſſe, die
bier vorliegen, mal in Ruhe angeſehen, und dann bin ich zu der Aberlegung
gekommen, daß man vor einem ganz beſtimmten Aufgabenkreis ſteht, wenn
man den Dingen an die Wurzel zu gehen verſucht, daß aber die Voraus⸗
ſetzungen für die Erfüllung dieſes Aufgabenkreiſes nicht einfach durch irgend-
eine ſchematiſche Gleichſchaltung gewährleiſtet find. Es iſt jo, daß die Füh⸗
rung, ſoweit es die alte Führung betrifft, oftmals ausgezeichnet in fachlicher
Hinſicht arbeitete, auf der anderen Seite aber im nationalſozialiſtiſchen Lager
bei den nationalſozialiſtiſchen Frauenſchaften der Schwerpunkt nicht immer
notwendigerweiſe bei den nationalſozialiſtiſchen Landfrauen liegt. Hier ſchien
mir daher eine Gefahr heraufzukommen, die Gefahr nämlich, daß mit einer
Anordnung oder einem von mir geäußerten Wunſch eine Frauenſchaft eine Gleich-
ſchaltung vollzieht, ohne dabei aber die ſpezifiſchen Probleme der Landfrauen
richtig zu bedenken. Dies ſchien mir — und ich werde nachher darlegen, warum
ich jo urteilte — eine gewiſſe Gefahr in ſich zu ſchließen. Auf der anderen
Seite nun wiederum — und das muß ich den deutſchnationalen Damen ſagen
— liegen die Dinge ſo, daß auf deren Seite nicht immer ihr Wirken den Be—
weis erbracht hat, daß ſie die Zeichen und Vordeutungen des 30. Januar
überall richtig und rechtzeitig erkannt haben. And wenn nun von dieſer Seite
mir heute gejagt wird: Ja, wir ftellen uns voll und ganz hinter dieſen Neichs-
kanzler Adolf Hitler, fo muß ich den deutſchnationalen Damen darauf er—
widern, daß ich mit dieſem Argument unſeren Nationalſozialiſtinnen gegen«
über gar nichts anfangen kann, nämlich deswegen nicht, weil ja, nachdem
unſer Führer Reichskanzler und ſomit Führer des Staates geworden iſt, man
ja ſowieſo nur die Wahl hat, ſich entweder hinter ihn zu ſtellen oder gegen
ihn zu ſtehen.
Das habe ich mir alles einmal überlegt, habe das Gegeneinander abge—
wogen und habe mir dann gejagt — ich bin ja auch verheiratet —: Nachdem
ich nun glücklich im Berufsſtand unter den Männern einigermaßen Nuhe und
Einheit hineingebracht habe, mache ich jetzt nicht die ganzen Frauen rebelliſch,
die mir doch nur nachher wieder die Männer rebelliſch machen. And
ſo habe ich verſucht, dadurch zunächſt einmal Anheil zu verhüten, daß ich
vor allen Dingen die Damen des bisherigen Vorſtandes gebeten habe, die
812 R. Walther Darre
Dinge weiterzuführen. Ich habe das deswegen mit ganz beſonderer Freude
tun können, weil an der Spitze Frau Böhm die von mir ſehr verehrte Vor⸗
kämpferin eines Gedankens iſt, eines Gedankens, der ja auch letzten Endes
unſeren Gedanken darſtellt.
And damit will ich nun dazu übergehen, unſere Grundeinſtellung zu Ihrem
Aufgabenkreis darzulegen. Wenn man an die Probleme herangeht, muß man
vermeiden, wie ich das jetzt immer wieder erlebt habe, von irgendeiner organi⸗
ſatoriſchen Frage aus an die Dinge heranzugehen. Es hat keinen Zweck, wie
ich es erlebt habe, daß man mir zum Beiſpiel ſagt: Wir gehören zur L. H. V.,
das iſt eine Organiſation, die eingeſpielt iſt, wir haben die Erfahrungen, und
alſo muß man die Organiſation erhalten. And auf der anderen Seite kommen
meine Parteigenoſſinnen zu mir und ſagen: Wir ſind in der Frauenſchaft,
wir haben gekämpft um dieſes neue Deutſchland und haben recht behalten mit
der Entwicklung und legen Wert darauf, jetzt auch zur Geltung zu kommen in
den Organiſationen, die teilweiſe nicht immer rechtzeitig die Zeichen der Zeit
verſtanden haben.
Ich glaube, daß eine ſolche Ausgangsſtellung überhaupt falſch iſt. Ich glaube,
daß wir von einer ganz anderen Ausgangsſtellung an dieſe Probleme heran⸗
gehen müſſen. And zwar müſſen wir zunächſt überhaupt nicht von der Orga⸗
niſation ausgehen, auch nicht von den Menſchen, ſondern von dem, was den
Bauern doch eigentlich das Primäre iſt: vom Hof, vom Betrieb. And wenn
wir ſo an dieſe Dinge herangehen, dann ſehen wir — und das hat uns letzten
Endes die Geſchichte ja eindeutig bewieſen —, daß von allen Problemen, die
uns heute beſchäftigen, vor allen Fragen, die wir jetzt zu beantworten ver⸗
ſuchen, ſchon in graueſter Vorzeit der Hof ſteht als das Primäre, als die
Vorausſetzung des germaniſchen und damit auch des deutſchen Menſchen, als
Mittelpunkt ſeiner geſamten Kultur und ſeines Denkens. Von dieſem Stand⸗
punkt aus betrachtet, wird einem ſofort klar, daß ein Hof den Geſchlechtern
ganz beſtimmte Aufgabengebiete zuweiſt. Es iſt nie gut, daß zwei befehlen. Es
muß immer einer etwas zu ſagen haben. And fo hatten ſchon unſere Vorfahren
— das iſt eindeutig, das hat die vergleichende Nechtsgeſchichte heute ergeben —,
ich weiß nicht, ob aus beſonderer Lebensklugheit oder aus anderen Gründen,
ſich geſagt, daß es nicht geht, wenn zwei an einer Stelle befehlen; d. h. es
ſoll die Zweiheit, die die Hofſührung erfordert, ſo auſgeteilt werden, daß der
Mann die Vertretung und die Führung des Hofes nach außen hin hat, im
Kriege, in der Thingverſammlung, in der Männergemeinde. Deswegen iſt
auch alle germaniſche ſtaatliche Zuſammenfaſſung eine Zuſammenfaſſung von
Männerbünden. Innerhalb des Hauſes hat dagegen nur einer beziehungs⸗
weiſe nur eine zu befehlen, die Herrin, d. h. diejenige, die die Verantwor⸗
tung dafür hat, daß, wenn der Mann draußen ſteht, im Inneren des Hofes
alles ſeinen Weg ſo geht, wie es notwendig iſt.
Nationalsozialismus und Landfrau 813
And da ſehen Sie, wie aus der Wurzel eines germanischen Hofes heraus
die herrliche Gleichſtellung von Mann und Grau, von Eheherrn und Ehefrau,
ſich ergibt, die keine andere Raffe in dieſer Form wieder hat. Dieſe Wurzel
iſt germaniſch und iſt indogermaniſch — worauf ich hier nicht näher einzu⸗
gehen brauche. Sie ſehen alſo, wie die Ehefrau im germaniſchen Leben und
germaniſchen Rechtsempfinden eine dem Eheherrn abfolut gleichwertige Stel⸗
lung innehat — kraft der Notwendigkeiten, die der Hof, der bäuerliche Be⸗
trieb, bedingt. And dieſer Hof, dieſer bäuerliche Betrieb ſteht am Anfang
unſerer Geſchichte, lange ehe es Kaiſer gegeben hat, lange ehe es irgend etwas
anderes von dem gegeben hat, was heute iſt. Es ſteht eindeutig im Dunkel der
Vorzeit der germaniſche Hof und der germaniſche Hausherr als Vertreter
nach außen und die germaniſche Hausherrin als die Königin in ihrem Bereich.
And wenn Sie nun durch die Geſchichte weitergehen, dann ſehen Sie, wie
dieſe Grundauffaſſung ſich durch unſere ganze deutſche Geſchichte zieht. Wie
auch in den ſtädtiſchen Haushalten des Mittelalters immer dem Hausherrn,
der die Geſchäfte nach außen hin wahrnimmt, in ſeiner Zunft, im Rat und
den ſonſtigen Aufgabengebieten, die Hausfrau gegenüberſteht, die ihrerſeits
die Ordnung im Hauſe zu betreuen und zu verantworten hat. So ſehen Sie,
wie ſich durch die ganze deutſche Geſchichte aus der bäuerlichen Wurzel des
Germanentuns jene eigentümliche Stellung unſerer Hausfrau erhält, die auch
in der Stadt eine beſtimmte und mit Verantwortung erfüllte Aufgabe hat.
And das iſt geweſen bis in das 19. Jahrhundert hinein; das iſt geweſen bis
zu jenem Augenblick, als der Einbruch des Liberalismus, der mit Hardenbergs
wohlwollender Anterſtützung nach Deutſchland gebracht wurde, dazu führte,
das Leben zu vergeldlichen, d. h. als der Liberalismus dazu überging, die
Werte des Daſeins umzumünzen in blanke Münze. Das hat zunächſt ſchein⸗
bar mit der Frage des Haushalts nichts zu tun. In Wirklichkeit hat hier aber
die entſcheidende Abbiegung von der alten deutſchen Kulturentwicklung ein⸗
geſetzt, als nunmehr eine Verkapitaliſierung des Dafeins begann, das in einer
Form zwar dem Handel und der Wirtſchaft zugute kam, das aber anderer-
ſeits die alte Bedeutung der Hausfrau immer illuſoriſcher machte.
Ich möchte es präziſieren: Ich bitte Sie, meine Damen, nehmen Sie aus
alten Bibliotheken Lebenserinnerungen aus der Zeit bis 1830 hervor, ver-
tiefen Sie fic in das Leben des damaligen Berlins, leſen Sie die Lebens-
erinnerungen des Junkers v. d. Marwitz oder die Lebenserinnerungen unſerer
großen Dichter jener Zeit, und Sie werden immer wieder ſehen, daß die da-
malige ſtädtiſche Hausfrau ſich faſt in nichts unterſcheidet von dem, was heute
noch zu einem guten Teil auf dem Lande angefunden wird. Die Hausfrau
hat da noch tatſächlich einen Haushalt, ſie hat noch Menſchen ſatt zu machen,
ſie hat noch Vorrat zu haben, ſie hat noch zu disponieren. Es ſind da noch
gewaltige Aufgaben, die ihrer harren. Sie kann nicht zum nächſten Geſchäft
814 R. Walther Darre
laufen und fid dort eben für den Abendbrottiſch etwas Aufſchnitt beforgen,
ſondern fie muß noch wirtſchaftliche Vorausſicht walten laſſen. Die Vorrats⸗
kammer iſt noch ihr Stolz. Sie ſteht auch noch unmittelbar in der Produk⸗
tion drin.
Dann aber kommt der Liberalismus. And mit der Vergeldlichung, mit der
Möglichkeit, alles in Geld auszudrücken, muß ſich notwendigerweiſe eine
immer weitergehende Arbeitsteilung entwickeln im Handel und in der Wirt⸗
ſchaft. Das führt ſchließlich dahin, daß es immer unnötiger wird, im eigenen
Haushalt — ich möchte es mal ſo nennen — eine kleine Haushaltsautarkie zu
errichten, ſondern es iſt immer zweckdienlicher, ſich den ſtädtiſchen Verhält⸗
niſſen anzupaſſen und zu einer immer größeren Vereinfachung des Haus⸗
haltes zu kommen. Ich könnte Ihnen das mit einer ganzen Reihe von Anter⸗
lagen hier darſtellen, es kommt mir aber hier im weſentlichen darauf an,
Ihnen dieſe Grundgedanken zu zeigen, daß mit dem Einbruch des Liberalis-
mus und der Vergeldlichung des Daſeins eine Auſlöſung der ftädti-
ſchen Haushalte in der Richtung einſetzte, an derem Ende
wir heute in der Stadt fteben.
Begünſtigt wurde dieſe Entwicklung unmittelbar dadurch, daß die mit dem
Liberalismus zuſammenhängende Exportpolitik die Möglichkeit ſchuf, den
Menſchen von der Scholle fortzubringen und in den Städten Lebensmöglich⸗
keiten zu geben, was ein außerordentliches Anſteigen der Städte bewirkte;
dieſe mußten nun Wohnungen liefern für die dort ſich zuſammenballenden
Menſchenmaſſen. Während früher in den Städten einfach nicht mehr gehei⸗
ratet wurde, als Haushaltsmöglichkeiten gegeben waren, wurde in dem
Augenblick, wo das Geld den Erſatz eines autarken Haushaltes geſtattete, es
möglich, in dieſen Städten immer mehr Leute zu ernähren, fchließlich durch
Austauſch der Nahrungsmittel mit dem Ausland gegen Exportartikel. Dies
wiederum bewirkte — und ich bitte, zu verſtehen, wie hierbei eins ins andere
greift —, daß die zuſammengeballten Menſchen logiſcherweiſe dafür immer
mehr auf Raum verzichten mußten. And fo können Sie die Tendenz beob-
achten, daß ſeit etwa hundert Jahren mit dem Einbruch des Liberalismus
eine Verringerung und Verkleinerung des ſtädtiſchen Haushaltes vor ſich geht,
während auf der anderen Seite aber eine Vermehrung dieſer Haushalte in der
Stadt ſtattſindet.
Ich will Ihnen hierzu Zahlen nennen, weil ſie außerordentlich aufſchluß⸗
reich ſind, vor allen Dingen, wenn Sie nur die Zeit ſeit 1870 verfolgen.
Da hat das Bauerntum, alſo der Landſtand, um 1871 noch 26 Millionen
Menſchen. Das machte damals 63 Prozent des geſamten Volkes aus. Im
Jahre 1914 hatten wir 25,9 Millionen Menſchen in der Landbevölkerung,
alſo faſt dasſelbe. Das machte aber, da ſich die übrige Bevölkerung vermehrt
hatte, nur noch 38 Prozent aus. 1925 iſt ein deutliches Abſinken der ländlichen
Nationalsozialismus und Landfrau 815
Bevölkerung um etwa 3 Millionen zu vermerken. Ste ſehen alſo, während
von 1871 bis 1914 die Landbevölkerung mit ihrer Geſamtzahl ungefähr ſtetig
blieb, erfolgte ſeit dem Kriege ein Abfallen um etwa 3 Millionen. Gleich⸗
zeitig aber ſteigt die Kurve der in der Stadt lebenden Menſchen gewaltig an.
Wenn Sie z. B. die Mittel- und Kleinſtädte nehmen, fo ergibt fic, daß wir
1871 rund 12 Millionen Menſchen hatten, die in Mittel- und Kleinſtädten
bis zu höchſtens 100 000 Einwohnern lebten. Das machte damals 31 Prozent
aus. 1914 find es bereits 26 Millionen, alſo weit über das Doppelte. Sie
machen bereits 38 Prozent aus. 1925 find es 23 Millionen, ein Rückgang
alſo. Sie machen 37 Prozent aus. Sie ſehen, daß die kleinen und Mittel-
ſtädte bis zum Kriegsausbruch ungefähr auf das Doppelte ihrer Einwohner-
zahl ſteigen, daß dann aber ein leichtes Abſinken erfolgt. Ganz anders liegen
die Dinge aber bei den deutſchen Großſtädten. Wir haben 1871 1,9 Millionen
Menſchen in deutſchen Großſtädten. Das machte damals 4,6 Prozent aus.
1914 hatten wir bereits 15,6 Millionen, das machte 23,1 Prozent, und 1925
war die Zahl wieder etwas geſtiegen auf 16,7 Millionen; das find 26,7 Pro-
zent. Was heißt das? Das bedeutet — und damit verſtehen Sie jetzt vielleicht
meine Einleitung —, daß ſich im letzten Jahrhundert die ländliche Bevölke⸗
rung und damit das Gebiet der ländlichen Hausfrauen im Grundſatz zahlen⸗
mäßig nicht verändert hat, denn das Abſinken der 3 Millionen ſeit 1914 iſt
an ſich bedauerlich und iſt zu vermerken, ſpielt aber im weſentlichen keine
Rolle. Demgegenüber ſteht nun ein ganz ſteiles Anwachſen der ſtädtiſchen
Bevölkerung, die heute bereits zwei Drittel der geſamten Bevölkerung aus⸗
macht.
And nun wollen Sie bitte bedenken, was ich vorhin ſagte, daß der ſtädtiſche
Haushalt in dem Maße ſich von feiner urſprünglichen Bedeutung fortent⸗
wickelt hat wie andererſeits die ſtädtiſche Bevölkerung ſich vermehrte. Sie
verſtehen min, daß der Landfrau und ihrem Aufgabengebiet heute eine Zwei⸗—
drittelmehrheit des Volkes gegenüberſteht mit Haushaltsbedingungen, die
nicht nur nichts mehr mit der ländlichen Hausfrau zu tun haben, ſondern ſich
geradezu ſtellenweiſe im Gegenſatz hierzu befinden. And Sie verſtehen jetzt
auch, warum ich mich ſcheute, irgendeine ſchematiſche Gleichſchaltung in dem
Verbande der L. H. V. durchzuführen. Denn hier beftand die Gefahr, daß
Städterinnen oder von Städterinnen ſehr ſtark beeinflußte Organiſationen in
das ländliche Gebiet hinübergreifen, wo ihnen an ſich die Vorausſetzungen
fehlen, um überhaupt das Aufgabengebiet der Landfrau zu begreifen.
Ich ſehe, daß wir uns doch ganz gut verſtehen. Es beſteht die Gefahr,
und es beſteht ſogar die ganz große Gefahr, daß dieſe durch den Libe—
ralismus ausgelöſte Aberentwicklung der Stadt die ländliche Hausfrau ſozu—
ſagen totſchlägt. And hierin wurzelt die ſittliche — ich betone: die ſittliche —
816 R. Walther Darré
Rechtfertigung, aber auch die ſtaatspolitiſche Notwendigkeit, die ländliche
Hausfrau organiſatoriſch geſondert zu erfaſſen.
Aber es kommt noch ein anderer Amſtand hinzu. Wenn Sie heute zum
Beiſpiel die ſehr leſenswerten Zahlen von Burgdörfer ſich anſehen, dann
können Sie die Beobachtung machen, daß unſere Städte ganz zweifellos im
Ausſterben begriffen find. Ich würde den verehrten Vorſtand des L. H. V.
bitten, einmal ſich von uns jenen Film vorführen zu laſſen, in dem wir den
Verſuch gemacht haben, dieſes grauenhafte Sterben unſeres Volkes in ein⸗
fachen, überſichtlichen und jedem verſtändlichen Bildern auf die Leinwand zu
bringen. Wer dieſen Film geſehen hat und dann nicht verſteht, warum der
Reichskanzler den Landſtand zum Eckpfeiler des Staates gemacht hat, dem iſt
— glaube ich — überhaupt nicht mehr zu helfen. Wenn man ſich zum Beiſpiel
eine Tabelle vornimmt, in der der Geburtenrückgang dargeſtellt wird, dann
müſſen Sie feſtſtellen, daß Berlin z. B. einen Fehlbetrag hat, um die Ster⸗
benden wieder aus ſich ſelbſt zu ergänzen, und zwar von 57 Prozent. Berlin
müßte 57 Prozent mehr Geburten haben, um überhaupt aus eigener Kraft
ſeine Bevölkerung in ihrer heutigen Zahl zu erhalten. Von einem Aberſchuß
ift Schon gar keine Rede mehr. Es iſt mir immer das Furchtbarſte, daß Berlin
in dieſer Beziehung an der Spitze der europäiſchen Städte heute marſchiert.
Wir haben uns da einen ſehr traurigen Ruhm erworben. Wenn Sie die
übrigen deutſchen Großſtädte nehmen, ſo ſtehen ſie im Durchſchnitt etwas unter
Berlin inſofern, als hier 42 Prozent Geburtenmangel iſt. Wenn Sie die
Kleinſtädte nehmen, fo haben auch fie einen Anterſchuß von 31 Prozent. Und
nur das deutſche Landvolk hat noch einen Geburtenüberſchuß von 25 Prozent.
Das ſind die Tatſachen, vor denen unſer Volk ſteht. Das ſind die Tatſachen,
die wir augenblicklich regiſtrieren müſſen. Die Städte freſſen unſere Volkskraft
weg. Die Städte find unſere Särge. And der ländliche Aberſchuß von 25 Pro-
zent reicht nicht aus, den Stand der Einwohnerzahlen zu halten, ſondern reicht
nur aus, bis 1990 zu verhindern, daß unſer Volk unter 46 Millionen herab-
ſinkt. Das ſind ganz furchtbare Tatſachen, meine Damen, die man ſich in der
ganzen Konſequenz klarmachen muß, und die mich bewogen haben — auch das
bitte ich bei dieſer Gelegenheit einmal ſagen zu dürfen, der ich ſelber aus einem
Aberſeerhauſe ſtamme, der ich ſelber die Fragen der Exportpolitik beſſer kenne
als mancher, der ſie mir jetzt andauernd unter die Naſe hält —, gegen die
induſtrielle Entwicklung deswegen zu ſein, weil ſie vielleicht zwar auf dieſe
Weiſe Brot für die heutige Bevölkerung ſchafft, aber das auf Koſten unſerer
Volkskraft. And wenn die Entwicklung ſo weitergegangen wäre, ohne daß
Hitler kam, dann konnten wir als Volk am blühenden Export ſterben, meine
Damen.
Man muß ſich dieſe Fragen in ihrer ganzen Auswirkung klarmachen, um
eine ganz eindeutige Stellung ihnen gegenüber zu erhalten. Wir müſſen uns
Nationalsozialismus und Landfrau 817
auch klarmachen: Es nützt nichts, was noch vor einigen Jahrzehnten geglaubt
wurde, ſich einzubilden, daß, wenn die deutſchen Bauern ſterben, wir uns
irgendwoher aus anderen Ländern Bauern holen können, etwa aus dem kinder⸗
reichen Oſten; etwa mit der Begründung: wir haben dann wieder Bauern,
welche wir in gute Schulen bringen und deren Kindern wir gutes Deutſch lehren.
Dieſe germaniſierten Slawen liefern uns dann wieder die Menſchen. Nein,
dem iſt aber nicht fo, ſondern es ift fo, daß, wenn unſer deutſches Blut ver⸗
ſiegt, dann verſiegt mit ihm auch die deutſche Kultur.
Dies iſt das Problem, vor dem wir ſtehen. And von dieſem kulturellen und
ideellen Standpunkt aus kommt der Landbevölkerung heute eine ausſchlag⸗
gebende Bedeutung zu.
Bevor ich hierüber ſpreche, will ich Ihnen ein ganz intereſſantes Beiſpiel
für die ungeheure Sterilität der Stadt Berlin geben. Nehmen Sie heute z. B.
eine bereinigte Einwohnerzahl von 4 Millionen an, d. h. eine Einwohnerzahl
abzüglich derjenigen, die heute durch Aberalterung noch zur Bevölkerung ge-
rechnet werden müſſen, die alſo an ſich durch künſtliche Mittel einer beſonders
glücklichen Hygiene über das normale Alter am Leben erhalten werden. Ich
will damit nichts gegen die Arzte ſagen, ſondern nur zum Ausdruck bringen,
daß man für die Beurteilung der Geburtenziffern eben bereinigte Zahlen gus
grunde legen muß. Rechnen Sie alſo als bereinigte Einwohnerziffer 4 Millio-
nen. Dann ergibt ſich, daß, wenn man den Zuſchuß vom Lande abdroſſeln
würde — denken Sie ſich meinetwegen einen Stacheldraht um Berlin herum⸗
gelegt —, daß 1960 nur noch 3 Millionen, 1990 nur noch 1½ Millionen und
2020 nur noch 500 000 Menſchen in Berlin wären. In hundert Jahren wäre
dieſe Viermillionenſtadt auf 500 000 Menſchen zuſammengeſchrumpft. Wenn
Sie ſich nun dieſe Dinge vor Augen führen, dann wird Ihnen klar, wenn ich
jetzt folgendes ſage: diejenige, die ja letzten Endes den deutſchen Nachwuchs
unſeres Volkes erſtellt, iſt alſo die Land frau. Wenn ich fo auf der einen
Seite feſtſtelle, daß die Stadt ſteril iſt und auf der anderen Seite feſtſtellen
muß, daß das Land noch den einzigen Aberſchuß an Geburten liefert, ja daß
wir ohne dieſe 25 Prozent Geburtenüberſchuß in ganz kurzer Zeit als Volk
auslöſchen würden, dann iſt folgerichtig, daß die Landfrau aus dieſen Gründen
heraus geſondert betrachtet und beſonders organiſatoriſch erfaßt werden muß.
Es kommt ja noch hinzu, daß die Entwicklung leider ſo geht oder gegangen
iſt, daß in den Städten das Problem der Frau als ſolches immer weniger
beachtet wird. Nicht nur, daß es ſchon nicht mehr notwendig iſt, in der Stadt
etwas von Vorratswirtſchaft zu verſtehen; nicht nur, daß es nicht mehr not⸗
wendig iſt, Perſonal leiten zu können, alſo wirkliche Führerin zu ſein: Die
Haushalte find bereits überhaupt nicht mehr mit denen des Landes zu vers
gleichen. Hier hat das Judentum mit diaboliſcher Aberlegenheit gearbeitet.
818 R. Walther Darre
Der ſtädtiſche Haushalt wird architektonisch geradezu fo gemeiſtert, daß man
in den modernen Wohnungen eigentlich keine Kinder mehr haben kann. Wenn
Sie mit offenen Augen durch den Stolz der Städte, die Stadtrandwohnungen,
gehen, jo iſt es zwar richtig, daß eine ſolche Wohnung tauſendmal hygieniſcher
iſt als die furchtbaren Hinterhöfe; darüber brauchen wir uns gar nicht zu
unterhalten. Aber daß derjenige, der den Segen des Landlebens für die Kinder
kennt, in dieſen Zweizimmerwohnungen keine Kinder aufwachſen laſſen
möchte, iſt Tatſache. And ſo haben wir in den Städten eine Tendenz heute,
die gegen die Frau und Mutter gerichtet iſt. Wie ſie zu überwinden wäre,
iſt nicht meine Aufgabe hier darzuſtellen, das iſt auch ein Problem, über das
ſich die Stadtväter den Kopf zerbrechen mögen. Hierfür bin ich ſozuſagen nicht
zuſtändig. Aber eins geht mich an, nachdem ich heute aus den freien Selbſt⸗
verwaltungskörpern zum Führer des Reichsbauernſtandes gewählt worden
bin, nämlich darüber zu wachen, daß dieſe ungeſunden Tendenzen der Stadt
uns nicht die einzige Bluterneuerungsquelle, die wir noch haben, nämlich die
ländliche Hausfrau, dadurch unterdrücken, daß die Führung der ländlichen
Hausfrau in ſtädtiſche Hände übergeht.
So verſtehen Sie aus dieſer zweiten Auffaſſung heraus, warum ich mich
dazu bekenne, daß die ländliche Hausfrau geſondert heute vom Staat und von
den Selbſtverwaltungskörpern betreut und beachtet werden muß.
Damit habe ich an ſich im Grundſatz das dargelegt, was ich Ihnen ſagen
wollte. Ich weiß nicht, ob hier Zuhörerinnen ſind, die mich bereits in öffent⸗
lichen, d. h. in politiſchen Verſammlungen gehört haben. Wenn ja, dann
werden ſie ſich entſinnen, daß ich noch niemals in einer politiſchen Verſamm⸗
lung irgendwie zu irgendeinem Tageskampfgeſpräch geſprochen habe, auch daß
ich grundſätzlich und immer wieder den Verſuch gemacht habe, aus der Wurzel
heraus die Dinge logiſch zu entwickeln; ich habe geſagt, daß von einer Wurzel
her die Dinge angepackt werden müſſen, und daß dann auch der Standpunkt
klar wird, den wir zu den Tagesfragen als ſolche einzunehmen haben. Es war
mir heute ein Bedürfnis, ihnen im Hinblick auf die Landfrau ihre Entwick⸗
lung aus der Wurzel heraus darzulegen. Es kam mir darauf an, Ihnen zu
ſagen, daß ich frei von irgendwelchen parteipolitiſchen Scheuklappen die Dinge
grundſätzlich ſehe und dementſprechend auch behandle.
Damit will ich zum Schluß kommen und dabei nur ganz kurz ſagen, wie
ungefähr auch die organiſatoriſche Weiterentwicklung vor ſich gehen foll. Ich
möchte betonen, daß ich mich hier nicht auf Einzelheiten einlaſſe, denn wenn
Sie, meine Damen, z. B. irgendeinen vollkommen verwirtſchafteten Hof
übernehmen, in dem alles drunter und drüber geht, dann fangen Sie und Ihr
Herr Gemahl nicht damit an, ſich den Kopf darüber zu zerbrechen, wie die
Tapete eines Zimmers ausſehen ſoll, ſondern fangen erſt einmal an, Ordnung
zu ſchaffen. Wenn das geſchehen iſt, dann überlegt man ſich ſo vor dem Schla⸗
Nationalsozialismus und Landfrau 819
fengeben, wie man dies und das einmal machen könnte, und dann wird es
gemacht, wenn der Augenblick gekommen iſt, wo einem die Arbeit auch die
Zeit dazu läßt. Daher habe ich mich auch grundſätzlich geweigert, vorzeitig
mit irgendwelchen Dingen über die Gliederung unſeres Berufsſtandes an die
Offentlichkeit zu treten. Ich wollte erſt einmal abwarten, wie ſich die Ver⸗
bände zur neuen Zeit ſtellen. Das iſt inzwiſchen geſchehen. Ich werde jetzt
mit einigen wenigen Grundgedanken an die Offentlichkeit kommen. In der
nächſten Nummer der NS.-Landpoft werde ich darüber kurz ſchreiben, und
wir werden dann, wenn wir erſt einmal die Grundlinien geſchaffen haben,
uns weiter darüber klar werden, wie die Einzelheiten werden ſollen. Sehen
Sie, wir wollen zunächſt einmal dahin ſtreben, das iſt jedenfalls der Wunſch
des geſamten Landſtandes draußen, des geſamten deutſchen Bauerntums, zu
einer einzigen Berufsvertretung zu kommen. Nun ſtehen hier folgende Schwie⸗
rigkeiten von Anfang an im Wege, die Schwierigkeiten nämlich, daß zwei
große Organiſationen, die freien Verbände — ich nenne hier beiſpielsweiſe
nur den Landbund — und auf der anderen Seite die Landwirtſchaftskam⸗
mern von Anfang an als Gegenſätze aufgezogen worden ſind. Es iſt im allge⸗
meinen weniger bekannt, daß z. B. die Landbünde zurückgehen auf den Bund
der Landwirte, der ſeinerzeit mit ſeiner Gründung eine Antwort war auf den
Sturz Bismarcks und auf den ſogenannten neuen Kurs, der hemmungslos
dem Freihandel und der Exportpolitik frönte. Man ſchloß ſich damals zu-
ſammen, um ſich zu verteidigen. Hiergegen wurde von oben her durch eine
halbamtliche Körperſchaft, d. h. die Landwirtſchaftskammer, ſozuſagen ein
Riegel vorgeſchoben, ſo daß man ſtaatlicherſeits in der Lage war, dieſen fron-
dierenden freien Vereinigungen in irgendeiner Form die Stirn zu bieten.
Das hat ſich bis 1918 nicht allzu ſtark ausgewirkt. Es hat aber nach 1918 zu
einem Gegeneinander der Verbände geführt, was beſtimmt nicht dem Deut.
ſchen Landſtand als ſolchen zugute gekommen iſt. Tatſächlich hat das
ſogar außerordentlich die Kräfte gebunden und alſo gehemmt. Da wollen
wir nun den Verſuch machen, hier einmal auseinanderzuwirren, was eigent«
lich die Aufgabengebiete des einen und was die Aufgabengebiete des ande-
ren Teils ſind. Wir glauben, daß die freien Verbände in der Sparte des
VBerufsſtandes das übernehmen können, was den „Menſchen“ betrifft,
während alles das, was den „Hof“ angeht, Betriebswirtſchaft, Betriebs—
technik, im Aufgabenbereich der Kammern bleiben muß. Ich betone aber aus.
drücklich und bitte dringend, mir hinterher nicht Briefe auf Briefe zu ſchreiben,
daß in der Kammer „die Dinge fo vorzüglich liefen, Komma, daß ...“ Ich
mache ausdrücklich darauf aufmerkſam, daß ich treuhänderiſch verſuchen muß,
die Dinge im ganzen Reich auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. And
da liegen die Verhältniſſe jo, daß während z. B. in Oſtpreußen die Land-
wirtſchaftskammer ein außerordentlich geachtetes Inſtrument iſt, die Rams
820 R. Walther Darré, Nationalsozialismus und Landfrau
mern im Weſten wiederum längſt nicht die Rolle fpielen wie die freien Ver⸗
bände. In Oſtelbien, wo an ſich der Staat der Hohenzollern die Bevölkerung
im Vertrauen zur Staatsführung erzogen hat, wird bei den Bürgern der
halbamtliche Charakter eines ſolchen Körpers als angenehm empfunden; da⸗
gegen iſt man im Weſten, wo man dieſe geſchichtliche Schulung nicht hatte,
mehr für die freien Vereinigungen, ja der halbamtliche Charakter der Land-
wirtſchaftskammern ſtößt dort geradezu auf Ablehnung. Sie müſſen alſo
lernen, daß wir hier bei uns an der Zentralſtelle die Dinge nicht danach er⸗
ledigen können, was ſich in einer Gegend als beſonders zweckmäßig erwieſen
hat, ſondern daß wir allen Teilen des Reiches gerecht zu werden haben und
daß wir alſo den Verſuch machen müſſen, beide großen Organiſationen zu
ganz klaren Aufgabengebieten zu führen, auf dieſe Weiſe das Gegeneinander
in dieſen Aufgabengebieten aus der Welt ſchaffend. Ich ſagte, daß die eine
Sparte den Menſchen zu betreuen hat; da gehört auch die Landfrau hinein.
Ich bin der letzte, der ſich dazu bekennt, daß die Frau in die Politik gehört.
Ich denke da zu ſehr im altdeutſchen Gedankengut, daß die Frau eben ihre
Königinſtellung im Hauſe hat und nicht in der Politik. Dafür iſt es dann
Sache des Mannes, den Kopf im Lebenskampfe hinzuhalten. Aber im Berufs⸗
ſtand muß die Landfrau in ihren Angelegenheiten mitreden, da muß ſie ſelber
ſich betätigen und daſür ſorgen, daß dieſe altdeutſche Königinſtellung ihr auch
erhalten bleibt. Das bedeutet nicht, daß aus der anderen Sparte — Betriebs-
wirtſchaft und Betriebstechnik — die Hausfrau ausſcheidet. Nein, denn die
Hausfrau hat ja zu mindeſtens 50 Prozent die Verantwortung für die Wirt⸗
ſchaft genau ſo wie ihr Gatte. Es iſt ein gutes altes Bauernwort, daß die
Landfrau in der Schürze mehr zum Hof hinaustragen kann, als der Mann im
Erntewagen wieder hineinbringt. And ſo gehören dieſe ganzen Fragen in
dieſe Sparte, und dazu gehört aber auch die Landfrau.
Mehr möchte ich zunächſt nicht ſagen; dieſen einen Grundgedanken wollte
ich Ihnen erſt einmal mitgeben. Ich könnte ihn weiter ausſpinnen, wie z. B.
meiner Aberzeugung nach auch das Genoſſenſchaftsweſen hierbei eine Rolle
ſpielt. Nur eins ſei zum Schluß geſagt: Wenn ich Ihnen auf der einen Seite
dargelegt habe, daß mein Bekenntnis zur ländlichen Hausfrau aus einer
Wurzel ſtammt, die mich zwingt, in folgerichtiger Auswirkung dieſer Ein⸗
ſtellung zu dem Ergebnis zu kommen, welches ich hier dargelegt habe, ſo
möchte ich doch auf der anderen Seite Ihnen, meine Damen, ans Herz legen,
daß ich Sie damit auch vor ganz große Aufgaben geſtellt habe, da Sie der
letzte Hort ſind, in dem ſich bewußt und unbewußt das alte deutſche Frauen⸗
leben ſpiegelt. Alles Bisherige muß auf dieſem Gebiete bleiben, ja weiter
entwickelt werden, von der Hühnerzucht bis zum Kochen, vom Gartenbau bis
zu der Handarbeit im Haushalt und ähnlichen Dingen. Darüber hinaus möchte
ich jedoch glauben, daß die andere Sparte, nämlich der Menſch, in ganz
Paul Krannhals, Geistige Verwurzelung und Entwurzelung 821
anderem Amfange nunmehr von Ihnen in Angriff genommen werden muß,
als das bisher geſchehen iſt. Ich glaube, daß viele Frauen unbewußt auch
hier das Opfer des Liberalismus geweſen ſind und in der Hinwendung zum
Wirtſchaftlichen Anfang und Ende ihres Aufgabengebietes ſahen, während
doch tatſächlich, meine Damen, Sie nicht nur die Bauern gebären, ſondern
Sie doch auch die Bauern erziehen. And hier ruht letzten Endes Ihre gewaltigſte
Aufgabe, denn darüber beſteht kein Zweifel, darüber hat auch die Geſchichte
eindeutig entſchieden: Davon, wie der junge Mann feine Mutter erlebt, da⸗
von, wie er ſeine Schweſter erlebt, iſt nicht nur allgemein ſeine Einſtellung
im ſpäteren Leben zur Frau abhängig, ſondern davon iſt weſentlich abhängig
der Grundgehalt derjenigen Kräfte, die ihm überhaupt erſt die Vorausſetzun⸗
gen ſchaffen, um ein deutſcher Bürger und — wenn er das Glück hat — ein
deutſcher Staatsmann zu ſein.
Paul Krannhals:
Geiſtige Verwurzelung und Entwurzelung
Der Wunſch nach einer möglichſt anſchaulich erlebbaren Darſtellung von
Ereigniſſen unſeres Kulturgeſchehens veranlaßt uns ſehr häufig, Bilder aus
dem Naturgeſchehen zu Hilfe zu nehmen. Sprechen wir beiſpielsweiſe von
einem entwurzelten Menſchendaſein, fo läßt der Begriff Entwurzelung une
willkürlich das Bild des pflanzenhaften Daſeins vor unſern Augen entſtehen.
Wir vergegenwärtigen uns dabei, daß der entwurzelte Baum mit anderen
Augen betrachtet wird als der verwurzelte, deſſen Krone zum Himmel ſtrebt,
in deſſen Zweigen die Vögel jubilieren. Der Blick, welcher die Nutzbarkeit
des entwurzelten Baumes, feine Verwendbarkeit zu Bau- oder Brennholz
prüft, iſt ein anderer als derjenige, welcher den lebendigen Baum in ſeiner
ſelbſtgenügſamen Form, in feiner Harmonie mit der ihn tragenden und Durch
dringenden Amwelt und mit dem jahreszeitlichen Rhythmus erlebt. Hier grüßt
uns das pulſierende Leben, dort ein Etwas, das aus den lebendigen Sujam-
menhängen, in die es eingegliedert war, herausgeriſſen wurde. Dieſes Her—
ausreißen aus den lebendigen Zuſammenhängen, das iſt Entwurzelung. And
umgekehrt heißen wir nicht nur dasjenige verwurzelt, was, wie der Baum,
buchſtäblich Wurzeln hat. Auch die kleine grüne Pflanze, welche es noch nicht
zur Wurzelbildung gebracht hat, auch die im Meere zu Milliarden ſchwim—
menden Algen führen dennoch ſchon ein wurzelhaftes Daſein, da ſie einge—
ſponnen ſind in die ihnen gemäßen lebendigen Zuſammenhänge, in die ihnen
gemäße natürliche Amwelt. So iſt auch das Tier als individuelles Glied um—
faſſenderer Lebensgemeinſchaften, trotz feiner Beweglichkeit, in der Heimate
landſchaft verwurzelt.
822 Paul Krannhals
Auch der Menſch befigt Wurzelkraft, fofern fein Daſein und fein Wirken
noch in den Geſamtrhythmus der lebendigen Naturordnung eingeſponnen iſt.
und von ihm unmittelbar ſeine Lebenskraft erhält. So bringt das unverfälſchte
bodenſtändige Bauerntum in ſeiner zugleich kosmiſch verankerten Heimatgebun⸗
denheit nicht nur ein materielles, ſondern auch ein geiſtiges Wurzelgefühl
zum Ausdruck, mag ſich dieſes auch oft nur in einer ganz inſtinktiven Ein-
paſſung in die gottgewollte natürliche Ordnung der Dinge ausprägen. Aber
dieſe Verbundenheit ijt zugleich eine Gebundenheit des ganzen tätigen Arbeits-
lebens an die ewigen ehernen großen Geſetze, die ſich in den Bau⸗ und Wir-
kungsformen der lebendigen Naturordnung offenbaren, es iſt ein Leben und
Schaffen aus dieſer Geſetzmäßigkeit heraus.
Ganz deutlich zeigt fic) dieſer Einklang auch im bäuerlichen Siedlungs-
weſen. Werfen wir beiſpielsweiſe einen Blick auf das norddeutſche Tiefland,
ſo tritt uns bei aller Verſchiedenartigkeit der ländlichen Siedlungsformen als
herrſchendes Prinzip doch überall das Streben entgegen, ſich an der Amwelt
im Sinne ihrer natürlichen Lebensgeſetzlichkeit zu betätigen. Dieſes Streben
ſetzt ein inniges Sicheinfühlen in den jeweiligen Charakter der Landſchaft
voraus. Darum iſt auch die Siedlungskunſt des Bauern ein Sinnbild ſeines
innigen Naturerlebens, zugleich durchdrungen von jener perſönlichen Hingabe,
mit der der Bauer alles ſeiner eigenen Weſenheit gemäß zu geſtalten ſucht.
Die Natur und er ſchaffen gemeinſam das Werk, nicht auf Grund einer mecha-
niſchen Abereinkunft, ſondern eines von Geſchlecht zu Geſchlecht immer inniger
geſtalteten Zuſammenlebens, das die Siedlung organiſch als Bild aus der
umrahmenden Landſchaft erwachſen läßt.
„Hier und da zerſtreut, hauſen ſie weit voneinander, wie ihnen gerade eine
Quelle, ein Feld, eine Waldung behagt. Dörfer legen ſie nicht nach unſerer
Weiſe an, daß die Gebäude aneinanderſtoßen und zuſammenhängen.“ Nichts
beweiſt wohl inniger die geſtaltende Kraft der Landſchaft, die ihre eingewur⸗
zelten Bewohner gleichſam als ihre Werkzeuge gebraucht, als daß dieſe klaſſiſch
gewordenen Worte eines Tacitus auch heute noch, nach zwei Jahrtauſenden,
ihre lebendige Geltung haben. Der bayriſch⸗-alemanniſche „Einödshof“ im
nördlichen Alpenvorlande, die alten Weſtfalenhöfe im Artlande zwiſchen Hunte
und Haaſe, die ſelbſtherrlichen Bauernrepubliken der Dithmarſchen und Hadler
in den Elbmarſchen, die zahlreichen Einzelgehöfte im hinteren Odenwald und
Schwarzwald künden dieſe ſtummberedte Form tiefſter Naturverbundenheit.
Solche Einzelhöfe fehlen im mitteldeutſchen Gebiet nicht ohne triftigen Grund.
Denn zwiſchen dem Charakter der niederdeutſchen Tiefebene und der ober-
deutſchen Hochebene kündet ſich im Gegenſatz zu den zerſplitterten und zer-
klüſteten Siedlungsgebieten Mitteldeutſchlands eine tiefe Wahlverwandtſchaft:
Hier wie dort wurzeln, vom ewigen Meere, vom ewigen Gebirge beherrſcht,
knorrige, ihre Eigenart hartnäckig bewahrende Volksſtämme; hier wie dort
dehnen ſich ſchwermutvolle Heiden, düſtere Moore und weite Gewäſſer. Die
große ernſte Natur bewahrte auch die Arfprünglichkeit ihrer Bewohner und
ſchuf in der ſchlicht-ernſten Geſchloſſenheit und Monumentalität der von der
Außenwelt ſich abkehrenden Wohnſtätten ein Sinnbild ihrer eigenen Weſenheit.
Der Charakter der Ebene, wo kein Berg die Härte eines übergroßen Maß—
ſtabs mildert, die Wohnſtätten unvermittelt aus der Fläche emporwachſen,
verlangt in der Formgebung der Siedlungen die Horizontale als beherrſchen⸗—
des Prinzip. Abermäßig ſenkrechte Baumaſſen, die hoch in die Luft ragen,
Geistige Verwurzelung und Entwurzelung 823
oder gar die geſchoßliche Auflöſung der Maſſen in Richtung der Vertikallinie,
wie wir es in Südweſtdeutſchland oft an den Bauten der Hauſteingotik an⸗
treffen, würden die Grundſtimmung der Ebene grell zerreißen. And ebenſo würde
eine reiche Ausgliederung durch Galerien uſw., die z. B. beim Schweizer und
* in äſthetiſch⸗harmoniſcher Beziehung zur bewegten ber⸗
gigen Amwelt ſtehen, eine unerträgliche Anruhe in den ruhigen, gedämpften
Charakter der Landſchaft und ihrer Bewohner tragen. Die Ebene geſtattet nur
eine flächige Geſtaltung, breites maſſiges Hinlagern der Bauformen, die ſich
der Bodenbewegung anſchmiegen und ſie ſelbſt in den Farben widerſpiegeln.
„Die Amriſſe“, jagt Natel von der Ebene, „ſchneiden ſcharf von der Luft ab,
erhalten dadurch ein ſtärkeres Relief, werden dadurch aber zugleich von Luft
und Licht mildernd umſpielt.“
And dieſe äſthetiſchen Geſetze der Ebene, die nichts Aufdringliches dulden,
werden von dem geſunden Sinn des in ihr wurzelnden Bauerntums mit
feinem Inſtinkt in den Bauformen befolgt. Nirgends findet man ſtärkere Her-
vorkragungen, die aus dem flächigen Charakter der Landſchaft herausfallen, und
wo ſich, wie z. B. beim niederſächſiſchen Hauſe, an der Giebelſeite hin und
wieder eine maleriſche Architektur entwickelt, die überdies oft nur konſtruk⸗
tiver Art iſt, ordnet ſie ſich doch den gegebenen Grundmaßſtäben unter. Das
mächtige, auf niedrigen Mauern ruhende Dach, das gewichtig ernſt ins weite
ſchweigende Land hinausſchaut und die Funktion des Schutzes ſo vollendet
zum Ausdruck bringt, gleichſam als Sinnbild ſeiner erdverwurzelten „bedäch-
tigen“ Bewohner. Ja, in ſeinem organiſchen Zuſammenhang mit der Arform
des germaniſchen Hauſes, dem auf die Erde geſtellten Firſtdach, iſt es ein
Symbol der wandelloſen Sinnesart, der Verflochtenheit mit der Landſchaft
durch die Jahrtauſende.
Das iſt geiſtiges Wurzelgefühl, iſt die Verwurzelung des geſtaltenden
Menſchengeiſtes in der Seele der Heimatlandſchaft. Dieſe wirkt auch in aller
echten, reinen Kunſt geſtaltend mit. So erſcheint auch das wahre Kunſtwerk
als ein Zeugnis der lebendigen Einheit von Blut und Heimatboden. Kraft
dieſer inneren Verbundenheit wird ſich der Heimatcharakter zugleich auch in
der Weſensart der ihr eingeborenen Bewohner ausprägen. Die geheimnisvoll
webende Naumtiefe der nordiſchen Landſchaſt der Ferne kündet zugleich auch
unſere innere Grenzenloſigkeit, die Anausſchöpfbarkeit des Seelengrundes, den
Fernendrang ins Endloſe. Wenn ein leiſe verdämmerndes Hell-Dunkel alle
Dinge in ſich hineinſpinnt und die Nähe allmählich zur grenzenloſen Ferne
abſtuft, dann erwacht im deutſchen Gemüt das geheimnisvolle Raunen und
Weben des Waldes und ruft die ſchöpferiſche Phantaſie zu ihrer Wirklichkeit.
Ihr Wirken, Geftalten ſcheint undenkbar ohne dieſes Einsſein mit dem ge-
heimnisvollen Hell⸗Dunkel, mit dem labyrinthiſchen Weben des Waldes, mit
dem Brauſen des wilden Weſtwindes, den geſpenſterhaft wogenden Wolken—
burgen und der Anmut verträumter Täler. Andenkbar ohne die ſchwermutvolle
Einſamkeit weiter Heideflächen, ohne die Erhabenheit ſtiller Bergeswacht oder
die raſtloſe Melodie brandender Meereswogen.
Dieſe unendlich abwechſlungsreich gegliederte maleriſche Bewegtheit der
deutſchen Landſchaft mit ihren zahlloſen Licht⸗ und Farbenſchattierungen er—
ſcheint uns als der mütterliche Grund der reichen Gliederung, der ſtark aus—
geprägten Individualiſierung des darin eingewurzelten deutſchen Volkes. And
überall aus den labyrinthiſchen Tiefen und ſtillen Winkeln des Heimatbodens
824 Paul Krannhals
grüßt uns die deutſche Innerlichkeit, das Sichhineinverſenken in die Tiefen
der innerſeeliſchen Welt. Ja, offenbart uns die Landſchaft unſerer Seele
nicht auch all das Knorrige, Querköpfige des deutſchen Charakters, das ab-
geſchloſſene Tal ſeiner Seele, in dem das ſcheinbar Bedeutungsloſe zur höch⸗
ſten Bedeutſamkeit erwacht, wo auch das Problematiſche, Phantaſtiſche,
Bizarre heimlich- unheimlich umgeht? Das unerſetzbare und unüberfetzbare
deutſche Wort „Sehnſucht“, dieſes ewig leuchtende und wärmende Licht, das
die rauhe nordiſche Heimat, die lange dunkle Winternacht im deutſchen Ge⸗
müte entzündete, iſt wohl das tiefſte Symbol unſeres Seelentums. Denn in
ihm kündet ſich das deutſche Voll als ewig Werdender, der im metaphyſiſchen
rang ins Endloſe, im ewigen Hinausſtreben über ſich ſelbſt ſein innerſtes
Weſen zu erfüllen ſucht.
Wie ein Widerhall dieſer ſeeliſchen Verfaſſung und ihres Einklanges mit
der heimatlichen Landſchaft der Seele mutet uns beiſpielsweiſe die altnordiſche
Ornamentik an. Jene von ſeltſamer Dynamik erfüllte Linienphantaſie, die den
Willen zur frei geſchaffenen Form ſo eindringlich zum Ausdruck brachte. Die⸗
ſelbe ſeeliſche Grundſtimmung klingt dann nach Jahrhunderten auch in der
Liniendynamik am Strebewerk des Straßburger Münſters machtvoll wieder
an. Sie wirkt noch in jenen Kunſtepochen fort, in denen das deutſche Tempe⸗
rament ſchon längſt mit der künſtleriſch notwendigen äußeren Begrenzung
ſeiner inneren Grenzenloſigkeit vertraut war. Der Drang ins Endeloſe, das
Fugenthema, das in der Polyphonie des Flechtbandornamentes anklingt, erlöſt
auch die Steinmaſſen in der gotiſchen Architektur, um dann wieder in der
kontrapunktlichen Verſchlingung der Stimmen und Tonlinien der ſpäteren
Muſik zu erklingen. |
So prägt die dauernd innige Wechfelwirkung zwiſchen Blut und Heimat-
boden nach den verſchiedenſten Richtungen hin und in den verſchiedenſten zeit⸗
gebundenen Formen (Zeitſtil) einen lebendig fortwirkenden Heimatſtil aus.
Dieſer braucht als ſolcher gar nicht bewußt zu werden, auch wird ſeine Wirk⸗
ſamkeit zeitweiſe ganz in den Hintergrund treten. Solche Zeiten zeugen dann
von einer Verdrängung der bodenſtändigen Kultur durch den Einfluß fremder
Geiſtigkeit, fremden Kulturgutes. Sie zeugen von einer mehr oder minder
ausgeprägten Entwurzelung des Menſchengeiſtes.
So bietet der wurzelloſe Aſphaltgeiſt der modernen Großſtädte gleichſam
das Gegenbild zu dem organiſchen heimatverwurzelten Charakter der bäuer⸗
lichen Siedlungs- und Arbeitsweiſe. Der lebendig pulſierende Rhythmus der
Tages- und Jahreszeiten, den der Bauer als Kompaß ſeines ſchöpferiſchen
Wirkens ſtändig in ſich trägt, hier wird er von der kalten Front des zu Stein
gewordenen Menſchengeiſtes erbarmungslos zurückgeworfen. Hier iſt der
Menſch buchſtäblich nach jeder Richtung und auf allen Lebensgebieten aus
den naturgemäßen lebendigen Zuſammenhängen herausgeriſſen und damit ent⸗
wurzelt. Zwiſchen den Menſchen und den warmen lebenſpendenden Heimat⸗
boden ſchiebt ſich eine beide voneinander iſolierende Aſphaltdecke. Aber der
Ausdruck Aſphalt bedeutet hier noch mehr als dieſe Iſolierſchicht. Der
Aſphaltgeiſt konſtruiert ja auch jene den Menſchen als Behauſung dienen⸗
den geometriſch regelmäßigen Maſſen aus Beton und Eiſen, die in Form
von Würfeln, Pyramiden uſw. beſonders in den nordamerikaniſchen Rieſen⸗
ſtädten ihre höchſte Ausbildung erhielten. Gigantiſch und geſpenſterhaft aus
dem Aſphaltboden ragend, wirken auch ſie als Iſolatoren, trennen ſie den
Geistige Verwurzelung und Entwurzelung 825
Menſchen nun auch vom Himmelslicht des Tages, von dem lebensvollen An-
blick der phantaſtiſchen Wolkenburgen, von dem demutvollen Sichverſenken
des Geiſtes in die grenzenloſe Sternenpracht. Ein kaltes, künſtliches Licht, das
die auch tagsüber dunklen Häuſerſchächte erleuchtet, triumphiert über den
Wechſel von Tag und Nacht, Sommer und Winter.
Aber auch die Formen der Arbeitsgeſtaltung ſpiegeln dieſe neue künſtliche
Amwelt, ſtehen jenſeits einer naturverwurzelten lebendigen Rhythmik. Hier
übt der monotone Gleichtakt der Maſchinen die Befehlsgewalt auch über die
Werke von Menſchenhand aus. Hier bringt der konſtruktive Aſphaltgeiſt die
Maſſen in Form, regiert die Zahl als Magier der Zeit. And dieſe Aber⸗
ordnung der Quantität über die Qualität, der ſchon die Konzentration von
Menſchenmaſſen in Städten als ſolche den Boden bereitet, bleibt auch vor
der ganzen geiſtig⸗ſeeliſchen Haltung des Großſtadtmenſchen nicht ſtehen.
Mehr und mehr bildet fic), von der gleichförmigen Amwelt unaufhörlich ge-
fördert, ein uniformer Maſſengeiſt heraus, der je nach den Amſtänden immer
neue Ausdrucksformen verwirklicht. An Stelle des Blutes, der eigentlichen
Lebenswerte, erſcheint das Gelddenken als der abſolute Maßſtab, der auch den
Sinn und Wert der Menſchen durch die Mittel der Beherrſchung des Maſſen⸗
geiſtes beſtimmt.
eißt es aber nicht andererſeits: Stadtluft macht frei!? Wer wollte die
Berechtigung dieſes Sehnſuchtsrufes einer leibeigen gewordenen Bauernſchaft
leugnen? And wer wollte leugnen, daß die aus Burg, Kloſter, Markt uſw.
als Keimzellen lebendig erwachſenen mittelalterlichen Städte in ihrer Wald-
architektur, im Gemeinſchaftsgeiſt ihres zünftigen Lebens, in ihrer ganzen
religiös durchſeelten geiſtigen Betriebſamkeit der Hort kultureller Entfaltung
wurden, daß in ihnen der Menſch erſt wahrhaft zu feiner ſchöpferiſchen Grei-
heit erwachte? Aber die ſtetige Steigerung des künſtlich konſtruktiven Gepräges
der neuen, von der Natur ſich immer mehr abſchließenden Amwelt, die wach⸗
ſende Konzentration von Menſchenmaſſen in ihr — beides insbeſondere ſeit
dem großen Aufſchwung der Naturwiſſenſchaften und Technik — wandelte
den einftigen lebendigen Organismus der Stadt mehr und mehr in einen un-
geheuer komplizierten Mechanismus. Dieſer Mechanismus erſetzte mehr und
mehr auch die einſtige Weſenstotalität der Perſönlichkeit, die in ihrem glied.
haften Wirken zugleich die Idee des ſtädtiſchen Lebensganzen verkörperte,
durch immer mechaniſcher und bruchſtückhafter werdende Teilfunktionen. Nicht
nur die Maſchinen, ſondern eben auch der Menſch ſelbſt wurde in feiner Tä-
tigkeit immer mehr mechaniſiertes Bruchſtück eines ungeheuren Maſſenappa—
rates der Daſeinsfürſorge, fremd feinem eigenen, lebendig quellenden Weſens⸗
grunde. Ein Sklave eben derſelben künſtlichen Zuſtände, welche die an keine
Ehrfurcht vor der lebendigen Weltordnung mehr gebundene Freiheit ſeines
Geiſtes geſchaffen hat.
Freiheit des Geiſtes! Welch ungeheuer verführeriſches Wort gerade für
den werdenden Menſchen, der aus dem Dunklen in das Helle ſtrebt. And doch
kann die Befolgung dieſer Parole das Leben in die allertiefſte Knechtſchaft
führen. Aber wie geht es zu, daß Geiſtesfreiheit einmal als eine hohe, ja, die
höchſte Errungenſchaft des Menſchengeſchlechts geprieſen wird, und daß zum
anderen der befreite, aller Feſſeln ledige Geiſt den Antergang der Völker und
ihrer Kulturen herbeiführt? Die Auflöſung dieſes ſcheinbaren Widerſpruches
zeigt uns das Bewußtſein, daß wir als Einzelmenſchen gleichſam Bürger
Agrarpolitik Heft 12, Bg. 2
826 Paul Krannhals
zweier Welten find: der natürlichen und der fittliden Welt. Als Bürger der
natürlichen Welt heißen wir Individuen und ſtreben in dem Willen zur
Selbſtbehauptung nach möglichſter Freiheit von der Beherrſchung durch andere
Menſchen oder durch ſonſtige Naturgewalten, nach der größtmöglichen An⸗
abhängigkeit unſerer Exiſtenz. Auf dieſem Wege, den der Wille zur Macht
kennzeichnet, liegt auch die Beherrſchung der Natur durch Wiſſenſchaft und
Technik. Auf dieſem Wege liegt aber auch diejenige politiſche und wirtſchaft⸗
liche Geiſteshaltung, die in den Schlagworten: Individualismus, Liberalis⸗
mus, Marxismus heute jedem bekannt iſt. Auf dieſem Wege liegt ſchließlich
auch die ſelbſtherrliche Gebärde des Menſchengeiſtes, der ſich für völlig ſelb⸗
ſtändig, für abſolut erklärt.
In dieſer Verſelbſtändigung entwurzelt ſich aber der Menſchengeiſt ſelbſt
und wendet ſich notwendig gegen das Leben, dem er entſtammt. Das Weſen
dieſer Selbſtentwurzelung des Menſchengeiſtes können wir aber nur dann von
Grund aus verſtehen, wenn wir uns zugleich bewußt ſind, daß der Einzel⸗
menſch auch Bürger der ſittlichen Welt iſt. Auch hier, in der ſittlichen Welt,
herrſcht die Freiheit des Geiſtes. Nur weiſt hier die Haltung des Geiſtes in
die entgegengeſetzte Richtung. Die ſittliche Freiheit fordert nicht die Los⸗
löſung des Individuums von den anderen Individuen und von der ſonſtigen
Natur, ſondern gerade die freiwillige Bindung des Einzelmenſchen an ein
Höheres, ihm übergeordnetes Lebensganze, wie es vor allem die Gemeinſchaft
der Volksgenoſſen, das eigene Volk, zum Ausdruck bringt. Hier offenbart ſich
die Geiſtesfreiheit in der perſönlichen Selbſtverantwortung ſolcher Bindun⸗
gen. Die ſelbſtverantwortliche, ſittlich freie Perſönlichkeit ordnet ſich nicht des
halb der Gemeinſchaft als ein ihr dienendes Glied unter, weil es ihr irgend-
wie von außen her befohlen wäre, ſondern weil ſie ſich als vernunftbegabtes
Weſen ſelbſt das Geſetz ihres ſittlichen Handelns gibt und ſich nur dem
eigenen Gewiſſen gegenüber verantwortlich fühlt. Die Geiſtesfreiheit der ſitt⸗
lichen Perſönlichkeit folgt alſo der Parole: frei ſein zu etwas, eben zum
Dienſte am Volke. Hingegen folgt die Geiſtesfreiheit, welche nur auf die
Selbſtbehauptung des Individuums gerichtet iſt, der Parole: möglichſte Frei⸗
heit von jeglichen Bindungen, ſei es an die übrigen Individuen oder über⸗
haupt an die lebendige Naturordnung. Denn die Natur ſoll ja gerade vom
freien Geiſt beherrſcht werden.
Auch die Geiſtesfreiheit der ſittlichen Perſönlichkeit wird oft in der Vee
herrſchung der Natur geſehen. Aber dieſe Naturbeherrſchung bezieht ſich nur
auf die uneingeſchränkte, die Notwendigkeit ſittlicher Bindungen leugnende
Selbſtbehauptung des Individuums. Sie iſt nicht Wille zur Macht, ſondern
Wille zum Dienſt. Ja, in der Bejahung der überindividuellen Bindungen
durch die ſelbſtverantwortliche ſittliche Perſönlichkeit wird zugleich der über⸗
individuelle Lebensſinn, der Geiſt der lebendigen Naturordnung bejaht. Dieſe
Naturbejahung ſteht durchaus im Gegenſatz zu jener anderen Art Nature
bejahung, welche der entwurzelte Geiſt des Nur⸗Individuums als fein „Na⸗
turrecht“ predigt. Denn hier geht die Naturbejahung nicht auf das Weſen
der allumfaſſenden, lebendigen Weltordnung, ſondern ſie löſt das einzelne In⸗
dividuum aus den lebendigen Zuſammenhängen heraus, in die es gliedhaft
eingeordnet iſt. In dieſer Herauslöſung des Individuums aus der Gemein⸗
ſchaft offenbart ſich eben die ſelbſtherrliche Gebärde des entwurzelten Geiſtes.
Er will es nicht anerkennen, daß die überindividuelle Weſenheit der Gemein⸗
Geistige Verwurzelung und Entwurzelung 827
fchaft Schon vor dem Individuum, deſſen Anwalt er ift, lebendig wirkſam war,
daß das Individuum in die Gemeinſchaft gliedhaft eingeboren iſt, ihr aber
nicht als ſelbſtändiges Weſen gegenüberſteht. Dieſe entwurzelte Haltung des
fic) verſelbſtändigenden Menſchengeiſtes führt fo mit innerer Notwendigkeit
zur Atomiſierung des überindividuellen Lebensganzen, das wir Volksgemein⸗
ſchaft nennen. Denn wenn wir es nur mit verſelbſtändigten Individuen zu
tun haben, die kein anderes Lebensrecht als das Recht der individuellen Selbſt⸗
behauptung anerkennen, fo kann vom Volk als einem überindividuellen Le⸗
bensganzen nicht mehr die Rede ſein.
Die Bindungen, welche von der Geiſtesfreiheit der ſelbſtverantwortlichen,
fittlichen Perſönlichkeit anerkannt werden, find — wie ſchon angedeutet —
gerade ein Ausdruck der lebendigen Naturordnung, der in ihr verwirklichten
überindividuellen Lebenseinheiten, beiſpielsweiſe der Familie, der Sippe, des
Stammes, des Volkes, der Raffe. Ja, wir können die natürliche, lebendige
Weltordnung inſofern auch als eine ſittliche Weltordnung bezeichnen, als ſie
in ihrem Bauplane wie auch in ihren Wirkungsformen die Höherwertigkeit
des überindividuellen Lebens gegenüber der Exiſtenz des Individuums aus⸗
prägt. Eine ſolche überindividuelle Gerichtetheit des planmäßig und ziel⸗
ſtrebig wirkenden Lebens ſehen wir in der Tat überall als Ausdruck der
lebendigen Naturordnung in Erſcheinung treten. Der Natur kommt es nie⸗
mals a die Exiſtenz des einzelnen Individuums an, fondern immer nur
auf die Erhaltung und Entfaltung der überindividuellen Lebenseinheiten, ja,
ganz allgemein, der Idee des Lebens überhaupt. Die Natur ſtreut ſcheinbar
verſchwenderiſch Millionen und aber Millionen individueller Keime aus, damit
einige wenige von ihnen ihre Beſtimmung, der Arterhaltung zu dienen, trotz
aller nur irgend möglichen Hinderniſſe erfüllen können. Sie „rechnet“ alſo
damit, daß viele Individuen zugrunde gehen müſſen. Ihr kommt es eben
nicht auf die Maſſe an, ſondern auf die Qualität in der Maſſe, auf die Le⸗
benskraft, die im Daſeinskampfe obſiegt, die allein die Führung und Fort⸗
führung der Art verbürgt. Die Natur verfährt alſo ariſtokratiſch und nicht
demokratiſch. Sie kennt nicht den Wohlfahrtsſtaat, der auch das Kranke groß⸗
züchtet. Ihr liegt nichts am „größten Glück der größten Zahl“, ſondern letzten
Endes einzig an der Entfaltung der Idee des Lebens überhaupt zu ihren
höchſten Möglichkeiten. Dieſem Zielſinne werden, wenn es ſein muß, auch
ganze Arten geopfert.
Wir müſſen das Leben, trotz der ungeheueren Mannigfaltigkeit ſeiner
Arten, die ſich gegenſeitig im Gleichgewicht halten, als ein Ganzes, als eine
Einheit anſehen. Aus dieſem Erlebnis des Allebens heraus erfaſſen wir
die ganze Welt als einen lebendigen Organismus, der die Idee des Lebens
verkörpert. Im Bewußtfein dieſer Einheit des Lebens werden wir uns gue
gleich der Gliedſtellung alles deſſen bewußt, was — wie die Arten, Gattun-
gen, Völker, Familien, Individuen — dem Stufenreich des Individuellen
angehören. Denn vom Alleben aus geſehen ſind auch die unterſchiedlichen,
natürlichen Arten Glieder des Organismus, der die allumfaſſende Idee des
Lebens Überhaupt verkörpert. Die lebendige Weltordnung ijt ein Stufen⸗
reich immer umfaſſendererer Lebenseinheiten, angefangen vom einzelligen
Lebeweſen, wie es die Amöbe darſtellt, bis zum Alleben. Die Lebensformen,
welche auf einer niederen Stufe als in fic) geſchloſſene Lebensganze ere
ſcheinen, wie etwa die Einzeller, offenbaren auf einer umfaſſenderen Lebens
9° 3
828 Paul Krannhals
ftufe, wie etwa in der Art als einheitliches Lebeweſen, ihre Gliedſtellung.
So iſt jedes Individuum ein Glied ſeiner eigenen Art als eines Groß⸗
lebeweſens. So verlieren die Zellindividuen als Glieder mehrzelliger Lebe⸗
weſen jene Selbſtändigkeit, welche ſie als einzellige Lebeweſen beſaßen. So
offenbaren der Wald, die Wieſe, die Heide, die Kleinlebewelt des Dorf⸗
teiches uſw. Lebensgemeinſchaften verſchiedener Arten, die nur als Glieder
in ſolcher Lebensgemeinſchaft exiſtenzfähig ſind. And ebenſo iſt es auch im
menſchlichen Leben beſtellt, erſcheint das einzelne Individuum als Glied immer
umfaſſenderer Lebenseinheiten, wie der Familie, der Sippe, des Stammes,
des Volkes, der Raſſe.
Dieſe überindividuelle Gerichtetheit, welche uns die lebendige Weltord⸗
nung offenbart, dieſe Höherwertigkeit der überindividuellen Lebenseinheiten
gegenüber den Individuen als ihren Gliedern, dieſe ganze natürliche Hierarchie
wird nun, wie geſagt, von der ſittlichen Geiſtesfreiheit der ſelbſtverantwort⸗
lichen Perſönlichkeit bedingungslos anerkannt. Ja, wir ſehen den Inhalt
unſerer ſittlichen Verpflichtungen als Einzelmenſchen gerade in der Pflege
und Erhaltung dieſer natürlichen Lebensordnung, dieſes Weltenplanes. Da⸗
mit bejahen wir die natürliche Weltordnung zugleich als eine ſittliche.
Damit offenbaren wir, daß der ſchöpferiſche Geiſt, der ſich in der planmäßigen
und zielſtrebigen lebendigen Weltordnung verkörpert, dasſelbe bekundet, das⸗
ſelbe wirkt, was unſer eigener Geiſt als vernünftig, als ſittlich bezeichnet.
Damit erkennen wir an, daß unſer Geiſt im Geiſte der lebendigen Welt⸗
ordnung wurzelt, ja, daß er nur dann ſittlich handelt, wenn er — bewußt
oder unbewußt — aus dieſer Verwurzelung im ſchöpferiſchen Weltgeiſte
heraus in die Welt zurückwirkt. Damit bejahen wir „das Vernünftige, wo⸗
raus die Natur beſteht und wonach ſie handelt“ (Goethe), damit erkennen
wir aber auch an, daß unſer eigener Geiſt in feiner ſelbſtherrlichen, ſich ab⸗
ſondernden Haltung eine Richtung einſchlägt, welche dem Weſen der plan⸗
mäßigen und zielſtrebigen lebendigen Weltordnung widerſpricht. And ſo wird
es uns zum innerſten Erlebnis, warum der entwurzelte Geiſt, warum das
entwurzelte mechaniſche Denken zum Verfall der Kulturen führen muß.
Alle Kultur muß ja notwendig eine Grundlage, einen feſten Boden haben,
auf dem ſie ſich aufbaut, beſſer: aus dem ſie erwächſt, in dem ſie wurzelt.
Der Grund und Boden aller wahrhaften, lebendig gewachſenen Kultur kann
ſchlechterdings nichts anderes ſein als der Geiſt, der ſich in der lebendigen
Weltordnung verkörpert. Denn außer ihm iſt nichts, woraus die Kultur
erwachſen könnte. Dennoch widerſpricht der Menſchengeiſt von Zeit zu Zeit
dem Geiſte der lebendigen Weltordnung. Dennoch ſondert er ſich zeitweilig
von ihm ab und ſucht aus dieſer ſeiner luziferiſchen Haltung heraus — denn
Luzifer iſt der ſich abſondernde Geiſt — die Welt zu beherrſchen. Aber dieſer
Ikarusflug des Menſchengeiſtes gereicht ihm gerade zum Verderben. Vom
Strahl der Weltenſonne getroffen, muß er wieder zu derſelben Erde hinab.
ſtürzen, über die er ſich vermeſſen erheben wollte. So kehrt er ungewollt,
vom Weltengeiſt dazu gezwungen, wieder zum Mutterſchoße zurück. And
allmählich erkennt er in dieſer Berührung mit feinem Urquell wieder feine
wahre Beſtimmung, die ja nur in ſeiner Wiederverwurzelung in Blut und
Heimatboden, im fleiſchgewordenen Geiſte der lebendigen Gott⸗Natur zu
erfüllen vermag.
Geistige Verwurzelung und Entwurzelung 829
Dieſe Wende des entwurzelten Geiſtes, zurück zu feinem Mutterſchoße,
iff auch der lebendige Sinn der „deutſchen Revolution“. Sie ijt der Weg
von der luziferiſchen Haltung des entwurzelten Geiſtes zu ſeiner Wiederein⸗
wurzelung im göttlichen Schöpfergeiſte der lebendigen Weltordnung. And
dieſe Wiederverwurzelung hat für jeden deutſchen Volksgenoſſen zum Ziele
die Wirklichkeitsgeſtalt des zu bildenden Organismus der Volksgemeinſchaft.
Zu dieſem gemeinſamen Dienſt am Lebensganzen des Volkes iff jeder Volks⸗
genoſſe, gemäß ſeinem beſonderen Leiſtungscharakter, berufen. Aber dieſes
gemeinſame Wirken kann nur dann wahrhaft fruchtbar ſein, wenn aus dem
wirkenden Menſchengeiſte der Schöpfergeiſt der lebendigen Weltordnung
ſpricht. Denn das Volk als Organismus fol ja denſelben ſchöpferiſchen Welt⸗
geiſt offenbaren, der in der planmäßigen Organiſation und im zielſtrebigen
Wirken einer jeden natürlichen Lebensform tätig ijt. Auch der geiſtige Bare
plan unſeres eigenen Organismus kündet uns in feiner ungeheueren Rom:
pliziertheit ebenſo eine ſittliche Leiſtungsgemeinſchaft, wie wir fie in der Ge-
ſtaltung unſeres Volkes zum Organismus verwirklichen ſollen. Denn was iſt
das Zuſammenwirken der Milliarden von Zellindividuen unſeres Organis-
mus zur Erhaltung des Lebensganzen, ſeinem lebendigen Sinne, ſeinem inne⸗
ren Ziele nach anderes als der unbewußte Ausdruck desſelben Sittengeſetzes,
das uns als Volksgenoſſen zum gliedhaſten Dienſt an der Volksgemeinſchaft
verpflichtet. So erſcheint unſer eigener Organismus als das Vorbild und
Sinnbild der ſittlichen Aufgabe aller Volksgenoſſen, nämlich der Geſtaltung
des Volkes zum Organismus, des deutſchen Staatsweſens zu der allumfaſſen⸗
den Lebensform der deutſchen Volksgemeinſchaft. And fo iſt ganz allgemein
unſer Sittengeſetz nichts anderes als die bewußt freiwillige Bejahung der
allumfaſſenden Weltgeſetzlichkeit.
Nur der entwurzelte Geiſt trennt in ſeiner eingebildeten Selbſtherrlichkeit
Natur und Geiſt in zwei Welten, die als grundſätzlich weſensverſchieden be-
urteilt werden. Hier liegt im tiefſten Grunde die Wurzel alles Anheils, das
wir uns als Volk felbſt bereiten. In dieſer Trennung von Natur und Geiſt
liegt die Arſache davon, warum wir Deutſchen bisher noch nie zu einer wahr-
haft eigenſtändigen Kultur, zu einem einheitlichen, nur vom eigenen ſchöpferi⸗
ſchen Seelengrunde geprägten Lebensſtil gelangt ſind. Was wir in der nun
abgelaufenen ſogenannten abendländiſchen Kulturepoche an ureigenſten Schöp-
fungen offenbarten, das waren letzten Endes immer nur Bruchſtücke aus einer
großen Konfeſſion, die ſelbſt niemals Wirklichkeit wurde.
Gerade unſer nordiſches Seelentum folgt dem Grunderlebnis der Einheit
von Natur und Geiſt und bedarf ſo der kosmiſchen Verbundenheit auf
allen Kulturgebieten. nicht zuletzt auch im Charakter feiner Religiofität.
Denn die nordiſche Religioſität ſtrebt nach der Weltheiligung, nach der Ver⸗
wirklichung des Jenſeits im Diesſeits, in der lebendigen Gott⸗Natur. Die
Bejahung der lebendigen Weltordnung als Gottes Schöpfung im Charakter
einer Kulturgeſtaltung, die von dem Geiſte Zeugnis ablegt, der als lebendige
Weltordnung wirkſam iſt — das iſt die unabweisbare Aufgabe des nordiſchen
Seelentums in der kommenden, von ihm beſtimmten Kulturepoche. Hier grüßt
das Ziel der nunmehr angebahnten Revolution oder Wiederverwurzelung
unſeres Geiſtes. Nur in dieſer Richtung, welche dem nordiſchen Grund—
erlebnis der lebendigen Einheit von Natur und Geiſt Ausdruck gibt, kann
830 Karl Scheda
die große Konfeſſion des nordiſchen Seelentums, die bisher nur in Bruch⸗
ſtücken in Erſcheinung trat, einheitliche Lebensgeſtalt werden.
Wir ſtehen im Zeichen des aufſteigenden Lebens aus Gott, im uralten,
nordiſchen Heilszeichen des Wende- oder Hakenkreuzes. Die nordiſche Ar⸗
religion, die aus ihm ſpricht, verkündet die ewige Wiederkehr im kosmiſchen
Wandel des Werdens und Vergehens, als das große ſittliche Geſetz des
Weltalls, als die Offenbarung Gottes, des Weltgeiſtes, durch ſeinen Sohn
in Zeit und Raum. Wie der Gottesſohn als Träger des Himmelslichtes mit
dem Jahresablauf ſtirbt, um dann in der Winterſonnenwende aus dem „Mut⸗
terhaus“, der Erde, wiedergeboren zu werden, ſo bedarf auch der Menſch des
Mutterhauſes zu feiner kulturellen Wiedergeburt, fo ſteht auch er nach vollen-
detem Lebenslauf in ſeinen Nachkommen zu neuem Leben auf. Das natürliche
Licht und Leben ſind für den nordiſchen Menſchen ein Gleichnis des ewigen,
unſichtbaren Lebenslichtes, des göttlichen Argrundes der Welt, jenſeits von
Zeit und Raum. In dieſer Bejahung, ſowohl der Immanenz wie der
Tranſzendenz des Göttlichen, vollendet ſich erſt das Grunderlebnis des kos⸗
miſch verwurzelten nordiſchen Seelentums, das Erlebnis der inneren Einheit
von Natur und Geiſt, von Sinnenwelt und überſinnlicher Welt. Mögen wir
als deutſches Volk im Zeichen des aufſteigenden Lebens aus Gott zu dieſem
Grunderlebnis der vollendeten Einheit von Natur und Geiſt wieder zurück⸗
finden. Dann ſchließt ſich der geheimnisvolle Schickſalskreis, der die Wieder⸗
geburt des nordiſchen Seelentums aus dem „Mutterhaus“ verkündet.
Karl Scheoͤa:
Zum Gedenken an Guſtav Ruhland“)
Die kürzliche Tagung der „Internationalen Landwirtſchafts⸗
kommiſſion“ veranlaßt uns, auf die Verdienſte Ruhlands um den inter-
nationalen Zuſammenſchluß der Landwirte hinzuweiſen. Als Ruhland auf
Empfehlung Adolf Wagners vom Bund der Landwirte 1894 als volks⸗
wirtſchaftlicher Berater nach Berlin berufen war, fanden feine wirtſchafts⸗
politiſchen Ideen, daß nicht die Überproduktion in Getreide, ſondern die
Gründertätigkeit der internationalen Großbanken mit den Machenſchaften
*) Im Hinblick auf das raſch wachſende Intereſſe an den Arbeiten Ruhlands
teilen wir mit, daß der Verlag „Zeitgeſchichte“ eine Neuherausgabe des völlig
totgeſchwiegenen und vergriffenen „Syſtems der politiſchen Okonomie“ vor-
bereitet. H. R.
Zum Gedenken an Gustav Ruhland 831
der verſchiedenen Spekulanten, alfo der Kapitalismus in Nubh-
lands Sinne, im weſentlichen den Rückgang der Getreidepreiſe bewirkt
habe, allgemeine Zuſtimmung. Auch der „I. Internationale Agrar-
kongreß“ zu Budapeſt im September 1896 ſchloß fic) der Ruhlandſchen
Auffaſſung an. Ruhland wollte die durch die Spekulanten erzeugten
Preisſchwankungen für Getreide, durch die bald die Erzeuger, bald die
Verbraucher ſchwer geſchädigt wurden, durch eine moderne Verkaufs-
organiſation der Landwirte und des ſoliden Handels beſeitigen. Zu dieſem
Zweck errichtete Ruhland im Herbſt 1899 zu Freiburg in der Schweiz,
wohin er als Profeſſor für Nationalökonomie berufen worden war, eine
„Internationale Getreidepreis warte“. Hieraus gingen die
„Internationalen Mitteilungen zur Regulierung der Ge—
treidepreiſe“ hervor, die dann bei der Aberſiedlung Ruhlands nach Berlin
zur Wochenſchrift „Getreidemarkt“ umgewandelt wurden und dann
ſpäter als „Landwirtſchaftliche Marktnachrichten“ als Beilage
der „Illuſtrierten landwirtſchaftlichen Zeitung“ erſchienen. Ruhland gehörte
zu den allererſten, welche die Agrarfrage als ein internationales Pro-
blem erkannten. Er bewirkte die Gründung der „Internationalen
land wirtſchaftlichen Vereinigung für Stand und Bildung
der Getreidepreiſe“ und half weſentlich mit, daß im März 1901 in
Paris von 29 landwirtſchaftlichen Verbänden aus Oſterreich⸗Angarn, Deutich-
land, Dänemark, der Schweiz, Frankreich, Spanien und Portugal die gee
nannte Internationale Vereinigung begründet wurde, die durch ihre verdienſt⸗
volle Tätigkeit erſt die Gründung des „Internationalen Agrarinſti⸗
tuts in Rom“ ermöglicht hat. Ruhland wurde Sekretär für Deutſchland.
Die amtliche italieniſche Denkſchrift hat die großen Verdienſte Ruhlands um
die Begründung des Agrarinſtituts ausdrücklich hervorgehoben. Ruhland
ſchrieb für die genannte Vereinigung 1903 das noch heute wertvolle Buch
„Die Lehre von der Getreidepreisbildung“, das in mehrere
Sprachen überſetzt wurde.
Als Ergebnis feiner dreijährigen Studienreiſe durch die Hauptgetreide—
länder der Welt hatte Ruhland die Erkenntnis mitgebracht, daß es den Land⸗
wirten in allen Erdteilen, wo Freihandel in Grund und Boden beſteht, gleich
ſchlecht gehe. Als hervorragendſter Vertreter der ethiſchen Nationalökonomie
verlangte er die Löſung der uralten Lebensfrage nach der gerechten Ent-
lohnung der Arbeit dur chdie allgemeine Einführung des „gerechten
Preiſes“ für alle Arbeitswerkzeuge und Arbeitsprodukte. Dieſes Ziel ſetzte
voraus Ausſchluß der Mitwirkung des ſpekulativen Privat-
kapitals bei der Preisbildung und öffentlich-rechtliche Organiſation
der Geſellſchaft neben dem Staate unter Beibehaltung des Privat-
eigentums an den Produktionsmitteln in nationale Syndikate,
die die Preiſe auf ſtetiger, mittlerer Linie zu regulieren haben.
Wir find überzeugt, daß die landwirtſchaftlichen Verhältniſſe in allen Kul—
turländern ſich um fo mehr beſſern werden, je mehr Nuhlandſche Ideen ver-
wirklicht werden. Weitblickende Politiker werden auch die zukünftige, große
Gefahr erkennen, daß mit dem Fortſchreiten der induſtriellen Entwicklung in
allen Agrarländern deren Getreideüberſchüſſe von der ſtets wachſenden, nicht
832 Gerhard Kokotkiewicz
Ackerbau treibenden Bevölkerung verzehrt werden und die Getreideausfuhr aus
dieſen Ländern ſich allmählich verringern und ſchließlich ganz aufhören wird.
Was dann aber aus den reinen Induſtrieländern werden ſoll, die ihre Land⸗
wirtſchaft dem kapitaliſtiſchen Großhandel und der Großinduſtrie geopfert haben,
das iſt leicht zu beantworten. Es iſt zweifellos, daß der Hunger die Bevölke⸗
rung jener Länder dazu treiben wird, ihrer kapitaliſtiſchen Staats- und Geſell⸗
ſchaftsordnung, die ſie um das tägliche Brot gebracht hat, alſo um die Grund⸗
lage des ganzen menſchlichen Daſeins, ein blutiges Ende mit Schrecken zu
bereiten.
Gerhard Kokotkiewicz:
Schuloͤnernot — Gläubigernot
I. Verſchuldungs⸗ und Zinsdruck
Acht Jahre nach der Währungsſtabiliſierung haben genügt, um die Ver⸗
ſchuldung der Landwirtſchaft auf einen Betrag von bald 12 Milliarden Reichs⸗
mark anwachſen zu laſſen. Zwar bleibt dieſe Verſchuldung noch hinter der der
Vorkriegszeit zurück (1913 betrug die Verſchuldung etwa 17,5 Milld. M.),
doch muß man bedenken, daß in der Vorkriegszeit der Schuldenſtand das Er⸗
gebnis einer jahrzehnte-, ja jahrhundertelangen Entwicklung war, während
die Anhäufung der 12 Milld. NM. Nachkriegsſchulden ſich auf den kurzen
Zeitraum von acht Jahren zuſammendrängte, denn die Aufwertungsverſchul⸗
dung ſpielt im Rahmen der Geſamtverſchuldung der Landwirtſchaft nur eine
untergeordnete Bedeutung. Es find auch nicht die Zinſen für die Aufwer⸗
tungshypotheken, die den großen Druck auf die Landwirtſchaft ausüben, es
find vielmehr in erſter Linie die Zinſen für die Perſonalkredite und nach⸗
ſtelligen Realkredite, die zu einer Zinsbelaſtung geſührt haben, die z. B. im
Wirtſchaftsjahr 1931/32 mehr als 1 Milld. RM. betrug, d. h. etwa 300 Mill.
RM. mehr als die Zinslaſt, die vor dem Kriege für eine weſentlich höhere
Verſchuldung aufzubringen war. Gigantiſch ſchwollen Verſchuldung und
Zinslaſt der Landwirtſchaft nach der Währungsſtabiliſierung an. Der Kern
dieſer unſeligen Verſchuldung fällt aber bereits unmittelbar in die erſten Mo⸗
nate nach der Währungsſtabiliſierung, denn damals war die Landwirtſchaft
von Betriebsmitteln und Betriebskrediten entblößt. Bereits für die Früh⸗
jahrsbeſtellung 1924 mußten hochverzinsliche Kredite beanſprucht werden, die
größtenteils aus dem Ernteerlös nicht zurückgezahlt werden konnten. Anter
der Parole der Nohertragsſteigerung nahm die Landwirtſchaft in den folgen⸗
den Jahren Milliardenkredite auf zu Zinſen, die die Rentabilität der In-
veſtitionen von vornherein gefährden mußten. Auch Kreditform und Kredit-
Schuldnernot — Gläubigernot 833
bedingungen waren meift für die Betriebsbelange der Landwirtſchaft nicht
zweckentſprechend; die Fälligkeit der kurzfriſtigen Kredite drängte ſich bis 1926
unmittelbar nach Einbringung der Ernte zuſammen und übte — am ſtärkſten
im Jahr 1925 — einen erheblichen Druck auf die Preiſe der landwirtſchaſt—
lichen Erzeugniſſe aus. Vom Jahre 1927 ab wurden — in Anlehnung an
einen Vorſchlag des Verfaſſers — die Fälligkeiten der kurzfriſtigen Agrar⸗
kredite auseinandergezogen und mehr als bisher den Verkaufsterminen der
Landwirtſchaft angepaßt.
Schon allein durch die hohen Zinſen wuchs die Schuldenlaſt ſtark an. Die
Zinſen wurden nämlich, da ſie vielfach nicht einzubringen waren, zum Kapital
geſchlagen. Neue Kredite wurden zur Beſtreitung der Zinſen für früher aufe
genommene Kredite und zur Verluſtdeckung beanſprucht. Da ſich mit Hilfe
der Kredite der Reinertrag meiſt nicht ſteigern ließ, ſetzte bereits 1926 eine
Senkung der Preiſe des landwirtſchaftlichen Bodens, alſo der Beleihungs—
grundlagen, ein. Dennoch aber floſſen immer weitere Kredite in die Land—
wirtſchaft, die zum größten Teil der Deckung von Betriebsverluſten dienten.
Die aufgenommenen Mittel dienten lediglich der Aufrechterhaltung der Be—
triebe, einer Aufrechterhaltung, die aus dem Ertrage der Produktion nicht
möglich war. Das Inſtitut für Konjunkturforſchung hat dargelegt, daß den
während der Jahre 1924 bis 1928 in die Landwirtſchaft gefloſſenen Krediten
in Höhe von 6,8 Milld. RM. eine Sachkapitalbildung von nur 2,4 Milld.
RM. gegenüberſteht. Die Differenz von 4,1 Milld. RM. erklärt ſich zum
größten Teil eben daraus, daß der Kapitalaufnahme Betriebsverluſte gegen-
überſtanden.
Jahrelang zahlte die Landwirtſchaft die Zinſen und Steuern nur mit
Hilfe neuaufgenommener Kredite. Solange dies der Fall war, wurde die
wahre Kriſe der Landwirtſchaft verſchleiert. In dem Augenblick aber, als der
Kreditzufluß an die Landwirtſchaft zum Stocken kam und neue Kredite zur
Verluſtfinanzierung im allgemeinen nicht mehr gegeben wurden, da wurde
das Bild entſchleiert, und die bis dahin ſchleichende Kriſe kam zum offenen
Ausbruch. Die Lage ſpitzte ſich geradezu kataſtrophal zu, als mit dem ſteten
Anwachſen der Zwangsverſteigerungen, und vor allem im Zuſammenhang mit
der Bankenkriſis, eine wahre Gläubigerpanik ausbrach. Die Gläubiger ſuchten
zu retten, was zu retten war. Die Kreditkündigungen überhäuften ſich, mit
dem Erfolg, daß ſich die Agrarkriſe mehr und mehr verbreiterte. Die Kapital-
ausfälle bei den Zwangsverſteigerungen ſetzten auch die Gläubiger durchaus
nicht gefährdeter landwirtſchaftlicher Betriebe in Furcht. Dieſe kündigten die
Kredite; die Landwirte entblößten ſich, um dieſen Rückforderungen nachkommen
zu können, immer mehr des lebenden und toten Inventars. Es kam ſo zu einer
Devaſtierung zahlreicher landwirtſchaftlicher Betriebe. Ein Nad trieb das
andere. Gläubigerverluſte bei den Zwangsverſteigerungen führten zum Kredit—
entzug bei noch geſunden Betrieben, brachten auch dieſe dadurch ſchließlich
zur Zwangsverſteigerung, und durch dieſes Angebot an Zwangsverſteigerungen
wurde der Druck am Gütermarkt immer ſtärker; die Grundſtückspreiſe ſanken
immer mehr, und in ſtändig wachſendem Amfang wurden Forderungen der
Gläubiger in die Ausfallzone gedrängt. Aus der Schuldnernot war mit einem
Schlage eine ausgeſprochene Gläubigernot geworden. Schutzmaßnahmen für
834 Gerhard Kokotkiewicz
die Landwirtſchaft (vor allem Einführung des Vollſtreckungsſchutzes) ver⸗
hüteten zwar einen weiteren ſtarken Druck auf die Güterpreiſe. Die Gläubiger-
rechte wurden aber ſehr eingeengt, und praktiſch beſteht für die Gläubiger
nunmehr keine Möglichkeit mehr, Kredite aus der Landwirtſchaft zu ziehen.
In überaus zahlreichen Fällen werden vielmehr die Gläubiger einer Herab—
ſetzung ihrer Kapital- und Zinsforderungen zuſtimmen müſſen, ohne die
Möglichkeit zu haben, die ausgeliehenen Kredite in abſehbarer Zeit zurück—
zuerlangen. a
Die Zinslaſt der Landwirtſchaft ſtand jahrelang in völligem Mißverhältnis
zu den Verkaufserlöſen der Landwirte. Während vor dem Kriege nicht ganz
7% der Verkaufserlöſe durch die Zinſen verſchlungen wurden, war dieſer
Anteil bereits vom Wirtſchaftsjahr 1925/26 an weſentlich höher als in der
Vorkriegszeit. Eine beſondere Zuſpitzung erfuhr die Lage im Wirtſchaftsjahr
1931/32, als die Zinslaſt auf mehr als 1 Milld. RM. ſtieg und bald 14%
der Verkaufserlöſe verſchlang. Seitdem iſt zwar, durch den Rückgang der
Zinsſätze, die Zinslaſt etwas geſunken. Für das Wirtſchaftsjahr 1932/33 kann
man die Zinslaſt der Landwirtſchaft auf 590 Mill. RM. ſchätzen. Da man
aber die Verkaufserlöſe nur mit 6,5 Milld. anſetzen kann, ergibt ſich auch für
dieſes Wirtſchaftsjahr noch ein Anteil der Zinslaſt an den Verkaufserlöſen
von mehr als 9 .
Tabelle 1
Verkaufserlöſe und Zinsbelaſtung der Landwirtſchaft
Verkaufserlös , Zinslaſt
gl
Zeit der Landwirtſchaft Sin ty in v. H. des Vers
(Mill. RM.) (Mill. RM.) kaufserlöſes
Wirtſchaftsjahr 1924/25. 7 590 425 5,60
Wirtſchaftsjahr 1925/2 8 130 610 7,50
Wirtſchaftsjahr 1926/27 ⸗œm1m 8 590 625 7,28
Wirtſchaftsjahr 1927/28 . . . .. 9 440 785 8,32
Wirtfhaftsjabr 1928/9 10 300 920 8,93
Wirtſchaftsjahr 1929/30 . . . .. 9 750 950 9,74
Wirtſchaftsjahr 1930/31 . . . .. 8 890 950 10,69.
Wirtſchaftsjahr 1931/32 . ...., 7 270 1005 13,82
Wirtſchaftsjahr 1932/33 . . . .. 6500 590 9,08
i 10 750 750 6,98
Zwar hätte, wenn die durch Notverordnung vom 27. September 1932
eingeführten Schuldenregelungsverfahren ſchneller in Fluß gekommen wären,
noch in dieſem Jahr mit einer nennenswerten Senkung von Verſchuldung und
Zinslaſt gerechnet werden können. Das Schuldenregelungsverfahren iſt jedoch
jo umſtändlich, daß fein praktiſcher Erfolg bisher ganz gering iſt. Hier iſt,
ebenſo wie bei der Oſthilfe, vor allem das Tempo zu beklagen. So manche
Hilfsmaßnahmen für die Landwirtſchaft ſind praktiſch verpufft, großenteils
aus dem Grunde, weil das Tempo der Durchführung ſo langſam war, daß bei
Schuldnernot — Gläubigernot 835
dem ſtarken Preisverfall der landwirtſchaftlichen Erzeugniſſe nach glücklich
beendeter, ziemlich bürokratiſch durchgeführter Entſchuldung eines Betriebes
ſich bereits die Notwendigkeit einer neuen Entſchuldung ergab. Bei Bei⸗
behaltung der gegenwärtigen Maßnahmen iſt auch kaum damit zu rechnen,
daß in abſehbarer Zeit mit Hilfe des Schuldenregelungsverfahrens die Ver⸗
ſchuldung und Zinslaſt der Landwirtſchaft erheblich geſenkt wird. Dabei
herrſcht doch allgemein Klarheit darüber, daß unter den heutigen Lebens⸗
bedingungen dieſe Zinslaſt für die Landwirtſchaft einfach untragbar iſt. Eine
Entlaſtung der Landwirtſchaft von dieſer Zinslaſt iſt das Gebot der Stunde.
Es wird nun im allgemeinen ſo dargelegt, als ob eine Zinsſenkung für die
Landwirtſchaft ein einſeitiges Geſchenk für die Landwirte und eine einſeitige
Maßnahme gegen die Gläubiger ſei. Dies iſt jedoch ein Irrtum, begründet
in der Weiterführung einer althergebrachten, m. E. aber falſchen Theorie.
Jahrelang haben die Gläubiger aus der Landwirtſchaft Zinſen gezogen, die
für die Landwirtſchaft untragbar waren. Die Landwirtſchaft hat dieſe Zinſen
zwar bezahlt, doch haben die Gläubiger den Empfang dieſer Zinszahlungen
mit einer dauernden Verſchlechterung der Sicherheit ihrer Kredite erkaufen
müſſen. Wäre nämlich von Anſang an die Zinslaſt für die Agrarkredite in
einem angemeſſenen Verhältnis zur Leiſtungsfähigkeit der landwirtſchaftlichen
Betriebe geblieben, fo wären für die Gläubiger niemals die Verluſte ein-
getreten, die tatſächlich erfolgt ſind und noch bevorſtehen. Heute wirken
die Höhe des Zinſes und die Sicherheit der ausgeliehenen
Darlehen einander entgegen. Je höher die Zinſen, deſto
geringer die Sicherheit der ausgeliehenen Geldkapitalien,
und umgekehrt, je niedriger die Zins belaſtung, deſto größer
die Sicherheit. Bei Beibehaltung der gegenwärtigen, für die Landwirt⸗
ſchaft untragbaren Zinſen wird ein Heer von Gläubigern über kurz oder lang
erneut ſeines Kapitals völlig verluſtig werden. In vielen Fällen hätten ſich
ſolche Kapitalausfälle bereits in den Vorjahren vermeiden laſſen und wären
auch noch in der Gegenwart vermeidbar, wenn die Aufwendungen der Land-
wirte, vor allem für Tiere, Steuern und Sozialabgaben, in ein tragbares
Verhältnis zu ihren Einnahmen gebracht würden.
Es wird von den Gegnern einer Zinsſenkung im allgemeinen angeführt,
daß eine Zinsſenkung die Kapitalbildung hemme. Gewiß würde eine Zins-
fenfung das Renteneinkommen in Deutſchland ſchmälern. Nun gibt es
aber in Deutſchland nur eine verhältnismäßig dünne Bevölkerungsſchicht, die
ausſchließlich von Renteneinkommen lebt. Keineswegs aber würde
eine Zinsſenkung die Kapitalbildung hemmen, im Gegenteil,
ſie dürfte ſie energiſch fördern. Die Kapitalbildung kann nämlich durch einen
hohen Zinsfuß dann garnicht gefördert werden, wenn es gerade der hohe Zins
iſt, der einer Entfaltung der Produktion entgegenſteht und daher zahlreichen
Volksgenoſſen überhaupt jede Möglichkeit nimmt, in den Produktionsprozeß
eingeſchaltet zu werden und ſparen zu können; nicht eine Zinsherabſetzung iſt
es, die die Darlehensgeber gefährdet, ſondern es iſt gerade im Gegenteil eine
Beibehaltung der überhöhten und für faſt alle Wirtſchaftszweige — beſtimmt
aber für die Landwirtſchaft — untragbaren Zinsſätze, die die Sicherheit der
ausgeliehenen Kapitalien gefährdet. Schuldnernot ijt Gläubigernot, Schuldner-
wohl dagegen iſt auch Gläubigerwohl.
836 Gerhard Kokotkiewicz
II. Die Zwangsverſteigerungslawine
In der zweiten Hälfte der achtziger und in der erſten Hälfte der neunziger
Jahre des vorigen Jahrhunderts waren die Zwangsverſteigerungen noch ver—
hältnismäßig hoch. In den folgenden Jahren gingen ſie dann, unter Schwan⸗
kungen, erheblich zurück. In Preußen war die zwangsverſteigerte Fläche in
den letzten Jahren vor dem Krieg etwa um 61 000 ha oder um 75 % geringer
als die Fläche, die Anfang der neunziger Jahre zur Zwangsverſteigerung
gekommen war. Der ſtändige Rückgang der Zwangsverſteigerungen landwirt⸗
ſchaftlicher Grundſtücke vor dem Krieg hängt damit zuſammen, daß ſeit den
neunziger Jahren die Landwirtſchaft tatſächlich, wenigſtens im Durchſchnitt
mehrerer Jahre, Aberſchüſſe erzielte und über die Herauswirtſchaftung des
Zinſes hinaus den Landwirten noch eine nicht unbeträchtliche Rente blieb.
Vor dem Krieg hatten die Bodenpreife — im Gegenſatz zu der Zeit nach der
Währungsſtabiliſierung — ſteigende Tendenz. Die Nachfrage nach Land-
gütern war erheblich. Zuſammenballungen von Zwangsverſteigerungen in
beſtimmten Landesteilen, wie ſie jetzt an der Tagesordnung ſind, fanden wir
in der Vorkriegszeit ſeit den neunziger Jahren nicht mehr. Ein irgendwie
nennenswerter Druck auf die Güterpreiſe durch ein hohes Angebot aus
Zwangsverſteigerungen lag ebenfalls nicht mehr vor. Die Zwangsverſteige—
rungen in der Vorkriegszeit erfolgten zum großen Teil aus Gründen der
Erbauseinanderſetzung; fie waren ferner der Ausdruck eines normalen Reimi-
gungsprozeſſes. Sie brachten vielfach tatſächlich den Abergang zum beſſeren
Wirt, ganz im Gegenſatz zur Gegenwart, wo bei den Zwangsverſteigerungen
vielfach kein Abergang zum beſſeren Wirt, ſondern lediglich ein Abergang
zum Inhaber der erſten oder zweiten Hypothek ſtattfindet.
Tabelle 2
Durchgeführte Zwangsverſteigerungen land. und forſtwirtſchaftlicher
Grundſtücke in Preußen
Im Durchſchnitt der Jahre
Eee
1
1896 bis 190o0o . 54258
r ar 5 39 381
1906 bis 1910 . . . ... 24 762
TOLLE DIE 1810 u 3.0 here> a 19 180
IMG NE ISIN. 3.0.5.8 4 7647
Während des Krieges und der Inflation waren die Zwangsverſteigerungen
landwirtſchaftlicher Grundſtücke ganz gering. Auch bis zum Jahr 1926 hielten
ſie ſich noch in mäßigen Grenzen. Von da an jedoch ſind ſie von Jahr zu Jahr
ſprunghaft geſtiegen, bis 1931 der Höhepunkt erreicht wurde. Es wurden im
Jahr 1931 in Deutſchland rd. 153 000 ha landwirtſchaftlicher Fläche zwangs-
verſteigert, das find etwa fünfmal fo viel wie im Durchſchnitt der letzten 7 Vor⸗
kriegsjahre. 1932 iſt dann zwar unter dem Einfluß des Vollſtreckungsſchutzes
Schuldnernot —- Gläubigernot 837
Die zwangsverſteigerte Fläche etwas zurückgegangen. Die Zahl der zwangs⸗
verſteigerten Grundſtücke dagegen hat weiter ſehr erheblich zugenommen. Aus
dieſer Tatſache geht eine Verſchiebung der Zwangsverſteigerungen vom
Großbeſitz zum klein- und mittelbäuerlichen Betrieb hervor.
Tabelle 3
Durchgeführte Zwangsverſteigerungen land- und forſtwirtſchaftlicher
Grundſtücke im Reich
Kalenderjahr Fläche (ha)
ge Mee Hes eS OE RS ‘ 36 713
1928: <i. te Sr Se SE Aa te 2 292 48 376
19292 xz: ce h S 3173 91 153
1930) 6, ͤ 2. 02.08 3G ES 4 350 128 707
I ͤ 0 % 5 061 152 648
T9324) a eee aS 6121 141 325
1) Dorläufg
Wenn man z. B. die im dritten Vierteljahr 1932 durchgeführten Swangs-
verſteigerungen denen des gleichen Zeitraums des Jahres 1931 gegenüberſetzt,
Jo ergibt fic) folgendes Bild der Zu- und Abnahme der Zwangsverſteigerungen:
Größenklaſſen Anzahl Fläche
Bue r ee ee a : + 28,1 v. H.
von 2 bis unn u . ie + 38,3 v. H.
von 20 bis unter 50 h + 1,2 v. H.
von 50 bis unter 100 ha — 10,0 v. H.
von 100 und mehr aaa : — 495 v. H.
insgeſamt + 14,2 v. H. — 35,6 v. H.
Die Gründe dieſes Anwachſens der Zwangsverſteigerungen find oben dar-
gelegt worden. Hier foll lediglich noch betont werden, daß nicht nur die durch“
geführten Zwangsverſteigerungen den verheerenden Druck auf die Landwirt⸗
ſchaft ausüben, ſondern daß dies ſchon durch die Einleitung des Zwangsver⸗
ſteigerungsverfahrens geſchieht. Die Einleitungen von Zwangsverſteigerungs—
verfahren betragen ein Vielfaches der durchgeführten Verfahren. So wurden,
um nur ein Beiſpiel zu geben, im Jahre 1931 etwa ſechsmal fo viel Zwangs⸗
verſteigerungen eingeleitet wie durchgeführt und die Fläche, über die ein
Zwangsverſteigerungsverfahren eingeleitet wurde, war dreimal ſo groß wie
die Fläche, über die eine Zwangsverſteigerung durchgeführt worden iſt.
Nun iſt der Druck, der aus den Zwangsverſteigerungen auf die deutſche
Landwirtſchaft ausgeht, in den einzelnen Landesteilen ſehr verſchieden. Den
größten Anteil an der Geſamtfläche haben die Zwangsverſteigerungen in
Oſtdeutſchland, und hier wiederum finden wir aus den allzu bekannten und
hier nicht näher darzulegenden Gründen die größte Ausdehnung der Sub—
838 Gerhard Kokotklewicz
baftationen bei den Großbetrieben. Während in ganz Preußen in den Jahren
1925 bis 1931 17°/,, der Geſamtfläche zwangsverſteigert wurden, waren es
in der Größenklaſſe von 100 bis 200 ha 41%, in den unteren Betriebs⸗
größenklaſſen (bis zu 50 ha), dagegen höchſtens 8°/,., bei den bäuerlichen
Betrieben von 5 bis 20 ha fogar nur 5% o. Die Ausdehnung der Zwangs⸗
verſteigerungen bei den Großbetrieben iſt um ſo bemerkenswerter, als gerade
in den oberen Betriebsgrößenklaſſen laufend ganze Betriebe oder Teile der-
elben für Siedlungszwecke nutzbar gemacht wurden, alſo einem erheblichen
ngebot in dieſer Größenklaſſe eine immerhin nennenswerte Nachfrage gegen⸗
überſtand. Zum überwiegenden Teil (nämlich zu 85 %) iſt nämlich das Sied⸗
lungsland aus dem Beſitzſtand der großen Güter mit mehr als 100 ha Fläche
erworben oder bereitgeſtellt worden. In einzelnen Landesteilen, wie z. B. in
Pommern oder Oſtpreußen, waren es ſogar mehr als 97 v. H. :
Schon ſeit Jahren fielen bei den Zwangsverſteigerungen landwirtſchaft⸗
licher Grundſtücke die Forderungen eines Teils der Perfonalkreditgläubiger
aus. Etwa ſeit Mitte 1930 wurde der Druck am Markt der landwirtſchaft⸗
lichen Grundſtücke aber fo ſtark, daß auch die Hypothekarkredite in die Ausfall⸗
zone gerieten. Es zeigte ſich jetzt bereits mit aller Deutlichkeit, welche ſchweren
Fehler in der Beleihungspolitik der vergangenen Jahre gemacht worden
waren. Man hatte die Rente, die die landwirtſchaftlichen Betriebe abzu⸗
werfen in der Lage waren, bei den Beleihungen ganz außer acht gelaſſen oder
falſch eingeſchätzt. Man glaubte an ewige Wertſteigerung der Güter und ſah
nicht, daß unter der hohen Zins⸗ und Steuerlaſt die Landwirtſchaft zwangs⸗
läufig zuſammenbrechen mußte. Auch als bereits vereinzelt erhebliche
Hypothekenausfälle zu verzeichnen waren, wurden der Landwirtſchaft noch
neue Kredite gewährt, die wiederum größtenteils lediglich den Zweck hatten,
durch Entzug anderweitiger Kredite entſtandene Lücken aufzufüllen; es han⸗
delte ſich alſo um die Gewährung neuer Kredite, die die wahre Lage der
Landwirtſchaft weiter verſchleierten, den Zuſammenbruch aber nur mit um ſo
größerer Wucht heraufbeſchworen.
Die Meiſtgebote, auf die die Zuſchläge bei den Zwangsverſteigerungen
erteilt wurden, lagen bereits 1930 unter der hypothekariſchen Belaſtung der
Grundſtücke, ſo daß neben dem Ausfall der geſamten Perſonalkreditgläubiger
auch ſchon Verluſte der Hypothekenbeſitzer eintraten. 1931 find im Reichs-
durchſchnitt nur noch 60% der Hypothekenbelaſtung als Erſteigerungspreis
herausgekommen. In einzelnen Landesteilen, ſo z. B. in Brandenburg, waren
die Ergebniſſe noch ungünſtiger. Hier find noch nicht einmal 50% der
Hypothekenlaſt als Meiſtgebot erzielt worden. Teilweiſe wurde ſogar noch
nicht einmal bei 40% der Zuſchlag erteilt. Es trifſt nun keineswegs zu, wie
dies vielfach dargeſtellt wird, daß ſich dieſe ungünſtigen Zwangsverſteige⸗
rungserlöſe nur bei den Großbetrieben erzielen ließen oder heute noch erzielen
laſſen. Tatſache iſt vielmehr, daß gerade auch bei den bäuerlichen Betrieben
die Meiſtgebote bei den Zwangsverſteigerungen weit unter der hypothekari⸗
ſchen Belaſtung der Betriebe liegen. Die Gläubigerverluſte erſtrecken ſich alſo
ſowohl auf den Großgrundbeſitz als auf den bäuerlichen Beſitz. Wenn wir
nur allein das letzte Vierteljahr 1932 ins Auge faſſen, ſo erſehen wir, daß in
der Betriebsgrößenklaſſe von 2 bis 5 ha etwa 65 % des Hypothekenkapitals,
in der Betriebsgrößenklaſſe von 5 bis 20 ha 48% des Hypothekenkapitals
Schuldnernot — Gläubigernot 839
ausgefallen find, daß in den oberen Betriebsgrößenklaſſen dagegen der
Zuſchlag auf ein Gebot erteilt wurde, das nur 40% unter der hypothekariſchen
Belaſtung der Grundftiide lag.
Tabelle 4
Meiſtgebote bei den Zwangsverſteigerungen landwirtſchaftlicher Grundſtücke
in Preußen (in v. H. der hypothekariſchen Velaftung)
Meiſtgebote in v. H. der Belaſtung
Zeit Betriebsgrößenklaſſe (ha) Ins ·
| 2-5 | 5-20 | 20—50 50 100 1100-2001 über 200 geſamt
1. Okt. bis 31. Dezember 1930 | 55,8 55,7 60,6 70,8 54,5 70,1 63,3
1. Januar bis 31. März 1931 | 60,3 50,4 56,2 57,9 60,8 63,5 59,0
1. April bis 30. Juni 1931 .] 57,8 60,3 63,6 60,2 56,3 63,7 61,9
1. Juli bis 30. September 1931 | 62,0 57,8 65,8 58,5 61,9 63,3 62,1
1. Okt. bis 31. Dezember 1931 | 61,8 59,4 61,7 59,0 47,2 63,4 52,6
1. Januar bie 31. März 1932 | 57,3 58,5 61,6 67,3 64,4 68,3 65,0
1. April bis 30. Juni 1932 . 49,4 60,3 61,9 61,3 64,2 68,1 63,4
1. Juli bis 30. September 1932 | 54,0 59,7 56,5 59,1 55,4 57,8 57,4
1. Okt. bis 31. Dezember 1932 | 44,2 52,4 61,4 58,9 63,0 61,2 58,1
Der Vollſtreckungsſchutz hat den Lauf der Zwangsvollſtreckungslawine zwar
etwas gebremſt, keineswegs die Lawine aber aufgehalten. Das zeigt uns die
Statiſtik ganz deutlich. Mit den bisherigen Maßnahmen wird auch das
Zwangsverſteigerungschaos nicht beſeitigt werden. Die tieferen Arſachen des
furchtbaren Anſchwellens dieſer Zwangsverſteigerungslawine find die Vers
ſchuldung und Zinslaſt, und hier muß alſo der Hebel angeſetzt werden, wenn
man die Zwangsverſteigerungswelle zum Abebben bringen will.
Es ſei zum Schluß nur noch erwähnt, daß ſeit der Währungsſtabiliſierung
insgeſamt 12 000 Betriebe unter 2 ha Fläche zwangsverſteigert wurden; von
den bäuerlichen Betrieben der Betriebsgröße 2 bis 5 ha Fläche verloren
4000 Bauern durch die Zwangsverſteigerung ihren Hof. Erſchreckend hoch
find auch die Zahlen bei den Betrieben von 5 bis 20 und 20 bis 50 ha. In
der erſteren Betriebsgrößenklaſſe gingen 5700 Bauern des meiſt ſeit Genera-
tionen vererbten Hofes verluſtig, in der Betriebsgrößenklaſſe von 20 bis
50 ha waren es über 2000 Beſitzer.
Adolf Oftermayer:
Der Irrtum von der „Rentabilität“ des Bauerntums
Walther Darré hat einmal den Satz ausgefprochen *), daß der Bauer nicht
ein Stand wie alle übrigen im Volkskörper ſei, ſondern die Vorausſetzung
und Grundlage völkiſchen Daſeins überhaupt.
Mit dieſem Ausſpruche ift das Tor zur Wiſſenſchaft vom Bauerntum
geöffnet worden und die „Wirtſchaftslehre“ des Landbaus, welche ſich bisnun
mit den Exiſtenzbedingungen des Bauerntums beſchäftigt hat, muß auf eine
neue Grundlage geſtellt werden. Gleichgültig, ob vom „Landwirt“ oder vom
„Bauern“ die Rede iſt, muß Gemeingut werden, daß der Betrieb des Land⸗
baus von der Blut- und Schollenverbundenheit nicht getrennt werden kann.
Da dieſes Axiom des Landbaus von der Wiſſenſchaft bisher vernachläſſigt
worden iſt, ſo muß geſagt werden, daß die Wirtſchaftslehre des Landbaus
ſeit mehr als 100 Jahren einen Irrweg gegangen iſt. Sie hat auf dieſem
Wege eine Reihe von wirtſchaftlichen Theſen aufgeſtellt, die ebenſo dem
Bauerntume, wie der geſamten übrigen Landwirtſchaft weſensfremd geblieben
ſind. Dieſer Irrweg wurde ſchon von dem Begründer der Wiſſenſchaft von
der Landgutwirtſchaft, Albrecht Thaer ““), betreten, als er dem Landwirte
das Ziel ſteckte, nach „Neinertrag zu ſtreben“. Damit fol kein Tadel
ausgeſprochen fein, denn Albrecht Thaer war es vor allem darum zu tun, die
Zweckmäßigkeit neben der Vollkommenheit der „Technik“ zur Geltung zu
bringen. Es iff außerdem gewiß kein Zufall, daß Thaers Zielſetzung im
Jahre 1815, d. i. 26 Jahre nach dem Ausbruche der Franzöſiſchen Revolution,
erfolgt iff, von der die materialiſtiſch⸗liberaliſtiſche Weltanſchauung ihren
Ausgang genommen hat und die damals auch die größten Geiſter erfaßte.
Man kann die ſeinerzeitige Zielſetzung Albrecht Thaers in dem Werde⸗
gange der Wirtſchaftslehre des Landbaus bis zum heutigen Tage verfolgen.
Denn noch 100 Jahre ſpäter umſchreibt Waterſtradt den Aufgabenkreis der
Wirtſchaftslehre des Landbaus durch die „möglichſt beſte Anpaſſung“ an die
natürlichen und wirtſchaftlichen Bedingungen, um ſo das privatwirt-
ſchaftliche Ziel der Anternehmung, die dauernd hohe Ver⸗
zinſung und Ausnutzung der eingeſetzten Kapitalien zu
erreichen. Auch bei zahlreichen anderen Autoren wird das Studium der
Landgutswirtſchaft, einſchließlich demjenigen des bäuerlichen Landgutes, aus
der Betrachtungsweiſe als „Ertragsquelle“ geführt und dadurch die berr-
ſchende kapitaliſtiſche Denkungsweiſe beibehalten. Der „Reinertrag“ als
*) Vorwort zu „Nationalſozialiſtiſche Agrarpolitik“ von Werner Willikens,
Deutſcher Volksverlag Dr. Ernſt Boepple, München.
**) Gewerbslehre 1815.
— -
Der Irrtum von der ,,Rentabilitat“ des Bauerntums 841
„objektiver“ Maßſtab für den Betriebserfolg, d. h. die durch den Betrieb
erzielte Verzinſung des „Aktivkapitals“ der Landgutswirtſchaft wird als
Mittel angeſehen, um Einblicke in den Produktionsprozeß zu gewinnen. Man
iſt der Meinung, daß die Fragen nach der „Rentabilität“ der Einzelbetriebe
unter verſchiedenen Produktionsbedingungen und bei verſchiedenen Betriebs⸗
ſyſtemen, ſowie für verſchiedene Gutsgrößen gelöſt werden können, wenn man
das Landgut als eine auf Ertrag gerichtete Anternehmung als „Ertragsquelle“
betrachtet.
Es ſoll zunächſt gezeigt werden, daß dieſe Betrachtungsweiſe eine Bers
kennung des Landbaus überhaupt und des Bauerntums im beſonderen
beinhaltet.
Der Irrtum liegt ſchon in der Voranſtellung der Objektivität.
Selbſt die „Rentabilitätslehre“ des Landbaus anerkennt, daß der „objektive“
Reinertrag von der Individualität des Betriebsleiters nicht getrennt werden
könne. Sie gibt damit zu, daß es nicht richtig ſei, im Reinertrage einen
Betriebserfolg zu erblicken, der von den perſönlichen Momenten gänzlich
losgelöſt iſt. Man braucht außerdem nur daran zu erinnern, daß in allen
Landgutsbetrieben neben dem Kapitalsertrage, der von der Wirtſchaftslehre
des Landbaus in den Vordergrund gerückt wird, ſtets auch der Arbeitslohn
für körperliche und geiſtige Betätigung des Unternehmers und die Natural-
lieferung im Wege der Selbſtverſorgung eine Rolle geſpielt haben und daß
beide Momente von perſönlichen Einflüſſen beherrſcht werden. Sobald aber
der Einfluß derartiger perſönlicher Momente überhaupt zugegeben wird, muß
es als unwiſſenſchaftlich bezeichnet werden, auf Grund von Rentabilitätg-
vergleichen Schlüſſe auf die Organiſationszweckmäßigkeit des Landguts⸗
betriebes zu ziehen, weil dieſe nicht nur von dem Ertragsprinzip, fondern
auch von anderen Zweckprinzipien beherrſcht wird.
Vielleicht iſt es auch auf dieſe Tatſachen zurückzuführen, daß — wie die
Geſchichte der Wirtſchaftslehre des Landbaus lehrt — die rein materialiſtiſche
Betrachtungsweiſe des Landgutes durchaus nicht immer unwiderſprochen
geblieben iſt.
Schon Friedrich Gottlob Schulze hat im Jahre 1826 in ſeiner Schrift
„Aber Weſen und Studium der Wirtſchafts⸗ oder Kameralwiſſenſchaften“
den Gedanken vertreten, daß dem phyſiſchen Menſchen und der Ethik ein
entſprechender Einfluß bei den Grundprinzipien des Landgutsbetriebes
zugemeſſen werden müßte. Johann Pohl war es dann vorbehalten, als
Grundlegung für die Führung des Landgutes, die Erreichung des Lebens-
zweckes anzuerkennen und neben das Erwerbsprinzip auch das äſthetiſche
und ethiſche Prinzip zu ſtellen. Wenn Pohl dieſe Prinzipien als „Zweck“.
prinzipien bezeichnet, ſo iſt damit ein wichtiger Schritt in der Richtung
geänderter Erkenntnis getan, weil bei der Steckung des Landbauzieles die
„Zweckmäßigkeit“ des Betriebes an die Stelle der „Rentabilität“ geſetzt
erſcheint. Leider hat Pohl aus ſeiner Betrachtung nicht die letzte Konſequenz
gezogen, da auch er trotz feiner Prinzipienlehre die Landnutzung zur Bedürf⸗
nisbefriedigung nur dann als erfolgbringend bezeichnet, wenn Reinertrag
angeſtrebt wird. Es wird daher ſchließlich auch hier der Irrtum der
Agrarpolitik Heft 12, Bg. 3
842 Adolf Ostermayer
Wirtſchaftslehre des Landbaus aufrechterhalten und das „Erwerbsprinzip“
zur Vorherrſchaft erhoben.
Im Verlaufe ihrer geſchichtlichen Entwicklung hat ſich die Wirtſchaftslehre
des Landbaus ſodann mehr in die Richtung des Einkommens eingeſtellt und
dieſes als „Erwerbsziel“ bezeichnet. Aber auch hier wird dem Reinertrag
noch immer eine unberechtigte Bedeutung zugemeſſen. Denn es iſt wohl kaum
aufrechtzuerhalten, das Ziel landwirtſchaftlicher Tätigkeit im Erwerb von
Einkommen aus Kapitaleinſatz und Arbeitsbetätigung zu
erblicken. Ganz gewiß iſt es ferner unrichtig, dem Aktivkapital und dem Rein-
ertrag eine entſcheidende Rolle zu geben, weil nur das Vermögen und
ſeine Rente ein wahrhaftes Zweckmäßigkeitsurteil zulaſſen, ſonach nicht
objektive, ſondern ſubjektive Maßſtäbe ausſchlaggebend ſind. Schließlich aber
vermitteln nicht die Höhe der Vermögensrente und die Höhe des
ins Verdienen gebrachten Lohnſatzes den Landwirten und
Bauern den Begriff des Nutzens, welchen ihr Lebensberuf abwirft, ſondern
es kommen auch äſthetiſche und ethiſche Genüſſe und Vorteile, die Einflüſſe
des Landlebens auf die Geſundheit, die Erleichterung einfacher Lebenshaltung
und andere Momente in Betracht, die mit der liberaliſtiſch⸗materialiſtiſchen
Ertragsmentalität gar nichts gemeinſam haben. Daher iſt es auch unrichtig,
daß der Bauer als „privatwirtſchaſtlicher Unternehmer” feinen Betriebs-
erfolg am Gütererwerbe allein meſſe. Vielmehr kann es niemals die einſeitige
Aufgabe des Landgutsbetriebes ſein, nach „Ertrag“ zu ſtreben, ſondern nur
die allſeitige Befriedigung der Familienbedürfniſſe iſt es, welche dem Bauern
bei dem Betriebe ſeines Landgutes vorſchwebt. „Geldverdienen“ mit
Hilfe des Landgutes iſt nicht der Zweck, ſondern nur eines
der dabei in Betracht kommenden Mittel.
Auf dem Irrwege, den die Wirtſchaftslehre des Landbaus bisher gegangen
iſt, hat ſie den Bauern als Anternehmer im kapitaliſtiſchen Sinne, ferner als
Arbeitgeber, jedenfalls als Wirtſchafts ſubjekt betrachtet. Sie iſt ſonach
an die Probleme des Landbaus nur nach den Grundſätzen des Materialis-
mus herangetreten. Indem ſie den Reinertrag zum herrſchenden Zweckprinzip
erhob, wurden auch alle Bauſteine des Landgutsbetriebes zu einem Tempel
des „wirtſchaftlichen Ertrages“ aufgetürmt. Der Boden und alle mit ihm
feſtverbundenen Erſcheinungen, wie Meliorationen, Gebäude, Pflanzen,
wurden zum „Kapital“ gemacht, deſſen Nutzbarmachung durch ein anderes
Kapital (Geräte, Vieh, Vorräte, Geld) zu erſolgen hat. Selbſt die „Arbeit“
erhielt nur die Beſtimmung, das Kapital auszunutzen. Man bezeichnete es
als höchſte Zweckmäßigkeit auf einer gegebenen Bodenfläche, den Aufwand ſo
einzuſetzen, daß höchſtmöglicher Rohertrag und höchſter Reinertrag erzielt
werde. Am die materialiſtiſche Denkungsweiſe aufrechtzuerhalten, mußte
auch die Arbeit des Anternehmers bewertet und der Bauer als ſein eigener
Lohnarbeiter betrachtet werden. Das Familienvermögen wurde mit dem
Leihkapital dem Aktivkapital gleichgeſtellt. Alle dieſe Gedankengänge find
aber vom volkswirtſchaftlichen Standpunkte nur zu rechtfertigen, wenn der
herkömmlichen liberaliſtiſchen Anſchauung gehuldigt wird. Dagegen müſſen
ſie vom privatwirtſchaftlichen Standpunkte der nach Bedürfnisbefriedigung
ſuchenden Bauernfamilie abgelehnt werden. Dieſe Ablehnung hat ſich bisher
Der Irrtum von der „Rentabilität“ des Bauerntums 843
praktiſch in der Weiſe ausgedrückt, daß zwar die Lehren der landwirtſchaft⸗
lichen Technik in dem Bauerntume Eingang gefunden haben, daß aber die
Lehrmeinungen der Wirtſchaftslehre des Landbaus dieſen Anſchluß in
befriedigender Weiſe nicht zu finden vermochten. Er könnte nur erreicht
werden, wenn die Wiſſenſchaft vom Landbau daranginge, ihr bisheriges
Lehrgebäude in ſeine Bauſteine zu zerlegen und aus dieſem und ihrem
geſamten Begriffspark ein neues, den Tatſachen entſprechenderes Lehrgebäude
zur Aufrichtung zu bringen.
Das hätte freilich eine revolutionäre Veränderung zur Vorausſetzung, für
welche bei den Wirtſchaftswiſſenſchaften in ihrer bisherigen Verfaſſung, weil
ſie der Deduktion aus Beſtehenden immer mehr zugeneigt ſind, als der
Induktion aus Neuerkenntniſſen, von Vorneherein keine beſondere Neigung
vorhanden iſt. Demgegenüber kann aber nicht geleugnet werden, daß den
Wirtſchaftswiſſenſchaften nichts mehr geſchadet hat, als das Verharren in
jenen eingefahrenen Bahnen des Materialismus, auf welche ſie das Ende
des 18. Jahrhunderts gelenkt hat. Wenn an feine Stelle nunmehr, als Er-
ſcheinung des 20. Jahrhunderts, die nationalſozialiſtiſche Denkart der Zukunft
geſetzt werden ſoll, dann ſind revolutionäre Entwicklungen unvermeidbar, weil
ſich neue Weltanſchauungen nur auf dieſem Wege durchſetzen können. Aus
dieſer Notwendigkeit wird der Mut geboren werden, den Karren aus den ein⸗
gefahrenen Geleiſen herauszureißen, um ihm neue Wege zu geben. Erſt
wenn dies geſchehen iſt, wird ſich auch für die Wiſſenſchaft zeigen, daß der
Beſtändigkeitsſinn des Bauern dem neuen Wege immer nähergeſtanden iſt
als den alten Lehrmeinungen und daß die Wirtſchaftslehre des Landbaus
bei ihrer Reform eigentlich nichts anderes tut, als die Bahn einzuſchlagen,
auf der ſie allein imſtande iſt, dem Bauerntume jene Hilfe zu bringen, die in
ihrer Abſicht liegt und die von jeher hätte gepflegt werden müſſen.
Am Anfange dieſes Weges ſteht der Satz: „Nicht die Wirtſchaft,
ſondern der Menſch, nicht die Bewirtſchaftung, ſondern die
Bevölkerung ſind die Grundlagen des Bauerntums“. Daher
iſt ſchon die Bezeichnung „Wirtſchaftslehre des Landbaus“ unrichtig und
irreführend, weil der Bauer das Land nicht bewirtſchaftet, ſondern bebaut.
Wenn es ſich darum handelt, die Arquellen zu erſchließen, aus welchen bäuer⸗
liches Wirken ſtrömt, wenn es darum geht, den Gründen und Zielen nach—
zuforſchen, welchen den Bauern in ſeinem Wirken bewegen, und wenn alles
dies in einer Lehre ee werden ſoll, dann kann es keine Wirt⸗
ſchaftslehre ſein. Es muß eine „Lehre von der Zweckmäßigkeit
bäuerlichen Landgutsbetriebes“ aufgebaut werden. Dieſe hat vor
allem zu zeigen, wie der Landbau vom Bauern zu nutzen iſt, um der Erbale
tung von Bauernblut und Bauernboden zu dienen. Die Wiſſenſchaft iſt vor
die Aufgabe geſtellt, aus einer Wirtſchaftslehre des Landbaues eine
„Nutzungslehre des Landbaus mit den vorhandenen Bau-
fteinen der Wirtſchaftslehre des Landbaus aufzubauen.
Schon durch die Neubezeichnung des Wiſſensgebietes muß ein Strich
unter die bisherige Lehrmeinung gemacht werden, und wenn einleitend ein
Ausſpruch R. Walther Darrés als das Tor zur Amgeſtaltung der Wirt⸗
ſchaftslehre des Landbaus bezeichnet worden iſt, ſo werden die Richtlinien
3°
844 Adolf Ostermayer
des neuen Weges durch einen zweiten Ausſpruch R. Walther Darrés geſteckt:
Wir wollen wieder den Blick klarmachen, daß Bauerntum, eine Frage im
weſentlichen des Familienrechtes und der Weltanſchauung tit und mit land⸗
wirtſchaftlichen Fragen zwar einiges zu tun hat, mit der intellektuell aus⸗
getiſtelten höchſtmöglichen Rohertragsgewinnung bei einer Mindeſtbemeſſung
von zugeteilten Quadratmetern Landes aber ganz beſtimmt gar nichts ).
Wenn nur dieſer einzige Satz zur Grundlage der Nutzungslehre des Land⸗
baus gemacht wird, ſo ſtürzt durch ihn allein das ganze Gebäude der bis⸗
herigen Wirtſchaftslehre des Landbaus zuſammen, denn er ſpricht als neue
Grundlage für Forſchung und Lehre des Landbaus die ſe aus:
Bauer iſt kein wirtſchaftlicher, ſondern ein familien-
rechtlicher Begriff, Bauerntum bedeutet nichts anderes,
als familienrechtliche Sicherung der Geſchlechtsfolge auf
der Scholle.
Aus Erwägungen volkspolitiſcher und raſſenkundlicher Natur ergibt ſich
dieſe Erkenntnis als Selbſtverſtändlichkeit. Mit ihr ſinken aber die wirtſchaft⸗
lichen Ziele, und an ihrer Stelle ſteigen neue Ziele empor. In ihrem Ange⸗
ſichte iſt die Amſtellung und Neuordnung der „Nutzungslehre des Landbaus“
vorzunehmen. Zu dieſem Zwecke hat ſie zuerſt mit der Theſe abzurechnen,
welche für das bäuerliche Landgut den Reinertrag als erſtrebenswertes Ziel
hinſtellt. Sie hat dieſer Theſe die Antitheſe gegenüberzuſtellen, daß der Bauer
nur in den ſeltenſten Fällen für den Erwerb ſeines Beſitzes Kapital hingibt,
weil er die Scholle mit allem, was zu ihrer Bebauung nötig iſt, in der Folge
des Geſchlechtes, ohne dafür Geld zu zahlen, zu übernehmen pflegt. Der Geld-
wert ſeines Beſitzes kommt ihm daher nur in ſehr unbeſtimmter Form zum
Bewußtſein, d. h. in der Regel nur dann, wenn Belaſtungen und Leihkapi⸗
talien, die vom Vorgänger übernommen wurden oder durch Anerbenverpflich⸗
tungen neu beſchafft worden ſind, vorliegen. Infolgedeſſen tritt in der Men⸗
talität des Bauern ein Mangel kapitaliſtiſchen Bewußtſeins und ein Mangel
an Zahlenmäßigfeit des Kapitalwertes in Erſcheinung, der um fo bemerkens⸗
werter wird, je kleiner der Beſitz zu ſein pflegt. Es wird dergeſtalt die
Grundlage erſchüttert, auf welche ſich die „Angemeſſenheit des Reinertrages“
aufbaut, denn da dem Bauern der „Aktivkapitalswert“ ſeines Landgutes
nichts zu ſagen vermag, ſo bedeutet das „Aktivkapital“ für ihn auch keinen
Begriff, und die Freude an ſeinem Beſitze iſt keine wirtſchaft⸗
liche Freude an Kapitalbeſitz, ſondern die Freude an einem
Stück Erde, auf dem ſich die Arkraſt der bäuerlichen Fami-
lie betätigen kann.
Dadurch wird aber die Arbeit zum Maßſtabe des bäuerlichen Berufes ge-
macht, und die Freude an dem Beſitze wird auf ideelle Grundlage geſtellt.
Man kann in dieſer Erkenntnis noch weitergehen und ſagen, daß alle aus
dem Arbeitsdrange der Bauernfamilie entſpringenden Handlungen der Bauern-
familie dem völkiſchen Streben entſpringen.
Die Verbreitung der Wirtfchaftlichkeitsidee im Bauernſtande dagegen
müßte zur Entwurzelung des Bauerntums führen. Es iſt aber eine Tatſache,
*) Deutſche Agrarpolitik, Berlin 1932, Heft 1, S. 15.
Der Irrtum von der „Rentabilität“ des Bauerntums 845
daß die Bauernfamilie, um die ideelle Freude am VBauernbeſitze erleben zu
können, ſogar Opfer an Kapital und Kapitalnutzen übernimmt, weil ſie ent⸗
weder teilweiſe oder ganz auf den Kapitalsertrag aus eigenem Vermögen zu⸗
gunſten von Rentenzahlungen für aufgenommenes Leihkapital verzichtet, und
zwar mitunter zu einem Zinsfuße, deſſen Einhaltung Rückläſſe von Quoten
des Arbeitseinkommens erforderlich macht. Man kann dies aus dem Zahlen-
material der landwirtſchaftlichen Buchführung nachweiſen, auf welche die
Wirtſchaftslehre des Landbaus viele ihrer bisherigen Lehrſätze aufbaut,
und man kann dieſes Material, welches bisher für das Studium der bäuer⸗
lichen Landgüter im materialiſtiſchen Sinne benutzt wurde, ebenſogut auch
gegen das Produktivitäts- und Rentabilitätsprinzip verwenden, d. h. gegen
die Herrſchaft von Aufwand, Robertrag und Neinertrag und deren gegen-
ſeitiges Verhältnis. Der „Reinertrag“ iff für den Bauern kein Erfolgs-
begriff, weil der Bauer ſeinen Beſitz nicht in Wertzahlen denkt. Auch der
Betriebsaufwand iſt es nicht, weil er nicht in Geld, ſondern in Natural-
größen der Arbeitsleiſtungen gemacht wird. Schließlich tritt auch der Roh⸗
ertrag als maßgebender Beurteilungsgrund zurück, weil er im bäuerlichen Gee
trieb hauptſächlich die Bedeutung der Selbſtverſorgungsquelle hat. Seine
Höhe und feine Zuſammenſetzung werden vornehmlich aus dieſem Geſichts—
punkte beſtimmt. Aberhaupt lehrt die bäuerliche Buchführung, wenn ſie aus
dem Geſichtspunkte der Familien wirtſchaft ſtatiſtiſch verarbeitet wird,
daß der Robertrag in feiner Eigenſchaft als Produkt des Aufwandes und als
Index für die Produktivität entwertet wird, weil der Bauer feinen Sach—
aufwand in entſcheidender Weiſe nach den Bedürfniſſen der Familie und nicht
nach denjenigen der Rohertragshöhe regelt. „Produktiv“ iſt für ihn, was der
Familienwirtſchaft den höchſten Nutzen bringt. „Wirtſchaftlich“, d. h. „zweck
mäßig“, erſcheint dem Bauern nur das in dieſem Sinne Produktive. Erſt
wenn der Bauer über die Hilfsmittel des Betriebes oder über die Arbeitskräfte
der Familie hinaus Betriebsmittel zukauft oder familienfremde Arbeitskräfte
verwendet, wenn er alfo zum Marktkäufer und Arbeitgeber wird, ſtrebt
er die „Produktivität“ als Grundlage der Rentabilität an. Dieſer Fall ſteht
aber in zweiter Linie, und er kommt nur in beſchränktem Amfange zur Erſchei⸗
nung. Insbeſondere aber rücken alle Grundſätze der Produktivität in den Hin-
tergrund, wenn es ſich um die Betätigung der Familienkräfte handelt. In
dieſem Falle iſt die Erzielung eines möglichſt hohen Arbeitseinkommens, alſo
der Arbeitsverdienſt der im Betriebe tätigen Familienmitglieder, das Maß⸗
gebende. Das „ertragsmäßige“ Denken im Sinne des Kapitals aber beginnt
bei dem Bauern erſt, wenn er Arbeitgeber wird. Sonſt muß es dem
„familienmäßigen“, alſo dem „blutmäßigen“ Denken weichen. Dieſes wird
höher geſtellt als der Ertrag.
Die Ablehnung materialiſtiſcher Denkungsart durch den Bauern iſt aber
auch bei der Entlohnung der geleiſteten Arbeit zu beobachten. Auch hier ſtehen
die Zweckmäßigkeitserwägungen des Bauern auf dem Boden familienrecht—
licher Grundſätze. Schon wenn man ſich vergegenwärtigt, daß es ſich bei dem
Arbeitseinkommen der Bauernfamilie um unbedungenes Einkommen handelt,
deſſen er nicht von vornherein vereinbart ift, fondern für die Arbeitseinheit
aus dem Aberſchuſſe des Betriebes und der Zahl der Arbeitsſchichten errechnet
846 Adolf Ostermayer
wird, muß man einſehen, daß es fic hier um Dinge handelt, die dem zahlen⸗
mäßigen Denken der „Rentabilität“ entrückt find. Bei eingehender Unters
ſuchung zeigt ſich dann die typiſche Erſcheinung, daß nicht der je Arbeitstag
entfallende Verdienſt, alſo die Höhe des Lohn ſatzes für die Erwägungen
der Zweckmäßigkeit entſcheidend iſt, ſondern daß vielmehr das bei dem erzielten
Lohnſatze ſich ergebende Jahreseinkommen der Familie bzw. des einzelnen
Familienarbeiters die Organiſationsrichtung angibt. Selbſt wenn je Ar⸗
beitstag ein kleineres Einkommen erreicht wird, pflegt
dies in Kauf genommen zu werden, wenn auf dem bäuer-
lichen Landgute nur die Möglichkeit beſteht, durch eine
größere Zahl von Arbeitsſchichten und durch eine verlän-
gerte Arbeitszeit, alſo durch Fleiß, den geringeren Lohn
ſatz wieder wettzumachen. Stärkere Arbeitsanſpannung iſt dem
Bauern das Mittel, um die Befriedigung ſeiner Einkommensbedürfniſſe auch
bei niedrigem Lohnſatze für die Arbeitseinheit zu finden. Zu dieſem Zwecke
pflegt, bewußt oder unbewußt, der Betrieb derart organiſiert zu werden, daß
er möglichſt ganzjährig reichliche Arbeitsgelegenheit bietet. Wir haben auch
hier wieder eine Mentalität vor uns, die im Widerſpruche mit matertalifti-
ſcher Weltanſchauung ſteht und in ihrer Eigenart beſonders dem deutſchen
Bauern weſensgemäß iſt. Die Wirtſchaftslehre des Landbaus aber hat dieſer
Mentalität bisher nichts anderes gegenüberzuſtellen gewußt als die Gedanken⸗
folge aus „Bankzins“ und „Lohnſatz“. Sie hat unterſchätzt, daß das Landgut
für den Bauern nicht Kapitalsanlage, ſondern Lebensraum der Familie und
Werkzeug für ihren Arbeitswillen und ihren Arbeitsfleiß iſt. Sie iſt über
die Weſenheit hinweggegangen, daß der Bauernbetrieb in ſeiner Geſamtheit
und mit allen ſeinen Möglichkeiten immer darauf organiſiert ſein muß, bei
höchſter Anſpannung der Familienkräſte ſür das Verbrauchsbedürfnis der
Familie genügende Güter abzuwerfen und daß außerdem das bäuerliche Land⸗
gut „Kraftquelle“ für das auf dem Hofe ſiedelnde Bauerngeſchlecht iſt, das
ſich ſeinen Beſitz weder für „Bankzinſen“ noch für „Arbeitslohn“ abhandeln
läßt. Im Blute, nicht im Golde wurzelt das deutſche Bauerntum. Wenn es
ſich aber um Blut und Boden handelt, können Lehrſätze über Wirtſchaftlich⸗
keit keine Rolle mehr ſpielen.
Die Volkswirtſchaft kann zwar die Atmoſphäre ſchaffen, in welcher ein
Bauerntum zu gedeihen vermag. Die Nutzungslehre des Landbaus aber muß
den Bauern als Menſchen und in ſeiner Betätigung auf der Scholle
betrachten. Sie muß den Bauern inmitten wirtſchaftlicher Geſchehniſſe als
Geſtalter völkiſchen Lebens ſehen. Sie kann ihm gar nicht lehren, wie er zu
„wirtſchaften“ hat, weil das Landgut nicht zu bewirtſchaften, ſondern zu
nutzen iſt, und zwar derart, daß es den Familienbedürfniſſen und der
Geſchlechterfolge Rechnung zu tragen vermag und daß es gleichzeitig zur
Ernährungsgrundlage des Volkes wird. Nur wenn alles, was die Wirt⸗
ſchaftslehre des Landbaus an Materialien und Erfahrungen geſammelt hat,
in dieſe Denkungsrichtung eingeſtellt wird, wird es nicht mehr an der
richtigen Erkenntnis fehlen, daß der Bauer nicht Wirtſchafter, ſondern
Arbeiter iſt und daß er Kämpfer um das Brot ſeines Volkes iſt. Erſt wenn
man ſich zu dieſem Schluſſe durchgerungen hat, wird ſchließlich auch der Blick
für das Arweſen des Bauern klar werden, und man wird dann erſt begreifen,
warum der Bauer manches tut und manches unterläßt, was vom reinen
Der Irrtum von der „Rentabilität“ des Bauerntums 847
„Rentabilitätsſtandpunkte“ nicht vertretbar ift und daß er trotz dieſer Anter⸗
laſſung nur deshalb nicht zugrunde gehen kann, weil ſeine Beſtimmung nicht
auf der Wirtſchaftlichkeit fußt, ſondern im Boden und im völkiſchen Staate,
dem er Ernährer und Bluterneuerer iſt und von dem er nur Eines berechtigter
Weiſe zu fordern hat: Bedingungen, welche das Bauerntum in ſeiner
urwüchſigen Geſundheit und Freiheit erhalten.
Das Bauerngut und die Bauernfamilie tragen dergeſtalt aber in ſich ſelbſt
die Sicherheiten ihres Beſtandes. Denn es iſt ein von Gott und Natur gewoll⸗
ter Segen, daß das bäuerliche Landgut nicht Rententräger, ſondern Arbeits-
werkzeug und Selbſtverſorgungsquelle iſt, daß die Familienarbeit zum großen
Teile nicht mit Geld, ſondern mit Naturalbelieferung aus dem Landgute
bezahlt wird. Es iſt nicht materialiſtiſch, ſondern idealiſtiſch, wenn der Bauer
die Dauerhaftigkeit der Arbeit und den Reichtum der Arbeitsgelegenheit, das
Gedeihen des Beſitzes, ſeine Befeſtigung und Verſchönerung höher ſchätzt,
als den Kapitalwert des Landgutes. Die Möglichkeit für dieſe Einſtellung
des Bauern iſt ſelbſt dann gegeben, wenn der Bauer ſich den Einflüſſen der
wirtſchaftlichen Amwelt nicht gänzlich zu entziehen vermag. Sie liegt in
ſeiner Genügſamkeit, in der Einfachheit ſeiner Lebensführung, fowie ſchließ⸗
lich in ſeinem blutmäßigen Inſtinkt für bäuerliche Zweckmäßigkeit. Das iſt
ein Schatz, der ihm jene Anpaſſungsfähigkeit verleiht, aus der die Krifen-
feſtigkeit der Bauernexiſtenz geboren wird. Dieſe Kriſenfeſtigkeit in Ver—
bindung mit der Tradition des Bauerngeſchlechtes hat den Bauer davor
bewahrt, im Kampfe mit allen Widrigkeiten des Lebens zu unterliegen. Die
Wirtſchaftslehre des Landbaus hat ihm für dieſen Kampf bisher nichts
anderes zu bieten vermocht, als die Lehre vom Streben nach dem Reinertrag,
der mit dem geringſten Aufwand erreicht werden ſoll.
Eine Nutzungslehre des Landbaues hätte ihm mehr bieten können, und ſo
kam es, daß die Wiſſenſchaft auf dem Irrwege der Rentabilitätslehre
wandelte und der Bauer den Weg des inſtinktmäßigen Handels bäuerlicher
Zweckmäßigkeit gegangen iſt. Jene Bauern, welche ſich von den Irrlehren der
Rentabilität gefangennehmen ließen, gingen in dieſer Gefangenſchaft zu—
grunde. An ihre Stelle traten andere und blieben andere, welche ſich den Kern
bäuerlicher Entſchloſſenheit und Blutmäßigkeit unverfälſcht bewahrt hatten.
Eine wunderbare Zuverſicht blüht aus dieſen geſchichtlichen Begebenheiten
empor: Die Zuverſicht auf den ewigen Beſtand des Bauerntums.
Auch aus der Geſchichte läßt ſich beweiſen, daß das Bauerntum mit der
Wirtſchaftlichkeit nichts zu tun hat. Denn Jahrtauſende ſind über die
Bauerngeſchlechter dahingegangen, und immer blieb das Bauerntum unver-
fälſcht beſtehen, weil der Bauer im Reiche ſeines Beſitzes trotz allen Druckes
von auswärts ſtets der freie Herr und der Ernährer des Geſamtvolkes blieb,
das ohne ihn nicht leben kann. So kam es, daß der Bauer in ſeinem Weſen,
unberührt durch den Lauf der geſchichtlichen Ereigniſſe, mit ſeiner Sippe all
feine Kraft dem Boden weihen konnte. Wenn es ihm auch nicht immer
beſchieden war, die Frucht zu ernten, die er geſät hatte, wenn er auch oft
Weib und Kind ſich ſelbſt überlaſſen mußte, um hinauszuziehen zur Ver—
teidigung ſeiner Scholle gegen den Feind, alle damit verbundene Not war,
ſelbſt wenn fie zum Teile wirtſchaftliche Erſcheinungen trug, nicht kapitali⸗
ſtiſch, ſondern wurde als Familiennot empſunden. Sie hat daher den Bauer
und ſeine Sippe nur geſtählt, und zwar geſtählt durch Arbeit, Sorge und
848 Adolf Ostermayer, Irrtum von der „Rentabilität“ des Bauerntums
Kampf, niemals aber durch „Wirtſchaftlichkeit“. Liebe zu Familie, Volk und
Heimaterde waren die Triebfedern der Machtäußerung. And wenn ſchließlich
im Zeitalter des Materialismus der Bauer mit dem Rüſtzeuge der Ren⸗
tabilität „gefördert“ wurde und dabei in ſchwerſte Not geriet, ſo iſt auch aus
dieſer Entwicklung der Beweis zu erbringen, daß dieſe Not aus dem Prinzip
der Wirtſchaſtlichkeit und aus der Verſtändnisloſigkeit für völkiſche Ziele
geboren worden iſt.
Denn wir ſehen, daß die Völker in dieſer Zeit ihren Heimatboden ver-
laſſen und in die Städte ziehen. Der Welthandel und der Internationalismus
gelangen an die Herrſchaft. Die aufſtrebende Induſtrie ſieht ihren Beſtand
nur in der Belieferung der Welt, wo ungeahnte jungfräuliche Bodenflächen
faſt ohne Arbeit ihre Produkte für die Ernährung der Induſtriearbeiter
darbieten. Die Bauern ſtrömen in die Städte, die Heimatſcholle verödet.
Gleichgültigkeit für das Schickſal des Heimatbodens wächſt als böſe Frucht
aus dem Materialismus. Der blutbewußte ſchollenhaftende Bauer wehrt ſich
dagegen. Wer kümmert ſich aber um ſeine ſeeliſche Not? Für ſeinen
Idealismus iſt im materialiſtiſchen Taumel kein Ohr und kein Herz geöffnet.
Die Wirtſchaftslehre des Landbaus verkündet vielmehr, daß nun auch der
Bauer in das Weltgetriebe eingetreten ſei. Dadurch ſei die Selbſtgenügſamkeit
des Bauerngutes, das mit der Bauernfamilie und deren Bedürfniſſen auf
das engſte verbunden war, von der Marktverbundenheit abgelöſt. Das
Kapital tritt in die Bauernwirtſchaft, und an die Stelle der Bauernfauſt ſetzt
man die Maſchine. Wenn auch zugegeben werden muß, daß dieſe Entwicklung
durch die Landflucht gefördert wurde, ſo kann andererſeits doch nicht geleugnet
werden, daß die Landflucht nur eine Folge des Abermaßes der Induſtri⸗
aliſierung war. Es iſt außerdem feſtzuſtellen, daß auch die Landwirtſchafts⸗
maſchine die Landflucht weiter förderte, weil ſie ſich nicht darauf beſchränkte,
die Menſchenarbeit zu vervollkommnen, ſondern — inſoferne ſie arbeitsſparend
wirkte — auch Arbeit raubte, vor allem aber die Sicherheit und Gleich-
mäßigkeit des Arbeitsbedarfes untergrub.
Dieſe Entwicklung hat ſchließlich zur Kriſe der „Rentabilitätslehre“ geführt.
Sie beginnt damit, daß die Seelennot des Bauern deſſen Rückzug vom
Markte auslöſte. Während die Induſtrie den Weltmarkt zu erobern glaubte,
hatte ſie den Heimatsmarkt verloren und war ſchließlich doch nicht imſtande,
den Auslandsmarkt zu behaupten. Die Lehre von der Wirtſchaftlichkeit, welche
verkündet hatte, daß jene Produktion die zweckmäßigſte ſei, welche am billigſten
und „rentabelſten“ zu erzeugen vermag, mußte ihre Niederlage erleben:
Arbeitsloſigkeit und Bauernnot waren die Ergebniſſe eines falfchen Evan⸗
geliums, und überall bricht ſich die Autarkie Bahn, um die Weltwirtſchaft
abzulöſen. Sie iſt nichts anderes als Volksverbundenheit, d. h. Verbundenheit
aller Glieder eines Volkes miteinander und mit ihrem Heimatboden. Bauer
und Arbeiter kommen wieder zu ihrem Rechte, das Material, der kapitaliſtiſche
Reichtum, wird zur Seite geſchoben. Zwar wehrt ſich das Kapital noch
dagegen, und auch die Wirtſchaftslehre mit ihrem Irrtum von der Rentabilität
kämpft den letzten Gang gegen die Niederlage des Kapitals. Der Bauer aber,
der niemals Kapitaliſt, ſondern immer Arbeiter geweſen iſt, der niemals
Materialiſt war, ſondern ſtets blutmäßiger Idealiſt geweſen iſt, ſteht im
vorderſten Gliede für die Wiedergewinnung des völkiſchen Staates, den er
gegründet und in ſeinen Grundfeſten erhalten hat. Der Bauer ſteht als
J. Aumer, Vergleich der Entwicklung ... 849
Element des Volkskörpers mit feiner vollen Kraft auf dem Plan des heimat⸗
lichen Bodens. Er formt das Landgut nicht nach Rentabilitätsgrundſätzen,
ſondern wie es die Erhaltung ſeiner Erbmaſſe gebeut. Dadurch tritt das
Große und Edle des Bauerntums in Erſcheinung und verkündet, daß ſeine
Erhaltung keine wirtſchaftliche Frage, ſondern eine Pflicht der Volks
gemeinſchaſt für ihre eigene Exiſtenz iſt. Auch dieſe Pflicht entbehrt aber in
ihrem innerſten Weſen jedes eigennützigen Geſchehens, weil der Bauer
kein Gewinner, ſondern ein Arbeiter, kein Raffer, ſondern ein Schaffer iſt.
Nur wer ſich dieſe Einſtellung zu eigen gemacht hat, und nur wenn das
Bauerntum ſelbſt dieſe Erkenntnis zum oberſten Geſetz erhebt, wird dem
Volksganzen und dem Bauerntume jene Würdigung gegeben werden, ohne
welche keines von beiden beſtehen kann.
Die Verwurzelung dieſer Erkenntnis muß das hohe Ziel ſein, das ſich die
Nutzungslehre des Landbaus ſteckt. Nur dann wird ſie auch der Agrarpolitik
die Wege weiſen können. Aus der Nüchternheit wirtſchaſtlicher Induktion
und Deduktion wird dann Leben und Urkraft des ſchaffenden Bauernmenſchen
entſtrömen. Die Lehre von der Herrſchaft der „Rentabilität“ im Bauerntume
iſt Irrtum und kalter Materialismus. Die Nutzungslehre des Landbaus aber,
die ſich der Lebenszelle des Bauerntums zuwendet, iſt völkiſcher Idealismus.
Aus ihm wird die deutſche Nation neu geboren werden und zu nie geweſener
Kraft emporſteigen.
J. Aumer:
Vergleich der Entwicklung der induftriellen und
lanoͤwirtſchaſtlichen Erzeugung
Die Lehren des Krieges und der Inflation hätten nach ihrer Eindringlich—
keit und Dauer ſtark genug ſein müſſen, um den verantwortlichen Leitern der
deutſchen Wirtſchaftspolitik die Aberzeugung einzuhämmern, daß ein Volk
auf die Dauer und für alle Wechſelfälle der Geſchichte nur dann genug zu
eſſen hat, wenn die Erzeugung aus der eigenen Scholle dem Volke genügend
Lebensmittel nach Menge und Art zu liefern vermag.
Das Deutſchland der Vorkriegszeit ſchon war durch die unglücklichen Aus»
wirkungen der Capriviſchen Wirtſchafts⸗ und Handelspolitik, die es in erſter
Linie auf eine einſeitige Förderung der induſtriellen Erzeugung und des
Aberſeehandels abgeſehen hatte, in feiner Volksernährung abhängig vom Aus-
lande geworden. Die Folge davon war, daß bei Kriegsausbruch
mit der engliſchen Seeblockade und der durch ſie bedingten Abſchnürung
Deutſchlands von der überſeeiſchen Nahrungsmittelzufuhr nicht wir, ſon⸗
dern der Feind den Grad der Ernährung des äußerſt ſchwer
kämpfenden Frontheeres und der Heimat beſtimmte, Dieſe
850 J. Aumer
Vernachläſſigung der Sicherſtellung unſerer Nahrungsfreiheit für den vor⸗
auszuſehenden Fall kriegeriſcher Verwicklungen brachte als zwangsläufige
Folge mit ſich die Brot-, Fleiſch⸗ und Fettkarte bei Kriegsausbruch, d. h. alfo
die Rationierung des Lebensmittelverbrauches für das um ſeine politiſche,
kulturelle und wirtſchaftliche Freiheit gegen eine Welt von Feinden ringende
deutſche Volk. So ausgiebig auch für die Verteidigung unſe⸗
rer Intereſſen mit der Waffe geſorgt war, ſo mangelhaft
war auf der anderen Seite für die Ernährung und damit
für die körperliche Widerſtandsfähigkeit in dieſem äußerſt
bitteren Ringen Vorſorge getroffen worden. Das hungernde Volk
wurde durch die Dauer des Krieges empfänglich für zerſetzende Einflüſſe poli-
tiſcher Art. Dem Zuſammenbruch folgte nicht der Friede
und das Brot, ſondern die folgerichtige Fortſetzung des
von unſeren Gegnern in jahrzehntelanger diplomatiſcher Arbeit aufgezogenen
zuſammengefaßten Vernichtungskampfes gegen das
Deutſchtum in wirtſchaftlicher Hinſicht. Nicht Brot wurde uns gegeben,
ſondern Land, Menſchen und materielle Werte wurden aus dem deutſchen
Lebensraum herausgeriſſen. Die Inflation endlich — als Abſchluß der
Epoche des über den Waffengang hinaus fortgeſetzten Wirtſchaftskrieges —
ließ jeden Deutſchen erkennen, daß unſere Gegner nicht nur die politiſche und
kulturelle Freiheit, ſondern auch das tägliche Brot uns vorenthielten. Nie⸗
mand gab uns Brot für Papier. In grellſtem Scheinwerſerlicht zeigte ſich
damals der hohe ſtaatspolitiſche Wert der Nahrungsfreiheit für jeden den⸗
kenden Deutſchen.
Welche Nutzanwendung nun zogen wir aus dieſer nahezu zehnjährigen, an
traurigen Erfahrungen geſättigten Epoche?
Anſtatt die anerkannt wundeſte Stelle des zurückliegenden Verteidigungs-
kampfes mit allen zu Gebote ſtehenden Mitteln auszuheilen und fo das Rin-
gen um unſere künftige Freiheit vorzubereiten, ſchleppten wir nach Feſtigung
unſerer Währung mit dem uns verbliebenen Reſtvermögen an Sachwerten
ungeheure und jährlich wachſende Mengen an Lebensmitteln vom Ausland
herein, verdrängten damit den bodenſtändigen Bauern in jährlich zunehmen
dem Ausmaße von der Verſorgung des deutſchen Volkes und erweiterten jenen
Krankheitsherd am deutſchen Wirtſchaftskörper, der uns nicht zuletzt den Bere
luſt unſeres heldiſch geführten Freiheitsringens gebracht hatte. Die Paſſivität
der deutſchen Agrarbilanz der Nachkriegsjahre mit 25,6 Milliarden Mark für
den Abſchnitt 1924 bis 1932 legt dafür ein unwiderlegbares Zeugnis ab.
Mit gepumptem, teurem Gelde füllte man auf der anderen Seite unſere
durch den Kriegsverbrauch geſchwundenen induſtriellen Robftofflager auf
(1924 und 1925) und hing in der Folgezeit mit verhängnisvoller Zähigkeit
dem Irrtum nach, daß damit die Ausgangsgrundlage für eine ſchrankenloſe
Wiederaufrüſtung der deutſchen induſtriellen Erzeugung und der deutſchen
induſtriellen Ausfuhr geſchaffen wäre. Man vergaß dabei vollſtändig, daß
unſere europäiſchen Gegner im Weltkriege den weißen und farbigen Völkern
der Aberſee die Herſtellungsweiſen deutſcher und europäiſcher Induſtrien bei-
gebracht batten und daß die im Kriege eingeleitete Induſtrialiſierung der bis.
herigen Hauptbezugsländer europäiſcher Fertigwaren fie in der Folgezeit
hierin zu Selbſtverſorgern machen mußte.
Bewußt oder unbewußt alſo verkannten die verantwortlichen Leiter der
Vergleich der Entwickl. der industriellen u. landw. Erzeugung 851
deutſchen Wirtſchaftspolitik die durch den europäiſchen Krieg gezogenen Gren⸗
zen der vordem ſo blühenden induſtriellen Fertigwarenausfuhr nach Aberſee.
Anter vollkommener Verleugnung dieſes gewordenen weltwirtſchaftlichen
Tatbeſtandes glaubte man, die deutſche Fertigwarenausfuhr durch ſchranken⸗—
loſe Hereinnahme von ausländiſchen Agrarerzeugniſſen nicht nur auf den
Friedensſtand, ſondern darüber hinaus für immer wiedergewinnen und ftet-
gern zu können. — And man förderte auf dieſe Weiſe mit deut-
ſcher Arbeit und deutſchem Gelde auch noch die agrarwirt⸗
ſchaftliche Aufrüſtung der überſeeiſchen Völker und der
Gegnerſtaaten; denn der jährlich ſich ſteigernde Abſatz von Agrarproduk—
ten dieſer Länder nach Deutſchland hin war für ſie ja nichts anderes als ein
Anreiz und eine Prämie dazu. Es wäre Kanada niemals eingefallen, ſeinen
Weizenanbau 300 Kilometer nach Norden für die ganze Breite des amerika—
niſchen Kontinents zu verlegen, wenn es nicht einen willigen Abnehmer für
die ſo geſteigerten Erntemengen in Europa, vor allem aber in Deutſchland,
gefunden hätte.
Was nun ſtand am Ende dieſer verhängnisvllen Ent-
wicklung?
Der Strom deutſcher Fertigwaren bedrohte die Induſtrien der Bezugs
länder; eines nach dem anderen riegelte ſich automatiſch gegen die deutſche
Warenzufuhr ab, der deutſche Fabrikant glich mit deutſcher Anpaſſungs⸗
fähigkeit ſeine Erzeugung den ſinkenden Abſatzmöglichkeiten an und — ſetzte
den deutſchen Arbeiter auf die Straße. —
Was tat der deutſche Bauer? Mit dem ihm eigenen kon-
ſervativen Geiſt und der inſtinktiven Erkenntnis ſeiner
Daſeins aufgabe ließ er ſichtrotzſinkender Preiſe für feine
Erzeugniſſe nicht zu gleicher Nutzan wendung bewegen. Er
wußte, daß das Aberangebot an Nahrungsmitteln auf dem deutſchen Markte
nicht eine Folge deutſcher Abererzeugung, ſondern nur ungeſunder Abereinfuhr
aus dem Auslande fein konnte und fein mußte. Unbeirrbar pflügte
und beſtellte er fein Land und ſuchte jene Lücken in der Volksernäh⸗
rung aus bodenſtändiger Erzeugung auszugleichen, die im Kriege auszufüllen
uns nicht möglich war. Die Steigerung der deutſchen Weizenanbaufläche
um mehr als 500 000 Hektar im Zeitraum der letzten vier Jahre und die
Hebung der Weizenerzeugung von 40 auf 51 Millionen Doppelzentner
pro Jahr, die der Kartoffelerzeugung von rd. 400 auf 460 Millionen
Doppelzentner pro Jahr, die des Schweinebeſtandes von 17 Millionen
auf 23 Millionen Stück pro Jahr ſind leuchtende Zeugen der Be—
harrlichkeit des deutſchen Bauernſtandes in der VWerfol-
gung eines einmal geſteckten Zieles. Wenn man dieſen Daten
noch den Tatbeſtand einer gerade in dieſen Jahren progreſſiv fortſchreitenden
Verſchuldung des deutſchen Bauernſtandes gegenüberſtellt, dann bedeuten die
obenſtehenden Tatſachen mehr: ſie ſind Zeugen dafür, daß der
deutſche Bauer in der Verfolgung eines wirtſchaftlichen
und nationalen Zieles, unter Hintanſetzung ſeiner eigenen Exiſtenz
(er hat die letzten fünf Jahre nur mehr von der Subſtanz gelebt!), eine
ſtaatspolitiſche Tat ſondergleichen getan hat.
Trotz des erdrückenden Wettbewerbes ausländiſcher Agrarerzeugniſſe, trotz
ſinkender Preiſe für alle feine Erzeugniſſe, trotz der fortgejegten Verſchärfung
852
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J. Aumer
Vergleich der Entwickl. der industriellen u. landw. Erzeugung 853
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854 J. Aumer
des beſtehenden Mißverhältniſſes von Geſtehungskoſten und landwirtſchaft⸗
lichen Produktenpreiſen hat der Bauer den Kampf um ſeine Scholle und um
die Nahrungsfreiheit des deutſchen Volkes forte und fiegreich zu Ende gee
führt. Die Brot-, Milch- und Fleiſchverſorgung des deutſchen Volkes aus
eigener Scholle iſt allen Hinderniſſen zum Trotz ſichergeſtellt. Die Fettſelbſt⸗
verſorgung — eine der wichtigſten agrarwirtſchaftlichen Aufgaben der Gegen⸗
wart — kann nur die Frage weniger Jahre ſein. Der bahnbrechende Eingriff
unſerer Nationalregierung unter Adolf Hitlers Führung in das wirtſchafts⸗
politiſche Geſchehen wird dafür Sorge tragen, daß der deutſche Bauer in
ſeinem Ringen um die Scholle und die Nahrungsfreiheit des Volkes nicht
unmittelbar vor dem Ziele zum Erliegen kommt.
Nicht der Bauer war es, der die Menſchen von der Scholle
auf den Aſphalt der Großſtädte verſetzt hat. Wunden Herzens
mußte er zuſehen, wie ſeine nachgeborenen Söhne und Töchter, verlockt durch
die Löhne und geringe Arbeitszeit der Induſtrie einerſeits und durch die Une
möglichkeit der Seßhaftwerdung andererſeits, zur Stadt abwanderten und pro-
letarifiert wurden. Er ſelbſt war ja nur durch äußerſte Sparſamkeit und
Arbeitsüberſpannung in der Lage, den ererbten Beſitz mit Schuldenmachen
zu erhalten. Die bewußte Vernachläſſigung der heimatlichen Landwirtſchaft
durch die verantwortlichen Führer der deutſchen Wirtſchaftspolitik marrifti-
ſcher Methode war der breiten Maſſe des Volkes mit der ſchönen Redewen-
dung „nur der induſtrielle Export ſchafft Arbeit und Brot für unſeren Be⸗
völkerungszuwachs“ mundgerecht gemacht worden. Die Entwurzelung der
Menſchen und ihre Proletariſierung war ja das beabſichtigte Ziel ihres Stre⸗
bens, von dem alle Maßnahmen ftaats-, kultur- und wirtſchaftspolitiſcher Art
beeinflußt waren. Eine verderbliche und gründliche Arbeit iſt wahrhaftig in
den letzten vierzehn Jahren geleiſtet worden! Die geradezu planmäßige Ver⸗
nichtung der bäuerlichen Kaufkraft zog die Vernichtung des Binnenmarktes
nach ſich. Ein durch den Weltkrieg für europäiſche und beſonders deutſche
Produkte eingeengter Weltmarkt verhinderte eine Erſatzbeſchaffung für dieſen
zerſtörten Binnenmarkt durch Ausdehnung des induſtriellen Fertigwaren⸗
exportes; die Menſchen aber waren ſyſtematiſch dem flachen Lande entzogen
worden, fo daß fie nun im Verlauf weniger Jahre, bedingt durch den zwangs-
läufigen Niedergang der Fertigwarenausfuhr, brotlos auf die Straße geſtellt
wurden.
Mit Fug und Recht alſo verlangt unſere Nationalregierung eine Wieder⸗
herſtellung der Rentabilität unſerer Landwirtſchaft, auf daß fie in ihrer Kauf⸗
kraft wieder erſtarke. Mit gleicher Logik ſtrebt fie über ein großzügiges Sied⸗
lungsprogramm die Wiederſeßhaftmachung der verproletariſierten Bauern⸗
kinder an; in gleichem Arbeitszuge entlaſtet ſie damit das Aberangebot an
Menſchen auf dem ſtädtiſchen und induſtriellen Arbeitsmarkte, gibt ſie dem
gelernten Arbeiter die Möglichkeit der Rückkehr zu ſeiner Arbeitsſtätte, ſchafft
ſie Arbeit und Brot für alle!
RN. Trenkle:
Förderung der arbeitsintenfiven Gartenbaukulturen, ein
wichtiges Mittel zur Steuerung der Arbeitsloſigkeit
Obwohl man ſich allmählich auch in den Kreiſen der Induſtrie darüber klar
geworden iſt, daß ein großer Teil der während der Hochkonjunktur der Nach⸗
kriegszeit in der deutſchen Induſtrie beſchäftigten und jetzt erwerbsloſen Men-
ſchen nie mehr in der Induſtrie beſchäftigt werden kann, verkennt man in
dieſen Kreiſen auch heute vielfach nicht nur die Bedeutung, welche dem Bin⸗
nenmarkt für die Induſtrie zukommt, ſondern vor allem auch die große Be—
deutung der Arproduktion, d. h. einer gefunden Landwirtſchaft, für die gefamte
Volkswirtſchaft, für Volksleben und Volkskraft.
Niemand wird abſtreiten wollen, daß nach Lage der Dinge in Deutſchland
nicht auch der Export induſtrieller Erzeugniſſe nach Möglichkeit gefördert wer-
den muß. Aber es darf dies nicht wie bisher einſeitig auf Koſten der deut—
ſchen Landwirtſchaft und zum Schaden der geſamten Binnenwirtſchaft ge-
ſchehen. Dies um fo weniger, als das Maß des Exportes deutſcher Induftrie-
erzeugniſſe von der immer ungünſtiger werdenden Aufnahmefähigkeit und
Aufnahmewilligkeit des Auslandes abhängt, ſo daß die allmähliche Aufſaugung
der Hauptmaſſe der heutigen Erwerbsloſen durch die Exportinduſtrie eine ſehr
fragliche Sache iſt. Die Entwicklung der letzten Jahre hat ja auch gezeigt,
daß die meiſten Länder ſich im Intereſſe ihrer Binnenwirtſchaft durch hohe
Zölle, Einfuhrverbote und Einfuhrkontingentierung immer ſtärker gegen die
deutſche Induſtrie abzuſchließen ſuchen. Auf alle Fälle kann das Arbeitsloſen⸗
problem in Deutſchland auf einer ſolch unſicheren Grundlage für die Dauer
niemals befriedigend gelöſt werden. Abgeſehen davon, daß es das Ausland
(bei einem künſtlich überſteigerten und nur künſtlich aufrechterhaltenen Export
Deutſchlands) jederzeit in der Hand hätte, unſere ganze Volkswirtſchaft durch
einfache Zollerhöhungen, Einfuhrverbote uſw. vollſtändig in Anordnung zu
bringen und Wirtſchaftskriſen herbeizuführen, wäre es im Falle kriegeriſcher
Verwicklungen in Europa um die Ernährung des deutſchen Volkes ſchlecht
beſtellt.
Es war daher ein Fehler der früheren Regierungen, die Exportförderung
als Hauptmittel zur Löſung des Arbeitsloſenproblems zu betrachten, und daß
darüber Wege, auf denen vielleicht nicht fo raſch, aber um fo ſicherer und
dauerhafter ein großer Teil der Arbeitsloſen wieder in den Wirtſchaſts⸗
prozeß eingeſchaltet werden kann, ganz vernachläſſigt wurden.
Die wichtigſte Dauerlöſung iſt und bleibt aber die Schaffung von Arbeit
in der Arproduktion zur Steigerung der Leiſtungsfähigkeit der deutſchen Land⸗
wirtſchaft und ihrer Nebenzweige, wodurch zugleich die landwirtſchaftliche Er⸗
856 R. Trenkle
zeugniſſe verarbeitende und landwirtſchaftliche Produktionsmittel herſtellende
Induſtrie ſtark befruchtet und gefördert wird. Nur auf dieſe Weiſe wird es
möglich fein, die keinesfalls zu umgehende Rückbildung der überſteigerten In-
duſtrieentwicklung herbeizuführen und durch die Rückführung eines großen
Teils der heutigen Erwerbsloſen zur Arproduktion auch wieder ſtabilere Pro⸗
duktions⸗ und Abſatzverhältniſſe für Induſtrie und Landwirtſchaft zu ſchaffen.
Vor einigen Jahren glaubten die Führer der Induſtrie und auch die Land⸗
wirtſchaftswiſſenſchaftler der deutſchen Landwirtſchaft und dem Gartenbau
keinen beſſeren Rat geben zu können, als durch Abernahme amerikaniſcher
Wirtſchaftsmethoden, insbeſondere durch weitgehendſte Mechaniſierung und
Ausſchaltung menſchlicher Arbeitskräfte, die Rentabilität der Landwirtſchaft
wiederherzuſtellen. Man überſah dabei aber, daß es ſich bei der landwirt⸗
ſchaftlichen und gartenbaulichen Erzeugung um einen naturgebundenen Pro-
duktionsprozeß handelt, und daß die natürlichen (Klima und Boden) und
abſatzwirtſchaftlichen Vorausſetzungen in Deutſchland ganz andere ſind als
in Amerika.
Weitgehendſte Rationaliſierung und Mechaniſierung der Betriebe mag in
der Exportinduſtrie notwendig und zweckmäßig ſein. Auch in der deutſchen
Landwirtſchaſt und im Gartenbau wird die fortſchrittliche Weiterentwicklung
der Maſchinenarbeit nicht zu entbehren ſein, ſei es, um dadurch eine entſpre⸗
chende Produktionsverbilligung oder eine raſchere Durchführung beſtimmter
an die Zeit und Witterung gebundener Arbeiten (beſonders in größeren Be⸗
trieben) zu gewährleiſten, oder ſei es auch nur, um dem Bauern und Gärtner
ſeine ſchwere körperliche Arbeit zu erleichtern. Im übrigen erfordert aber die
derzeitige Wirtſchaftslage Deutſchlands, daß möglichſt viele Arbeitskräfte in
der Produktion für den Binnenmarkt und hier nicht zuletzt auch in der Ur-
produktion eingeſetzt werden.
In bezug auf die Arbeitsintenſität ſpielen aber in der Landwirtſchaft von
jeher nicht nur die vorwiegend auf die landwirtſchaftliche Veredelungswirt⸗
ſchaft (Eier⸗, Milch- und Käſeproduktion uſw.), ſondern ganz beſonders die
auf Intenſivkulturen, wie Obſt⸗ und Weinbau, eingeſtellten klein- und mittel-
bäuerlichen Betriebe eine große Rolle, und nicht zuletzt die eigentliche Gärt⸗
nerei. Letztere weiſt wohl die größte Arbeitsintenſität auf. Dr. Laupheimer“)
hat auf Grund zweier vergleichender Aufzeichnungen in verſchiedenen land-
wirtſchaftlichen und gärtneriſchen Betrieben der Umgebung von Alm feft-
geſtellt, daß auf 1000 ha landwirtſchaftlich genutzter Fläche 190 Männer, auf
1000 ha intenſiv gärtneriſch genutzter Fläche aber 5170 Männer, alſo 27mal
ſoviel Männer, Beſchäftigung finden.
Leider fehlt uns bisher eine genaue und neuere Gartenbauſtatiſtik.
Bei der letzten Betriebszählung vom Jahre 1925 find als Gartenbau-
betriebe nur ſolche Betriebe geſondert aufgeführt worden, die nach ihren An⸗
gaben vorwiegend den Verkauf gärtneriſcher Erzeugniſſe betreiben oder vor-
wiegend der Anterhaltung öffentlicher Gartenanlagen, Friedhöfe uſw. dienen.
Obwohl in der Statiſtik bei der von den Gartenbaubetrieben genutzten Fläche
*) Dr. G. Laupheimer, Berichte über Landwirtſchaft, Neue Folge Band V,
1927. P. Parep, Berlin.
Förderung der arbeitsintensiven Gartenbaukulturen 857
auch die landwirtſchaftlich genutzten Flächen und die öffentlichen Anlagen und
Friedhöfe mit einbezogen ſind, tritt doch in der Betriebsſtatiſtik des Jahres
1925 die große Arbeitsintenſität der Gartenkulturen gegenüber der reinen
Landwirtſchaft deutlich in Erſcheinung, wie die nachfolgenden Tabellen zeigen:
I. Arbeitsintenfität der Gartenbaubetriebe.
Garten⸗
Zahl der baulich und Insgeſamt | Auf 100 ha gartenbaue
Gartenbau⸗ landw. genutzte] beſchäftigte an a Ma ae
Geſamtfläche hen
betriebe Perfonen ſchäftigte Perſonen
Deutſches Reich
Pfalz (ohne Saarpfalz) 246
Stadt Berl n 265
Hamburg Staat 327
Proving Rheinheſſen 337
II. Arbeitsintenfität der landwirtſchaftlichen Betriebe.
Auf 100 ha
landw. genußter
Flache treffen bee
Landwirtſch. Zahl der land · Zahl der in der
genutzte Fläche wirtſchaftlichen] Landwirtſchaft
Bezirk insgeſamt Betriebe beſchäftigten
ſchaͤftigte Berſo⸗ Bemerkungen
nen bei Betrie⸗
ben unter 2 ha
in ha insgeſamt Perſonen
Land Mecklenburg ⸗
Schwerin 833 184 90 754 227 887 27 er en an
Bezirk Königsberg. | 2323088 84 382 795 795 34
Bezirk Straubing 37 045 2.965 13 336 36 ehe
bduerlid. Berit
Wayern. . . . . 3 949 040 639 124 2 134 266 54
Preußen 16 108 678 3020 807 8 390 344 52
Deutſches Reich . | 25598 160 5143083 | 14355 362 56
Auf je 100 ha vorwiegend gartenbaulich genutzter Fläche ſind ſomit in den
Gartenbaubetrieben im Reichsdurchſchnitt 117 Perſonen, in einigen Gebieten
aber bis 377 Perſonen beſchäftigt, während demgegenüber auf 100 ha land-
wirtſchaftlich genutzter Fläche im Reichsdurchſchnitt nur 56 und in den Gee
bieten mit reinem Ackerbau und vorwiegenden Großbetrieben, wie in Med.
lenburg⸗Schwerin, insgeſamt ſogar nur 27 Perſonen beſchäftigt find. Dabei
iſt zu berückſichtigen, daß in der Statiſtik bei der Gefamtlandwirtſchaft auch
der Gartenbau wieder mit einberechnet iſt. Zu berückſichtigen iſt ferner, daß
im deutſchen Gartenbau ſeit dem Jahre 1925 eine ſehr ſtarke Intenſivierung
der Betriebe durch den Bau von Gemüſetreibanlagen, die einen erhöhten
Arbeitsauſwand erfordern, ſtattgefunden hat. Immerhin wird auch durch die
Betriebsſtatiſtik des Jahres 1925 beſtätigt, daß im Gartenbau 8—12mal fo-
viele Menſchen auf gleicher Fläche beſchäftigt werden wie in der Landwirt-
Agrarpolitik Heft 12, Bg. 4
858 R. Trenkle
ſchaſt. Wichtig dabei iſt, daß der Gartenbau nicht nur überhaupt verhältnis-
mäßig mehr Menſchen auf gleicher Fläche beſchäftigt, ſondern daß er verhält
7 auch mehr fremde Arbeitskräfte aufnimmt wie die reine Land⸗
wirtſchaft.
Während bei der Geſamtlandwirtſchaft (einſchließlich des Gartenbaues)
in Deutſchland auf 100 in der Landwirtſchaft beſchäftigten Perſonen 22,9
fremde Arbeitskräfte treffen, kommen in den Gartenbaubetrieben auf 100 be⸗
ſchäftigte Perſonen 48 fremde Arbeitskräfte, alſo doppelt ſoviele als in der Gee
ſanmlandwirtſchaft. In den Gartenbaubetrieben von 2—5 ha Größe
treffen ſogar von 100 beſchäftigten Perfonen 64 auf
fremde Arbeitskräfte, in der gleichen Größenklaſſe der
Landwirtſchaft dagegen nur rund 8.
Als Intenſivkulturen ſind aber nicht nur die rein gärtneriſchen Kulturen
ſowie der gärtneriſche Obft- und Gemüſebau, ſondern auch der bäuerliche
Obſt⸗ und Gemüſebau anzuſprechen. Die bäuerlichen Obſt⸗ und Ge⸗
müſebetriebe find jedoch bei der Berufſsſtatiſtik nicht ausgeſchieden, ſondern
mit in die Landwirtſchaft eingerechnet. Trotzdem kommt in der Berufsſtatiſtik
auch die Arbeitsintenſität dieſer Betriebe bis zu einem gewiſſen Maße zum
Ausdruck, wenn man die Verhältniſſe der in nachfolgender Tabelle III auf-
geführten obſt⸗ und gartenbaulich wichtigen Bezirke und Gemeinden mit der
in Tabelle II dargelegten Verhältniſſe in der Geſamtlandwirtſchaft Deutſch⸗
lands bzw. in einigen Bezirken und Gemeinden mit rein landwirtſchaftlichen
Betrieben vergleicht.
III. Arbeitsintenfität der landwirtſchaſtlichen Betriebe in einigen
obit- und gartenbaulich wichtigen Bezirken und Gemeinden
Landwirtſch.] Zahl der Iand- Zabl der in der Auf 100 ha
land at
genutzte Fläche wirtſchaftlichenſ Landwirtſchaft Rade treffrm 155
Diet insgefamt Betriebe beſchäftigten ſchaͤftlate Perſo · Bemerkungen
in ha insgeſamt Perſonen 1 5
Würzburg Stadt . 17°86 817 2 298 131
Bamberg Stadt. 1583,3 1091 2147 136
Bezirk Speyer. 6 330,0 3553 8 981 142 „ Stadt und
Bezirk Dürkheim 9 688,0 5534 15 169 157 Landkreis Bonn
Gemeinde Schifferſtabt“ 1 663,9 1177 2 269 178 une "mat 1410
Bezirk Karlsruhe. . 102 474,0 75 884 184 740 180 55
Berlin Stadt. „| 24 198,0 51593 44 166 183 male,
Stadtkreis Bonn. . 11038 1 229 2333 211°) | Bette 78 auge.
Darnach beträgt die Zahl der in der Landwirtſchaft auf 100 ha Fläche be⸗
ſchäftigten Perſonen in den obft- und gemüſebaulich oder weinbaulich bedeu⸗
tenderen Bezirken und Gemeinden das 5—7fache gegenüber den Bezirken und
Gemeinden mit reiner Landwirtſchaft.
Daß der Gartenbau der reinen Landwirtſchaft in der Beſiedlungsmöglich⸗
keit überlegen iſt, geht auch aus der in nachfolgender Tabelle IV aufgeführten
Dichte der Familienbetriebe in den einzelnen Gebieten Deutſchlands hervor.
— — — — — —
Förderung der arbeitsintensiven Gartenbaukulturen 859
Tabelle IV.
Zahl der Fa-] Flächenanteil
milienbetriebe | der Familien-
Verwaltungsbezirk auf 1000 ha ber] betriebe an der Bemerkungen
Geſamtfläche ] Geſamtfläche
des Bezirkes in v. H
Land Mecklenburg⸗Stre litt 23,4 12,0
Megierungs-Bezirf Stralſund . 24,2 14,6 reiner Ackerbau
Land Mecklenburg⸗Schwerin 328 15,8
Regierungs-Bezirk Oberbayern 57,1 55,1 — . ungtine
Regierungs⸗Bezirk Niederbayern 74,2 62,8
Regierungs⸗Bezirk Unterfranken 151,5 82,2 Obſt⸗, Gemilfes und Welnban
Degierungs-Bezirf Erfurt 177,6 69,9 viel Gartenbau
MNegicrungs-Bejzir! KRobleny . . . 198,8 86,6
Regierungs-Bezirk Wiesbaden 227,2 89,3
GNC. : Se 3 4 83 257,1 89,3 rg Gemäfe und
FP 4 4S ] 292,6 925
Bezirk Karlsrufe. . . 2 2 0. 376,2 92,3
Wir ſehen alſo auch hier wieder, daß die größte Dichte der Familien-
betriebe und die arbeitsintenſivſten Betriebe vornehmlich in den klimatiſch
günſtigeren Gebieten Süd- und Weſtdeutſchlands zu finden find. Für dieſe
bildet der Objt- und Gemüſebau bzw. der Weinbau eine mehr oder weniger
ſtarke Einnahmequelle, in vielen Gemeinden überhaupt die Einnahmequelle.
Ja, die kleinbäuerlichen Betriebe und die zahlreichen Parzellenwirtſchaften
der klimatiſch günſtigeren Gebiete find auf ſolche Intenſivkulturen direkt an-
gewieſen, da fie mit Ackerbau und Viehzucht auf ihrer kleinen Scholle über-
haupt nicht mehr exiſtenzfähig ſind.
Welche Bedeutung z. B. dem Obſtbau in den bäuerlichen Betrieben Süd—
deutſchlands zukommt, zeigt ferner u. a. folgende Zuſammenſtellung von der
Badiſchen Landwirtſchaftskammer über den Anteil des Obſtbaues an dem
Geſamtrohertrag von 10 landwirtſchaftlichen Mittel⸗ und Kleinbetrieben
Badens:
. EN EI EI ENEIKIKAEN EN
Seſamtgröße des Betriebes in ha. . 65,5 30,0 18,5 131,0 3,0] 2,9] 2,2] 2,0| 1,8] 1,0
Anteil der obſtbaulich genutzten Fläche
P 6,9] 88] 4,3] 3,7] 6,3 34,5 15,9] 15,0 | 15,5 31,5
Obſtbaulicher Anteil am Rohertrag
FFP 28,0 | 16,2 | 12,6 | 13,2 | 26,4 | 61,8 | 42,7 | 58,7 | 54,3 | 54,6
*) jährige Durdf[Gnittszahlen.
Das Ausland weiß, warum es ſeine Intenſivkulturen mit allen Mitteln zu
fördern ſucht. Im Frühjahr 1930 hat in München der Staatsſekretär im
italieniſchen Landwirtſchaftsminiſterium Marescalchi einen Vortrag über die
ne Förderung der Landwirtſchaft in Italien gehalten. Er hat dabei
mmer wieder betont, daß die Regierung Muſſolinis ſich die Förderung der
Landwirtſchaft und ganz beſonders der landwirtſchaftlichen Intenſivkulturen,
4*
860 R. Trenkle
Obft- und Gemüſebau zur Hauptaufgabe gemacht habe, um auch der in
Italien ſich bemerkbar machenden Landflucht vorzubeugen. Er ſührte ferner
wörtlich folgendes aus:
„Dieſe Entwicklung (die Ausdehnung des Objt- und Gartenbaues) kommt
auch aufs beſte dem Anwachſen der Bevölkerung entgegen, da durch ſie die
Landbevölkerung mehr lohnendere Arbeit findet. Während das Getreide
50 —60 Tagſchichten pro Hektar erfordert, braucht die Tomate 180 —200, die
Pfirſichpflanzung 270, der Orangenhain 280 — 350; der Frühgemüſebau und
die intenſive Gartenwirtfchaft 400 — 600. Außerdem tft die Tätigkeit ab⸗
wechſlungsreicher und verteilt ſich beſſer über das Jahr und bringt einen
höheren Nutzen dee
Muſſolini ift z. Z. dabei, große Flächen brachliegendes Land, insbefondere
die Pontiniſchen Sümpfe, unter einem Aufwand von 212 Mill. Lire, in
ſruchtbares Kulturland zu verwandeln, wovon ein großer Teil bereits dem
Obſt⸗ und Gemüſebau dienſtbar gemacht wurde.
Noch früher haben die Niederlande die große Bedeutung des Gartenbaues
als Intenſivkultur für die Volkswirtſchaft erkannt. Hier haben die ganzen
wirtſchaftspolitiſchen Verhältniſſe ſchon lange vor dem Krieg zur Entwicklung
eines intenſiven Gartenbaues gedrängt, da die Niederlande keine Bodenſchätze
und keine Induſtrie beſitzen, um die wachſende Bevölkerung aufzunehmen, die
Bevölkerung ſuchte von jeher ihre Exiſtenz in Bodenbewirtſchaftung. An⸗
nähernd die Hälfte des Kulturlandes der Niederlande liegt in Händen von
Kapitaliſten, die an Eigenbewirtſchaftung des Grund und Bodens kein Inter-
eſſe haben, weil die Verpachtung in kleinen Parzellen an die große Zahl der
vorhandenen exiſtenzſuchenden jungen Bauern und Gärtnern weſentlich höhere
Einnahmen ermöglicht. Die Pächter wieder ſind infolge hoher Pachtſummen
zu Intenſivkulturen gezwungen. Daher die raſche Zunahme von Glas haus-
kulturen in den Niederlanden.
Im heutigen Deutſchland mit feinem Volk ohne Raum drängen die Ver⸗
hältniſſe genau wie in den Niederlanden oder wie in Italien und in den
Balkanländern nach einer Intenſivierung der Bodenkultur, da wo die natür-
lichen Vorausſetzungen dafür günſtig ſind. Während aber Italien und Holland
ihre Intenſivkulturen längſt über das für ihren eigenen Bedarf notwendige
Maß hinaus geſteigert haben und mit den Erzeugniſſen ihrer Intenſivkulturen
auf die Ausfuhr angewieſen ſind, wobei ſie es hauptſächlich auf den deutſchen
Markt abgeſehen haben, befindet ſich Deutſchland in der günſtigen Lage, nicht
nur für die derzeitige Produktion ſeines Gartenbaues, ſondern bei entſprechen⸗
den Schutzmaßnahmen auch noch einer ſtark vermehrten Obſt⸗ und Gemüfe-
produktion Abſatz auf dem eigenen Markt bieten zu können und damit gleich⸗
zeitig jährlich über 300 Mill. RM., die für fremdländiſche Gartenbauerzeug-
niſſe in das Ausland wandern, der eigenen Volkswirtſchaft zu erhalten.
Das kleine Holland hat heute 25,6 Mill. qm Bodenfläche unter Glas, das
große Deutſchland nur etwa 4,5 Mill. qm. Würde für den deutſchen Treib-
gemüſebau“) und Blumenbau durch einen angemeſſenen Zollſchutz eine beſſere
Rentabilität dieſer Kulturen gewährleiſtet und würde er dadurch in die Lage
verſetzt, nur annähernd die gleiche Fläche wie Holland unter Glas zu legen,
*) Siehe Kurt Fachmann: „Autarkie in Treibgemüſe“. Deutſche Agrarpolitik
Heft 1.
Förderung der arbeitsintensiven Garienbaukulturen 861
jo würde dadurch eine reſpektable Ankurbelung der Wirtſchaft erreicht, denn
es würden in kurzer Zeit mindeſtens 600 Mill. RM. für Erſtellung neuer
Betriebsanlagen und jährlich weitere große Beträge für die Anterhaltung
dieſer Betriebsanlagen (Glas, Koks uſw.) der deutſchen Induſtrie zufließen.
Wird außerdem durch einen angemeſſenen handelspolitiſchen Schutz die Ren⸗
tabilitätsgrundlage für den geſamten Obft- und Gemüſebau wieder hergeſtellt,
dann würden erſt die Vorausſetzungen und Möglichkeiten für umfangreiche
landwirtſchaftliche und gärtneriſche Siedlungen gegeben ſein. Vor allem aber
würden dann die vorhandenen gartenbaulichen Betriebe, die zum Teil infolge
der durch die ſchrankenloſe Auslandskonkurrenz verurſachten Anrentabilität
vieler Kulturen ihre Betriebe überhaupt nicht voll ausnutzen können, ſehr
bald eine große Zahl von Arbeitskräften mehr einſtellen, ſo daß in kurzer Zeit
mehrere hunderttauſend Menſchen im Gartenbau neue Arbeit und Verdienſt—
möglichkeit finden würden. Der deutſchen Induſtrie und dem Gewerbe würden
durch den Ausbau der Betriebsanlagen und deren Unterhaltung neue Auf-
träge zufließen, wobei zu berückſichtigen iſt, daß der prozentuale Anteil der
Aufwendungen für Produktionsmittel (einſchließlich der Verpackungsmateria⸗
lien) nicht nur in der eigentlichen Gärtnerei, ſondern auch im Obſt⸗ und Ge-
müſebau ein weſentlich größerer iſt als in der reinen Landwirtſchaft. Durch
den Mehrverbrauch an Dünger, Schädlingsbekämpfung, Verpadungsmateria-
lien uſw. wäre dauernd eine größere Zahl von Arbeitern beſchäftigt, wie auch
die deutſche Obſt⸗ und Gemüſekonſerveninduſtrie wieder einen neuen Auftrieb
erhielte und zur Entlaſtung des Arbeitsmarktes beitrüge.
Bisher haben ſich die zahlreichen Mittel-, Klein- und Zwergbetriebe mit
Intenſivkulturen als am kriſenfeſteſten gezeigt, trotzdem die Preiſe für ihre
Erzeugniſſe (insbeſondere für Gemüſe) ſtändig zurückgingen und zeitweiſe weit
unter den Produktionskoſten ſanken. Die Intenſivbetriebe konnten ſich jedoch
bisher überhaupt nur dadurch noch über Waſſer halten, daß die Betriebs-
inhaber und ihre Familienmitglieder die ſtändig ſinkenden Preiſe für ihre
Erzeugniſſe durch entſprechende Mehrarbeit wieder wettzumachen fuchten. Für
ſie gab und gibt es keine achtſtündige und zehnſtündige Arbeitszeit, ſondern
in zäher Arbeit ringen ſie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang um ihr
täglich Brot. Dabei darf man ſich keinem Zweifel darüber hingeben, daß die
körperliche Anſtrengung und die Einſchränkung der geſamten Lebenshaltung
dieſer Familienbetriebe heute ſchon längſt ein geſundheitlich und völ⸗
kiſch noch erträgliches (ſtatiſtiſch nur ſchwer erfaßbares) Maß erreicht hat.
Daraus ergibt ſich von ſelbſt die zwingende Notwendigkeit eines aleich-
mäßigen und möglichſt lückenloſen handelspolitiſchen Schutzes für alle land-
wirtſchaftlichen Betriebszweige, ganz beſonders auch für die vielen Tauſende
von mittleren, kleineren und kleinſten Intenſivbetrieben mit vorwiegendem
Objt- und Gartenbau oder Weinbau.
Das Archiv
Von überragender Bedeutung für
die Zukunft der geſamten Nation iſt
die im verfloſſenen Monat erfolgte
Annahme des Gefetzes über das bäuer⸗
liche Erbhofrecht. Zum erſten Male iſt
mit dieſem Erbhofrecht eine grundſätz⸗
liche nationalſozialiſtiſche Idee in das
deutſche Rechtsleben hineingetragen
worden, ein Grundſatz, für deſſen Ver.
wirklichung insbeſondere der Reichs-
bauernführer R. Walther Darre ſeit
Jahren gekämpft hat. Der „Völkiſche
Beobachter“ ſchreibt in ſeiner Berliner
Ausgabe vom 12. Mai, daß ſchon bei
einer flüchtigen Prüfung des Gefeb-
werkes erſichtlich ſei, daß es ſich um
eine geſetzgeberiſch große Tat handelt,
auf die der das Volk befreiende, dem
Volk dienende Nationalſozialismus mit
Recht ſtolz ſein dürfe. Für das Land
werde wieder der Begriff des Erb-
hofes als germaniſche Rechtsnorm auf⸗
gerichtet. Während nach römiſcher
Rechtsauffaſſung der Grund und
Boden vom Erben willkürlich wie eine
verkäufliche Sache behandelt werden
könne, galt der Bauernhof den Ger⸗
manen immer als Erbe der Sippe, als
Erbe des ganzen Volkes, über das der
einzelne nicht verfügen konnte und das
auf Kinder und Kindeskinder zu ver—
erben der Bauer verpflichtet war. „Der
Bauer hat ein Kind!“, lautet ein alter
germaniſcher Rechtsſatz, der jetzt nach
langen Jahrhunderten wieder Leben
und Gültigkeit erlangen werde. Der
Erbhof, ſo heiße es in dem Geſetz, ver—
erbe ſich nach Anerbenrecht. Der Eigen-
tümer heiße Bauer. Mehr Erbhöfe
als einen habe der Bauer nicht. Der
Bauer habe nur ein Kind, dem er den
Erbhof vermachen könne. Dieſes Kind
iſt der Anerbe. Anerbe könne nur ſein,
wer deutſchen Blutes iſt und die
deutſche Staatsangehörigkeit beſitze.
Der Erbhof dürfe nicht ſo groß ſein,
daß ſeine Bewirtſchaftung nicht mehr
von einer Hofſtelle aus ohne Vorwerke
durchgeführt werden kann. Zur Ver—
äußerung eines Erbhofes oder eines
Teiles dieſes Erbhofes fei die Gee
nehmigung des Anerbengerichts erfor-
derlich. Das Anerbengericht beſtehe
aus dem Amtsrichter und zwei Bau⸗
ern. Es habe ſeine Entſcheidungen
unter dem Geſichtspunkt der Erhaltung
und der Einheit des Hofes zu treffen.
Als Erbhof gelte nur der Beſitz, der
in die Anerbenrolle eingetragen iſt.
Dazu ſchreibt die „Deutſche Tages⸗
zeitung“ am 12. Mai: „Die Ein-
führung des ‚Erbhofrechts“ für den
größten Teil des Landes Preußen
bedeutet im Zuge der Entwicklung des
deutſchen Bodenrechts, damit aber zu-
gleich des deutſchen Bauerntums,
eine Tat, die Juſtizminiſter Kerrl mit
Recht in Vergleich zu der Bauern-
befreiung durch Freiherr vom Stein
ſtellt. Sie iſt zugleich eine revolu-
tionäre Tat; aber die Tat einer
Revolution, die nichts Lebensfähiges
und Aberkommenes niederreißt, fon-
dern uraltes germaniſchs Recht zu
neuem Leben erweckt und auf dieſer
Grundlage natürliche Bindungen wie⸗
der herſtellt, die unter dem Einfluß
undeutſchen Rechts weithin verloren-
gegangen waren. Damit alſo die Tat
einer wahrhaft deutſchen Revolution.
Revolutionär iſt auch das Tempo
dieſer geſetzgeberiſchen Arbeit. In
wenigen Wochen iſt ſie, in aller Stille,
im preußiſchen Juſtizminiſterium zur
Reife gediehen. Der preußiſche Gefeß-
geber iſt ſich völlig klar darüber, daß
dieſe Regelung des bäuerlichen Erb-
rechts, wenn auch ein grundſätzlicher
Schritt von hiſtoriſchem Ausmaß, ſo
doch nur ein Anfang iſt. Damit das
Erbhofrecht wirkliches Leben gewinnt,
muß vor allem die Verſchuldungsfrage
für den bäuerlichen Beſitz von Grund
auf geordnet werden, mit der Unver-
ſchuldbarkeit deutſcher Bauernhöfe als
oe wenn auch leider wohl fernem
iel.“
Das Archiv
Anläßlich der Eröffnung der 39. gro-
ßen ch der Deutſchen
Landwirtſchafts⸗Geſellſchaft in der
Reichshauptſtadt Berlin veröffentlicht
der Reichsbauernführer R. Walther
Darré in der Sonderbeilage des „Völ—
fifhen Beobachters“ einen Artikel, in
dem es heißt, daß die 39. Wanderaus⸗
ſtellung der D. L. G., die zu den größten
und bedeutendſten ihrer Art in der
Welt zählte, eine doppelte Aufgabe
habe. Sie ſolle dem Bauern neue An⸗
regung und neues Rüſtzeug zu ſeinem
ſchweren Kampf vermitteln und dare
über hinaus verbindend wirken zwi⸗
ſchen Stadt und Land. Nur zu treffend
habe der Führer und Reichskanzler
Adolf Hitler vor kurzem in feiner pro-
grammatiſchen Rede am Tage der
nationalen Arbeit geſagt, daß das
deutſche Volk ſich zunächſt unterein-
ander wieder kennenlernen müſſe. Der
Bauer müſſe lernen, die Sorgen des
Städters verſtehen und der Städter
die Sorgen des Bauern. Die Bauern
kämen diesmal unter den Fahnen des
Nationalſozialismus zur D. L. G.⸗Wan⸗
derausſtellung. Zwiſchen den 27 Sab-
ren, da die D. L. G. zum letzten Male
ihre Wanderausſtellung in Berlin ver-
anſtaltet habe, liege ein Stück wechſel⸗
vollſter deutſcher Geſchichte, ein gigan⸗
tiſches Ringen um die Erneuerung der
deutſchen Nation, deren erſte Etappe
durch den beiſpielloſen 14 jährigen
Kampf Adolf Hitlers nunmehr abae-
ſchloſſen fei und in deſſen zweiten Ab⸗
ſchnitt wir jetzt eintreten. Dem Bau⸗
erntum würde in dieſem Ringen um
die Neugeſtaltung Deutſchlands unge»
heuer große Aufgaben erſtehen. Es
gelte nicht nur, Deutſchlands Erneue⸗
rung reſtlos auf eigener Scholle ficher-
zuſtellen, ſondern auch den Leitgedanken
des Bauerntums von Blut und Boden
zum Leitgedanken des geſamten Volkes
zu machen. Denn allein aus den Ur-
kräften der Natur ſei eine Erneuerung
des Volkes möglich. Das zu verwirk-
lichen, und damit die Zukunft des deut—
ſchen Volkes für die fernſten Zeiten
ſicherzuſtellen, fei die hiſtoriſche Auf-
gabe, die ſich das deutſche Bauerntum
863
unter den Fahnen des Nationalſozia⸗
lismus geſtellt hat.
Die „Deutſche Allgemeine Zeitung“
ſchreibt in ihrer Ausgabe vom 27. Mai
zur Wanderausſtellung der D. L. G.,
daß man ohne Abertreibung ſagen
könne, daß die Reichshauptſtadt Berlin
und die deutſche Landwirtſchaft in die-
ſen Tagen eine untrennbare Einheit
darſtelle. Aber dieſe Ausſtellung fet
nicht auf Augenblickswirkung berechnet.
Sie habe den hohen Sinn und Zweck,
dem Großſtadtbewohner das Land nicht
nur materiell, ſondern auch ſeeliſch
näherzubringen, ihm ein klares Bild
zu geben von den Aufgaben, die der
Landmann im Dienſt der deutſchen
Volksgemeinſchaft zu erfüllen hat und
von den ſchweren Kämpfen und Nöten,
die er zu beſtehen hat, um dieſen Auf⸗
gaben gerecht zu werden. Es ſei tau⸗
ſendmal geſagt worden, daß der Stdd-
ter kein Verſtändnis für den Bauern
aufbringen könne und daß der Bauer
umgekehrt auch den Städter nicht ver-
ſtehe. Mit der Wiederholung dieſer
Behauptung ſei weder dem einen noch
dem andern Teil gedient. Städter und
Landmann müſſen ſich verſtehen,
denn beide ſeien aufeinander angewie⸗
fen als Produzent und Konſument, fo-
wohl als auch als Menſchen gleichen
Blutes und gleichen Schickſals.
Auf einer Gautagung des Gaues
Brandenburg der NSDAP. teilte der
Reichskommiſſar Herbert Daßler, M.
R., im Rahmen einer Rede mit,
daß er die Anklage gegen den früheren
Reichsminiſter Dr. h. c. Schiele der
Staatsanwaltſchaft übergeben habe.
Der frühere Reichsernährungsminiſter
wird beſchuldigt, während feiner Amts-
zeit und als Mitglied des Verwal—
tungsrates der Deutſchen Getreide
Handels-Geſellſchaft fowie als Reichs-
landbund⸗Präſident mehrere Waggon—
ladungen ſeiner Roggenernte an die
von ihm reichsbetreute Deutſche Ge—
treide⸗Handelsgeſellſchaft zu weit über
dem täglichen Kurs liegenden Preiſen
verkauſt zu haben. Die Anzeige beſagt
weiter, daß Schiele gewußt habe, daß
er zu ungerechtfertigten Preiſen ſeinen
Roggen an die D. G. H. verkauft habe.
864
Die Anklage lautet auf Beihilfe zur
handels rechtlichen Antreue gegen die
Direktoren der D. G. H., Kurt Kozuſzek
und Rudolf Möller, auf handelsrecht⸗
liche Antreue.
Auf einer großen Bauernkundgebung
am 14. Mai ſprach der Reichsbauern⸗
führer R. Walther Darré in Meinin-
gen über die Bauernpolitik des neuen
Staates. Es gebe keinen andern Weg
zur Rettung des Bauerntums, als
den, den Hitler beſchritten habe, näm⸗
lich erſt den Staat Ändern, ehe an wirt⸗
ſchaftliche Maßnahmen des Bauern⸗
tums herangetreten werden könne. Das
Bauerntum fet zu einem nebenſäch⸗
lichen Wirtſchaftsfaktor gemacht wor-
den, während es in Wirklichkeit den
wichtigſten Beſtandteil der Nation aus-
mache. Der einzige politiſche Garant
für eine zielbewußte Bauernpolitik ſei
der Reichskanzler Adolf Hitler. Von
der Geſchloſſenheit, mit der ſich das
deutſche Bauerntum heute zu ſeinem
Volkskanzler bekenne, hänge weſentlich
Hitlers Stellung dem Ausland gegen-
über ab. Sie müffen draußen wiſſen,
daß das deutſche VBauerntum ſich zu
dieſem Manne bekenne und entſchloſſen
ſei, mit ihm zu ſiegen und zu fallen.
Ohne ihn habe es heute keinen Zweck
mehr, deutſcher Bauer zu ſein. Es
dürfe künftig in Deutſchland, ſo betonte
Darré, nur Führer werden, wer ein
„Kerl“ fei. Es fei unſere Aufgabe, ber-
auszufinden, wer in der kommenden
Generation ſolche Kerle ſind. Die Zu—
kunft, alles, was der Bauer heute
baue, hänge davon ab, ob es gelinge,
dieſe „Kerle“ unter den Jungbauern
ausfindig zu machen. Man müſſe dem
Jungbauerntum die Tradition der
Front vermitteln, damit es als Stand
am Leben bleiben könne.
In der „Nationalſozialiſtiſchen Land-
poſt“ vom 28. Mai veröffentlicht der
Reichsbauernführer R. Walther Darre
einen grundlegenden Aufſatz über die
Neugliederung des deutſchen Land—
ſtandes. Danach ſoll der Grundplan
etwa folgendermaßen ausſehen: „Als
Aufgabe ſteht vor uns, aus der Wiel:
heit der freien und halbamtlichen Ver—
bände eine Standesvertretung des
Das Archiv
deutſchen Landſtandes zu ſchaffen. In
dieſen einen Stand müſſen die be⸗
ſtehenden Verbände auf einige wenige
Sparten, Hauptabteilungen oder wie
man es nennen will, zuſammengefaßt
bzw. aufgeteilt werden. Von dieſem
Standpunkt aus ergeben ſich folgende
Sparten bzw. Hauptabteilungen:
1. Die Hauptabteilung, welche den
Menſchen im Landſtand betreut,
alſo die eigentlich ſtändiſchen Aufgaben
übernimmt. — In dieſe Hauptabteilung
wären die freien Verbände einzuglie⸗
dern, alſo etwa das, was ſich in der
Reichsführergemeinſchaft des deutſchen
Bauerntums zuſammengeſchloſſen hat.
2. Die Hauptabteilung, welche den
Hof, den landwirtſchaftlichen Betrieb
betreut, alſo die eigentlich betriebs-
wirtſchaftlichen und betriebstechniſchen
Aufgaben übernimmt. — In dieſe
Hauptabteilung wären die halbamt⸗
lichen und amtlichen Selbſtverwal⸗
tungskörper, wie es z. B. die Lande
wirtſchaftskammern darſtellen, hinein⸗
zunehmen.
3. Die Hauptabteilung, welche das
Genoſſenſchaftsweſen betreut
und alſo die heutigen Genoſſenſchaften
eingliedert. Allerdings iſt dann eine
Vorausſetzung hierzu, daß die Genof-
ſenſchaften ſich wieder auf ihre alte
Aufgabe beſchränken.
4. Die Hauptabteilung, welche die
Warenbewegung betreut, alſo
der Handel mit Erzeugniſſen des
Landſtandes und Betriebsmitteln des
Hoſes. In dieſe Hauptabteilung wäre
der Deutſche Landhandelsbund einzu⸗
gliedern.
5. Die Hauptabteilung, welche das
Geldweſen des Landſtandes be⸗
treut. Aber Einzelheiten dieſer Haupt⸗
abteilung ſoll im Augenblick nichts
näher geſagt ſein.
Ob fonſt noch Hauptabteilungen ge-
bildet werden ſollen, oder wie die innere
Aufteilung der Hauptabteilungen vor ſich
gehen ſoll, iſt im Augenblick nicht we⸗
ſentlich zu entſcheiden. Weſentlich iſt
nur, daß jeder einzelne anfängt, an den
Aufgaben mitzudenken und von ſeinem
Teil aus an der Entwirrung der Lage
mitarbeitet.“
Das Archiv
Aber die Zinsfrage fand am 11. Mai
zwiſchen dem Reichsernährungsminiſter
und dem Reichsbauernführer R. Wal⸗
ther Darré eine Anterredung ſtatt, die
zu keinem abſchließenden Ergebnis
führte. Die Schlüſſelfrage, ſo wurde
vom Amt für Agrarpolitik vorgetragen,
ſtecke im Zinsproblem. Der Ertrag der
Arbeit dürfe nicht ausſchließlich zur
Befriedigung der Kapitalſchuld und
damit der kapitaliſtiſchen Intereſſen
dienen, ſondern zum Wiederaufbau des
in feinen Grundlagen durch die Schä⸗
den des vergangenen Syſtems erſchüt⸗
terten landwirtſchaftlichen Betriebes.
Anterſtelle man die Verhältniſſe der
Landwirtſchaft vor dem Kriege, dann
ergebe fid, daß ſelbſt eine geſunde
Landwirtſchaft ſich nur mit etwa 20 %
verzinſen konnte und alſo heute dieſe
2% zuzüglich einer Amortiſationsquote
beſtenfalls die Höchſtgrenze darſtelle,
welche man heute der Landwirtſchaft
zumuten könne, um neben der Verzin⸗
jung des Kapitals einen Teil des Ar⸗
beitsertrages für den Wiederaufbau
und Inganghaltung des landwirtſchaft⸗
lichen Betriebes zur Verfügung zu
ſtellen.
Die „National- Zeitung“, Halber⸗
ſtadt, bringt in ihrer Ausgabe vom
27. Mai einen Aufſatz, nach dem das
preußiſche Landvolk eine rein national⸗
ſozialiſtiſche Landwirtſchaftspolitik for-
dert. Das deutſche Landvolk habe in
den letzten Wochen mit wachſender
Beſorgnis und Befremden erleben
müſſen, daß auf feinen für das Ge-
ſamtwohl des deutſchen Volkes ent-
ſcheidenden Arbeitsgebieten ſo gut wie
nichts geſchehen ſei. Die zweite Phaſe
der nationalſozialiſtiſchen Revolution,
der Aufbau des neuen Deutſchlands,
865
habe auf allen Gebieten pofitive Um-
wälzungen und grundlegende Neubau-
ten gezeitigt. Allein auf dem Gebiete
behördlicher und miniſterieller Maß⸗
nahmen für die Landwirtſchaft ſei eine
einzige Fehlanzeige zu beobachten. Die⸗
ſes Fehlen ſei um ſo befremdlicher, als
das deutſche Landvolk in ſeinen bisher
zerſplitterten Organiſationen und
Ständen in einem einzigen großen or-
ganiſatoriſchen und perſonellen Zuſam⸗
menſchluß die Einheitsfront geſchaffen
habe, die zu niemals vorher vorhan⸗
dener poſitiver Arbeit jedem Miniſter
zur Verfügung ſtehe, der in der Lage
fet, die Vorausſetzungen für das Ver-
trauen des deutſchen Landvolkes mit in
fein ſchweres und verantwortungs⸗
volles Amt zu bringen. Es ſei Herrn
Hugenberg in Preußen Gelegenheit ge-
geben worden, ſich in der bisher zur
Verfügung ſtehenden Zeit zu bewäh⸗
ren. Dieſe Bewährungsfriſt ſei ver-
ſtrichen, ohne daß für die Landwirt-
ſchaft irgendwelche Ereigniſſe eingetre-
ten ſeien, die eine Verlängerung des
gegenwärtigen Zuſtandes irgendwie für
erträglich erſcheinen ließen. Es gehe
bei der Aufbauarbeit, als deren Grund-
pfeiler die Geſundung der deutſchen
Landwirtſchaft Vorausſetzung für das
Gelingen fet, um das Schickſal des gan⸗
zen deutſchen Volkes. Das deutſche
Landvolk fei bereit, ſich mit feiner gan-
zen Kraft für das Gelingen des großen
Zieles einzuſetzen und fordere deshalb
eine Führung, deren Perſönlichkeit die
Gewähr dafür biete, daß die Arbeit
und die großen Opſer, die von dem
ganzen deutſchen Volke gebracht wer-
den müſſen, nicht umſonſt verpuffen.
Roland Schulze.
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über die wirtſchaftliche Berechtigung
einer „Endres“ Anlage in einem ldw.
Großbetriebe. N, 71 S. m. Tab. Kö-
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Keppler, Rid.: Die milchwirt⸗
ſchaftl. Verhältniſſe in d. Prov. Ober-
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Keßler, Heinz-Joachim, Diplldw.
Dr.: Betriebsorganiſation und Rein-
ertrag nach Anterſ. an Rübenwirtſchaf⸗
ten Mitteldeutſchl. Leipzig: Jänecke
1933. 143 S., Fig., 1 Taf. Gr.-8. 3.—.
— Arb. d. Inſt. f. ow. Betriebslehre
a. d. Aniv. Halle H. 44.
Krämer, Theo: Die deutſche Ge-
treidemüllerei (m. beſ. Berückſ. d. Wei⸗
gene u. Roggenmüllerei). 143 S. Frank -
furt, Wirtſch. u. ſozialwiſſ. Diſſ. v.
2. 2. 1931.
Mügge, Wilh.: Exiſtenzbedingun⸗
gen kleiner bäuerlicher Betriebe. 115
S. Kiel, Phil. Diſſ. v. 17. 4. 1931.
Reiher, Erwin: Die landw. Ver-
hältniſſe d. Kr. Görlitz u. bef. Berück⸗
ſicht. pflanzenbaul. Fragen. (Autogr.)
52 S. Breslau, Phil. Diſſ. Nov. 1930
(1931).
[Sa'id Ra’uf Vej] Rauf Bey,
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wiſſ. Diſſ. Auguſt 1930 (1931).
Scheu, Hans: Die Förderungs-
maßnahmen d. badiſchen Rindviehzucht
vom Geſichtspunkt d. heutigen Beur⸗
Neues Schrifttum
teilung aus. 64 ©. Gießen, Phil. Diff.
v. 30. 3. 1931.
on Otto, Dr.: Die Kriſe
d. ſozialiſtiſchen Landwirtſchaft in der
Sowjetunion. Berlin: Parey 1933.
82 S. 4°. 6.40; Abb.⸗Pr. 5.60. — Ber.
üb. Landw. Sonderh. 79.
Schneider, Oswald, Dr., Prof.:
Die Frage d. wirtſchaftlichen Anabhän⸗
gigkeit Polens. Eine wirtſchaftspol.
Studie. Königsberg: Gräfe und Anzer
(1933). 107 ©. Gr.-8° = Schriften d.
869
e f. oſtdeutſche Wirtſchaft an
3 d. Aniv. Königsberg Pr. N. F. Bd. 6.
Stoffens, Joh., Ludwig: Die
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ſtaatswiſſ. Diſſ. 1924 (1931).
Das preußiſche Waſſergeſetz v.
7. 4. 1913. Eingel. v. Frdr. Wilke.
Berlin: Waiſenhaus 1933. 361 S.
Kl.⸗8. = Die i Bes Landesgeſetzgebg.
Bd. 8. 6.—3
Doranzeige:
R. Walther Darré, der Kämpfer um Blut und Boden
Eine Lebens beſchreibung
Mit dem Siege der nationalſozialiſtiſchen Revolution iſt von den engeren
Mitarbeitern des Reichskanzlers Adolf Hitler beſonders der Mann in den
Vordergrund des politiſchen Lebens gerückt, dem die Einigung des geſamten
deutſchen Bauernſtandes geglückt iff: der Reichs bauernführer R.
Walther Darre Darré iff nach der politiſchen Amwälzung, getragen
von dem Vertrauen des geſamten deutſchen Bauernſtandes, zum Präſidenten
des Deutſchen Landwirtſchaftsrates, der Reichsführergemeinſchaft des deutſchen
Bauernſtandes, des Reichsverbandes der deutſchen landwirtſchaftlichen
Genoſſenſchaften und des deutſchen Landhandelsbundes gewählt worden, und
ſtellt damit unbeſtritten eine der einflußreichſten und aktivſten
Perſönlichkeiten des neuen Deutſchlands dar. Oft iſt das
Bild und die Zielſetzung dieſes Mannes unter der Herrſchaft des zuſammen⸗
gebrochenen Syſtems in der Offentlichkeit bewußt verzerrt worden. Handelte
es ſich doch hier um einen Mitkämpfer Adolf Hitlers, der der verflachten
großſtädtiſchen Ziviliſation den Grundſatz der Erneuerung der Nation durch
das Bauerntum entgegenſtellte. Darré iſt kein Mann ſchöner Worte. Ein
zäher Kämpfer, der im Gegenſatz zu oft von ihrer Arbeit redenden „Wirt⸗
ſchaftsführern“ tatſächlich, ohne Lärm und Aufhebens davon zu machen,
arbeitet und, ausgerüſtet mit gründlichſtem Wiſſen und praktiſcher
Erfahrung, immer wieder neue Wege zur Löſung der Agrarkriſe gezeigt hat.
Weil dieſem Manne das ſchöne Wort nicht liegt, iſt das Bild feiner Per-
fönlichkeit in der Offentlichkeit leider noch zu wenig bekannt. Jetzt hat
Dr. Hermann Reiſchle — als Stabsleiter des von Darré geführten Amts
für Agrarpolitik der Neichsleitung, deſſen engſter Mitarbeiter — eine neue
Schrift „Reichsbauernführer Darré, der Kämpfer um Blut und Boden“, als
Lebensbeſchreibung verfaßt, die foeben im Verlag „Zeitgeſchichte“, Berlin
W 35, im Umfang von 64 Seiten Text und 10 Vollbildſeiten (Preis 1 RM.)
erſchienen iſt und allen denen, die die Bedeutung des Bauerntums im neuen
Staate erkannt haben, ein eingehendes Bild über den Reichsbauernführer
entwirft. Wir lernen hier Familie und Erziehung Darrés kennen, den Front⸗
oldaten, ſein Ningen in der erſten Nachkriegszeit, Wiſſen und Wille des
annes, den politiſchen Kämpfer, den Aufbau des von ihm gegründeten agrar-
politiſchen Apparates und ſchließlich ſeine unmittelbaren Mitkämpfer. Alles
in allem eine Schrift, die ein Stück Zeitgeſchichte enthält und zu den
Büchern jedes Deutſchen gehört, der die Grundgedanken Darrés von Blut
und Boden als den Kernpunkt der Erneuerung der deutſchen Nation kennen-
gelernt hat oder noch kennenlernen will.
Für unverlangt eingefandte Manuſkripte keine Sewähr
Hauptſchriftleitung und verantwortlich für den geſamten textlichen Inhalt: Dr. Hermann Reiſchle,
Berlin W, Friedrich⸗Wilbelm Straße 18111. Verlag: „Jeitgeſchichte“ Verlag und Vertriebs⸗
Seſellſchaft m. b. H., Berlin W 35. Druck der Meyerſchen Hofbuchdruckerei in Detmold.
Boranzefge
Hermann Reifdle
Reibsbauernführer Darré
der Kämpfer um Blut und Boden
Soeben erschienen. 64 S. Text, 10 S. Abbildungen. Preis Rm. 1.—
Blut und Boden: Das find die beiden Gedanken, die das Leben R.
Walther Darrés, des Reichsbauernführers und Leiters des agrarpolitiſchen
Amtes der NS D Ap., beſtimmen. Blut und Boden: Beides Begriffe,
die ihm, dem Auslandsdeutſchen, in der ewigen deutſchen Sehnſucht nach der
an befonders tief im Herzen wurzeln mußten. Blut und Boden:
eides Urwurzeln alles volkhaften Lebens überhaupt, die von Darre nicht
nur wieder entdeckt, ſondern durch ſeinen unabläſſigen Uberzeugungskampf
für das deutſche Bauerntum in das Bewußtſein dieſes wertvollſten Teiles
des deutſchen Volkes wieder eingefügt wurden. Hermann Reiſchle, einer der
Mitarbeiter Darrés, die mit ihm den Kampf um die Seele des Bauern⸗
tums geführt haben, berichtet hier aus der Kenntnis langer Jahre perſönlichſter
Verbundenheit von dem Mann, dem er dient und mit dem zuſammen er vor
Jahresfriſt die „Deutſche Agrarpolitik“ begründete. Das in 7 Abſchnitte:
1. Familie und Erziehung, 2. Der Frontſoldat, 3. Der Weg durch das
deutſche Dunkel, 4. Wiſſen und Wille, 5. Der politiſche Kämpfer, 6. Der
Aufbau beginnt, 7. Die Mitkämpfer gegliederte kleine Buch gibt daher er⸗
ſchöpfende, verſtaͤndnisvolle und aus unmittelbarfter
Nähe erlebte Auskunft über die ſchickſalsvolle Perſön⸗
lichkeit des Reichsbauernführers und ſein großes Werk,
das berufen erſcheint, in ſtärkſtem Maße geſchichtsbildend
zu wirken. Da dieſe erſte Veröffentlichung über R.
Walther Darre die Lefer der „Deutschen Agrarpolitik“
beſonders intereſſieren wird und das Buch nur in be⸗
ſchränkter Auflage herauskommen foll, wird ihnen fein
Erſcheinen ſchon jetzt angezeigt. In Kunſtdruckſteifdeckel
64 Seiten Text, 10 Vollbildſeiten koſtet es nur Rm. 1.—.
Rm
„ZEIT GESCHICHTE“
Verlag und Vertriebs-Gesellschaft m. b. H., Berlin W 35
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MEYERS
KLEINES
3BÄNDE
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m, at gh rn neubearb.
* Auflage 1931/32
Band I-III in Ganzleinen je 10 RM.
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